Götterurteil - Mara Laue - E-Book

Götterurteil E-Book

Mara Laue

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Beschreibung

Für die Verschwörer drängt die Zeit. Sie sehen nur eine Möglichkeit, um ihre Haut zu retten: Alles auf eine Karte zu setzen und ihren geplanten Putsch sofort durchzuführen, der unter anderem die Ermordung der gronthischen Matriarchin Ashshannak vorsieht. Inzwischen gelingt es der Sureyini Lal, den sureyinischen Verräter zu identifizieren. Aber das stellt sie vor ein Problem, das sie nicht vorausgesehen hat. Und die Piratin Mrreyna will unter allen Umständen die finale Abrechnung: die Vernichtung Meloris und der PHOENIX. Melori nutzt diesen Umstand, um ihr eine tödliche Falle zu stellen. Doch damit löst sie etwas aus, mit dessen Folgen sie nicht im Entferntesten gerechnet hat.

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Seitenzahl: 328

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Mara Laue

Götterurteil

MISSION PHOENIX - Band 6

Titel

MISSION PHOENIX

Mara Laue

Band 6:

Götterurteil

 

 

 

 

Impressum

 

Copyright: vss-verlag

Jahr: 2022

 

 

Lektorat/ Korrektorat: Hermann Schladt

Covergestaltung: Sabrina Gleichmann

 

Verlagsportal: www.vss-verlag.de

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig.

 

 

 

 

 

 

Teil 1

Die Falle

1.

 

Desert Port, Hauptquartier der Terranischen Raumflotte

05.10.2546 Terrazeit – 36.04.351 ISA-Zeit

 

Commodore Nyoko Svensson betrat das kleinste Restaurant im Freizeitbereich von Block D. Um diese Zeit war es ziemlich voll, denn viele Menschen aßen um ein Uhr herum zu Mittag. Deshalb wunderte sie nicht, dass nur noch wenige Plätze frei waren. Sie sah sich um. Eines der Separees im Außenbezirk, das einen Blick auf eine palmenbewachsene Grünanlage mit farbenprächtigen Blumen und einem See erlaubte, auf dessen Oberfläche sich die Sonne glitzernd spiegelte, hatte über der Tür zwar das Schild „Reserviert“ aufgeblendet, aber ein paar Plätze waren dort noch frei. Nachdem sie herumgegangen war und vergeblich nach anderen Sitzplätzen Ausschau gehalten hatte, kehrte sie zu diesem Separee zurück.

„Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?“, fragte sie die drei Männer und zwei Frauen, die darin saßen. „Oder ist das ein geschlossenes Treffen?“

„Durchaus nicht“, antworte eine Frau mit dem Emblem der Versorgungsabteilung auf der Uniform. „Setzen Sie sich zu uns.“

Nyoko kam der Aufforderung nach und setzte sich auf einen freien Platz. Sie tippte ihre Essenswünsche in das Display in der Armlehne ihres Sessels ein. Minuten später kam ein Roboter und brachte das Bestellte. Nachdem er davongeschwebt war, drückte einer der Männer auf einen Knopf, und die Tür glitt zu.

„Ihnen ist doch klar, was für ein immenses Risiko wir damit eingehen, uns hier zu treffen“, warf Nyoko ihm vor. „Wenn man uns zusammen sieht ...“

„Dann wird man nichts anderes denken als das, was wir vorgegeben haben“, unterbrach die Frau sie, die sie hereingebeten hatte. „Eine Gruppe von Menschen verschiedener Abteilungen hat sich zufällig hier zusammengefunden, weil alle anderen Plätze mehr oder weniger belegt waren. Schließlich haben wir das genau so geplant und extra dieses kleine Restaurant zur Stoßzeit ausgesucht.“

