Goldbergs Formel - Thomas Lang - E-Book

Goldbergs Formel E-Book

Thomas Lang

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Beschreibung

Minkin muss nach Pilsen. Muss im Pilsner Untergrund nach der Weltformel des Bieres suchen. Sein Gegner? Der weltgrößte Braukonzern. Minkin findet im Pilsner Untergrund Vaclav Kulle. Den Wächter der Formel. Bevor er ihm den entscheidenden Hinweis geben kann, verstirbt er altersbedingt. Minkin muss die Formel schützen und ermittelt in Böhmen und im Kraichgau. Dann noch die Sache mit dem Unkraut-vernichtungsmittel Glyphosat. Findet man plötzlich in allen großen Biersorten.

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Thomas Lang

wurde 1968 im Kraichgau geboren. Nach Kindheit, Schule und Lehre bei einer landwirtschaftlichen Genossenschaft im Kraichgau studierte er in Tübingen Jura. Seit 15 Jahren arbeitet er als Anwalt in Stuttgart. Daneben ist er Autor und Ensemblemitglied beim Stuttgarter Juristenkabarett. Er schreibt regelmäßig im Stuttgartmagazin LIFT die kleine und feine Kolumne »Schräggastro – wir gehen dahin, wo Sie sich nicht hintrauen«. Er ist verheiratet und hat vier Kinder.

Thomas Lang

Goldbergs Formel

Minkins zweiter Zufall

Oertel+Spörer

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2016

Postfach 16 42 · 72706 Reutlingen

Alle Rechte vorbehalten.

Titelbild: fotolia © piexelot

Gestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, Reutlingen

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-88627-769-8Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

»Und die Alltäglichkeit,

die man uns jederzeit

aus vollen Fässern zapft,

macht uns nicht mehr betrunken,

sondern vielmehr bewusst,

dass das Unglück überall

zurückgeschlagen werden muss.«

Tocotronic

»Ist klar. Ein Schnelles geht noch, oder?«

Minkin

Alles schon mal da gewesen

»Wenn Sie mehr über die Formel erfahren wollen, müssen Sie nach Pilsen. In das Restaurace U Salzmannu. Fragen Sie nach Vaclav Culle.«

Er nun wieder. Goldberg.

»Wer sagt Ihnen, dass ich den Job haben will?«

»Was sollten Sie sonst tun?«

Gutes Argument.

»Warum ich?«

»Wen sollen wir schicken? Bruce? Sie wissen es, Minkin, das ist lächerlich.«

Das war es definitiv. Bruce war am Ende. Erst die bescheuerte Veltins-Werbung, dann »Stirb langsam 5«. Eine Tragik mit dem Mann.

Seit seinem letzten Zufall hatte sich einiges getan. Na ja, es war eigentlich wenig. Eine Reputation begann sich zu festigen. Gegründet auf falschen Voraussetzungen. Goldberg hatte ihn engagiert. Sollte eine Liste finden. Gelang mehr schlecht als recht. Ein Brauer musste sterben, sein Freund Caesar ging drauf, der WM-Titel 2010 blieb zu allem Überfluss bei den Spaniern. Beschissene Bilanz war das.

»Um was geht es?«

»Die Formel.«

»Eine Formel?«

»Die Formel, Minkin.«

Sag was drauf. Die Formel, klar.

»Fragen Sie nach Vaclav Culle. Er wird helfen, wenn er noch am Leben ist.«

Goldberg hatte diese subtile Art, Minkin unter Druck zu setzen. War nicht so, dass sich Minkin davon antreiben ließ. Dass es etwas ändern würde. Schön war es trotzdem nicht.

Goldberg legte den braunen Umschlag auf den Tisch.

»Wir haben uns erlaubt ein Zimmer für Sie zu reservieren, im Salzmannu, Sie kennen es.«

Sicher, das Salzmannu. Minkin kannte es. Alte böhmische Bierhalle. In der Art, die Pilsen berühmt gemacht hatte. Modernisiert zwar, aber ohne ins Groteske zu übertreiben. Holzvertäfelt, kathedralenhaft. Mittelschiff. Zwei Seitenschiffe. Immer voll. Ganz der Gast.

»Wann?«

»Jetzt.«

»Geht’s noch?«

»Minkin, Ihre Entscheidung …«

»Will ich meinen.«

»… ob Sie Vaclav Culle finden.«

Pause. Rhetorischer Natur. Dem zweiten Halbsatz mehr Gewicht verleihend.

»… oder ob es die anderen tun.«

Das war es, was Minkin an Goldberg hasste. Schon deshalb würde sich Minkin Zeit lassen. Zumindest glaubte er das.

»Der frühe Vogel fängt den Wurm, Minkin.«

Ganz tief aus der Motivationskiste, Goldberg. Wie lahm war das denn? Drei Pils fürs Phrasenschwein.

