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Götter, Gräber und Geliebte Seine Eltern haben ihn vor dieser Art zu Reisen gewarnt, aber Sebastian wollte nicht hören. Seine Kumpels haben nicht aufgehört über Pauschal-Touristen in Reisebussen zu lästern, aber Sebastian hat sie ignoriert. Wer nicht hören will, muss fühlen! Der alleinlebende Endzwanziger Sebastian bucht eine Bus-Rundreise, die ihn nicht nur zu den schönsten Sehenswürdigkeiten Ägyptens, sondern auch in die tiefsten Abgründe der menschlichen Natur führen wird. Was ihn in diesen zwei Wochen emotional erwartet, bringt ihn an den Rand des Wahnsinns. Setzen Sie sich mit in den Bus und halten Sie sich gut fest. Die turbulenten Abenteuer dieser skurrilen Fahrgemeinschaft werden nicht nur ihre Lachmuskeln strapazieren, sondern Sie mit allem verzaubern, was dieses Land zu bieten hat.
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Seitenzahl: 327
Veröffentlichungsjahr: 2022
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„Ich habe herausgefunden,
dass es keinen sichereren Weg gibt herauszufinden,
ob man Menschen mag oder hasst,
als mit ihnen zu reisen“
Mark Twain
Amerikanischer Schriftsteller
„Die Menschen und die Pyramiden
sind nicht dafür gemacht,
um auf dem Kopf zu stehen“
Gottlieb Konrad Pfeffel
Deutscher Dichter
„In Ägypten haben früher 150.000 Menschen 35 Jahre lang an einer Pyramide gearbeitet, aber bei uns arbeiten doppelt so viele Leute doppelt so lange an einer Baugenehmigung“
Dieter Nuhr
Deutscher Kabarettist
Seine Eltern haben ihn vor dieser Art zu Reisen gewarnt, aber Sebastian wollte nicht hören. Seine Kumpels haben nicht aufgehört über Pauschal-Touristen in Reisebussen zu lästern, aber Sebastian hat sie ignoriert. Wer nicht hören will, muss fühlen!
Der alleinlebende Endzwanziger Sebastian bucht eine Bus-Rundreise, die ihn nicht nur zu den schönsten Sehenswürdigkeiten Ägyptens, sondern auch in die tiefsten Abgründe der menschlichen Natur führen wird. Was ihn in diesen zwei Wochen emotional erwartet, bringt ihn an den Rand des Wahnsinns.
Setzen Sie sich mit in den Bus und halten Sie sich gut fest. Die turbulenten Abenteuer dieser skurrilen Fahrgemeinschaft werden nicht nur ihre Lachmuskeln strapazieren, sondern Sie mit allem verzaubern, was dieses Land zu bieten hat…
Götter, Gräber und Geliebte
Kapitel 1. Prolog
Kapitel 2. Abflug
Kapitel 3. Ankunft in Kairo
Kapitel 4. Abendessen im Hotel
Kapitel 5. Das erste Frühstück
Kapitel 6. Im Museum
Kapitel 7. Zwei Religionen
Kapitel 8. Im Basar
Kapitel 9. Die Pyramiden von Gizeh
Kapitel 10. Nachtzug nach Assuan
Kapitel 11. Peinliche Begegnungen
Kapitel 12. Philae-Tempel
Kapitel 13. Am Pool
Kapitel 14. Die Patchwork-Familie
Kapitel 15. Aufbruch nach Abu Simbel
Kapitel 16. Abu Simbel
Kapitel 17. Elvira
Kapitel 18. Tod auf dem Nil
Kapitel 19. Kom Ombo Tempel
Kapitel 20. Ankunft in Luxor
Kapitel 21. Karnak-Tempel
Kapitel 22. Eine unruhige Nacht
Kapitel 23. Tal der Könige
Kapitel 24. Die Alabaster-Show
Kapitel 25. Luxor bei Nacht
Kapitel 26. Fahrt zum Roten Meer
Kapitel 27. Absturz
Kapitel 28. Morgengrauen
Kapitel 29. Am Strand
Kapitel 30. Unter Wasser
Kapitel 31. Merle
Kapitel 32. Zurück nach Kairo
Epilog
Angefangen hat alles mit einem Asterix-Heftchen in meiner Kindheit: „Asterix und Cleopatra“. Ich habe mich wie Obelix sofort in Cleopatra verliebt und mir als kleiner Knirps geschworen, dass ich zu den Pyramiden nach Gizeh reisen werde, sobald ich mein eigenes Geld verdiene. Naja, als Jugendlicher verschieben sich die Prioritäten und irgendwie kamen immer eine kostspielige Freundin, ein klammer Kumpel oder ein kaputter Auspuff dazwischen und als ich dann tatsächlich etwas Geld zusammengespart hatte, ging alles für die erste eigene Wohnung drauf. So verging Jahr um Jahr und ich fand immer einen plausiblen Grund, es nicht zu tun. Bis jetzt.
Jetzt sitze ich auf der Couch bei meinen Eltern und muss mir anhören, ich sei verrückt. „Junge, wie kannst du nur?“, ist einer der harmlosesten Sprüche meines Vaters. Als meine Mutter mit ängstlichem Blick dann noch ein: „Bist du dir sicher, dass du dir das antun willst?“ hinterherschiebt, bin ich vollends verunsichert. Ich bin es gewohnt, dass meine Eltern meine Lebenspläne nicht immer gutheißen und meine Begeisterung teilen, aber so engagiert wie heute, habe ich sie selten erlebt. Sie könnten sich doch auch darüber freuen, dass ich meine Urlaubskasse nicht für eine „Kumpel-Sauftour auf Malle“ plündere, sondern eine 14-tägige Rundreise durch Ägypten gebucht habe, aber nein, ich stehe schon seit über einer Stunde unter einem verbalen Dauerbeschuss, der mich langsam aber sicher verzweifeln lässt.
Dass mich ausgerechnet meine Eltern, die selbst kurz vor der Rente stehen, vor Rentnern in Reisebussen warnen, lässt mich aufschrecken. Normalerweise schimpfen die Beiden unentwegt über die Jugend von heute, aber das hier hat eine Qualität, die mir regelrecht Angst macht. Wenn ich mir solche Sprüche gegenüber älteren Menschen erlauben würde, dann wäre hier der Teufel los und meine Eltern würden mich ganz schnell zur Haustür begleiten. Nachdem ich allerdings auf keine ihrer gut gemeinten Ratschläge eingehen will und sie zwischenzeitlich begriffen haben, dass ich diese Rundreise schon längst gebucht und bezahlt habe, lenken sie wieder etwas ein.