„Außerdem ist das jetzt sowieso egal“, sagte der Mann, der die Tür geschlossen hatte. „Entweder wir schaffen es, das Ruder noch herumzureißen, oder wir sind erledigt. Es war nicht geplant, dass Ashshannak die neue Matriarchin der Grontheh wird. Darrashann war dafür vorgesehen. Sie hätte die Pläne der alten Matriarchin fortgeführt und damit auch unsere. Niemand konnte ahnen, dass irgendwelche Unbekannten aus der ISA – IsteND-Agenten, darauf wette ich – Ashshannak auf den Thron helfen und sie dann auch noch überzeugen, dass die ISA ihr Volk nicht mit dem Gronth-Virus angegriffen hat. Das war so nicht geplant.“ Anklagend sah er Nyoko an. „Wieso haben Sie uns nichts davon gesagt, dass IsteND-Agenten offen in der Gronthagu Liga operieren?“

Nyoko presste verärgert die Lippen zusammen. „Weil ich erstens zwar beim IsteND bin, aber nicht über alle Einsätze von Agentinnen und Agenten informiert bin, wie Sie sehr wohl wissen, Admiral Patrakos. Zweitens hat der IsteND noch nie offen in der Liga operiert, weshalb ich überzeugt bin, dass diese Leute Privatpersonen sind, die wahrscheinlich auf irgendeinem Weg über die Nagdanische Planetenunion ins Gebiet der Liga gelangt sind. Alle unsere in der Liga eingesetzten Leute stammen auch von dort, weil jedes Wesen aus der ISA sofort als Spion gefangen genommen worden wäre.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Ahnung, wer diese Leute sein könnten.“

„Haben Sie das nicht überprüft?“, wollte Commodore Li Wang von der Handelsflotte wissen.

„Selbstverständlich!“, zischte Nyoko, empört darüber, dass er sie offenbar für eine inkompetente Anfängerin hielt. „Ich konnte keinen von ihnen identifizieren.“

„Was doch wohl ein Beweis ist, dass sie zum IsteND gehören“, war Luzius Patrakos überzeugt.

„Oder sie stammen zwar von ISA-Völkern ab, sind aber nicht hier registriert, weil sie außerhalb der ISA geboren wurden und leben, und die Matriarchin hat sie nur für ISA-Bürger gehalten, weil sie wie solche aussehen“, widersprach Nyoko. „Das würde vollkommen logisch erklären, warum sie in der ISA nicht registriert sind. Möglicherweise sind sie auch Ruaneh, von denen etliche ebenfalls nicht als ISA-Bürger registriert sind, weil sie keine sein wollen. Aber das ist im Moment völlig egal.“

„Das meine ich nicht“, widersprach Patrakos. „Könnten das Leute von der PHOENIX gewesen sein? Immerhin war das Schiff zu genau der Zeit verschwunden, als in der Liga die Revolution ausgebrochen ist. Und Captain Melori traue ich durchaus zu, dabei ihre Finger im Spiel gehabt zu haben.“

Nyoko winkte ab und schüttelte den Kopf. „Die PHOENIX war nachweislich bei den Ikamareh und hat ihre Kultur erforscht. Und ja, das habe ich akribisch nachgeprüft“, kam sie Patrakos’ nächstem Protest zuvor. „Dass sie sich tot gestellt haben, halte nicht nur ich für ein Manöver, mit dem Melori und ihre Leute der Raumflotte und allen ihren früheren Vorgesetzten demonstrieren wollten, dass wir sie alle am Arsch lecken können. Sozusagen als Retourkutsche dafür, dass die gesamte Bande zur Forschungsflotte strafversetzt wurde.“

„Was ihnen niemand verdenken kann“, warf die Frau von der Versorgungsabteilung ein und schüttelte den Kopf. „Vielleicht sollten sich manche Leute mal ernsthafte Gedanken darüber machen, wie es sein kann, dass solche brillanten Köpfe wie die PHOENIX-Crew andernorts in Ungnade gefallen sind und erst eine unbedeutende Frelsini kommen musste, um deren Potenzial zu erkennen und sie zu Höchstleistungen anzuspornen. Wenn ich bedenke, wie wir dieses Potenzial hätten nutzen können! Bestimmt wären einige von denen – besonders die, die nicht von Terra stammen – nur zu gern bereit gewesen, unsere Ziele zu unterstützen, um dadurch den Vertretenden der etablierten Strukturen eins auszuwischen.“