»Die zweite Maus bekommt den Käse, Goldberg.«

Nicht minder lahm, Minkin? Ein Klospruch. Mehr war es nicht. Geschwätz auf Kneipenniveau, Abschweifungen, Sarkasmus, das war es, was Minkin drauf hatte. Traf die Kritikerin seines ersten Zufalls genau ins Schwarze. Für den öffentlichen Bibliotheksdienst ungeeignet. Mehr war es nicht, was Minkin in der Auslage hatte. Immerhin konnte er sich den Klospruch merken. Eingeritzt in die Metalltür der Kackzelle. Gab Minkin etwas von der Schlagfertigkeit, die ihn nicht auszeichnete. Hatte Minkin aus der Toilette im Erdgeschoss der Neuen Aula der Tübinger Uni mitgenommen. Eine der wenigen Sachen, die er heute noch brauchen konnte.

Goldberg ließ den Spruch mit der Maus stehen. Entschied sich nicht mal für ein Grinsen. So gut war es auch nicht. Minkin verehrte Woody Allen, Josef Hader. Humor, der nahezu verschwunden war. Böhmermann schien das Genre gerade neu zu erfinden. Betrieb Satire um der Wirkung willen. Besser als nichts. Minkin war das zu wenig. Wie beim ersten Zufall legte Goldberg die Scheine auf den Tisch. Bargeld lachte.

Minkin zählte nach. Tausend Euro. Nicht üppig. Sicher, Minkin war kein Topermittler. Kein Dengler, kein Taylor, kein Bourne. Vermutlich war der Betrag genau angemessen.

»Eine Anzahlung. Bringen Sie die Formel, verzehnfachen wir den Betrag.«

»Verzehnfachen?«

»Ja.«

»Das wären dann ja, so an die …«

»Zehntausend Euro.«

»Hübsches Sümmchen, Wackelohr.«

»Bitte?«

»Vergessen Sie es.«

»Vergessen Sie es nicht, Minkin.«

Goldberg verschwand, wie er gekommen war. Unscheinbar.

Immerhin ließ er einen Namen da. Vaclav Culle. Mehr als beim letzten Mal. Vaclav Culle. Der Name war ihm nicht komplett ungeläufig. Das war es dann aber schon. Ging also wieder los. Alles auf Anfang.

»Es war an der Zeit, die Köpfe hochzukrempeln.«

Um es mit dem kölschen Teilzeitphilosophen Lukas Podolski zu sagen.

Generation Irgendwas?

Minkin hatte sich das nicht ausgesucht. Es kam auf ihn zu. Er sprang nicht zur Seite. Minkin hatte kein überbordendes Talent. Nichts, was ihn herausragen ließ, ihn besonders machte. Minkin torkelte. Im Großen und Ganzen. Generation X. Minkin hatte sich vor vielen Jahren dieses Buch von Douglas Coupland gekauft. Dachte, das sei er. Er war es nicht. Die Protagonisten waren cool. Minkin war nicht cool.

»I wish that I could be like the cool kids.« Echosmith. Ein Song aus 2014. Das war es, was sich Minkin damals wünschte. Wünschen sich die Kids immer noch. Minkin kam nie so weit. Er war einfach da. Unauffällig. Atmete, reduzierte sich auf das Nötigste. War Geld da, investierte er es in Hopfen, war weniger da, fand sich ein Weg. Minkin war keinen Deckel schuldig geblieben. Verzug ja, Forderungsausfall nein. Frag nach in der Waldklause. Ansonsten war Minkin von der reduzierten Sorte. Konsumtechnisch gesehen. Ihn schauderte bei der Vorstellung, Shoppingmalls betreten zu müssen, um dort Waren von globalisierten Filialisten zu konsumieren, die ihren Billigdreck allein deshalb für Centbeträge verschleudern konnten, weil Kinder und Sklaven den Abfall unter menschenverachtenden Bedingungen zusammentackerten.

Minkin war kein Freund des modernen Konsums. Würde er nicht mehr werden. Nicht in diesem Leben. Seit ein paar Jahren war im Land ein neues Proletariat entstanden. Konsumveredler. Saßen im Sprinter. Fuhren tagein tagaus Pakete von A nach B. Immer auf dem Bock. Immer unter Strom. Paar Monate später kamen orangefarbene Autos und holten den Dreck wieder ab. Dann ging das Ganze von vorne los. Hielt die Wirtschaft am Laufen. Machte nebenbei ein paar Menschen platt. Arbeiter in asiatischen Fabriken, auf südamerikanischen Farmen. Konsumare Kollateralschäden. Immer wenn eine Sauerei raus kam, wollte es keiner gewusst haben. Die globalen Warenverteiler legten Zertifikate vor. Aus Bangladesch, aus dem Kongo, aus Costa Rica. Stand schwarz auf weiß. Geht alles mit rechten Dingen zu. Zahlen Mindestlöhne, halten den Arbeitsschutz für die Sklaven ein. Der ganze Kreislauf war komplett aus den Fugen geraten. Wer würde ihn anhalten? Am wenigsten diejenigen, die es propagierten? Um es mit Conor Oberst zu sagen. »You can’t get out of this circle, if you never knew you are in.«

Gaststätte Hörz

Minkin traf den Saarländer für gewöhnlich im Bier-Eck. Die erste Adresse am Olga-Eck. Reduzierte Karte. Korea drauf. Wer wollte, konnte dort die Longdrink-Preziose degustieren.