Natürlich lässt sich meine Mutter nicht davon abhalten, mir ungefragt alles über Durchfallerkrankungen, Mückenschutz, Sonnenbrand und eine gut gefüllte Reise-Apotheke zu erklären, aber als mir mein Vater dann noch mit Kondomen und Geschlechtskrankheiten kommt, ist das Fass übergelaufen. Ihr könnt mich mal! Ich bin 29 Jahre alt, kann auf mich selbst aufpassen und auch wenn meine letzte Freundin nicht müde wurde mir zu unterstellen, ich wäre unreif, so fühle ich mich dieser Herausforderung durchaus gewachsen. Am Samstag sitze ich im Flieger nach Kairo. Basta!
Ich bin aufgeregt, wie bei meinem ersten Rendezvous. Ein einziges Blinddate kann mich schon überfordern, aber gleich werde ich über 20 Menschen gegenüberstehen, die ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen habe. Warum tragen die nicht eine rote Rose am Knopfloch oder irgend so ein markantes Erkennungszeichen, damit man wenigstens aus der Ferne schon mal gucken kann, was einen erwartet? Bei jeder kleinen Gruppierung von älteren Menschen, die sich um ihre überdimensionierten Rollenkoffer scharen, überfällt mich ein Fluchtreflex. Ich kann nichts dafür, aber wenn du sowas zum ersten Mal machst, bist du total hibbelig und keiner ist bei dir, der dir die Hand tätschelt oder dich beruhigt.
Mein Vater hat mir vor der Fahrt zum Flughafen erzählt, bei solchen Kultur-Rundreisen wären immer mehr Frauen als Männer dabei und irgendwie hatte ich den Eindruck, er ist ein wenig neidisch auf mich. Also halte ich Ausschau nach den "Golden Girls", wie ich die älteren, lebenslustigen Witwen gerne nenne, aber bei dem Gewimmel am Flughafen verliere ich die Orientierung und gebe es auf. So wie es aussieht, werde ich die Gruppe sowieso erst am Flughafen in Kairo treffen, wenn uns der Reiseleiter in Empfang nimmt. Bis dahin werde ich die Spannung wohl ertragen müssen. Ich hoffe inbrünstig, dass wenigstens ein paar nette Leute dabei sind, von mir aus auch solche wie meine Eltern. Es gibt Schlimmeres.
Ich sehe mich schon als das Küken, das von den Omas bemuttert und gefüttert wird und ein paar alte Säcke erzählen mir von damals und dass man mit den jungen Männern heutzutage keinen Krieg mehr gewinnen könnte. Wenn ich dann erwidere, dass sie und ihre Väter den Krieg auch nicht gewonnen haben, bin ich bestimmt gleich untendurch. Warum mache ich mir überhaupt jetzt schon Sorgen? Vielleicht kommt alles ganz anders und die Leute sind echt nett. Warum auch nicht? Vielleicht hat sich ja auch eine allein reisende junge Frau in diese Gruppe verirrt, die ihren Opa betreut und jeden Abend mit mir zusammen am Tisch sitzt? Eine schöne Vorstellung.
Nachdem ich mein Gepäck eingecheckt habe, beginnt die Tortur mit den Leibesvisitationen und natürlich muss ich meinen Rucksack komplett auskippen, weil ich Trottel tatsächlich mein Taschenmesser ins Handgepäck gepackt habe. Jeder, wirklich jeder hat mich davor gewarnt, dass ich darauf achten soll, aber nein, ich war so sehr mit meiner Medikamentenliste beschäftigt, dass ich es tatsächlich vergessen habe. Ausgerechnet mein nagelneues Schweizer-Armee-Taschenmesser, das ich mir extra für diese Reise gekauft habe. Manchmal glaube ich, dass dieses Schweizer Unternehmen Deals mit allen Flughäfen auf dieser Welt vereinbart hat und nur deswegen so groß und reich geworden ist. Wenn jedes zweite, meistens noch originalverpackte Taschenmesser, blöderweise im Rucksack mitgeführt wird, beträgt die Haltedauer des Besitzes in der Regel nur wenige Tage, dann landet es irgendwann in einer Sammelkiste der Flughafen-Kontrolleure.
Die liefern die Teile in großen Kisten wieder zurück in die Schweiz und kassieren dafür eine fette Prämie. Die Schweizer verkaufen die Taschenmesser dann ein zweites oder sogar ein drittes Mal und verdienen sich dabei dumm und dämlich. Das nennt sich dann Warenkreislauf. Ich könnte kotzen und ärgere mich über meine Dummheit.
Als ich als verhaltensauffälliger Langhaariger dann auch noch meine Schuhe ausziehen soll, damit so ein uniformierter Wichtigtuer überprüfen kann, ob ich Kokain in meinen Schuhsohlen schmuggle, kommt mir der eine oder andere bösartige Kommentar über die Lippen. Das hätte ich besser nicht tun sollen. Jetzt stehe ich aufgewühlt und schwitzend in einem abgelegenen, verdunkelten Zimmer, nackt bis auf die Unterhose und behandschuhte Hände fahren mir durch alle Ritzen und Körperöffnungen. Wenn ich jetzt nicht meine Klappe halte, lande ich noch im Knast und das war es dann mit der ersehnten Reise. Nur weil diese unterbezahlten Kreaturen eine Uniform tragen, dürfen die ihren ganzen Lebensfrust an mir auslassen und ich kann nichts dagegen tun. Meine beiden Kumpels fahren demnächst an den Chiemsee und die Einreise nach Bayern dürfte sich deutlich leichter gestalten, aber ich habe es mir ja selbst ausgesucht. Vor lauter Hektik und Eile habe ich meine Unterhose falschherum angezogen und bei jedem Schritt kneift es ziemlich unangenehm, aber was willst du machen, wenn du halb nackt im Verhörraum stehst und über die Lautsprecher dein Name aufgerufen wird.
