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**Wenn du mit jemandem spielst, sei sicher, dass du alle Regeln kennst** Zoé von Steinberg, Tochter eines millionenschweren Hoteliers, braucht einen Fake-Boyfriend. Und dafür ist niemand besser geeignet als der begehrte Milan van Houten, ebenfalls Erbe einer Hoteldynastie. Denn von Zoé ist ein Foto viral gegangen, das es nicht geben dürfte. Sie muss den Skandal beruhigen und ihr Image retten. Womit sollte das besser gelingen als durch einen beliebten und attraktiven Mann an ihrer Seite? Doch was berechnend beginnt, entwickelt sich zu einer komplizierten Gefühlswelt, als zwischen den beiden echte Emotionen aufkeimen. Und Zoé beschließt, sich auf diese Gefühle einzulassen. Was sie dabei nicht ahnt: Sie ist nicht die Einzige, die eine Inszenierung geplant hat. Denn Milan ist nicht aus eigenem Antrieb auf ihre Date-Bitte eingegangen ... Die Fake Dating-Liebesgeschichte zwischen Catch of the Year Milan und der steinreichen Hotelerbin Zoé ist ein emotionaler Own-Voice-Roman zum Thema Plus Size und Empowerment. //»The Darkness in Our Lights« ist der erste Band der »Golden Sands Resort«-Trilogie und ein Stand-Alone. Alle Bände der gefühlvollen New Adult Romance bei Impress: -- The Darkness in Our Lights -- The Secrets of Our Hope -- The Shadows of Our Love// Diese Reihe ist abgeschlossen.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Impress
Die Macht der Gefühle
Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.
Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.
Tauch ab und lass die Realität weit hinter dir.
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Marie Westendorf
Golden Sands Resort 1: The Darkness in Our Lights
Wenn du mit jemandem spielst, sei sicher, dass du alle Regeln kennst
Zoé von Steinberg, Tochter eines millionenschweren Hoteliers, braucht einen Fake-Boyfriend. Und dafür ist niemand besser geeignet als der begehrte Milan van Houten, ebenfalls Erbe einer Hoteldynastie. Denn von Zoé ist ein Foto viral gegangen, das es nicht geben dürfte. Sie muss den Skandal beruhigen und ihr Image retten. Womit sollte das besser gelingen als durch einen beliebten und attraktiven Mann an ihrer Seite? Doch was berechnend beginnt, entwickelt sich zu einer komplizierten Gefühlswelt, als zwischen den beiden echte Emotionen aufkeimen. Und Zoé beschließt, sich auf diese Gefühle einzulassen. Was sie dabei nicht ahnt: Sie ist nicht die Einzige, die eine Inszenierung geplant hat. Denn Milan ist nicht aus eigenem Antrieb auf ihre Date-Bitte eingegangen …
Buch lesen
Vita
Danksagung
© privat
Marie Westendorf ist eine junge, deutsche Autorin, die, seit sie denken kann, romantische Geschichten schreibt. Wenn sie nicht gerade vor dem Laptop sitzt, verbringt sie ihre Zeit mit einem guten Buch, ihrer Familie oder ihren Freunden oder arbeitet als Ergotherapeutin. Mit dem Kopf voller Ideen vergeht allerdings kaum ein Tag, am dem sie nicht an ihre Protagonist*innen denkt.
Liebe*r Leser*in,
dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die Spoiler enthält.
Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du auf Probleme stößt und/oder betroffen bist, bleibe damit nicht allein. Wende dich an deine Familie und an Freund*innen oder suche dir professionelle Hilfe.
Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.
Marie und das Impress-Team
Für alle, die stets den Blick in den Spiegel vermieden haben: Ihr seid stark und schön und mutig.
Und für die kleine, jüngere, unsichere Marie, die gelernt hat, sich selbst so zu akzeptieren, wie sie ist, und nie aufgegeben hat.
Für alle, die stets den Blick in den Spiegel vermieden haben: Ihr seid stark und schön und mutig.
Und für die kleine, jüngere, unsichere Marie, die gelernt hat, sich selbst so zu akzeptieren, wie sie ist, und nie aufgegeben hat.
Es ist beschissen im Schatten einer Person zu stehen, die schon seit Jahren kein aktives Mitglied unserer Familie mehr ist. Vollkommen egal, wie oft ich versuche, Papas Aufmerksamkeit zu erhalten, es scheitert mit jedem Vibrieren seines Telefons kläglich. Irgendwie findet sie immer den richtigen Zeitpunkt, um die Momente zwischen Papa und mir an sich zu reißen. Und das schafft sie selbst aus der Ferne mit nur einem Anruf, dessen Klingeln die Welt um ihn herum sofort stummschaltet.
»Hey, Zoé, fahren wir morgen mit der Yacht raus?«, fragt Jonas, mein Zwillingsbruder, bevor er ein weiteres Stück des gebackenen Fischs isst – eine der Spezialitäten unseres Hotelrestaurants.
Seine Frage klingt beiläufig, am Rande gestellt, doch ein Blick reicht, um zu durchschauen, dass er bloß Papas fehlendes Interesse zu vertuschen versucht. Ich weiß zu schätzen, dass er mich ablenken will. Allerdings ist es vergeblich. Die alltägliche Enttäuschung hat mich schon eingeholt.
Papa räuspert sich, als er von seinem Smartphone wieder aufblickt. »Tut mir leid, Schatz. Was sagtest du?«
Ganze drei Sekunden befinde ich mich im Fokus seiner Aufmerksamkeit, dann huschen seine Augen erneut auf das Telefon, dessen Bildschirm schon wieder hell leuchtet. In der luxuriösen Atmosphäre des Seeblick und vor allem an diesem Tisch wirkt das Handy wie eine Mauer, die sich zwischen uns aufbaut und mit jeder Nachricht, mit jedem Lebenszeichen ihrerseits höher und unüberwindbarer wird.
Tagsüber strahlt das Restaurant in Papas Hotel eine maritime Atmosphäre aus, wie es für Ostseebäder so üblich ist. Neben einem großen Aquarium, das sich durch die Mitte des Restaurants zieht, ist alles in Grau und Weiß gehalten. Nur die blauen Akzente der dezenten Dekorationen geben dem Raum etwas Farbe.
Seitdem wir ins Hotel gezogen sind und mein Vater die obersten zwei Etagen für uns hat umbauen lassen, essen wir oft hier. Ich komme lieber abends her, wenn die Lichter gedimmt sind. Der Kerzenschein strahlt dann etwas Geheimnisvolles aus. Die Stimmung ist diskreter und man ist den Blicken der anderen Gäste nicht mehr allzu stark ausgesetzt. Vor allem, wenn mein Vater mit uns hier ist. Schließlich kennt ihn jeder im Ort. Dabei fügt er sich perfekt in die Gesellschaft der Reichen und Schönen ein, die sich meistens an der Bar einen Drink genehmigen und Klatsch und Tratsch wie Sauerstoff atmen.
Ich räuspere mich und es gelingt mir, seine Aufmerksamkeit zu erhaschen. »Ich habe dir von diesem Kleid erzählt, das perfekt für den Kirschblütenball wäre.«
»Ach? Wie sieht es denn aus?« Lächelnd sieht er erst zu Jonas, der nur die Augen verdreht, dann zu mir, bevor er sich über sein faltenfreies, strahlendweißes Hemd streicht. Mein Vater steht im Duden als Definition des Wortes Perfektion. Es ist lächerlich, wie makellos sein gesamtes Auftreten vor den Augen anderer erscheint. Nur wir dürfen seine Mängel sehen, wobei dürfen nicht das richtige Wort ist. Er schreit sie uns beinahe entgegen und manchmal hasse ich es, diesen Ausgleich für ihn zu spielen. Gewissen Personen, wie zum Beispiel der am anderen Ende der Konversation, die er seit Minuten so regelmäßig aufrechterhält, jammert er kläglich hinterher und versucht vor ihren Augen so perfekt wie möglich zu sein. Dabei hat sie uns verlassen, nicht andersherum.
»Es ist dunkelrot.«
»Ah«, erwidert er knapp.