Sonntags hatte das Bier-Eck geschlossen. Zumindest zu der Uhrzeit. Deshalb traf sich Minkin mit dem Saarländer in der Gaststätte Hörz. Gaststätte weckt die falschen Erwartungen. Zieht die falschen Leute an. Hier saßen die richtigen. Keine, die zum Speisen kamen. Das Kommando wird auf einem Bierdeckel ausgegeben. Hängt gedruckt hinterm Tresen.

»Wir müssen endlich aufhören, weniger zu TRINKEN.«

Sag was dagegen. Nirgends dürfte der Imperativ überflüssiger sein als in der Gaststätte Hörz. Die Gaststätte ist die klassische Bierstube, die dem Gentrifizierungseifer des nahe gelegenen Marienplatzes gerade eben noch von der Naturholzschippe gesprungen ist. Mag auch an Frau Hörz liegen, der mittlerweile 86-jährigen Eigentümerin der Immobilie. Hat offensichtlich was übrig für Schräggastro. Mit Cranberrysirup rot eingefärbter Wodka ist das Getränk des Sonntags. Warum nicht, kann man sich gut zu einem Stück Käsekuchen vorstellen, das der Wirt mit Anzug und Krawatte serviert. Dazu bietet er betreutes Trinken an. Ein weiblicher Stammgast am Tresen schwächelt.

»Goht’s dir guat?«

»Ja. Wieso? I han do nur oi Bier ghet.«

»Die zehn Jacky?«

Mittellanges Nachdenken.

»Hauptsache, der VfB hot mal wieder gwonne.«

Das ist mal schlüssig begründet.

Minkin saß neben dem Saarländer und lauschte dem Trinkerdialog. Minkin war nicht mehr weit davon entfernt, zum Chronisten der Ereignislosigkeit zu werden.

»Würden dann auch noch so einen Cranberry auf die Roten nehmen, Herr Wirt.«

»Gute Wahl, die Herren. Geht runter wie der Heimsieg gegen die Lilien.«

»Nicht schön.«

»Hauptsache drei Punkte.«

Damit war der Floskelvorrat für heute aber mal so was von aufgebraucht. Der Verein aus Bad Cannstatt bot danach in der Saison nicht mehr viele Gelegenheiten.

Hauptsache drei Punkte. So war es auch mit der Cranberry-Plörre. Hauptsache, es knallte.

Die Gaststätte Hörz befindet sich in der Böblinger Straße. Im Süden. Arbeiterbezirk, falls es die in der klassischen Form überhaupt noch gab, die Arbeiterbezirke. Die Arbeiter. Andererseits, irgendjemand musste den Dreck ja wegmachen, den die Stadt und ihre Bewohner jeden Tag ausspien. Wenn, dann gehörte diese Ecke der Stadt in jedem Fall in die Kategorie. Das hier war der Süden, das war Heslach. Gab Leute, die erzählten, Heslach entstamme dem altdeutschen Wort hässlich, vom Wortstamm hassen. Das waren böse Menschen. Menschen, die Smoothies und vegane Wraps mit Avocadodip für Errungenschaften hielten. Einen Yoga-Space im Keller hatten. Sicher, Craftbeer war vielleicht auch nicht die Lösung. Kam dem aber nahe. Näher als der andere Rotz.

Der Saarländer war eine Art stiller Teilhaber geworden. Minkin hatte keinen Partner. Deshalb weihte er den Saarländer ein. Eine Tradition hatte sich ausgebildet. Ging mitunter schnell. Einer sollte Bescheid wissen. Einer, dem er trauen könnte. Das war beim Saarländer der Fall. Soweit dies eben bei einem Saarländer der Fall sein konnte. Beispiele gefällig? Walter Ulbricht hatte eine Mauer gebaut, obwohl niemand die Absicht hatte, eine Mauer zu bauen. Oskar Lafontaine hatte die SPD auf dem Gewissen. Sein Herz schlägt links. Unsinn. Sein Schwanz fickt vielleicht links. Falls da noch was geht.

»Wohin?«

»Pilsen.«

»Aha.«

Der Saarländer heuchelte Interesse. Mehr war es nicht.

»Schon mal da gewesen?«

»Nein. Du?«

»Gelegentlich. Pokalausflug. Mit den Tresenkickern.«

»Aha.«

Interesse erlahmte.

»Ist weniger als vierhundert Kilometer entfernt. Trotzdem eine Tagesreise mit der Bahn.«

»An Zeit dürfte es dir kaum fehlen.«

Das von einem Lehrer. Wog doppelt schwer. Warum dachten immer alle, er habe Zeit im Überfluss zur Verfügung? Weil es so war.

»Ja.«

»Was suchst du dieses Mal?«

»Eine Formel.«

»Mehr weißt du nicht?«

»Einen Namen habe ich, Culle. Vaclav Culle.«

»Culle?«

»Ähnlich wie das Bier.«

»Hab es verstanden. Sagt dir der Name was, Minkin?«

»Hab ich mich auch gefragt.«

»Antwort?«

»Es sollte mir was sagen, aber ich komm nicht drauf, was.«

Damit wusste der Saarländer Bescheid. Nützen würde es kaum etwas.