Nyoko ignorierte sie. „Ich habe schon von ihrem Vorgesetzten, Admiral Makuma, gehört, dass er sie alle am liebsten aus der Flotte werfen würde. Aber nach dem, was die Leute nicht nur dadurch geleistet haben, dass sie aus einem Schrottschiff das leistungsfähigste Schiff der Flotte gemacht haben“, sie blickte Patrakos bezeichnend an, der Meloris Crew das Schrottschiff zugeteilt hatte, „geht das nicht mehr so einfach. Das würde nicht nur innerhalb der Flotte, sondern auch ISA-weit auf Unverständnis stoßen, was dem Renommee der TRF und damit auch ganz Terra schaden würde.“ Sie schüttelte den Kopf.

Patrakos blickte Nyoko an. „Wieso wurde die PHOENIX eigentlich zum IsteND befohlen?“

„Weil auch beim IsteND der Verdacht im Raum stand, dass sie die Leute waren, die die Revolution in der Gronthagu Liga ausgelöst haben. Der IsteND hat sie alle verhört und das Schiff überprüft, ob sich dafür Beweise finden lassen. Aber wie ich schon sagte, kam dabei nur heraus, dass die PHOENIX in der fraglichen Zeit tatsächlich bei den Ikamareh geforscht hat. Das wurde nicht nur durch die Aufzeichnungen und Flugdaten des Schiffes bestätigt, sondern auch durch an jedem einzelnen Besatzungsmitglied vorgenommenen telepathischen Bewusstseinssondierungen. Was immer sich in der Liga abgespielt hat, die PHOENIX hatte damit nichts zu tun.“ Sie winkte ab. „Aber wir haben ein anderes Problem.“

„Nur eins?“ Patrakos schnaubte. „Unser ganzer Plan – alle unsere Pläne gehen den Bach runter, wenn wir das Ruder nicht noch herumreißen können. Einige unserer Leute sind bereits abgesprungen und suchen unter dem Vorwand von Urlaubsreise und Auszeiten ihr Heil in der Flucht.“

„Was?“ Die Frau von der Versorgungsflotte schüttelte den Kopf.

„Ja, was haben Sie denn gedacht, Admiralin Haydn?“, fauchte Patrakos sie an. „Uns ist durch die gronthische Revolution alles um die Ohren geflogen. Unser Plan, die ISA den Grontheh in die Klauen zu spielen und als Statthalter der Matriarchin die Macht in den Händen zu halten, scheint gestorben zu sein. Und das ist er auch, wenn wir keine Lösung finden, wie wir retten können, was hoffentlich noch zu retten ist.“

„Wer ist diese Ashshannak überhaupt?“, wollte Li Wang wissen.

„Irgendeine Tochter der vorherigen Matriarchin“, antwortete Nyoko. „Und wie wir inzwischen wissen, war sie die Anführerin des gronthischen Widerstandes gegen ihre eigene Mutter. Aber nachdem Darrashann – ihre Tante – tot ist, stellt sich die Frage, wer denn jetzt unsere Ansprechpartnerin ist.“

„Eine der sechs Leiterinnen des Aishnasonn“, antwortete Patrakos. „Keine Ahnung, welche Nummer sie gegenwärtig hat. Sie wissen ja, dass die, sobald sie in die Geheimdienstleitung aufsteigen, dort keine Namen mehr haben, sondern nur noch eine Nummer, die ihre Rangfolge anzeigt. Und leider hat Ashshannak einige der bisherigen Leiterinnen getötet und durch ihre Gefolgsleute ersetzt, sodass wir davon ausgehen können, dass auch der Geheimdienst fest in ihrer Hand ist.“

„Haben wir dann überhaupt noch eine Chance auf Erfolg?“, überlegte Admiralin Ina Haydn. Ihre Stimme klang verzagt.