"Letzter Aufruf für Sebastian Knotenbock. Bitte kommen sie umgehend zum Schalter 24 B". Das erinnert mich irgendwie an einen Sketch von Loriot, nur dass diesmal die anderen über mich lachen. Knotenbock. Verdammt nochmal, ich habe mir diesen Namen nicht ausgesucht. Warum kann mein Vater nicht Müller oder Schuster heißen, da weiß wenigstens jeder, was seine Urahnen beruflich gemacht haben, aber versuch das mal bei einem "Knotenbock" zu ergründen.
Als ich vollkommen verschwitzt und außer Atem am Schalter 24 B ankomme, fühle ich mich wie ein 16-jähriger, den man zufällig beim onanieren erwischt hat. Vom vorwurfsvollen Kopfschütteln, über hämisches Grinsen, bis hin zu nicht jugendfreien Kommentaren, war alles dabei. Die zwanzig Meter bis zu meinem Sitzplatz im Flieger sind ein einziges Spießrutenlaufen, denn jeder Passagier glotzt mich an, als ob er wegen mir die Hälfte seines Urlaubes verpasst hätte, dabei bin ich auf die Minute pünktlich. Der ganze Flieger kennt jetzt meinen Namen und wahrscheinlich sitzen auch alle meine Mitreisenden unter ihnen und denken sich ihren Teil. Das fängt ja schon mal „gut“ an, aber es sollte natürlich noch schlimmer kommen. Ich traue mich nicht mein Handgepäck noch schnell in den überfüllten Stauraum über mir zu pressen, weil ich erstens nicht noch länger im Mittelgang stehen will und zweitens bereits das Anschnallzeichen ertönt. Also presse ich den kleinen Rucksack schnell zwischen meine Beine und hoffe, dass es die Flugbegleiterin durchgehen lässt. Lässt sie natürlich nicht und jetzt stehe ich zum zweiten Mal im Fokus.
Nachdem sie wegen meinem Rucksack rund zwei Dutzend Stauraumklappen auf und zu machen muss, um noch einen passenden Platz zu finden, fühle ich plötzlich einen Schwall "Bad Vibrations" über mich kommen. Rund 300 Passagiere haben endlich einen Schuldigen gefunden, den sie in diesem Moment für alles verantwortlich machen können, was sie gerade an Frust in sich tragen. Ich rutsche tief in meinen Sitz und würde mir am liebsten eine Decke über den Kopf ziehen. Wenigstens das kleine Mädchen auf dem Platz neben mir lächelt mich an, was man von ihrer Mutter nicht behaupten kann. Endlich rollen wir über das Flugfeld und die Maschine hebt die Schnauze Richtung Himmel. Kairo, wir kommen.
Nachdem der Flugkapitän eine butterweiche Landung hingelegt hat, fangen ein paar Leute im Flieger an zu klatschen. Der Großteil der Passagiere schüttelt darüber den Kopf und selbst das kleine Mädchen neben mir rollt mit den Augen. Sie scheint mit ihren höchsten zehn Jahren bereits eine Vielfliegerin zu sein, denn sie erklärt mir ziemlich altklug, dass es offensichtlich immer noch ein paar Ahnungslose gibt, die nicht mitbekommen haben, dass man das seit den 90er Jahren nicht mehr macht und das wäre total peinlich. Wenn die Kleine schon so daherredet, will ich erst gar nicht wissen, wie ihre Mutter so drauf ist.
Irgendwie ist das aber schon komisch. Bei der Deutsche Bahn klatschen die Leute im Zug nicht, wenn der Schaffner butterweich in den Bahnhof einbremst, aber jeder regt sich darüber auf, wenn der Zug nur zwei Minuten Verspätung hat. Beim Fliegen ist das anders, da habe ich noch nie jemanden meckern hören, dass der Flieger zwei Minuten später ankommt. Ich frage mich auch, warum die Leute früher applaudiert haben? Die Männer und Frauen im Cockpit machen doch einfach nur ihren Job und haben selbst das größte Interesse, möglichst heil runterzukommen. Reiner Eigennutz! Ich nehme mir vor, beim nächsten Sonntagsbraten, den mir meine Mutter nach meiner Reise auftischt, einfach mal zu klatschen. Wahrscheinlich fühlt sie sich dann von mir verarscht und rollt mit den Augen, wie das kleine Mädchen neben mir, aber das ist dann ihr Problem.
Das mit dem Klatschen nach der Landung ist ein Ritual, das offensichtlich langsam ausgedient hat. Das hektische Aufspringen direkt nach dem Erlöschen des Anschnallzeichen nicht. Ich werde das nie kapieren. Da springen alle Leute gleichzeitig auf und zerren wie blöde ihr Handgepäck aus den Staufächern über ihren Köpfen. Dabei werden in der Regel ein Dutzend Passagiere leicht verletzt, weil irgendwelche Trottel ihre kleinen, aber schweren Rollenkoffer auf die Köpfe anderer Mitreisenden klatschen lassen und anstatt sich zu entschuldigen, kommt noch ein "Warum musst du hier auch rumstehen?" hinterher. Wie sollen sich die Leute denn in diesem Gedränge aus dem Weg gehen?
In dem Moment, in dem die Maschine zum Stehen kommt, komme ich mir vor wie in einer U-Bahn im schlimmsten Berufsverkehr, nur dass von oben keine Koffer oder andere Utensilien auf mich drauffallen. Dann stehen alle mit eingezogenen Köpfen und krummer Wirbelsäule zwischen ihren Sitzen oder im Gang und warten darauf, bis der Pferch endlich seine Schleuse öffnet. Kein Wunder, dass es so viele Bandscheibenvorfälle gibt, so krumm, wie die hier rumstehen. Ohne Flugreisen hätten die Orthopäden vermutlich nur halb so viele Patienten. Jeder weiß, dass alle nur durch diesen einen Ausgang ganz vorne rauskönnen und könnte vollkommen entspannt sitzen bleiben, aber in solchen Momenten zweifle ich immer daran, ob wir Menschen wirklich die Krönung der Evolution sind. Egal, natürlich stehe ich auch mit gekrümmten Rücken und verdrehter Wirbelsäule vor meinem Sitz, denn das kleine Mädchen neben mir drängelt schon.