»We should stare at the stars, not just at the screens.«

Passenger. Hat gut singen. Der Remmler traf es eher. Keine Sterne in Athen, stattdessen Schnaps in Sankt Kathrein. Wie beschissen ist das denn? Den kleinen Trio-Schlagzeuger mit den traurigen Augen hatte es inzwischen erwischt. Bowie, Prince, Lemmy von Motörhead, der Trio-Schlagzeuger. Keine gute Zeit für alternde Musiker. Sterne in Stuttgart waren eine Seltenheit geworden. Hatten die mit ihrer Mischung aus Lichtverschmutzung und Smog gut hinbekommen. Minkin hatte von dieser Idee gehört. Luftqualität im Kessel verbessern. Wollten eine Frischluftpipeline bauen. Schwarzwaldluft in den Kessel blasen. Zutrauen konnte man das denen. Die Luft in der Stadt wurde immer beschissener. Hatten hier ein Abo drauf. Um den Bahnhof herum kam der ganze Baustellenstaub dazu. Der Kauf einer Zugfahrkarte im Stuttgarter Hauptbahnhof war kein Kinderspiel. Nichts für Weicheier. Wer aus der Richtung Innenstadt kam, durchquerte in der Regel die unterirdische Klettpassage. Wie sollte man das beschreiben? Die Topografie traf den Zustand. Das Gegenteil von Win-Win-Situation. Die Klettpassage warb auf Plakaten immer noch mit attraktivem Erlebnisshopping. Erlebnisshopping? Eine Stadt, die mit so was punkten wollte, ernsthaft jetzt, die hatte sich im Grunde aufgegeben. Stuttgart hatte viel misslungene Plätze. Der Arnulf-Klett-Platz war ganz vorne mit dabei.

»Ich habe den Heiland gesehen. Hört ihr, ich habe ihn gesehen.« War ein magerer, kahl geschorener Krishnatyp, der das die Rolltreppe hinunter brüllte. »Ich habe ihn gesehen, im Mediamarkt.«

Der Mann brachte einiges durcheinander. Fürchte, der Heiland hat dich gesehen, dachte Minkin. Deshalb war der Heiland erst mal abgetaucht für eine Weile. Auch schon wieder zweitausend Jahre her.

Minkin war jedes Mal froh, wenn er aus dem Walfischbauch wieder draußen war. Back to Ninive. Seit sie den Bahnhof geopfert hatten, war es oben nicht besser als unten. Internationale Steuerflüchtlinge, die nebenbei Kaffeeersatzprodukte in Wegwerfgeschirr zu horrenden Tarifen an naive Markenfetischisten veräußerten, hatten den Bahnhof vollends zugestellt. Zahlten nicht nur keine Steuern, taten auch ihr Übriges für die Vermüllung der Landschaft. Danke auch dafür. Nehmt euren Dreck mit, dahin, wo ihr herkommt. Woher das ist? Direkt aus der Hölle.

Immerhin wurde das Reisezentrum noch von der Bahn betrieben. War vermutlich eine Frage der Zeit, bis sie auch das »outsourcten«, wie der Berater sagte. Es gab im Reisezentrum Fahrkartenschalter, die gesplittet waren. Schalter für den einfachen Reisenden, Schalter für den gehobenen Reisenden. Insgesamt gab es zu wenige davon. Man musste Nummern ziehen. Vor den wenigen Schaltern, die offen waren, standen immer Schlangen. An den geschlossenen Schaltern unterhielten sich Bahnmitarbeiter über die Erlebnisse des zurückliegenden Wochenendes. Bahnmitarbeiter erlebten einiges in ihrer Freizeit. Dann gab es noch Automaten. Und Menschen, die einem die Automaten erklärten. Immerhin etwas. Obschon Minkin es nicht mit Automaten hatte.

Minkin wartete circa achtzehn Minuten. Eine Bahnfahrt nach Pilsen war für die Frau am Schalter eine Herausforderung. Die Frau war Anfang zwanzig. Sie hatte wenig Ahnung, dafür ein bezauberndes Lächeln. Ein guter Tausch. Dauerte weitere zehn Minuten, bis sie die Reisemöglichkeiten herausgefunden hatte. Gab Strecken über Nürnberg oder München. Kaum 400 Kilometer, aber doch ein Tagwerk. Als ob der Eiserne Vorhang nie gelüftet worden wäre. Die Bahn hatte andere Prioritäten gesetzt als Stuttgart – Pilsen. Paris – Bratislava. Die Reisezeit nach Pilsen war exakt dieselbe wie vor der Implosion des Ostblocks, dem EU-Beitritt Tschechiens, vor Schengen. Es war Slow Travel. Im Grunde kam Minkin das entgegen.

Minkin entschied sich für die Strecke über Nürnberg. München hatte schon genug Aufmerksamkeit.

Anbei zur Erläuterung die Bahnverbindung Stuttgart – Pilsen.

Minkin zahlte die Fahrkarte in bar und ging.

»Ihre Fahrkarte.«

Die Frau rief ihm hinterher.

»Richtig.«

Minkin ging zurück zum Schalter.

»Danke.«

Sie lächelte immer noch. Was war los mit ihr?