„Selbstverständlich haben wir die!“, fuhr Patrakos sie an. „Deshalb treffen wir uns heute. Und das Letzte, was wir brauchen, ist Defätismus! Sonst können wir uns gleich den Behörden stellen und uns wegen Hochverrats an nicht nur dem terranischen Volk, sondern auch an der ISA hinrichten lassen.“

Haydn kniff die Lippen zusammen und ballte eine Faust. Ihrem Gesichtsausdruck nach musste sie sich beherrschen, um sie nicht Patrakos ins Gesicht zu dreschen.

„Meine Vorgesetzte, Admiralin Graham, wurde verhaftet wegen Spionageverdachts“, warf Nyoko ein, um zu verhindern, dass der Streit zwischen Patrakos und seiner Stellvertreterin eskalierte.

„Hervorragend“, freute sich Patrakos.

„Nicht hervorragend!“, faucht Nyoko ihn an. „Sobald man sie einer Bewusstseinssondierung unterzogen hat, wird sie freigelassen, weil sie offensichtlich unschuldig ist. Aber da man offenbar weiß, dass jemand in hoher Position beim IsteND Verrat begangen haben muss, wird man nicht lange brauchen, um auf mich zu kommen.“

„Haben Sie denn nicht Ihre Spuren verwischt?“ Li Wang klang vorwurfsvoll.

„Selbstverständlich habe ich das getan!“, verteidigte sich Nyoko und warf einen wütenden Blick in die Runde. „Sie alle scheinen zu glauben, dass ich ein inkompetenter Schwachkopf bin. Zur Erinnerung: Ich bin beim IsteND, verdammt! Dort werden keine Schwachköpfe aufgenommen. Und eins der ersten Dinge, die wir in der dortigen Ausbildung lernen, ist, wie man seine Spuren verwischt, um nicht in Verdacht zu geraten.“ Sie winkte ab. „Aber ich war mehrfach gezwungen, mich mit unseren Kontaktleuten in Verbindung zu setzen oder sie sogar zu treffen. Selbstverständlich habe ich die Kontakte verschleiert und erst recht meine Treffen als Urlaubsreisen getarnt.“

„Dann sind Sie doch auf der sicheren Seite“, meinte Captain Sibylle Engler von der Handelsflotte.

„Eben nicht!“ Nyoko musste sich beherrschen, um sie nicht ungebührlich anzuschnauzen, weil sie das Gefühl hatte, in diesem Moment von lauter Schwachköpfen umgeben zu sein. „Sobald Graham aus dem Schneider ist, wird man alle anderen hochrangigen IsteND-Mitglieder überprüfen. In dem Zuge wird man auch alles, was ich in den letzten Jahren getan habe, akribisch überprüfen. Und ab da ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis man auf einen Beweis stößt. Bei der fast lückenlosen Dokumentation von Aufenthaltsorten und vor allem von Reisedaten mit öffentlichen und privaten Transportmitteln, fliegen alle meine Tarnversuche auf. Schließlich musste ich die interstellaren Reisen zu Treffen mit unseren Verbindungsleuten mit meiner wahren Identität unternehmen. Die elektronischen Tarnmasken tarnen nur optisch, aber nicht die bei jeder Transmitterbenutzung erstellten und aufgezeichneten DNA-Profile. Ohne die funktionieren die Transmitter schließlich nicht.“

„Nebenbei“, Patrakos blickte Nyoko eindringlich an, „woher kommt eigentlich Grahams Interesse an der PHOENIX? Sie hat doch mit der Forschungsflotte nichts zu tun.“