Ein frustrierter Laut entfährt mir, weil er mir wieder nicht zuhört. »Der Ausschnitt ist tief, sowohl vorne als auch am Rücken. Das Kleid reicht mir knapp über den Hintern und der Stoff vor meinen Brüsten ist fast durchsichtig. Außerdem bräuchte ich nicht einmal einen BH tragen, weil die Brüste da drinnen so gepusht werden, dass sie ohnehin fast herausquellen.«
Ich übertreibe und das ganz bewusst. Ganz sicher will ich auch niemanden verurteilen, denn andere Personen könnten dieses Outfit sehr wohl tragen und darin einfach atemberaubend aussehen. Erstens würde ich mich nie im Leben trauen, mit derart wenig Kleidung an meinem Körper überhaupt nur mein Zimmer zu verlassen. Und zweitens hat mein Vater ohnehin immer etwas an meinen Outfits auszusetzen, sodass ich hoffe, wenigstens dadurch seine Aufmerksamkeit zu erhalten.
Vergeblich.
Während Jonas neben mir sich an seinem Weißwein verschluckt und mich entgeistert ansieht, zuckt mein Vater nicht einmal mit der Wimper.
»Du willst das nicht wirklich anziehen, oder?«, presst mein Bruder unter Husten hervor, aber die Reaktion, auf die ich eigentlich gehofft hatte, bleibt aus. Wie immer.
Ich verdrehe die Augen, lege das Besteck lauter als eigentlich nötig vor mir ab und schiebe den Stuhl vom Tisch zurück. »Ich muss jetzt los. Jule wartet auf mich. Wir wollen shoppen. Ist doch in Ordnung, oder?«
Unruhig kratze ich mit meinen Fingernägeln so stark über meine Oberschenkel, dass meine Fingerspitzen vom Jeansstoff ganz heiß werden. Aber es reicht, um die Wut meiner Verletzlichkeit schnell und effektiv herauszulassen. Ich weiß nicht einmal mehr, warum ich es überhaupt wieder und wieder versuche. Mittlerweile sollte ich wissen, dass ihm alles wichtiger ist als unsere Zeit zusammen. Wütend macht mich eher die Tatsache, dass mich dieses Gefühl der Enttäuschung jedes Mal aufs Neue unvorbereitet trifft.
Nachdem er sich endlich von seinem blöden Handy losreißen kann, richtet Papa sich auf und schenkt mir ein entschuldigendes Lächeln. »Tut mir leid, Schatz. Du weißt ja, die Arbeit …«
Das ist seine Erklärung für alles, die er ganz frei nach Belieben nutzt. Jonas und ich wissen genau, dass unsere Schwester ihm schreibt, aber im Gegensatz zu mir muss mein Zwillingsbruder nie um die Gunst meines Vaters buhlen. Das Gefühl, nur die Zweitbesetzung zu sein, die für niemanden gut genug ist, ist scheiße. Carolina hat Papa damals genauso verlassen wie unsere Mutter. Während er sich allerdings von der Trennung und der Affäre erholt hat, konnte er nie ganz überwinden, dass Carolina lieber bei Mama bleiben wollte. Das hat nicht nur ihn selbst, sondern unsere ganze Beziehung so stark beeinflusst, dass ich mich kaum daran erinnern kann, wann Papa mich das letzte Mal umarmt hat. Ich schlucke die Traurigkeit herunter, die mich einzunehmen droht, bevor ich mich räuspere. »Du hast die Regel aufgestellt, dass das Telefonieren und Nachrichten schreiben am Esstisch verboten ist, und doch bist du immer derjenige, der sich nicht daranhält.«
»Zoé, ich glaube kaum, dass wir die Dringlichkeit unserer Konversationen miteinander vergleichen können.«
Noch etwas, das einem Schlag ins Gesicht gleicht. Alles, was mein Vater tut, ist höchst wichtig. Während mein Leben in seinen Augen an Belanglosigkeit nicht zu übertreffen ist.
»Das ändert nichts daran, dass du mir nie zuhörst. Und wir wissen beide, dass diese Nachrichten nicht die Arbeit betreffen.«
Er verdreht die Augen. »Es geht dich nichts an, wer mir schreibt. Ich bin der Erwachsene hier am Tisch und ich darf die Regeln missachten. Für mich gelten sie nicht. Du weißt genau, dass deine Schwester nur ziemlich selten zu erreichen ist. Da müssen dann leider Abstriche gemacht werden.«
Gekränkt blicke ich auf meine Hände, die sich immer tiefer in meine Oberschenkel graben. Das verräterische Brennen in meinen Augen, das seine Worte auslöst, überrumpelt mich. Abstriche auf meine Kosten meint er wohl. Jemand anderen, der hier irgendwelche Kompromisse macht, sehe ich nämlich nicht. Ich darf immer den Kopf hinhalten. Mit brüchiger Stimme antworte ich ihm. »Wir machen seit Jahren Abstriche. Wenn Carolina ruft, springst du. Andersherum würde sie aber nie auch nur einen Finger für dich krümmen und das weißt du. Jedes Mal, wenn sie herkommt, hält sie es nicht länger als drei Tage aus und flüchtet dann wieder. Nach Hause. Denn sind wir mal ehrlich – das hier ist für niemanden mehr ein Zuhause, seitdem du das Haus verkauft hast.«
»Das Hotel ist unser Zuhause. Auch das deiner Schwester. Sie wird nach Hause kommen und das tun, was von ihr erwartet wird. Ich kann nicht glauben, dass du sie immer wieder als die Schuldige darstellen willst«, entgegnet er lauter als beabsichtigt, denn bereits im nächsten Moment schaut er sich im Restaurant um. Auch mein Blick wandert zu den anderen Gästen. Die meisten bekommen von diesem Theater nichts mit, doch ein paar Gäste mustern uns neugierig. Mein Vater räuspert sich, schiebt seinen Stuhl hörbar zurück und steht auf. Ich senke den Blick, um seinem missbilligenden Ausdruck auszuweichen, und erhebe mich ebenfalls. Sobald er steht, knöpft er seine Anzugjacke zu. Offenbar ist das Mittagessen nun wirklich vorbei.
»Wir sollten aufhören zu streiten, Zoé. Diese Leier hatten wir schon etliche Male und nie siehst du ein, dass du im Unrecht bist«, erklärt er. Dieses Mal klingt seine Stimme wieder deutlich ruhiger. Ich frage mich, ob in ihm überhaupt ein Herz schlägt. Seine Stimmungsschwankungen und Launen sind so unvorhersehbar, dass mir schwindlig wird. »Ich habe dir außerdem sehr wohl zugehört. Das dunkelrote Kleid klingt wunderbar. Nutz gerne deine Kreditkarte, auch für eventuelle Änderungen bei der Schneiderin bezüglich des tiefen Ausschnitts. Du solltest vielleicht überlegen, ob du deine Brust nicht doch lieber etwas weniger auf den Präsentierteller legen möchtest. Sicherlich fühle nicht nur ich mich damit wohler.«
»Willst du mir sagen, dass ich nicht schön genug bin, um so ein Kleid zu tragen? Dass es für die feine Gesellschaft zu viel wäre, wenn eine Frau zeigt, was sie hat, obwohl sie keiner Size Zero entspricht?«
»Das ist Unsinn, Zoé, und das weißt du. Uns ist doch beiden klar, dass du mich nur provozieren willst!«
Ich lache heiser. »Bemerkenswert, wo du der Unterhaltung heute kaum folgen, geschweige denn vernünftig mit uns sprechen konntest«, erwidere ich sauer. Ich blicke meinen Bruder an, der mich nur mitleidig ansieht. Aber auch das kann er sich sparen. Ich hasse es: Dieses ständige Gefühl, auf nichts als auf meinen Körper und mein Gewicht reduziert zu werden. »Ich denke, wir sind hier fertig. Willst du mitkommen?«
Jonas presst die Lippen aufeinander und schüttelt den Kopf, als hätte ich ihn gefragt, ob er Jule einen Kuss geben möchte. »Einen Kaffee trinken? Mit dir und Jule? Nein, danke. Eine Sekunde in ihrer Nähe und ich glaube, ich muss einen Exorzisten aufsuchen.«
»So schlimm ist sie nicht«, versuche ich sie und ihre Marotten zu rechtfertigen, dabei weiß ich eigentlich genau, dass sie durchaus anstrengend sein kann. Schließlich ist sie meine beste Freundin, seitdem Carolina gegangen ist und wir beide mehr oder weniger von ihr zurückgelassen wurden. Wir haben immer mehr Zeit miteinander verbracht und Jule war mehrmals für mich da, als es mir schlecht ging.