»Soll ich Ihnen die Verbindung ausdrucken, damit Sie wissen, wo Sie umsteigen müssen.«

»Das würden Sie tun?«

»Sehr gerne.«

Keine Ahnung warum das so war, aber manchmal reichte die Freundlichkeit einer Servicekraft aus, um den täglichen Hass, den Unbill in die Schranken zu weisen. Den Tag erträglicher zu machen. Die Frau am Schalter konnte nicht nur bezaubernd lächeln, sondern konnte auch den Drucker bedienen. Konnte Minkin von sich nur bedingt behaupten. Langsam war er geworden. Vergesslich. Älter. Nicht viel älter, aber merklich. Paar graue Haare waren gekommen. Mark Forster würde da sicher einen Song drüber machen. Belanglos wie das übrige Programm. Die grauen Zellen hatten diametral abgenommen. Diametral zu was? Minkin fiel nichts ein, was zugenommen hatte. Minkin hatte das vierzigste Jahr erreicht. Was mehr geworden war, das war die Zerstreutheit. Der Mangel an Konzentration. Frappant. Kam vor, dass Minkin im Laden stand, in der Apotheke, bezahlte und das Zeugs an der Kasse liegen ließ. Bei Pillen mag man sagen: »Gut. Ist gesünder, nicht so viel zu schlucken.« Eben erst war Minkin das Malheur beim Getränkedienst unterlaufen. Kaufte zwei Sixpacks. Im Rausgehen rief ihm der Getränkediensthabende hinterher.

»Das Bier wollen Sie stehen lassen?«

Dieses Phänomen war alarmierend. Echt jetzt. Woran lag es?

Überforderung? Kaum. Beruflich oder privat gehörte Minkin nicht zu den übermäßig herausgeforderten Menschen. Minkin schob es auf die modernen Medien. Smartphone, Tablet, Internet, YouTube und so weiter. Minkin nutzte all das nicht. Besaß keine Applegeräte. Bestellte nicht bei Amazon. Er war ein Internetöko. Im digitalen Widerstand. Die Strahlen mussten es sein, die ihn zerstörten, Handymasten, Funknetze und der ganze Dreck. Der Tag würde kommen, an dem der ganze Mist zusammenbricht. Oder Terroristen alles lahm legten. »Stirb langsam 4.0«. Würden die machen. War sich Minkin sicher. War der letzte halbwegs ordentliche Bruce Willis. Ratzfatz würden die Lichter ausgehen. Kein Funknetz, kein Tablet, kein Handy. Wie vor zwanzig Jahren. Oder wie in einem abgelegenen Seitental der Fränkischen Schweiz. In der Schlehenmühle. Und siehe, es würde gut sein.

Boys don’t cry The Cure

Minkin saß im Interregio Richtung Nordosten. Unterwegs in die Tschechische Republik. Der Fahrplan? War wie immer nicht mehr gewesen als eine unverbindliche Abfahrtsempfehlung für die Reisenden. Mit Gleisvorschlag. Der Zug hatte gut eine Viertelstunde Abweichung von der Empfehlung. Es war ordentlich trüb draußen. Schien die richtige Jahreszeit für den Ostblock. Sonne war selten. Kein Nachteil. Minkins Augen reagierten zunehmend empfindlicher auf gleißendes Sonnenlicht. Damit war in Pilsen nicht zu rechnen. Im Gepäck hatte Minkin einen Namen. Vaclav Culle. Minkin war auf der Suche nach einer Formel. Der Formel. Das war es, was er wusste. Wenig genug. Kurz hinter Crailsheim kam der Zug zum Stehen. Kühe auf dem Gleis. Minkin kam mit über einer Stunde Verspätung und komplett durchgefroren in Nürnberg an.

Minkin war gelegentlich mit Zügen unterwegs. Egal welche Baureihe, die Besitzer schafften es immer, den Zug im Winter komplett runterzukühlen. Sollte den Jahreszeiten angemessen temperiert sein. Ähnlich der Speisekarte im Bordbistro. Hatte ihm ein Zugbegleiter erklärt. Wenn es draußen kalt sei, dann wäre es völliger Wahnsinn aus einem überhitzten Zug zu steigen. Entsprechendes würde im Sommer gelten. Nur umgekehrt. Draußen Hitze, niemals in einen kühlen Zug steigen. Ginge voll auf die Bronchien, die Atemwege. Den Kreislauf. Der Zugbegleiter war rhetorisch allererste Sahne. War ja vielleicht tatsächlich was dran. Tieferer Sinn dahinter. Musste man so hinnehmen. Der Zug nach Schwandorf über Furth im Wald war jedenfalls erst mal weg. Aufenthalt in Nürnberg. Gelegenheiten können auch Chancen sein. Würde Rolf Miller anmerken. Alles andere war primär. Um es mit Hans Krankl zu sagen. Minkin nahm die Ausführungen der Bahn zur Kenntnis.