„Aus derselben Quelle, aus der Ihr eigenes Interesse stammt, Admiral“, schnappte Nyoko. Sie wurde langsam ungeduldig und fühlte sich von solchen sinnlosen Fragen genervt, besonders weil ganz andere Dinge auf dem Spiel standen. „Graham führte bei Captain Meloris Gerichtsverhandlung wegen ihrer Befehlsverweigerung bei Kantaka den Vorsitz und hat selbstverständlich mitbekommen, dass sie im Anschluss daran zur Forschungsflotte strafversetzt wurde und dass man ihr als Crew alle Leute aufs Auge gedrückt hat, die ebenfalls strafversetzt werden sollten. Natürlich interessierte nicht nur Graham, sondern auch unzählige andere Leute in der Flotte und in der halben ISA, was daraus wird. Woran Sie absolut nicht unschuldig sind, Patrakos, weil Sie Melori aus reiner Boshaftigkeit ein Schrottschiff angedreht haben, das wie ein Phönix aus der Asche als Schmuckstück wiedergeboren wurde. Die ISA-weite Aufmerksamkeit, die diese Meisterleistung erregt hat, dürfen Sie sich auf Ihre eigene Fahne schreiben.“

Patrakos wurde rot und hatte sichtbar eine scharfe Erwiderung auf der Zunge.

„Und unsere Verbindungsleute sind auch Geschichte“, stelle Ina Haydn fest und lenkte das Gespräch wieder auf den eigentlichen Grund des Treffens. „Diese Mrreyna hat wegen ihrer Rachsucht alles geopfert, nur um die PHOENIX und Melori fertigzumachen. Ihr Clan ist aufgerieben, sie selbst auf der Flucht. Und wenn ihr Schiff in die Hände der IsteP oder des IsteND fällt und untersucht wird, findet man garantiert Beweise, die uns ans Messer liefern.“

„Ihre Negativität geht mir langsam auf die Nerven“, knurrte Administrator James Augustus, Leiter der terraweiten Kommunikation, der ebenso wie Gabriel Amiri, Chef des Nachrichtensenders Terra Globe, bisher geschwiegen hatte. „Wir brauchen einen Plan, der funktioniert und kurzfristig umsetzbar ist.“

„Deshalb sind wir hier“, stellte Patrakos klar. „Ich sehe nur eine Möglichkeit. Wir müssen erst mal feststellen, wer überhaupt noch mit im Boot ist und nicht schon das scheinbar sinkende Schiff verlassen hat.“

„‚Scheinbar’ ist gut“, murmelte Haydn und ignorierte Patrakos’ verweisenden Blick. „Das Schiff sinkt, und zwar mit rasender Geschwindigkeit.“

„Vielleicht möchten Sie ja auch aussteigen?“ Patrakos’ Stimme klang drohend.

„Wollte ich das, wäre ich nicht hier“, konterte sie. „Also, wir stellen fest, wer immer noch mitmacht. Und dann?“

„Dann melden wir den Status Quo an Alpha, wie immer verschlüsselt. Er wird dann die Kontaktperson im Aishnasonn informieren und ihr klarmachen, dass unsere gemeinsamen Pläne nur dann noch eine Chance haben, wenn Ashshannak schnellstmöglich stirbt und eine Gronthi die Herrschaft übernimmt, die die Pläne der alten Matriarchin fortführt und durchsetzt.“