Jetzt schaltet sich auch Papa ein und brummt zustimmend. »Jule Gernot ist eine verzogene Göre und du weißt, dass ich euren Kontakt nur dulde, weil ihr Vater ein einflussreicher Mann in unserer Stadt ist.«
Darauf erwidere ich nichts. Sie ist wirklich verwöhnt, aber das sind Jonas und ich auch. Im Grunde stammen all unsere Freunde aus wohlhabenden Elternhäusern, die regelmäßig dafür sorgen, dass wir Zeit miteinander verbringen.
»Ein einfaches Nein hätte gereicht«, antworte ich Jonas. »Bis heute Abend, Papa.«
»Denk dran, dass der Kirschblütenball einem guten Zweck dient. Du solltest dich dem Anlass entsprechend kleiden. Nicht zu kurz, nicht zu viel Haut und …«
»Und was?«, frage ich herausfordernd.
»Bitte, Zoé … Nichts Enganliegendes, das zu sehr aufträgt. Das steht dir einfach nicht.«
Genauso gut hätte er mir eine Ohrfeige geben können. Papas Worte treffen mich knallhart. Für einen kurzen Moment bleibt mir die Luft im Hals stecken, dann nicke ich mechanisch. Keine Ahnung, wie ich diese Bewegung zustande bringe, denn kaum, dass ich mich wortlos umdrehe, fühlt sich alles an mir augenblicklich viel schwerer an. Als würde ich Steine an meinem Körper hinter mir herziehen und 500 Kilo wiegen statt der aktuellen 118. Das bekannte Brennen in meinen Augen verscheuche ich, indem ich zwei Mal fest die Augen schließe und zitternd ausatme. Mit klammen Händen verlasse ich das Restaurant und laufe durch die Hotellobby. Im Aufzug, der mich in die Tiefgarage bringt, halte ich die Luft an, um die Wut in meinem Bauch zu vertreiben.
Als ich aussteige, kommen mir Gäste entgegen, die mich mit einem höflichen Lächeln grüßen, doch ich erwidere nur ein knappes Nicken. Der modrige Geruch in der Tiefgarage schnürt mir beinahe die Kehle zu.
Ich steige in mein Auto und lasse den Kopf kraftlos gegen den Sportsitz fallen. Erst dann gebe ich mir eine Minute, um den aufziehenden Sturm in meinen Gedanken zu verscheuchen. Routiniert klappe ich den Innenspiegel auf, greife blind nach meinem Lieblingslippenstift, der immer griffbereit vorne in meiner Ablage liegt, und trage eine neue Schicht auf meine Lippen auf. Dann suche ich auf Spotify nach einer Feel-Good-Playlist und fahre mit lauter Musik davon. Schließlich bin ich Zoé, die gutgelaunte, witzige, dicke Freundin. Ich lasse den Kopf nie hängen. Niemals.
***
»Hast du schon ein Outfit für die Party des Jahres?«, fragt Jule und lehnt sich in dem viel zu großen Ohrensessel zurück. Wir treffen uns oft im Starbucks und wenn es geht, sitzen wir immer hier. Zwar müssen wir dafür nur nach Rostock fahren, aber die zehn Minuten fühlen sich trotzdem immer viel zu lang an und das nur, weil Starbucks sich dagegen entscheidet, in Warnemünde eine Filiale zu eröffnen. Außerdem lieben wir beide die Getränke, die es hier gibt. Dementsprechend sage ich selten Nein, wenn Jule mich auf einen Kaffee einladen möchte. Es ist erst kurz nach drei und ausnahmsweise ist der Laden nicht allzu voll. Im Hintergrund werden sanfte Lo-Fi-Beats gespielt und das Gemurmel der anderen Gäste dringt hin und wieder an mein Ohr.
»Welche Party meinst du?«, frage ich und mustere Jule.
Erst glaube ich, dass sie meinen Geburtstag meinen könnte. Aber damit aus diesem die Party des Jahres wird, müssten mein Bruder und ich erst einmal einige Entscheidungen bezüglich unserer Feier treffen. Seit Wochen liegt er mir damit in den Ohren und immer wieder vertröste ich ihn auf einen anderen Zeitpunkt. Ich weiß nicht, ob ich meinen Geburtstag mit fremden Menschen verbringen möchte, die nur kommen, um sich zu betrinken.
»Hast du mir die letzten Wochen nicht zugehört?«, fragt sie lachend. »Anna van Houten wird zwanzig. Ich habe gehört, dass sie sogar Zarah Mulder eingeladen hat und die hat zugesagt. Das wird die Party des Jahres und ein internationales Supermodel kommt! Wie kannst du das denn nicht wissen, Zoé?« Jules lange blonde Haare fallen ihr in perfekt gestylten Wellen über die Schulter, als sie den Kopf schüttelt und lacht. Ihre hellrosa geschminkten Lippen verziehen sich zu einem Lächeln.
Ich kenne Zarah Mulder flüchtig von einigen Events, zu denen ich meinen Vater begleiten durfte. Nachdem ihr Vater vor Jahren seine Familie in den finanziellen Ruin getrieben und niemand anderes als Daan van Houten Zarah und ihrer Mutter auf die Beine geholfen hat, sind sie wirklich keine Unbekannten in unseren Kreisen. Daan war es auch, der Zarah zu einer Modelkarriere verholfen hat. Seitdem läuft sie auf den angesehensten Fashionshows dieser Welt und genießt eine Bekanntheit, die vielen verwehrt bleibt. Außerdem sind Anna und Zarah auch davor schon beste Freundinnen gewesen. Natürlich hat sie eine Einladung zu ihrem Geburtstag erhalten, weshalb ich mich frage, warum Jule so eine große Sache daraus macht.
»Ich habe noch nicht überlegt, was ich anziehe. Ich denke, ich entscheide spontan. Es sind ja auch noch zwei Tage, bis Anna Geburtstag hat.«
»Aber eine Einladung hast du doch bekommen, oder?«
Ich lache. Was ist das denn für eine Frage? »Natürlich. Unsere Eltern kennen sich seit Jahren und wir Kinder sind gemeinsam aufgewachsen. Wir laden einander immer zu Geburtstagen ein.«
»Na ja, eure Eltern sind Konkurrenten«, wirft sie ein und sieht mich neugierig an.
Was sie sagt, ist kein großes Geheimnis. Auch wenn mein Vater sich in der Öffentlichkeit sehr bedeckt hält, was den Leistungsdruck und den ständigen Wettbewerb mit den van Houtens betrifft. Im Grunde erlaubt Papa den Kontakt zu den van Houten-Kindern nur, damit sich ihre kleine Schlammschlacht nicht negativ auf ihr Image auswirkt. Beziehungen – sogar zu den Menschen, die einem gefährlich werden könnten – sind das A und O in unserer Welt und Daan van Houten ist ebenso erfolgreich wie mein Vater und ihm dementsprechend ein Dorn im Auge.
»Richtig. Aber das heißt nicht, dass auch wir Kinder miteinander verfeindet sind. Und so oft treffen wir uns nun auch nicht.«
»Mhm«, sagt Jule und mustert mich wenige Sekunden, dann wandert ihr Blick hinter mich und ein Grinsen schleicht sich auf ihre Lippen. »Anscheinend hat Milan gerochen, dass wir über seine Familie sprechen. Er ist gerade mit Sally Vasquez reingekommen.«
Unbeteiligt zucke ich mit den Schultern und werfe einen kurzen Blick nach hinten. Tatsächlich steht dort Milan van Houten mit seiner besten Freundin Sally. »Ich wusste gar nicht, dass er wieder hier ist.«
Keine Ahnung, was es ist, aber Milan hat irgendetwas an sich, das mich schon immer fasziniert hat. Ich schiebe es immer auf seine Ausstrahlung, die vermutlich der Grund für den winzigen Crush ist, den ich insgeheim schon immer auf ihn hatte. Dieser Mann ist nicht nur nett, charmant und höflich, sondern auch schön. Anders kann ich es nicht ausdrücken. Er hat hellbraune, kurze Haare. Dazu seine blauen Augen, sein strahlendes Lächeln und einen Körper, den er in seinen Instagram-Storys nur allzu gerne beim Training im Fitnessstudio präsentiert.