Minkin hatte den Vorsatz, das erste Hopfengetränk des Tages im Salzmannu in Pilsen zu stürzen. Der Plan war futsch. Minkin nahm ein Zirndofer Landbier im Bahnhofsgebäude in Nürnberg. Aus der bauchigen Flasche. Schöner Zeitvertreib bis zur Weiterfahrt in knapp einer Stunde. Minkin saß in einem Dönergrill. Ging doch, Alkohol und Islam, dachte Minkin. Nicht alle so dogmatisch. Der Dönergrill war noch das gemütlichste Teil in der Imbissversammlung im Nürnberger Hauptbahnhof. In Stuttgart würden sie das ganze Food-Lounge nennen. Die Servicekräfte würden bunte Schürzen und Mützen tragen und so tun, als ob sie freundlich sein wollten. Gelang ihnen selten. Im Nürnberger Bahnhof waren es einfach nur Imbisse. Mäßiges Essen zu mäßigen Preisen mit Personal, das nicht grüßte. Minkin hielt sich ans Zirndorfer aus der Flasche. Konnte man wenig falsch machen. Zirndofer war jetzt mal eben keine Hausbrauerei. Kein Craftbeer. Trotz einer gewissen Größe der Brauerei war es ein willkommenes Stöffchen geblieben.

»Hier noch frei?«

Kam einigermaßen überraschend für Minkin. Pulte gerade das Etikett von der Flasche ab. Hatte er sich irgendwann angewöhnt. Sicher zwanzig Jahre her. War ihm geblieben aus der Zeit. Erforderte höchste Konzentration. »Högschte Konzentration«, wie der Espresso-Jogi zu sagen pflegte. Machte seit Jahren Werbung für Nivea Bodylotion. Seit der EM-Vorrunde wissen wir jetzt auch, welche Körperteile er damit einschmiert. Danke auch dafür.

»Sicher.«

Auf den freien Imbissbudenhocker an seinem Bistrotisch setzte sich eine Frau. Nicht alt, jung. In den Zwanzigern vielleicht. In den frühen allerdings. Arabisch, orientalisch. Irgendwas in der Art. Mit einem Tattoo am Hals abwärts. Einem Feuerdrachen. Minkin wollte nicht hinstarren. Von wegen Sexismusdebatte und so. Tat es trotzdem.

»Noch nie ein Tattoo gesehen?« Kam rotzig daher.

»Doch. Klar, schon.« Minkin fühlte sich ertappt.

»Warum starrst du mich dann so an?«

Mein Gott, ging es noch frontaler. Hatte er den Scheiß hier angefangen? Nein. Hier sitzen wollte er. Ein, zwei Zirndorfer stürzen. Dann weiter nach Pilsen. Mit dem unfiltrierten Pilsner Urquell weiterarbeiten. Mehr wollte er heute nicht erreichen. Jetzt saß er hier im Inferno. Im Auge des Drachens. Warum er? Gab so viele Imbisse hier.

»Nein. Tut mir leid. Keine Ahnung. Fällt halt auf das Tattoo. Ich meine, deshalb hast du es dir doch vermutlich stechen lassen. Dass man hinschaut.«

Das Mädchen holte kurz Luft. Keine Luft, eher Feuer.

»Du Vollidiot. Hab ich je was Dämlicheres gehört?«

Wenn Sie Krawall haben wollte, gerne. Verbal war Minkin durchaus zum Gegenschlag fähig. »Warum dann?«

»Spirit. Aura. Energien, Mann.«

Energie hatte das Mädchen. Das war amtlich. Schien zu funktionieren, das mit dem Tattoo.

Minkin wollte die Situation entschärfen.

»Auch ein Bier?«

»Ja. Und glotz woanders hin. Bist eh nicht mein Typ.«

Da hab ich ja noch mal Glück gehabt, dachte Minkin. Er nahm ein Zirndorfer aus dem Kühlschrank und gab dem Mann am Grill zwei Euro.

»Hier.«

Dank hatte Minkin von dem Drachenmädchen nicht erwartet.

»Minkin.«

»Gabriella.«

»Schöner Name.«

Mehr fiel Minkin nicht ein. Plump war das. Manchmal war das Einfache das Richtige. Minkin hatte oft genug den Umweg genommen. Mit fatalem Ergebnis.

»Hör auf, mich vollzuschleimen. Du könntest mein Vater sein.«

Minkin hielt sich im Großen und Ganzen für einen mäßig gelaunten Misanthropen. Das Mädchen hier steckte ihn locker in die Tasche.

»Hab das ernst gemeint mit dem Namen. Meine Großmutter hieß Gabriella.«

Das Mädchen blickte ihn mit kalten Augen an.

»So ziemlich das einzig Brauchbare, was mir meine Eltern mitgegeben haben.«

So viel Bekenntnis, so wenig Alkohol. Werd einer schlau daraus. Erst jetzt sah Minkin genauer hin. Gabriella war keine Schönheit. Hager bis zum Anschlag, schwarzes kurzes Haar. Eher klein geraten. Blass geschminkt. Erinnerte Minkin an den jungen Robert Smith von The Cure. Den ganz jungen. Falls das hier noch jemand was sagt. Boys don’t cry. Gelegenheiten hätten sie.

»Was machst du hier?«

»Du stellst Fragen, Mann. Warte auf den Zug.«

»Wohin geht’s?«

»Tschechien. Böhmen. Klatovy.«

An Klatovy hatte Minkin Erinnerungen. Schwach waren sie geworden. Immerhin. Er hatte sie noch.

»Was gibt es dort?«

»Mumien.«

»Die Schrumpfmönche?«

»Hast du davon gehört?«

»Ich habe sie besucht.«

Gab wenig Reiseerlebnisse, mit denen Minkin punkten konnte. Australien, New York, Vietnam. Nirgends war Minkin gewesen. Nicht mal Barcelona hatte er geschafft. Würde wohl auch nichts mehr werden. Flugangst, Panikattacken. Schon mal gehört, dass so was im Alter besser werden sollte? Eben!