Gabriel Amiri lachte. „Falls Sie es nicht mitbekommen haben sollten, Patrakos: In der Liga ist der Teufel los. Egal, wer nach Ashshannak die Herrschaft übernimmt, sie wird erst mal genug damit zu tun haben, eine gewisse Stabilität zu etablieren. Aber nachdem die Grontheh davon überzeugt sind, dass Ashshannak sozusagen die Gesalbte ihrer Göttin und deren Stellvertreterin im Universum ist, wird jede Putschistin, die sich auf den Thron setzen will, von der Mehrheit der Grontheh abgelehnt werden, weil ihr der göttliche Segen fehlt. Den kann man, wie mir mitteilt wurde, nicht vortäuschen. Selbst wenn es unseren Verbündeten beim Aishnasonn gelingt, Ashshannak zu beseitigen, beendet das den Bürgerkrieg nicht, sondern verlagert ihn lediglich, weil dann alle Gefolgsleute Ashshannaks die neue Matriarchin und ihre Helfer bekämpfen.“ Er schüttelte den Kopf. „Wir müssen ohne die Grontheh operieren.“

„Sie meinen ...“ Nyoko konnte nicht fassen, was Amiris Vorschlag bedeutete.

„Ich meine“, er beugte sich vor, „dass wir nur eine Chance haben, wenn wir unseren Plan unabhängig von den Grontheh in die Tat umsetzen.“

„Das heißt“, Li Wang senkte unwillkürlich die Stimme, „wir übernehmen die ISA?“

Amiri nickte. „Genau das. Und die Bevölkerung wird davon nicht mal was merken. Unsere Leute sitzen alle in Positionen, die sie an die Spitze bringen, sobald die derzeitig Inhabenden der Spitzenpositionen ausgeschaltet sind. Sofern sie die nicht schon selbst innehaben.“

Ina Haydn wurde blass. „Das wäre – Massenmord!“

„Das wäre nur eine Reihe höchst bedauerlicher Unfälle in einigen Fällen“, korrigierte Amiri. „Und in anderen eine Diskreditierung verschiedener Personen durch aufgedeckte ‚Leichen’ in ihrem Keller, die jeder hat und die sie zum Rücktritt zwingen oder zur Entfernung aus ihren Positionen führen. So einfach ist das. Und in meiner Position und mit den Ressourcen für Recherchen, die mir zur Verfügung stehen, habe ich schon etliche Leichen von Leuten ausgegraben, denen das Genick gebrochen wird, sobald ich die veröffentliche.“

Leichen im Keller – so wie die, die Nyoko überhaupt in diese Situation gebracht hatte. Ein Fehler, den sie begangen hatte in der Überzeugung, das Richtige zu tun, und es hatte sich als persönliches Desaster erwiesen; als der schlimmste Fehler ihres Lebens in mehr als nur einer Hinsicht. Weil sie zu feige gewesen war, die Konsequenzen zu tragen, die in ihrer Entfernung aus dem IsteND plus einer sehr langen, vermutlich lebenslangen Gefängnisstrafe bestanden hätten, war sie erpressbar geworden. Und hatte sich erpressen lassen, in der Hoffnung, dass alles gutgehen und der Verrat, zu dem sie sich hatte erpressen lassen, nicht auffliegen würde. Wodurch alles noch schlimmer geworden war.

Der erste Fehler hätte sie nur ihre Freiheit gekostet, weil auf der Erde die Todesstrafe weltweit schon seit Jahrhunderten abgeschafft war. Der zweite Fehler bedeutete ihren Tod, weil Hochverrat gegen die ISA vor einem ISA-Gericht verhandelt und nach ISA-Gesetzen mit dem Tod bestraft wurde. Die einzige Möglichkeit, dem zu entgehen, war, die Sache – den Putsch durchzuziehen und zu hoffen, dass sie ungeschoren davonkam. Doch Nyoko konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass das nur noch ein frommer Wunsch war, der niemals wahr werden würde.