Jule grinst. Offenbar hat auch sie Gefallen an Milans Aussehen gefunden, denn sie scheint ihn mit ihren Blicken geradezu auszuziehen. Verübeln kann ich es ihr nicht, denn ich bin nicht besser.
»Er ist wieder hergezogen. Anscheinend übernimmt er das Hotel in Warnemünde, damit sein Vater wieder zurück in die Heimat kann. Außerdem ist seine Schwester hier, fast all seine Freunde leben hier oder im näheren Umkreis. Es ergibt Sinn, dass er wiederkommt.«
»Woher weißt du das alles?«, frage ich lachend. »Nicht mal ich habe das mitbekommen und Papa lässt sich regelmäßig über diese Familie aus.«
»Ich bin eben gut informiert. Milan teilt viel auf Instagram«, beantwortet sie meine Frage.
»Stimmt!« Ich nippe an meinem Kaffee, der inzwischen etwas abgekühlt ist. »Dann werde ich ihn in nächster Zeit wohl wieder öfter sehen.«
Jules Blick klebt an mir und irgendwie schaut sie mich mit einer Mischung aus Verwirrung und noch etwas anderem an, das ich nicht benennen kann. »Wie meinst du das denn?«
Ich räuspere mich, unsicher was dieser merkwürdige Unterton in ihrer Stimme zu bedeuten hat. »Na ja, der Kirschblütenball steht bald an und so wie ich meinen Vater kenne, wird er Milan zu seinen Events einladen. Du weißt schon – die junge Konkurrenz einschüchtern. Außerdem ist noch die Charity-Auktion im Yachtclub, wo er und seine Familie auch Mitglieder sind.«
»Ah«, gibt sie von sich. »Stimmt. Dein Vater schüchtert seine Konkurrenten gerne ein. Daddy sagt, dass das eine gute Taktik sein kann, wenn man sie richtig anwendet.«
Jedes Mal, wenn Jule ihren Vater Daddy nennt, muss ich mir Mühe geben, nicht zu kotzen. Aber vielleicht spricht da auch nur der Neid aus mir, dass ihr Vater ihr seine volle, manchmal ziemlich übertriebene Aufmerksamkeit schenkt, während ich darum kämpfen muss, dass meiner mir überhaupt mal zuhört.
»Absolut«, stimme ich zu. »Ich glaube, unsere Väter sind sich da ziemlich ähnlich.«
Sie sind zwar in unterschiedlichen Branchen tätig, aber nicht weniger erfolgreich als der jeweils andere. Während Papa sich mit seinen Hotels selbstständig gemacht hat, ist Jules Vater der Gründer von Pixmax – einer Social Media App, die aktuell nur im deutschsprachigen Raum genutzt wird. Man könnte sie als eine Mischung aus Tinder und Instagram bezeichnen.
»Hast du denn schon ein Outfit?«, frage ich, doch Jules Lächeln verschwindet sofort und ihr Blick wandert wieder hinter mich.
»Hey, Zoé.«
Eine tiefe Stimme überrascht mich und jagt mir instinktiv einen Schauer über den Rücken. Ich drehe mich um und erblicke Milan, der mit hochgeschobener Sonnenbrille in den Haaren zu mir schaut und grüßend die Hand hebt. Auch Sally steht in geringer Entfernung zu unserem Tisch und beide halten einen Kaffeebecher in der Hand. Ich hoffe sehr für Milan, dass er seinen schwarzen Kaffee nicht in dem weißen Leinenhemd verteilt, wie es mir so oft passiert, wenn ich helle Sachen trage. Auch Sally winkt mir lächelnd zu.
»Hey«, erwidere ich. »Lass dir den Kaffee schmecken.«
Eigentlich wundert es mich nicht, dass Milan mich begrüßt. Allerdings ist das letzte Mal, dass wir miteinander gesprochen haben, doch schon eine Weile her. Er ist zwar immer freundlich und interessiert, aber meist war ich diejenige, die das Gespräch gesucht hat und auf ihn zugegangen ist.
»Du auch!« Er prostet mir mit seinem Kaffeebecher zu und grinst. »Wir sehen uns auf Annas Party, oder?«
»Sicher!«
»Dann bis bald.«
»Mach’s gut«, verabschiede ich mich und schaue ihm einen kurzen Augenblick dabei zu, wie er mir freundlich zunickt und dann mit Sally das Lokal verlässt. Ich drehe mich wieder zu Jule, die mich mit großen Augen mustert, aber kein Wort sagt. Ich verstehe nicht, warum sie so eigenartig reagiert. Das ist doch nur Milan. Sie hat ihn schon öfter gesehen. Zwar bin ich mir sicher, dass die beiden auf Partys oder Veranstaltungen weniger miteinander zu tun hatten, aber dieser Schock in ihren Augen löst ein mulmiges Gefühl in mir aus. Doch die Gelegenheit, nachzufragen, ergibt sich nicht, denn im nächsten Moment räuspert sie sich, greift nach ihrer Tasche und erhebt sich.
»Also?«
»Also was?«, frage ich irritiert.
Der skeptische Ausdruck wird schlagartig von einem breiten Lächeln abgelöst. Als hätte ich ihn mir nur eingebildet. »Gehen wir shoppen? Du könntest wirklich neue Klamotten gebrauchen.«
Schon seit einer Stunde wandern wir durch die Läden der Rostocker Innenstadt. Jule trägt bereits etliche Tüten mit sich herum. Ihre Handgelenke müssen inzwischen schmerzen von all dem Gewicht, das an ihnen hängt. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt so viel gekauft habe wie sie, aber es muss eine Ewigkeit her sein. Für meine Kleidergröße gibt es in den Geschäften nicht allzu viel Auswahl, weshalb ich seit einigen Jahren dafür sorge, dass Onlineshops regelmäßig von meinem Konto Unmengen an Geld einziehen dürfen.
»Soll ich dir etwas abnehmen?«, frage ich. »Dann brauchst du nicht alles allein tragen.«
Kopfschüttelnd lehnt sie ab. »Nein, danke. Das ist auch Training. Hab das Gym heute sausen lassen. Keine Lust auf Cardio.«
Ich lache. »Bei den Temperaturen kann ich mir auch etwas Besseres vorstellen als zum Sport zu gehen.«
»Ich gehe gerne hin, aber an manchen Tagen ist einfach der Wurm drin«, gibt sie zu und zuckt mit den Schultern.
»Aber das ist doch okay, oder? Pausen sind auch wichtig.«
»Genau«, stimmt sie mir zu und grinst, bevor ihr Kopf nach rechts zu einem Laden deutet, den sie wohl als nächstes ins Visier genommen hat. »Da muss ich unbedingt noch rein. Auf TikTok haben die so tolle Kleider und Outfits gezeigt, dass ich mich einfach persönlich davon überzeugen muss.«
Ein wissendes Grinsen schleicht sich auf meine Lippen. »Also kaufen wir den ganzen Laden leer. Du bist wirklich eine Shoppingqueen.«
»Hast du gesehen, was ich trage? Das ist Voraussetzung dafür«, erwidert sie grinsend. »Vielleicht finden wir für dich auch etwas Schönes. Für die Party.«
»Ja, vielleicht«, antworte ich wenig überzeugt, will ihr die gute Laune aber auch nicht nehmen. Jule und ich sind schon öfter aneinandergeraten, weil sie nicht versteht, dass es für mich als übergewichtige Person manchmal nicht so leicht ist, shoppen zu gehen. Wobei das Wort übergewichtig in meinen Augen sehr negativ behaftet ist und ich mich eher als mehrgewichtige Person bezeichnen würde. Während ich meistens nicht viel dazu sage, außer, dass es okay ist, wenn ich ihr einfach bei der Anprobe behilflich bin, versucht sie mir immer weiszumachen, dass ich ein falsches Bild von meinem Körper hätte. Dass ich mit einer Konfektionsgröße 46 oder 48 nicht in einen Rock passe, der für Größe 40 ausgelegt ist, will sie aber trotzdem nicht akzeptieren. Meist bleibe ich daher zuhause, wenn vorab der Shoppingtrip schon erwähnt wird. Das erspart mir einiges an Nerven – und manchmal sogar Tränen.