Ständig stößt sie mir ihren rosafarbenen Prinzessinnen-Rucksack in die Seite und meckert vor sich hin, warum das denn schon wieder so lange dauert. Mein Gott, da sitzen wir über fünf Stunden im Flieger und dann ticken die Leute aus, wenn es zwei Minuten länger dauert als normal. Im Moment will bei mir nicht so richtig Urlaubsstimmung aufkommen. Ich nutze die Wartezeit, um mir ein paar Passagiere anzuschauen, die mit schmerzverzerrten Gesichtern in meinem Blickfeld stehen. Alle unter fünfzig Lebensjahren finden keine Beachtung. Ich halte Ausschau nach beigefarbener Outdoor-Kleidung. Diesen Tipp habe ich von meiner Mutter bekommen, ist wohl so ein Erkennungszeichen dieser Generation. Nach wenigen Minuten gebe ich auf. Ungefähr die Hälfte aller Passagiere könnten Mitreisende von mir sein. Ich werde es wohl erst herausfinden, wenn wir uns als Gruppe in der Ankunftshalle sammeln.
Jetzt stehe ich am Gepäckband und halte nicht nur Ausschau nach meinem großen Wanderrucksack, sondern schiele auch hin und wieder nach den Kofferanhängern der anderen Leute. Immerhin hat unser Reiseveranstalter seine auffälligen Adressanhänger mitgeschickt und vielleicht entdecke ich doch schon den einen oder anderen. So langsam überkommt mich das Gefühl, dass auch ich beobachtet werde. Ich komme mir gerade vor, wie bei einer Safari, wo jeder Teilnehmer neugierig Ausschau hält um was zu entdecken. Vermutlich wissen alle Mitreisenden sowieso schon wer ich bin, denn nach dem Fiasko mit der Durchsage am Flughafen, kennt jeder Trottel Sebastian Knotenbock.
Ich fühle mich gerade ziemlich nackt, aber da muss ich jetzt durch. Den Großteil der Passagiere sehe ich vermutlich nie wieder in meinem Leben, also konzentriere ich mich auf mein Gepäck und wie es danach weitergeht. Gottseidank sehe ich meinen roten Wanderrucksack auf dem Gepäckband auf mich zukommen. Ich habe mal gelesen, dass rund drei Prozent aller Gepäckstücke nicht dort ankommen, wo sie hinsollen und bei 300 Passagieren könnte es rein statistisch einen aus dem Flieger treffen. So wie aussieht, habe ich nicht zweimal am gleichen Tag Pech. Die Spannung steigt. Nur noch wenige Minuten und ich werde die Menschen treffen, mit denen ich die nächsten zwei Wochen auf engstem Raum verbringen werde. Ich bin total hibbelig und verstehe nicht warum. Es ist doch kein Rendezvous mit einer paarungswilligen Frau, die sich mit mir die nächsten Wochen ein Doppelzimmer teilen will, sondern einfach nur eine Gruppe von ganz normalen Menschen, die offensichtlich das gleiche Fernweh plagt wie mich. Viellicht sind sogar ein paar Leute dabei, die sich auch von Asterix und Cleopatra haben inspirieren lassen? Dieser Gedanke bringt mich wieder etwas runter.
So, jetzt bin ich in der Ankunftshalle und halte Ausschau nach irgendeinem Menschen, der ein Schild hochhält, auf dem der Name unserer Reisegesellschaft steht. Gar nicht so einfach, denn im Moment werden mehr als zwei Dutzend Schilder hochgehalten und die angekommenen Reisenden laufen wie aufgescheuchte Hühner hin und her um sich zu sortieren. Endlich entdecke ich meine Gruppe und traue meinen Augen nicht. Von wegen, nur Rentner. Entweder meine Eltern wollten mich verarschen oder sie haben keine Ahnung. Mindestens die Hälfte der Gruppe ist jünger als Fünfzig und so wie es auf den ersten Blick aussieht, könnten ein paar davon sogar in meinem Alter oder sogar deutlich jünger sein. Da stehen sogar ein paar ganz ansehnliche Frauen im Pulk. Verdammt, ich hätte mir besser noch die Haare kämmen sollen. Ich weiß doch aus eigener Erfahrung, wie wichtig der erste Eindruck ist. Mensch Basti, reiß dich am Riemen, du bist hier um Tempel anzuschauen und nicht um Frauen anzubaggern, obwohl mir diese Kombination gerade sehr reizvoll erscheint. Ich kann nichts dafür. Ich bin ein geschlechtsreifer Endzwanziger und wenn ich schon nicht mit Cleopatra anbandeln kann, dann vielleicht mit einer anderen Frau. Verdammt, ich kenne diese Frauen nicht einmal und schon geht mit mir die Phantasie durch. Ich stehe immer noch in weitem Abstand und sondiere die Lage aus der Entfernung. Okay, ich sehe mehr Frauen als Männer, da hatten meine Eltern recht. Ja, es sind überwiegend ältere Pärchen mit den üblichen sandbeigen Outdoor-Klamotten. Da scheinen sogar eine oder zwei Familien mit Kindern dabei zu sein. Außerdem stehen da noch mindestens fünf Frauen ziemlich vereinsamt am Rand und versuchen gerade den Kontakt zur Gruppe zu finden. Okay, sondieren, herantasten, sich vorstellen, die ersten Blickkontakte, hier und da ein Spruch, ein bisschen Gekicher und schon ist der Bann gebrochen. So macht man das, hat mir mein Vater erklärt. Der konnte aber nicht ahnen, dass hier mindestens drei "Zuckerschnecken" dabei sind, wie er junge hübsche Frauen manchmal nennt, wenn meine Mutter nicht in Hörweite ist. Ich bin total nervös.