„Das muss Alpha entscheiden“, riss Patrakos sie aus ihren düsteren Gedanken. „Er hat die gesamte IsteP in der Tasche, sobald deren Erster Admiral Rhan aus dem Weg ist. Und“, er lächelte leicht, „auch wenn diese Piratin Mrreyna sich selbst ruiniert hat, so haben wir mehr als nur die halbe Piratengilde in unseren Diensten.“

„Was ist mit unserer geheimen Flotte?“, wollte Haydn wissen. „Wann ist die einsatzbereit?“

Patrakos winkte ab. „Das ist sie schon längst.“ Er wiegte den Kopf. „Nun ja, wir hätten gerne noch mehr Kriegsschiffe gehabt, aber zweihunderttausend schlagkräftige Kampfkreuzer, die alle vollautomatisch und ohne Besatzung operieren, dürften ausreichen. Sie machen keine Fehler, haben keine Skrupel und erst recht keine Angst um ihr Leben, weil sie kein Leben haben. Und sie ‚opfern’ sich bedenkenlos, um unsere Ziele zu erreichen.“ Er lächelte. Es wirkte boshaft. „Und weil wir sie so gebaut haben, dass sie äußerlich wie IsteP-Schiffe aussehen, werden sie ungehindert überall hinkommen.“

Patrakos musste hoch in der Hierarchie der Verschwörung stehen, erkannte Nyoko in diesem Moment, um so genau über die Pläne informiert zu sein, die, wie sie vermutete, nur Alphas engsten Vertrauten bekannt waren.

„Und die Flotte hat noch einen weiteren Vorteil.“ Li Wang lächelte ebenso boshaft wie Patrakos. „Die Liga zerfällt. Sobald der Bürgerkrieg vorbei ist, sind die Grontheh geschwächt. Zweihunderttausend Kampfschiffe, auch wenn sie vergleichsweise klein sind, sollten genügen, um Ulshonnash einzunehmen und den Sauroiden das Herz rauszureißen.“

„Und dann?“, entfuhr es Nyoko.

„Und dann“, Li beugte sich leicht vor und seine schwarzen Augen glitzerten, „werden wir dort weitermachen, wo auch Darrashann weitergemacht hätte. Nur mit umgekehrten Vorzeichen. Nicht die Grontheh werden dann die Liga und die ISA beherrschen, sondern wir. Unsere Statthalter in der Liga werden unsere Marionetten sein.“ Er lehnte sich zurück und lächelte zufrieden.

Nyoko zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln, das ihr in Wahrheit längst vergangen war. Denn falls dieser Plan nicht komplett wahnsinnig war, konnte er nur bedeuten, dass die Verschwörung erheblich größer war und weitreichendere Ausmaße hatte, als sie sich das in ihren schlimmsten oder kühnsten Träumen vorgestellt hatte.

 

2.

 

5. Yokanda-Mond, geheime IsteND-Station

09.05.351 ISA-Zeit

 

Melori stand in der Hangarschleuse und genoss den grandiosen Anblick, der sich ihr bot. Die PHOENIX hatte sich verändert. Erheblich. Aus der ursprünglichen, fünfhundert Meter durchmessenden und hundertzwanzig Meter hohen Diskusform war ein fünfhundert Meter durchmessendes Kugelschiff geworden. Melori hatte sich in Absprache mit ihren Führungsoffizieren und der Technikcrew nicht nur deshalb für diese Form entschieden, weil eine Kugel sich innerhalb einer Atmosphäre gut steuern ließ. Die scheinbare Platzverschwendung in den Außenbereichen kam dem Verschleiern der Geheimnisse, die die PHOENIX in ihrem Inneren barg, sehr entgegen.

Normalerweise „fehlte“ Innenräumen, die an den Außenwänden einer gewölbten Schiffshülle lagen, Stauraum, wenn ihr Aufbau die Wölbung mitmachte. Als Betriebsräume für Generatoren ließen sie sich meistens auch nicht nutzen, weil Ausmaße und Form der Anlagen nicht in gewölbte Räume passten. Um das auszugleichen, wurden Räume mit Wölbwänden entweder als Freizeiträume genutzt, in denen nichts gelagert wurde, oder die Wände mussten an den Innenseiten begradigt werden. Dadurch entstanden zwischen der Rückwand des jeweiligen Raums und der gewölbten Außenwand des Schiffes Hohlräume, die entweder massiv verfüllt werden mussten oder in denen wichtige Energieleitungen und andere Verbindungen zu Generatoren untergebracht wurden.