»Verarschst du mich?«

»Zweimal. Das erste Mal waren die Schrumpfmönche frei zugänglich. Lagen einfach so herum. Konntest du anfassen. Circa drei Dutzend gab es davon noch. Inzwischen ist das alles museal aufbereitet. Hinter Glas und so.«

Gabriella schien so etwas wie Vertrauen zu fassen.

»Bist ein schräger Vogel, Minkin.«

Minkin nahm das als Kompliment. Kam von einem nicht minder seltsamen Fang.

»Danke. Was willst du dort, Gabriella?«

»Wissenschaft. Geschichte. Mache eine Arbeit drüber. Herausfinden, wie sie das damals vor dreihundert Jahren gemacht haben. Mit dem Konservieren der Leichname. Nicht wie die Ägypter mit Einbalsamieren. Der Böhme hatte eine andere Formel gefunden.«

»Wie willst du das herausfinden?«

»Zeitzeugen befragen.«

»Zeitzeugen? Dein Ernst?«

»Sag mal Minkin, bist du eigentlich so bescheuert oder tust du nur so? Natürlich nicht. Zunächst werde ich mir die Mumien anschauen. Vielleicht kann ich eine Probe ziehen. Ins Labor mitnehmen. In Archiven stöbern. Mich umhören bei den Alten. Volkskunde betreiben.«

»Ist das spannend?«

»Weniger spannend, als man glaubt.«

»Und du?«

»Pilsen.«

»Ernsthaft?«

»Ja.«

»Ein Zufall.«

»Nun ja, Zufälle sind selten.«

»Was willst du in Pilsen?«

Minkin wollt nicht gleich mit der vollen Geschichte ins Haus fallen. »Einen Freund treffen. Besser gesagt den Freund eines Freundes. Vaclav Culle.«

Gabriella blieb ungerührt. Tat gerade so, als ob sie den Namen nicht kannte. Wenn dem mal so war.

Minkin hatte sein zweites Zirndorfer geleert.

»Müssen langsam los, wenn wir den nächsten Zug Richtung Grenze kriegen wollen.«

»Bis Pilsen haben wir die gleiche Strecke. Ich muss dann weiter Richtung Süden.«

Minkin und Gabriella schafften die Bahn. Schlichen mit der Eisenbahn durch den Böhmerwald. Vorbei an Tannenzapfen und jeder Menge Rotwild, das auf den Feldern graste. Bis Pilsen saßen die beiden in einem Abteil, ohne ein weiteres Wort miteinander zu wechseln. Was daran lag, dass Minkin im Zug sofort einschlief. Bier am Nachmittag hatte generell eine Schlaf fördernde Wirkung. Bei Minkin insbesondere.

»Minkin, aufwachen. Wir sind da. Unsere Wege trennen sich.«

Gabriella rüttelte an Minkins Schulter. Kein sanftes Rütteln. Das Mädchen hatte Kraft. Mehr als der hagere Körperbau vermuten ließ.

»Unsere Wege trennen sich.«

»Ja.«

»Wolltest du noch was loswerden?«

»Ich?«

Minkin wüsste nicht was. Kurz nach dem Aufwachen. Ernsthaft jetzt. Was sollte man da loswerden wollen außer Blasendruck.

»Ja. Wie lange bist du in Pilsen, Minkin?«

»Keine Ahnung. Drei bis vier Tage.«

»Schätze mal, ich werde mindestens eine Woche brauchen. Wenn mir langweilig ist, treffe ich dich, Minkin.«

»Gut, ja. Wo?«

»Im Salzmannu.«

»Von mir aus.«

Gesprächig war Minkin selten. Erst recht nicht nach dem Aufwachen. Dass er das U Salzmannu erwähnt hatte, war ihm im Schlaf entwichen. Wenn er es erwähnt hatte.

Gabriella wechselte das Gleis und verschwand in einem roten Schienenbus Richtung Klatovy ohne sich umzudrehen. Minkin schnappte seinen Rucksack und trottete durch den Pilsener Hauptbahnhof Richtung Ausgang. Pilsen putzte sich heraus. Wollte als Kulturhauptstadt beeindrucken. Am Hauptbahnhof ging der ganze Glanz spurlos vorüber. Das war die gute Nachricht.

Ansonsten hatten sie die westböhmische Kapitale aufgehübscht. Wenn man es genau nimmt, hatten sie das Brauereiareal angepinselt und die Americka saniert. Für den Tschechen muss das eine ziemliche Anstrengung gewesen sein. Auffallen würde das Engagement dem Pilsennovizen kaum.