Wir betreten den unscheinbar aussehenden Laden. Drinnen liegt ein blumiger, femininer Duft in der Luft, während ich feststelle, dass in diesem Geschäft definitiv kein Ordnungsfanatiker das Sagen hat. Als ich musternd meine Blicke über die ausgestellte Kleidung wandern lasse, bemerke ich, dass hier weder nach Größe noch Kleidungsstil sortiert ist, sondern nach Farbe. Der ganze Laden wirkt durch die pinken Wände, die vielen Blumen und die farblich sortierten Kleidungsstücke wie eine elegante, erwachsenere Version von Candyland – nur eben ohne die Süßigkeiten. In der hinteren Abteilung verwandelt sich das Pink in Schwarz und bildet einen starken Kontrast zu den sonst so hellen, auffälligen Farben der Kleidungsstücke.
»Hallo und herzlich willkommen in meiner Boutique«, begrüßt uns jemand aus der hinteren Ecke. Es ist die helle, fröhliche Stimme einer Frau in den Dreißigern. In einem Kleid, bestehend aus roten, pinken und weißen Quadraten, fällt sie in der bunten Kleiderauswahl kaum auf, während sie gerade eine Kundin berät. Dennoch grüßt sie uns schnell mit einem freundlichen Lächeln. »Schaut euch um und probiert an, was ihr möchtet. Ich bin sofort bei euch, wenn ihr Hilfe benötigt.«
»Danke«, erwidere ich, dann schaue ich Jule fragend an, in der Hoffnung, dass sie den Anfang macht.
»Komm. Ich glaub, ich finde das Pastellpink dahinten perfekt für mich!« Jule stupst mich auffordernd an und ich trotte ihr hinterher.
»Gibt es hier nur Klamotten für Frauen?«, frage ich, als ich im Vorbeigehen eine große Auswahl an Krawatten entdecke. »Irgendwie wirken die hier fehl am Platz.«
»Ich glaube, die Männermode ist weiter hinten«, antwortet Jule abwesend und bindet ihre Haare zusammen, bevor sie die einzelnen Kleidungsstücke ansieht. Zuerst folge ich ihr ein wenig unbeholfen, ehe ich ein Kleid entdecke, das mir gefällt. Es ist hellblau und aus leichtem, dünnem Stoff. Perfekt für den Sommer. Die Ärmel reichen ungefähr bis zum Ellenbogen und haben eine kleine Raffung, sodass der Stoff in schöne Falten gelegt wird. Der Ausschnitt ist etwas tiefer, aber nicht so, dass ich mich damit unwohl fühlen würde. Mit einem Kribbeln in den Fingern greife ich danach und schaue viel zu hoffnungsvoll auf die Größe.
42/44.
Schade.
Enttäuscht lasse ich das Kleid wieder los und sehe mich um. Jule hält inzwischen mehrere Teile in der Hand und sieht mich abwartend an. »Willst du das anprobieren?«
Schnell winke ich ab, um das Thema und vor allem die Enttäuschung schnell abzuhaken. »Die Größe passt nicht ganz.«
»Sieht für mich aber relativ groß geschnitten aus«, meint Jule und geht an mir vorbei, um nach dem Kleid zu greifen. »Und der Stoff ist auch dehnbar.«
»Ja, aber … Ach, ist schon okay«, sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln. »Ich habe ein ähnliches Kleid online gesehen und werde es mir dort einfach bestellen.«
»Unsinn. Ich sehe doch, dass du es anprobieren möchtest«, versucht Jule es noch einmal. »Komm schon. Wenn es dann immer noch nicht passt, gebe ich Ruhe.«
»Nein, Jule. Ich habe gesagt, ich möchte nicht«, sage ich mit mehr Nachdruck.
»Warum nicht? Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass es zu klein ist.«
Es ist anstrengend, Menschen zu erklären, wie es sich anfühlt, wenn die Klamotten im Laden selten in der eigenen Größe ausgestellt sind. Manchmal ist es hart, sich die Tränen zu verkneifen. Wenn man sieht, wie unvorteilhaft Kleidung in großen Größen geschnitten ist oder wenn Motive von Disney und Co. auf die Shirts gedruckt sind … Das ist alles, was eine Zwanzigjährige in den meisten Fällen nicht anziehen möchte. Zumindest diese Zwanzigjährige hat es satt, wie ein Kind oder eine ältere Frau angezogen zu sein, mit all diesen inspirierenden Zitaten, die in Schnörkelschriften auf Brusthöhe aufgedruckt sind. Stay lovely, be yourself, trust in you und weitere Floskeln, von denen alle wissen, dass nichts davon wirklich inspirierend ist, sondern im Grunde einfach nur hässlich. Die Hosen, die in großen Größen am Knöchel genauso groß und ausgestellt sind wie an den Oberschenkeln, die im Schritt komische Falten werfen und alles andere als The Perfect Skinny sind.
»Ich möchte das Kleid nicht anprobieren, Jule«, mache ich noch einmal deutlich. Etwas zu deutlich, wie ich ihrem Gesichtsausdruck nun ansehe.
»Na schön. Ich meine doch nur, dass es dir stehen könnte. Und fühl doch mal. Der Stoff ist wirklich sehr stretchy«, meint sie und schaut mich traurig an. »Ich sehe doch, dass es dir gefällt.«
Ich seufze, weil ich weiß, dass im Grunde nicht ich im Unrecht bin, sondern sie, die mich zu etwas drängen möchte. Dennoch entschuldige ich mich. »Tut mir leid. Du weißt doch, dass das für mich nicht so leicht ist.«
Frustriert sieht sie mich an, ehe sie spricht. »Weil du es dir viel zu schwer machst. Das sage ich dir jedes Mal. Vielleicht passt das Kleid ja. Hier stehen zwar Größen drauf, aber meistens sind die doch ganz anders geschnitten. Ich muss ständig zwischen drei Größen variieren. Vielleicht verpasst du die Chance auf ein wunderschönes Kleid für Anna van Houtens Party. Oder wo auch immer du das anziehen möchtest.«
Wieder entfährt mir ein Seufzen, aber dieses Mal ist es resigniert. Jule schaut mich aus so traurigen Augen an, dass ich ein schlechtes Gewissen bekomme. Super gemacht, Zoé.
»Okay«, stimme ich nun doch etwas widerwillig zu. »Ich werde es anprobieren. Aber wenn es schlecht aussieht, werden wir nie wieder darüber sprechen, in Ordnung?«
Ein aufgeregtes Quietschen entfährt ihr und sie klatscht erfreut. »Ahhhh, ich bin ja so gespannt, wie es aussehen wird. Los! Lass uns gehen!«
Auf dem Weg zu den Umkleidekabinen, die etwas weiter hinten im Laden liegen, greife ich nach dem hellblauen Kleid. Auch ich kann jetzt nicht mehr leugnen, nicht doch ein kleines bisschen aufgeregt zu sein, ob das Kleid nicht vielleicht doch passt. Bei den Umkleidekabinen angekommen, entdecke ich auch die Verkäuferin wieder, die gerade einer Kundin einen ziemlich großen Hut andrehen möchte. Er ist so groß, dass die Person, die ihn trägt, vollkommen davon verschluckt wird.
Ich atme tief durch, als wir in jeweils eine Umkleide treten. Skeptisch blicke ich das blaue Kleid noch einmal an, ehe ich damit beginne, mich auszuziehen.