"Da isser ja, der Herr Knotenbock!" schallt es mir in übelstem rheinländischen Dialekt entgegen. "Bist du schon wieder der Letzte!" Herzliches Gelächter schallt durch die Ankunftshalle. Die ganze Gruppe dreht sich zu mir um und in diesem Moment würde ich am liebsten im Boden versinken. "Komm her mein Jong, ich bin der Robert, kannst mich Robbie nennen!“
Wenn ich etwas nicht leiden kann, dann sind es Menschen ohne Feingefühl, die mich vor anderen bloßstellen und mich behandeln wie ein kleines Kind. Volltreffer! Natürlich lacht jeder mit und alle winken mir wie einstudiert zu, ich solle doch in ihre Mitte kommen. Gruppenzwang ist auch so eine psychologische Unsitte, mit der ich so meine Probleme habe. In diesem Moment frage ich mich, warum ich dann überhaupt eine Gruppenreise gebucht habe? Egal, jetzt bin ich hier und ich werde das Beste daraus machen, also lache ich ebenfalls, auch wenn es sicherlich etwas gequält wirkt. Kurz darauf setze ich mein Sonntagsgesicht auf und begrüße die Runde mit den Worten: "Ich glaube, ich muss mich nicht vorstellen, oder?" Bevor ich noch etwas sagen kann, tritt ein Reiseleiter vor uns und begrüßt unsere Gruppe offiziell. "Liebe Gäste, ich freue mich sehr, dass ihr da seid. Mein Name ist Mustafa und ich bin der Führer!" Der „Führer“! Mustafa! Nur gut, dass mein Opa nicht mitgeflogen ist, der hätte jetzt bestimmt was Peinliches gesagt. Es folgen die üblichen Informationen, wohin wir jetzt fahren, wie lange die Fahrt dauert und wann es heute Abendessen im Hotel gibt. Jetzt trotten wir Mustafa wie bei einer Polonäse hinterher und ich bin der Einzige, der sein Gepäck auf den Schultern trägt.
Alle anderen ziehen schwarze oder graue Rollenkoffer hinter sich her und ich trage einen knallroten Wanderrucksack. Es sollte nicht das erste Mal sein, dass ich aus der Reihe tanze. Nachdem sich jeder im Bus seinen Platz erobert hat, fahren wir Richtung Hotel und diese Fahrt gibt uns den ersten Eindruck dieses Hexenkessels, in dem derzeit rund 26 Millionen versuchen ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ich habe schon so einige Städte im Berufsverkehr erlebt, aber Kairo ist anders. Kairo ist lauter, Kairo ist hektischer, kurzum: Kairo ist das pure Chaos!
Ich war vor einigen Jahren mit einem Kumpel zusammen in Rom, aber das hatte ausnahmsweise nichts mit Asterix zu tun. Die Oma meines Kumpels ist Italienerin oder besser Römerin. Darauf haben alle bestanden, denn die Römer haben sich schon immer für etwas Besonderes gehalten und das nicht nur zu Cäsars Zeiten. Auf jeden Fall haben wir seine Oma besucht und waren für drei volle Tage in der Stadt unterwegs. Dieses Gehupe auf den Straßen war ohrenbetäubend und hat mich nach wenigen Stunden ziemlich aggressiv gemacht, aber Rom ist im Vergleich zu Kairo die reinste Oase der Stille. Unser Reiseleiter meint, dass jeden Tag rund acht Millionen Autos in Kairo unterwegs sind und so wie sich das gerade anhört, scheint es doppelt so viele Hupen zu geben. Mein Gott, warum hupen die ständig? Es geht deswegen doch nicht schneller voran. Erst auf den zweiten Blick bemerke ich, dass es keine Fahrbahnmarkierungen auf den Straßen gibt. Rechts vor links kennen die offensichtlich auch nicht. Ampeln? Fehlanzeige! Hier gilt offensichtlich das Recht des Stärkeren, bzw. der lauteren Hupe.
Jeder versucht den Anderen aus der Spur zu drängen und wer zögert, verliert. Kein Wunder, dass jedes Auto dutzende Dellen oder Lackkratzer hat. Als ob es nicht so schon chaotisch genug wäre, rennen auch noch ständig Menschen über die Straße, als ob sie sich den Tod herbeisehnen würden.
Ist das bei den Moslems vielleicht auch so wie bei den Hindus? Glauben die etwa an die Wiederauferstehung nach dem Verkehrstod? Sich dreimal am Tag überfahren lassen bringt gutes Karma oder sowas in der Art? Es gibt hier nicht nur so gut wie keine Ampeln, sondern auch keine Fußgängerüberwege. Dafür gibt es überladene Eselkarren und Mopeds, auf denen teilweise eine fünfköpfige Familie mit dem Einkauf für die ganze Woche draufsitzt. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass keiner auf den Mopeds einen Helm aufhat. Normalerweise müssten hier alle paar Meter matschige Leichen auf der Straße liegen, aber offensichtlich scheinen auch in diesem Chaos irgendwelche Regeln zu gelten, denn ansonsten würde das nicht funktionieren. Für einen Mitteleuropäer ist das unbegreiflich. Wenn hier im Bus ein deutscher TÜV-Ingenieur sitzen würde, wäre der in der halbstündigen Fahrt zum Hotel wohl schon beim zweiten Herzinfarkt angelangt. Irgendeiner muss Mustafa wohl auf dieses Verkehrschaos angesprochen haben, denn er erzählt uns gerade, dass die Menschen in Ägypten ihren Führerschein für umgerechnet 100 Euro machen können. Soviel kostet die Ausstellung des Ausweispapieres und die Fahrprüfung, die wohl aus knapp fünf Minuten vorwärtsfahren und eine Minute rückwärtsfahren besteht. Wer das überlebt, bekommt seinen „Lappen“ ausgehändigt, darf damit aber nur in Ägypten fahren, nirgendwo sonst. Die letzte Information beruhigt mich. Ich nehme mir vor, in den nächsten beiden Wochen in der Nähe einer Straße ganz besonders vorsichtig zu sein.