U Salzmannu

Hatte er das hier vermisst? Hatte er. Minkin war schon das eine oder andere Mal hier. Privat. Mit den Tresenkickern. Pokalausflüge. Bescheidene Jahreshöhepunkte des kleinen Mannes. Diesmal war der Aufenthalt amtlich. Wenn man so wollte. Dienstlich. Es war früher Abend. Ein trüber Tag. Die Bierhalle rammelvoll. Komplett zugequalmt. Das war das alte Europa. War nicht alles schlecht. Minkin orderte direkt am Ausschank das Unfiltrierte. Minkin hatte etliche Brauerzeugnisse durchprobiert. Aber hiergegen war nicht anzukommen. Das war der perfekte Sud. Gibt diese tschechische Version der Schöpfungsgeschichte. Hatte ihm ein Tresenhocker bei einem der Pilsenbesuche erzählt. Sechs Tage lang hatte der Herrgott in seiner Werkstatt die Sachen zusammengeklopft. Erde, Pflanzen, Tiere, Mann, Frau und so weiter. Am Ende des sechsten Tages hatte er eine Schaffenskrise. Burn-out. Lagerkoller. Wollte sich ordentlich einen reinlöten. War aber nix da. Kühlschrank war leer. Dann fing er mit dem Brauen an. So kam das Pilsner Urquell auf die Welt.

Nachdem Minkin das Unfiltrierte getestet hatte, war klar, dass an der Geschichte was dran sein musste. Der Tresenhocker hatte ihm auch gleich noch die Variante des tschechischen Adventskalenders mitgegeben. Die tschechischen Männer treffen sich in der Adventszeit mit ihren Freunden jeden Abend in einer anderen Pivnice. Öffnen quasi jeden Tag ein anderes Kneipentürchen. Sollte meinen, dass das die Scheidungsraten in die Höhe treibt. Das Gegenteil ist der Fall. Sind vier Wochen, in denen die Ehefrauen Zeit haben für Sachen, die richtig Spaß machen. Gleichgewicht der Kräfte.

Nach dem zweiten Krug machte sich Minkin daran einzuchecken. Hatte die Treppen als ziemlich steil in Erinnerung. Besser mal früher den Ballast abwerfen. Am Schalter hatte Pavel Dienst. Auf seinem Namensschild stand Pavel Dienstbier. Ernsthaft! Pavel Dienstbier schob den Dienst hier. Wie lyrisch war das denn? Robert Gernhardt würde sich im Grabe umdrehen.

»Verwandt mit Jiří Dienstbier?«

»Leider nein.«

Minkin wusste nicht allzu viel über die tschechische Geschichte, die oft auch eine deutsche Geschichte war. Er wusste immerhin, dass der erste Außenminister der Tschechoslowakei nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Jiří Dienstbier hieß. Schnitt damals gemeinsam mit dem verstorbenen Hans Dietrich Genscher den Grenzzaun durch. Ein Land, das seine Politiker Dienstbier nennt, kann nicht komplett im Arsch sein. Gesegnet das Land, das überhaupt ein Dienstbier kennt. Was kennen unsere Beamten? Filterkaffee, WMF-Plörre. Wenn es hochkommt, Mariacron.

Minkin war nicht eben der Vorsichtigste. Schnell zu vereinnahmen. Zutraulich. Und zu allem taktisch unbeschlagen. Weshalb er gleich mal einstieg.

»Arbeitet Vaclav heute?«

Pavel Dienstbier versuchte seine Überraschung zu unterdrücken. Gelang ihm nicht.

»Vaclav?«

Stellte eine Gegenfrage. Wollte Zeit gewinnen. Machte Minkin genauso. Pavel strich über sein Smartphone.

»Ja, Vaclav Culle, der Krautkoch.«

Lächeln. Gequält. Maximal.

»Der Vaclav.« Pause. Rhetorischer Natur.

»Der arbeitet nicht mehr hier. Ist in Rente.«

»Seit wann?«

»Kann ich nicht sagen. Länger her.«

»Schade, ein Freund schickt mich, hatte ihn gerne getroffen. Grüße überbracht.«

»Welcher Freund?«

»Das würde ich ihm gerne selber sagen. Wenn Sie ihn sehen, ich bin die nächsten Tage hier. Ich warte.«

Minkin nahm die steilen Stufen. Mühsamer als gedacht. Oben drehte er sich um. Pavel Dienstbier telefonierte. Minkin sollte bald erfahren mit wem.

Just Blood. No sugar. No sex. No magic. Red Hot Chili Peppers

Könnte meine Bio sein. Oder auf meinem Grabstein stehen, dachte Minkin.

Sie hatten die Suite gebucht für Minkin, die mit zwei Zimmern. Mit Sekretär. Allerdings zur Straße raus. Minkin hatte die Straßenbahn in unguter Erinnerung. Würde er einiges an Betäubern brauchen, um dagegen anzukommen. Besser früh anfangen mit der Medizin. Der frühe Vogel fängt den Wurm. Hat aber auch Ärger mit dem Kater.

Minkin warf seinen Rucksack auf das Doppelbett und saß kurz darauf an einem der hohen Tische im Schankraum. Jetzt galt es zu warten. Eine der wenigen Stärken, die Minkin hatte. Warterqualitäten, das hatte er. Und latenten Hunger, das hatte er auch. Er orderte die Gulaschsuppe. Kam im Brotlaib daher. Mächtig. Danach die Knödelvariationen. Mit Soße, Soße, Soße. Satt war er noch immer nicht. Zum Dessert den Palatschinken. Mit Kirschen und Sahne. Endlich. Minkin war voll. War kurz vor elf Uhr. Guter Zeitpunkt für ein Nickerchen.