Einige Augenblicke später schlüpfe ich in das Kleid und ignoriere mein Spiegelbild dabei streng, damit die üblichen Zweifel gar nicht erst aufkommen. Der Stoff spannt schon etwas an meiner Brust, doch als dieses Hindernis überwunden ist, denke ich zunächst, dass das Kleid wirklich passen könnte. Tut es aber nicht. Es sitzt merkwürdig am Bauch, reicht mir nur knapp über den Hintern und allgemein habe ich das Gefühl, dass alle meine Unsicherheiten an meinem Körper zu stark in den Vordergrund geschoben werden.
Als meine Augen zu brennen beginnen, schließe ich sie und ignoriere, dass meine Hände ganz feucht werden. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich schaffe es nicht mehr richtig zu atmen und das Gefühl von Panik überkommt mich. Ich muss raus aus diesem Kleid, bevor es mir endgültig die Kehle zuschnürt.
»Und?«, fragt Jule. Sie klingt fröhlich und aufgeregt.
»Es ist zu klein«, presse ich hervor und will das Kleid ausziehen. Doch meine Finger sind vor Panik so klamm, dass mir die Knöpfe immer wieder durch die Hand gleiten und ich sie nicht öffnen kann.
»Was? Das kann ich mir nicht vorstellen! Zeig es mir mal!«
»Ich will es dir nicht zeigen«, ächze ich. »Das war eine dumme Idee.«
»Warum bist du denn jetzt so angepisst?«, fragt sie irritiert. »Eben war doch noch alles gut.«
»Gar nichts war gut. Ich habe dir gesagt, dass das Kleid nicht passen wird, und du hast mich trotzdem dazu gedrängt. Und jetzt kriege ich die Knöpfe nicht wieder auf«, presse ich angespannt hervor. Mit dem Arm über der Schulter merke ich, wie der Stoff immer mehr spannt.
»Kann ich dir helfen?«, fragt sie ungeduldig.
»Nein! Ich will nicht, dass mich jemand so sieht.«
»Zoé, lass mich dir helfen. Ich komme rein und – «
»Nein!« Ein verzweifeltes Schluchzen entfährt mir und mir wird ganz heiß in dieser Umkleide, die plötzlich viel zu klein ist. Ich will Jule gar nicht so anfahren, aber gerade bin ich nicht in der Verfassung, meine Wut herunterzuschlucken. Sie richtet sich gegen meinen Körper. Gegen alles, was ich bin. Ich bin sauer. Auf Jule, dass sie nicht lockergelassen hat, und auch auf mich, dass ich mich zu dieser Scheiße überhaupt habe überreden lassen.
»Alles in Ordnung?«, höre ich jemanden fragen. Die Stimme klingt zu tief für Jule. Kurz halte ich inne, als mir bewusst wird, wer auf der anderen Seite des Vorhangs steht.
»Milan … hi«, entfährt es Jule. Das Lächeln, das sich in diesem Moment mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auf ihren Lippen befindet, kann ich praktisch hören. »Natürlich ist alles in Ordnung. Zoé hat gerade ein Kleid anprobiert und ich warte darauf, dass sie es mir vorführt.«
Meine Augen weiten sich. »Was ich nicht tun werde. Weil es nicht passt, Jule. Was soll die Scheiße?«
Ein Ächzen entschlüpft mir als ich mich auf die Zehen stelle und meinen Rücken biege, um meinem Arm näher an den Reißverschluss zu bringen.
»Oh, das ist doch nicht schlimm«, schaltet sich nun eine zweite Stimme hinzu. Wenn ausgerechnet Milan in diesem Laden ist, ist Sally natürlich nicht weit weg. »Das habe ich auch so oft. Vielleicht können wir dir ja ein anderes Kleid suchen.«
»Hab ich auch schon vorgeschlagen. Es ist voll okay, wenn ein Kleidungsstück nicht passt.«
Ich gehe nicht weiter auf Jules Lüge ein und ich hasse es, dass sie mich in diesem Moment dafür nutzt, um vor Milan und Sally gut dazustehen. Ich hasse alles an diesem Augenblick.
»Soll ich dir nun helfen?«, fragt sie, nachdem mir ein weiteres Ächzen entfährt.
Ich strecke meine Hand noch ein bisschen um meinen Oberkörper herum, um doch noch den obersten Knopf öffnen zu können. Gerade so erreiche ich mit einer meiner Fingerspitzen die Knopfleiste, da knickt mein linker Fuß plötzlich um und ich verliere das Gleichgewicht. Mit dem Hintern voran falle ich nach vorne durch den Vorhang und ignoriere das Keuchen um mich herum, als ich auf dem Boden aufpralle.
Beschämt schlage ich die Hände vor dem Gesicht zusammen und stöhne, bevor eine erste Träne ihren Weg zu meiner Wange findet.
»Shit, Zoé. Alles okay?«, fragt Sally, doch ich kann gar nicht erst antworten.
»Was ist denn hier passiert?« Eine weitere schrille Stimme kommt dazu und erst jetzt nehme ich die Hände wieder vom Gesicht und sehe mich um. Da sind nicht nur Milan, Jule und Sally. Nein, auch die Verkäuferin von eben ragt über mir auf, ihre Augen groß und aufgerissen. Ihre Stimme klingt längst nicht mehr so fröhlich wie eben, als wir hereingekommen sind.
»Tut mir leid. Ich habe wohl den Halt verloren«, entschuldige ich mich und setze mich auf. Sofort kommt mir eine Hand zur Hilfe, die ich ergreife und im nächsten Augenblick begreife ich, dass es Milan ist, der mir auf die Beine hilft.
»Hey, nimm doch mein Hemd, okay?«, schlägt er mit einem mitleidigen Lächeln vor. Irritiert blicke ich ihn an, während er beginnt, sein Hemd aufzuknöpfen. Darunter kommt nicht mehr als eine nackte, ziemlich gebräunte und muskulöse Brust zum Vorschein.
»Was? Wieso?«, entfährt es mir verwirrt, während Milan das Hemd in die Luft hält. Dabei wendet er seinen Blick ab, als könnte er meinen Anblick nicht ertragen. Sally räuspert sich und Jule hält sich ihre Hand vor den Mund.
»Wieso?«, entfährt es der Verkäuferin empört. »Sie haben das Kleid ruiniert. Was fällt Ihnen ein?«
Entsetzt blicke ich an mir hinunter. Augenblicklich wird mir schlecht. Mein kompletter Oberkörper ist entblößt. Der Stoff ist genau an der Seite gerissen und hat das Kleid bis zur Schulter ruiniert. Ich keuche auf und schlage die Hände vor meiner Brust zusammen. Unter diesem Kleid habe ich es nicht gewagt, einen BH zu tragen. Das habe ich nun davon …
Schnell reiße ich das Hemd aus Milans Hand, ehe ich es vor meine Brust halte, um mich zu bedecken. Tränen brennen vor Scham in meinen Augen und mir bleibt die Luft in der Kehle stecken. »Ich … Es t-tut mir leid!«
»Haben Sie denn die Größe von diesem Kleid nicht gesehen?«, fährt sie mich an. »Das ist ja wohl offensichtlich, dass Menschen wie Sie für dieses Kleid nicht gemacht sind, nicht?«
Tränen rollen über meine Wangen. »Menschen wie mich?«
»Das Kleid kostet 160 Euro und nun darf ich meiner Chefin erklären, dass eine dahergelaufene Frau das Kleid mit all ihren Fettpolstern ruiniert hat.«
Mein Atem stockt und ich kann die Tränen nicht verhindern.
»Zoé, sie ist einfach unfreundlich und gemein. Hör bitte nicht hin«, versucht Sally mich abzulenken, doch die Worte hallen in meinen Gedanken wider, brennen sich für immer in mein Gedächtnis ein. Ich klammere mich an Milans Hemd fest und taumele zurück in die Umkleide.
»Sie sollten ganz vorsichtig sein mit dem, was Sie da gerade von sich geben«, warnt Milan sie und baut sich vor ihr auf. Er klingt verärgert, aufrichtig betroffen. Doch ich kann den Gedanken, dass irgendwer mich noch länger in diesem Zustand sieht, nicht ertragen und reiße den Vorhang zu.