Während ich mir vom Busfenster aus dieses Chaos von oben betrachte, fällt mit auf, dass ganz viele Autos unter ihrem ägyptischen Nummernschild noch ein deutsches Auto-Kennzeichen angeschraubt haben. Ist das möglichweise ein Statussymbol oder waren die Jungs einfach nur zu faul es abzuschrauben? Das mit den Jungs meine ich übrigens wörtlich. Ich habe noch keine einzige Frau am Steuer eines Autos gesehen. Meine Mutter hatte mir so eine Andeutung gemacht, dass ich mir in Ägypten nicht so viel von den Arabern abschauen sollte, es könnte mich auf dumme Gedanken bringen. Naja, dass es in Nordafrika mit der Gleichberechtigung noch etwas hakt, wusste ich bereits, aber wenn du dich hier umschaust, ist das echt krass. Die Männer sitzen am Steuer ihrer Autos oder in Straßencafés und schlürfen Tee oder Mokka, während die Frauen hinten auf dem Moped sitzen oder teilweise komplett verschleiert und mit unzähligen Plastiktüten und diversen Kindern im Schlepptau, den Einkauf vom Markt zu Fuß nach Hause schleppen. Ich glaube ich brauche bestimmt noch ein paar Tage, um mich an dieses Stadtbild zu gewöhnen. Ich will nicht wissen, was die Frauen in unserer Gruppe gerade denken, wenn sie aus dem Fenster schauen. Mustafa hat uns gerade darüber aufgeklärt, dass es in Kairo offiziell nur knapp 50 Ampeln geben soll und dass er selbst das richtig gut findet.
Naja, er hat eben eine andere Mentalität als die sicherheits- und disziplinverliebten Deutschen. Früher dachte ich, dass die schrottreifen Autos, die bei dem rumänischen Autohändler in unserem Industriegebiet stehen, bestenfalls noch ausgeschlachtet werden, aber nein, schnell ein ägyptisches Kennzeichen angeschraubt und weiter gehts. Wenn das unser Straßenverkehrsamt wüsste. Unbewusst halte ich Ausschau nach meinem ersten Auto, einen Opel Corsa, für den ich vor acht Jahren keinen TÜV mehr bekommen habe.
Irgendwie überfällt mich gerade so ein beklemmendes Gefühl, wenn ich an die Feinstaubbelastung denke, die mich auf der anderen Seite meines Busfensters erwartet. Na toll, Feinstaub bis zum Abwinken und ohrenbetäubender Lärm. Das klingt nach echter Erholung. Offensichtlich sind wir gerade beim Hotel angekommen, denn Mustafa fängt an, uns das Procedere in der Lobby zu erklären. Dass man in Afrika alles hinterhergetragen bekommt, wusste ich aus Erzählungen, also überlasse ich meinen Rucksack seinem Schicksal und hoffe inbrünstig, dass er am gleichen Abend auch in mein Zimmer findet. Bisher hat mir in meinem Leben keiner etwas hintergetragen, sehen wir mal von dem ab, wofür sich meine Mutter immer verantwortlich fühlte. Ich fühle mich nicht sehr wohl bei diesem Gedanken und komme mir gerade vor, wie so ein reicher weißer Sack aus der Kolonialzeit. Es gehört wohl zum ganz alltäglichen Service und den Trägern scheint es nichts auszumachen, einige lächeln sogar dabei. Ägypten ist nicht unbedingt für eine gutverdienende Mittelschicht und für gewerkschaftlich ausgehandelte Lohntarife bekannt.
Sofort plagt mich der Gedanke, ob und wieviel Trinkgeld ich meinem Gepäckträger nachher zustecken soll, wenn ich meinen Rucksack im Zimmer übernehme? Gott sei Dank oder besser „Allah sei Dank“, lässt uns Mustafa gerade über Mikrofon wissen, dass wir kein Trinkgeld geben brauchen, weil er morgen im Bus von uns 50 Euro pro Person einsammeln wird, um alle Trinkgelder in den nächsten beiden Wochen so zu verteilen, wie es angemessen ist. Okay, eine Belastung weniger und das ist mir die 50 Euro wert. Mustafa sammelt noch schnell die Reisepässe ein und alle springen auf, um möglichst schnell auf ihr Zimmer zu kommen.
Wenn du in Nordafrika unterwegs bist, musst du als typisch Deutscher hin und wieder Abstriche machen. Die Ägypter haben ein anderes Verständnis vom organisierten und strukturierten Arbeiten als der klassische Mitteleuropäer und mit den Zeitangaben oder der Pünktlichkeit halten sie es auch nicht so penibel. Es heißt nicht umsonst: "Inshallah", was so viel bedeutet, wie: "So Gott will" und wenn Gott gerade nicht will, dann dauern ägyptische fünf Minuten auch schnell mal zwanzig Minuten, was eine deutsche Seele durchaus mal sauer werden lassen kann. Auf jeden Fall hatten „Gott“ und die Leute an der Rezeption keinen guten Tag, denn die Hälfte der Mitreisenden haben Zimmerpartner zugewiesen bekommen, die so nicht vorgesehen waren. Da wurden Paare mit unterschiedlichen Nachnamen plötzlich getrennt und einige Männer wurden versehentlich anderen allein reisenden Frauen zugeordnet und sollten sich mit ihnen ein Doppelzimmer teilen.
Was für ein Chaos, fast schon wie der Berufsverkehr auf den Straßen Kairos. Nicht nur, dass sich fast jeder in diesem Tumult gegenseitig anrempelte und darauf pochte, als erster seinen korrekten Zimmerschlüssel zu erhalten, nein, es gab sogar schon die ersten Beziehungskrisen, weil es einigen Männern offensichtlich sehr recht gewesen wäre, wenn sie sich mit einer der allein reisenden Frauen ein Doppelzimmer hätten teilen dürfen. Gottseidank bin ich als Single unterwegs und habe ein Einzelzimmer gebucht. Als dann endlich mein Name aufgerufen wird und mich eine rüstige Mittsechzigerin panisch anschaut, werde ich etwas unruhig. Tatsächlich haben sie auch mich falsch zugeordnet und meine potentielle Bettnachbarin findet ganz offensichtlich keinen Gefallen daran, sich mit mir ein Doppelbett teilen so sollen. Ich nehme es mit Humor, sie nicht! Trotz dieser peinlichen Situation nutzen wir Beide die Gelegenheit uns gegenseitig vorzustellen.
Johanna erklärt mir ziemlich kühl und distanziert, sie sei trotz ihres Alters immer noch Lehrerin, seit fünf Jahren Witwe und sie hatte einfach keine Lust mehr, zuhause auf der Couch zu hocken und auf ihren Tod zu warten. Okay, die Dame gehört ganz sicher nicht zu der Zielgruppe, bei der ich einen meiner üblichen Sprüche loswerden kann, also beschränke ich mich auf meinen Namen und mein Lebensalter und behalte den Rest für mich. Am Ende hat es zwar fast eine halbe Stunde gedauert, bis jeder sein richtiges Zimmer zugewiesen bekommen hat, aber irgendwann sind dann doch alle einigermaßen zufrieden in ihren Zimmern verschwunden. Wir treffen uns um Punkt 20 Uhr im Speisesaal.