»Sagen Sie ihrer Freundin, dass Sie Hausverbot hat, und dann verschwinden Sie. Sofort!«
»Ich kanns kaum erwarten, diese vier Wände zu verlassen.«
Da sind wir schon zwei, Milan.
In Windeseile streife ich das Kleid von meinem Körper ab und schlüpfe zurück in meine Klamotten.
Als ich den Vorhang wieder öffne, begegne ich Milans und Sallys Blicken. Während Sally mich aufmunternd anlächelt, mustert Milan mich mitleidig. Jule sieht mich mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen an. Wortlos drücke ich Milan sein Hemd zurück in die Hand, ehe ich an ihm vorbeistürme und den Laden und diese Blamage hinter mir lasse.
»Hier steckst du«, ertönt Jonas Stimme hinter mir.
Unter meinen Fingern ist der Sand noch warm von der Sonne, die gerade langsam hinter dem Horizont verschwindet. Das Meer rauscht, wird aber immer leiser, je näher die Brandung sanft ans Ufer rollt. Ich rege mich nicht, starre bloß weiter in Richtung des Sonnenuntergangs. Ein warmes Orange nimmt den Himmel ein. Hinter dem Hotel gibt es diesen Strandabschnitt, der allein uns gehört. Keine Ahnung, wie Papa es damals geschafft hat, diesen Abschnitt nur für uns als Familie zugänglich zu machen. Aber heute schafft es nicht einmal dieser wunderschöne Anblick, meine Gedanken zu beruhigen.
»Darf ich mich setzen?«
Ich nicke bloß, während er ohnehin schon dabei ist, sich neben mir niederzulassen. Mit einem Ächzen, das von unserem Vater stammen könnte, setzt er sich neben mich in den Sand. Schnell wische ich mir mit dem Handrücken über die Wangen. Doch ich bin mir sicher, dass Jonas meine Tränen längst bemerkt hat. Es ist, als hätten alle angestauten Gefühle der letzten Wochen auf diesen Moment gewartet, um auszubrechen. Dabei bin ich immer ziemlich gut darin, zu verbergen, wie es mir geht. Aber ich schätze, auch das ist keine Eigenschaft, auf die man stolz sein sollte. Als ich jünger war, habe ich gelernt meine Gefühle zu verstecken. Damit niemand merkt, was in mir vorgeht. Das war zwar noch nie eine gute Idee, ist aber ein Schutzmechanismus, den ich nur schwer abstellen kann. Nach der Trennung ging es Papa so schlecht, dass ich mich nicht getraut habe, ihm mit meiner Trauer und meinen Gefühlen auch noch zur Last zu fallen. In der Schule ging es genauso weiter. Alles, was schiefgelaufen ist, habe ich immer so stark verdrängt und irgendwann … Irgendwann habe ich wirklich angefangen zu glauben, dass kein Platz für Gefühle da sei. Dass es kaum jemanden interessiert, was in mir vorgeht.
Zum Glück gibt es einen Menschen in diesem Universum, bei dem ich mich nicht verstecken muss. Meinen Zwillingsbruder, bei dem ich so viel weinen kann, wie ich möchte. Jonas ist sofort ins Auto gestiegen, als ich ihn angerufen und ihm erzählt habe, was passiert ist. Ich kann mich immer auf ihn verlassen und nach dem Fiasko heute war er meine erste Anlaufstelle. Er ist der einzige Mensch, der Dank meines panischen Anrufs schon weiß, was heute passiert ist.
Mein Blick ist starr auf das Wasser gerichtet als er seinen Arm um mich legt und mich an sich zieht. Seine Wärme hüllt mich ein wie eine kuschlige Decke. Während die leichte Brise mir übers Gesicht weht, meine Tränen trocknet, gibt Jonas mir das Gefühl von Sicherheit.
»Das ist morgen schon wieder vergessen. Und wenn du Sorge hast, dass Jule, Milan oder Sally etwas weitererzählen, lass das bitte meine Sorge sein. Dann kümmere ich mich darum, dass sie ihre Klappe halten«, bietet er direkt an.
»Nein. Sie sollen es einfach vergessen.« Meine Augen brennen. Sicherlich liegt es an der Tatsache, dass ich seit Stunden weine. Einen Blick in den Spiegel wage ich heute definitiv nicht mehr. Mein Selbstwertgefühl ist sowieso im Keller. Da würde mein verheultes, dahingeflossenes Make-up nur kontraproduktiv sein.
»Zoé, das war ein Unfall, okay? Es hätte genauso gut Jule oder Sally sein können, denen das passiert wäre«, spricht er mir gut zu.
»Aber … bei ihnen wäre das Kleid nicht gerissen. Bestimmt hätte es toll ausgesehen«, werfe ich ein.
»Das Kleid war zu klein für dich und deinen Körper. Das ist normal und menschlich. Wenn ich statt Größe L eine S trage, spannt das T-Shirt auch an meinem Körper. Der Stoff des Kleids war doch empfindlich, wie du sagst. Das hätte bei jedem passieren können. Außerdem …« Er bricht ab und schüttelt den Kopf, als wolle er sich selbst daran hindern, etwas Falsches zu sagen.
Fragend blicke ich ihn an. »Was? Was wolltest du sagen?«
Jonas seufzt. »Es war nicht richtig von Jule, dich dazu zu drängen. Du sagst zwar immer, dass du an ihr magst, dass sie dich zu neuen Dingen herausfordert, aber oftmals bringt sie dich dadurch in Situationen, die sich im Nachhinein doch nicht mehr so gut anfühlen. Vielleicht solltest du dir überlegen, wie es für dich mit eurer Freundschaft weitergeht. Ihr sagen, dass es Dinge gibt, die du einfach nicht zur Debatte stellen willst.«
»Ich weiß«, lenke ich ein. »Aber sie wollte, dass ich mich besser fühle. Es ist nicht so, als wollte sie mich damit verletzten. Eher aufbauen.«
»Ach ja? Und wo ist deine Freundin jetzt? Sorgt sie immer noch dafür, dass es dir bessergeht?«, fragt er provokant.
Darauf antworte ich nicht, denn insgeheim würde das nur seinen Standpunkt untermauern. Zwar hat Jule mir eine Nachricht geschrieben und gesagt, dass das kein Weltuntergang sei, aber sollte sie als meine beste Freundin mich nicht eigentlich in solchen Situationen auffangen? Jonas Bedenken sind vielleicht irgendwo berechtigt, denke ich mir in diesem Augenblick, aber ich würde dennoch nichts an der Situation ändern. Wenn Jule nicht mehr meine Freundin wäre, verlöre ich gleichzeitig auch alle anderen in meinem Freundeskreis. Das sind zwar Menschen, denen nicht wichtig ist, wie es mir geht oder was mich beschäftigt, sondern die nur wegen der Bekanntheit meines Vaters mit mir befreundet sind, aber ich habe es wirklich satt, allein zu sein und genau deshalb halte ich das aus.
»Mir geht es nicht darum, dass es passiert ist. Sondern, wer es gesehen hat, Jonas. Ich wollte nie …«
»Dass Milan van Houten deine Brüste sieht?«
Ich lache abfällig und schüttele den Kopf. »Meine schlaffen Brüste, meinen hängenden Bauch! Ich sehe mit Sicherheit nicht so aus wie jemand, den Milan gerne nackt sehen würde.«
»Willst … willst du denn, dass Milan dich nackt sieht?« Die Art und Weise, wie er diese Worte ausspricht, klingt ziemlich entgeistert.
»Was? Nein! Natürlich nicht. Aber … mein Körper ist meine größte Unsicherheit und ausgerechnet den habe ich auf ziemlich doofe Art und Weise zur Schau gestellt. Ich habe mich vollkommen blamiert.«
»Meinst du, wenn dein Körper anders aussehen würde, wäre es nicht so schlimm? Es wäre dir nicht peinlich?«
»Doch, aber mit Sicherheit würden die Menschen mich nicht so abstoßend finden!«
Jonas schnaubt und löst sich von mir. Mit zusammengekniffenen Augen blickt er mich an. »Abstoßend? Sag mal, spinnst du?«, fährt er mich an. »Du bist alles andere als abstoßend, Zoé, und das weißt du.«
Ich verdrehe die Augen. Er ist mein Bruder. Er muss solche Dinge sagen. Ich weiß, dass er sie ernst meint, aber er muss mich auch nicht attraktiv finden. »Hast du mir zugehört? Die Verkäuferin, sie …«
»Sie war unverschämt, okay? Das, was sie gesagt hat, geht wirklich gar nicht. Das weiß ich und du weißt das insgeheim auch.« Jonas verliert selten die Geduld mit mir, aber jetzt merke ich, dass er wirklich richtig wütend ist. »Ihre Worte waren unfair und gemein. Sie sollten dich verletzen und das haben sie getan!«
Ein Schluchzen entfährt mir und ich schlage die Hände vor meinem Kopf zusammen. »Natürlich haben sie das. Wie könnten sie auch nicht?«
Jonas seufzt. »Tut mir leid. Das Letzte, was ich will, ist irgendetwas zu verschlimmern. Ich habe bloß Angst, dass dich das wieder vollkommen runterzieht.«
Ich schweige bloß.
»Damals hat es auch mit einem winzigen Vorfall angefangen. Du hast den ganzen Tag geweint. Dann hast du dich distanziert, dich zurückgezogen und es hat so lange gedauert, bis du wieder du selbst warst.«
»Nicht«, bitte ich ihn und schüttele den Kopf. »Das ist das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann.«
Dieser Ausflug in die Vergangenheit, in die Erinnerungen, die damit einhergehen, ist zu schmerzhaft. Ausgerechnet jetzt wieder an das zu denken, was sich stetig durch meine Jugend gezogen hat, ist wirklich nichts, was mir in diesem Moment helfen würde. Diese Situation ist der von damals ähnlich, aber so schwach wie ich es zu diesem Zeitpunkt war, bin ich heute nicht mehr. Jetzt gerade weine ich, aber morgen … Morgen sieht die Welt wieder anders aus. Zumindest klammere ich mich daran fest. Mir bleibt gar keine andere Möglichkeit.
»Ich meine ja nur. Ich will nicht, dass es wieder passiert. Du sollst einfach glücklich sein. Wenn es dir nicht gutgeht, kann es mir auch nicht gutgehen«, meint er und legt wieder einen Arm um meine Schultern.
»Meinst du, ich reagiere deswegen vielleicht so stark? Weil es mich daran erinnert, wie das Mobbing angefangen hat?«
»Möglich. Trotzdem hat man dich heute verletzt und du hast jedes Recht zu weinen. Aber morgen … Morgen möchte ich, dass du mit mir zur Party gehst.«
Zögerlich sehe ich meinen Bruder an. »Ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich …«
»Niemand außer Milan, Sally und Jule wissen etwas von der Sache, oder?«
Ich nicke.
»Wichtig ist, dass du dich nun nicht einigelst. Zieh dich nicht wieder zurück, okay?«
Beschämt senke ich den Blick auf meine Hände, die ich noch immer verkrampft ineinander halte. »Tut mir leid. Das war alles zu viel heute und ich wusste nicht, mit wem ich sonst über diese Sache sprechen sollte.«
»Das ist okay. Ich bin immer für dich da. Auch, wenn es bedeutet, dass ich das Vortanzen verpasst habe.«
»Was?«, entfährt es mir und ich richte mich auf. »Das … Jonas!«
»Es gibt bestimmt noch einige Zusatztermine«, sagt er und lächelt beschwichtigend. Aber die gibt es nie und das wissen wir beide. Jonas hat eine Einladung zu einem Casting für eine neue Fernsehserie erhalten. Er war ganz aus dem Häuschen, weil seine Bewerbung wohl derartig überzeugt hat, dass er direkt zur letzten Runde des Castings eingeladen wurde. Und die war anscheinend heute. Ausgerechnet heute.
»Hätte ich das gewusst, hätte ich dich nicht angerufen.«
»Es gibt viele Castings, aber ich habe nur eine Zwillingsschwester. Und manchmal muss ich dann doch noch auf dich aufpassen.«
»Ich bin froh, dass du hier bist.«
Er lächelt mich an. »Es wird alles wieder gut, Zoé.«
Entschlossen nicke ich. »Milan wird nichts sagen, da bin ich mir sicher. Niemand wird von ihm davon erfahren.«
»Und Sally? Meinst du, sie wird dichthalten? Wobei sie nicht dein größtes Problem ist. Mit Jule als … Freundin weiß die ungefähr größte Klatschtante der Welt davon.«
»Sie werden nichts sagen«, sage ich nachdrücklich. »Ich will das Ganze einfach nur vergessen und ich weiß nicht mal, warum ich weine. Es war demütigend, ganz klar. Aber eigentlich sind meine Brüste doch auch nur irgendwelche Brüste. Nun hat Milan sie eben gesehen. Na und?«, presse ich hervor und hoffe, dass es mir gelingt nicht nur Jonas, sondern auch mich selbst von meinen Worten zu überzeugen.
Jonas lacht. »Du denkst ganz schön viel darüber nach, dass er deine Brüste gesehen hat.«
Ich schenke ihm den dunkelsten Blick, den ich draufhabe und will ihm gerade sagen, dass er gefälligst die Klappe halten soll, als plötzlich Schritte hinter uns im Sand knirschen. Eilige Schritte, die schnell näherkommen.
»War ja klar, dass ich euch hier finde«, donnert mein Vater sofort los und ich fahre herum. Jonas und ich kommen oft her, aber ich weiß nicht, wann ich Papa das letzte Mal hier gesehen habe. Ausgerechnet hier, wo Mama und Papa geheiratet haben. Seit ihrer Trennung meidet er den Ort, als würde er sich die Pest holen, wenn er den Strand hinter dem Hotel auch nur beträte. Doch scheinbar ist heute der Tag der Tage, an dem er sich traut. Mir gefällt gar nicht, mit welchem Gesichtsausdruck er mich bedenkt. »Willst du mich eigentlich auf den Arm nehmen, Zoé?«
»Was?«, entfährt es mir.
Er schnaubt. »Komm mir nicht so. Ich bin unglaublich wütend auf dich. Wie kannst du nur so dumm sein?«
»Was meinst du, Papa?«, fragt Jonas. Noch klingt er ziemlich diplomatisch, aber ich erkenne Unsicherheit in seiner Stimme.
Ich hingegen kriege kein Wort heraus. Papa sieht mich gereizt an. Seine Stirn ist in Falten gelegt und jegliche Freundlichkeit ist aus seinem Gesicht gewichen. »Ich meine die Fotos.«
»Was für Fotos?«, frage ich irritiert.
»Sebastian«, ertönt es hinter Papa und ich erkenne Katharina, Papas zweite Ehefrau, die in einem schicken Kostüm auf uns zuläuft. Mit den High-Heels in der Hand stapft sie durch den Sand. Sie bildet das perfekte Äquivalent zu Papa. »Ich habe gesagt, du sollst mit ihr sprechen, aber nicht so!«
»Wieso nicht? Sie kann ruhig wissen, dass ich enttäuscht von ihr bin.«
»Sie steht hier«, entfährt es mir, ehe ich mich aufrappele und näher auf ihn zugehe. Auch Jonas steht auf und folgt mir. »Und sie hat überhaupt keine Ahnung, was sie getan haben soll, um deine Enttäuschung zu verdienen!«
»Ich rede von deinem Fiasko in dieser Edelboutique in Rostock. Fotos davon sind veröffentlicht worden. Zuerst auf Pixmax und nun auch auf Instagram, Facebook. Dein Google Alert ist eskaliert.«
Fassungslos schüttele den Kopf. »Das … das kann nicht sein. Außer uns war niemand dort. Es kann keine Fotos geben. Das ist einfach nicht möglich!«
Papa lacht abfällig und zückt sein Telefon. Mit schnellen Fingern tippt auf seinem Display herum. Dass er dieses bei all dem Nachdruck nicht zerstört, wundert mich. »Dann hast du wohl jemanden übersehen. Schau dir das an!«