Da war er wieder, der Gruppenzwang. Ich werde mich wohl oder übel damit abfinden müssen.
Als wir uns zum Abendessen im Speisesaal einfinden, wirken die meisten von uns ziemlich müde und platt. Einige hatten eine anstrengende Anreise und wollen einfach nur schnell ins Bett, doch das Abendessenbuffet will keiner verpassen. Mustafa hatte uns im Bus davor gewarnt Salat zu essen, weil man eben nie weiß, mit welchem Wasser er gewaschen wurde. Das mit den Keimen im Wasser und dem Durchfall hatte mir meine Mutter schon vor der Reise gesteckt, ich war also doppelt gewarnt. Jetzt stehe ich erwartungsvoll am Buffet und spüre einen Anflug von Glücksgefühl. Endlich darf ich zwei Wochen lang Fleisch und Kohlenhydrate reinschaufeln bis zum Abwinken, ohne auch nur einen Funken schlechtes Gewissen zu haben, weil ich keinen Salat und kein Gemüse esse. Vor dem Gemüse hatte Mustafa zwar nicht eindeutig gewarnt, aber das kommt bestimmt auch mit Wasser in Berührung und somit bin ich als bekennender Fleischfresser in meinem Element.
Das Buffet ist rein optisch zwar sehr üppig, hat nüchtern betrachtet aber nur wenige Höhepunkte zu bieten. Öliges Gemüse, Reis, nochmal öliges Gemüse, ein wenig Hühnchen, nochmal öliges Gemüse, ein bisschen überzuckerter Kuchen zum Nachtisch und das wars. Nachdem ich mir dreimal nacheinander den Teller mit Hühnchen vollgeladen habe, ernte ich die ersten bösen Blicke von zwei Endvierzigerinnen an unserem Tisch, deren Namen ich mir noch nicht gemerkt habe.
Ich will nicht behaupten, dass man das jederzeit im Gesichtsausdruck erkennen kann, aber so, wie die Beiden mich anschauen, sind sie vermutlich Veganerinnen. Diese unterschwellige Strenge bezüglich meiner puren Fleischeslust und dieser wissende Blick, dass ich von dem vielen Cholesterin sehr bald sterben werde. Wenn sich die beiden Frauen die nächsten zwei Wochen nur von dem öligen Gemüse und Salat ernähren wollen, kommen die bestimmt nicht mehr vom Klo runter. So gesehen brauche ich mir ihre Namen vermutlich erst gar nicht zu merken.
Während ich genüsslich an meinem zwanzigsten Hähnchenschenkel knabbere, spüre ich eine deutlich wahrnehmbare Unruhe bei meiner Tischnachbarin, die sich ganz bestimmt gleich entladen wird. "Sag mal, weißt du überhaupt, wie ungesund du dich ernährst?" raunzt sie mich an und in diesem Moment wächst in mir die Überzeugung, dass wir beide auf dieser Reise bestimmt nicht die besten Freunde werden. Ich hoffe sehr, dass ihr grüner Salat mit verunreinigtem Leitungswasser gewaschen wurde. Nach ihrer Bemerkung hätte ich am liebsten "Ja, Mama" erwidert, aber ich kaue erst einmal seelenruhig zu Ende und frage sie höflich nach ihrem Namen. Ich will es mir nicht schon am ersten Tag mit den Leuten verscherzen. Sie stellt sich als Maria vor und ja, sie ist Veganerin, was mich nicht wirklich überrascht. Da ich gerade keine Lust habe mir einen Vortrag über gesunde Ernährung anzuhören, stelle ich ihr als Ablenkungsmanöver schnell ein paar dieser üblichen, belanglosen Fragen in der Kennenlernphase. Sie selbst heißt Maria und hat diese Reise mit Elvira zusammen gebucht, weil sie sich so sehr für Historie und Kulturen interessieren.
Die Beiden sind offensichtlich Freundinnen und verbringen jedes zweite Wochenende in Museen, auf Vernissagen oder gehen zu Lesungen. Das klingt für mich nach purer Lebensfreude. Ich traue mich nicht danach zu fragen, ob die beiden in einer Partnerschaft leben oder ob zuhause ein Mann auf sie wartet. Naja, auf mich wartet ja auch keine Frau und somit steht es zumindest hier unentschieden. Wenn die beiden so wissbegierig und kulturbeflissen sind, werden sie sich bestimmt sehr gründlich auf diese Reise vorbereitet haben. Vermutlich werden sie viel mehr wissen als unser Reiseleiter Mustafa, der allerdings schon im Bus erwähnte, dass er Ägyptologie studiert hat. Ich wusste nicht, dass es so ein Studienfach gibt, aber wir sind hier schließlich in Ägypten.
Elvira ist mir vom ersten Moment an sympathischer und das liegt nicht nur daran, dass sie deutlich zurückhaltender und weniger belehrend ist als ihre Freundin, sondern sie schaut mich auch die ganze Zeit regelrecht sanftmütig an, sodass ich mich irgendwie „wohlig“ fühle. Wenn ich 15 oder 20 Jahre älter wäre, könnte ich bei diesem Blick sogar auf dumme Gedanken kommen. Ich habe den Eindruck, dass Maria das Alphatier ist und Elvira ist das scheue Reh, das ihr treu auf dem Weg hinterher trottet, den Maria kämpferisch freiräumt. So hat jeder seine Aufgabe im Leben. Die emotionale Quersumme der beiden Frauen scheint für mich erträglich und ich muss mich im Bus ja nicht unbedingt neben dieses Alphatier setzen. Maria erzählt ganz offen über die Lebensverhältnisse ihrer Freundin und so erfahre ich, dass sie geschieden ist und einen 17-jährigen Sohn zuhause hat.
Elviras Sohn sei darüber sehr froh, dass er endlich mal 14 Tage sturmfreie Bude hat und ihn seine Mutter nicht ständig nervt, wenn seine Freunde da sind. So, wie Elvira jetzt schaut, scheint sie über die Offenheit ihrer Freundin nicht besonders glücklich zu sein und dass anstatt mit ihr, nur über sie gesprochen wird. Ich empfinde es auch als unpassend, aber Maria ist dermaßen aufgedreht, als ob sie erst gestern ihr Schweigegelübde abgelegt hat und jetzt alles nachholen muss. Also mache ich noch zehn Minuten gute Miene zum bösen Spiel und verabschiede mich unter dem Vorwand, ich hätte Bauchschmerzen Richtung Zimmer. Maria ruft mir noch hinterher, dass das ganz bestimmt an meinem Fleischkonsum liegt und sie mir morgen ausführlich erklären wird, worauf ich bei meiner Ernährung zukünftig achten muss. Ich kann es kaum erwarten. Hoffentlich sind die anderen Mitreisenden nicht ähnlich drauf wie diese Maria.
Morgen früh fahren wir nach dem Frühstück mit dem Bus direkt zum Ägyptischen Museum, anschließend zu einer alten Moschee und dann noch zu einer Koptischen Kirche, was immer das auch sein mag.
Was war das für eine beschissene Nacht. Die brettharte Matratze hat mich fast an den Rand eines Bandscheibenvorfalls gebracht, die Klimaanlage hat geröhrt, als ob sie jeden Moment explodieren würde und als mir dann nach Mitternacht vor totaler Erschöpfung endlich die Augen zufallen, tönen kurz darauf aus einem krächzenden Lautsprecher, direkt vor meinem Fenster und in einer extremen Lautstärke, arabische Sprechgesänge in meinen Ohrmuscheln und rauben mir die letzte Hoffnung auf ein paar Stunden Schlaf.
Mein Vater hatte mich gewarnt, ich solle nicht nach Ägypten reisen, wenn Ramadan ist. Für mich hatte das Beten bisher etwas Beruhigendes, in sich gekehrtes, etwas, was man mit sich selbst ausmacht. Dieses lautstarke Getöse mitten in der Nacht ist für einen Christen nicht nur befremdlich, sondern irgendwie sogar beängstigend. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich der Einzige bin, der gerade total genervt aufrecht in seinem Bett sitzt und stinksauer ist, dass er um den Schlaf gebracht wird. Können die sich nicht wie alle anderen Menschen auf der Welt einen Wecker stellen und sich einfach ganz in Ruhe neben ihrem Bett Richtung Mekka verneigen und nach Herzenslust leise vor sich hin beten? Nein, da muss der „Imam vom Tonband“ aus hunderten Lautsprechern die ganze Stadt aufschrecken, damit es auch bloß keiner vergisst. Ich habe überhaupt nichts gegen einzelne Religionen und stehe den unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen sehr liberal gegenüber.
Ich stelle mir nur gerade vor wie es wäre, wenn im Kölner Dom um drei Uhr nachts die Glocken geläutet werden und alle 200 Meter aus krächzenden Lautsprechern in Extremlautstärke das „Vater unser“ vorgebetet wird. Spätestens dann wäre der Rheinländer keine Frohnatur mehr. Aber was willst du machen, wenn du in ein Land reist, in dem diese Art zu beten Tradition hat? Ich hätte ja auch, wie meine Kumpels, ins deutsche Mittelgebirge oder an die Nordsee fahren können.
Etwas später habe ich von Mustafa erfahren, dass immer vor dem Sonnenaufgang gebetet wird und hier geht die Sonne morgens verdammt früh auf. Während des Ramadans wird nicht nur unkonventionell gebetet, sondern es gelten auch harte Regeln für den Umgang mit Mahlzeiten. Da ich in einem christlichen Haushalt groß geworden bin, kenne ich natürlich die Fastenregeln und als Kind musste ich das auch öfters mit meinen Eltern zusammen durchziehen, wenn auch nicht freiwillig. Keine Chance auf Schokolade oder sonstigen Süßkram. Wenigstens hat mir meine Mutter während der Fastenzeit weiterhin Fleischwurst und Salami auf mein Pausenbrot gepackt, denn sie glaubte damals an die Werbebotschaft „Fleisch ist ein Stück Lebenskraft“ aus den 70er Jahren. Das sollte sich heute mal einer aus der Lebensmittelbranche trauen. Auf jeden Fall ist unsere christliche Fastenzeit Kindergarten gegen die Ramadan-Regeln des Islam. Die armen Moslems dürfen nach Sonnenaufgang weder was essen, noch was trinken und erst wieder nach dem Sonnenuntergang was futtern, was sie dann allerdings auch heftig nachholen.
So ein Moslem kann über unser Intervallfasten nur müde lächeln. Allah sei Dank, dauert der Ramadan nur 30 Tage und nicht länger. Jetzt, im April, ist es in Ägypten schon ganz schön heiß und manchmal geht`s hier locker über 40 Grad. Bei diesen Temperaturen nichts trinken zu dürfen, erfordert nicht nur einen starken Glauben, sondern auch einen ziemlich strapazierfähigen und leidensfähigen Körper.
Nachdem die nächtlichen Gebete vom Band in meinen Gehörgängen langsam verklingen, startet vor meinem Schlafzimmerfenster wie auf Knopfdruck und ohne Übergang, der Verkehrslärm mit den üblichen Hup-Orgien. Normalerwiese stehe ich niemals vor sechs Uhr morgens auf, aber jetzt sitze ich um kurz nach vier Uhr auf dem Rand meines Bettes und grübele darüber nach, was ich die nächsten zwei Stunden tun soll, bis das Frühstücksbuffet im Hotel eröffnet. Vor lauter Verzweiflung ziehe ich mich an und gehe schon mal runter in die Hotellobby. In der Hotelbeschreibung stand großspurig was von WLAN, aber Empfang hast du nur im Umkreis von zehn Metern und der Router steht offensichtlich an der Rezeption. Jetzt sitze ich mit müden Augen auf einem viel zu weichen Sessel in der Lobby und schaue mir in Dauerschleife die Bundesliga-Ergebnisse vom Vortag an, nur damit die Zeit bis zum Frühstück schneller vorbei geht. Wenn ich mich in der Lobby so umschaue, bin ich nicht der Einzige, der die Hoffnung auf weiteren Schlaf aufgegeben hat. Ich bin gespannt, wie ich das anstrengende Programm heute mit weniger als drei Stunden Schlaf durchstehen soll.