Doch das barg gewisse Gefahren, denn in einem Gefecht war, wenn die Schutzschilde zusammenbrachen, die Außenhülle die Fläche, die als Erste zerstört wurde. Lagen unmittelbar hinter ihr Energieleitungen, wurden die nicht nur ebenfalls zerstört oder zumindest beschädigt. Meistens entstand dadurch eine Kettenreaktion, die auf die Generatoren übergriff, zu denen die Leitungen führten und dadurch das ganze Schiff zerstörte; oder doch erhebliche Schäden anrichtete.

Aus diesem Grund befanden sich bei der neuen PHOENIX unter der Hülle nur die Außenbereiche der Antriebe und die Hangars. Die Antriebsgeneratoren saßen auf Deck 5 und waren umgeben von Räumen, die als zusätzliche Puffer bei Beschädigungen dienten. Außerdem wurden bei Schäden im Außenbereich einzelner Antriebssektionen die Generatoren innerhalb einer Sekunde hermetisch abgeriegelt, sodass die Zerstörung nicht auf die Generatoren übergreifen konnte.

Offiziell war die achtfach mit Cribomit verstärkte Außenhaut vier Meter dick, was auf einige Bereiche tatsächlich zutraf. In anderen Bereichen waren Minihangars integriert, in denen 35 modernste Jäger der Protektor-Klasse, die norma-lerweise ausschließlich der Interstellaren Polizei vorbehalten waren, auf ihren Einsatz warteten. In der alten PHOENIX hatten die bisherigen zwanzig Jäger mit der Front zu den Schleusentoren gestanden, wodurch ihre Hangars eine Tiefe von zehn Metern besessen hatten. Die glaubhaft als „notwendige Stützverstrebungen“ zu tarnen, weil das alte Schiff aus einem fast schrottreifen Wrack der Hyperion-Klasse gebaut worden war, klang plausibel. Die Prüfkolonne des IsteND, die die PHOENIX vor gut einem Monat ISA-Zeit akribisch untersucht hatte, hatte keines ihrer Geheimnisse entdeckt; auch nicht die Jäger.

Die neuen besaßen im Gegensatz zu ihren Vorgängern eine cribomitverstärkte Außenhülle. Melori hatte auf dieser Ergänzung bestanden. Beim Kampf um Ishkorai, dem Tempelmond von Ulshonnash, der Hauptwelt der Grontheh, hatte Commander Thalia Lindstrom ihr Leben verloren, weil sie mit ihrem Jäger den Beschuss abgefangen hatte, der die PHOENIX vernichtet hätte. Mit einer Cribomithaut hätte die Hülle dem Beschuss genau die paar zusätzliche Sekunden standgehalten, die die PHOENIX gebraucht hatte, um ihre zusammengebrochenen Schutzschilde neu aufzubauen. Melori machte sich heute noch Vorwürfe, dass sie nicht schon beim Bau der ersten PHOENIX auf die Idee für diesen zusätzlichen Schutz der Jäger gekommen war. Auf keinen Fall wollte sie noch einmal ein Mitglied der Jägercrew verlieren.

Doch bei der Neukonstruktion, in der nur ungefähr ein Viertel des alten Schiffes erhalten geblieben war, mussten die Dinge anders getarnt werden, weil die Ausrede der ausladenden Stützverstrebungen nicht mehr passte. Deshalb standen die Jäger parallel zu ihren Hangartoren. Diese waren so eingearbeitet, dass sie nicht als Tore zu erkennen waren. Zusätzlich waren alle Außen- und Innenteile mit der RS-Legierung bestrichen worden, die nicht nur stützende Funktion erfüllte, sondern auch den Vorteil hatte, dass sie keine Scannerstrahlen durchließ, sodass niemand durch einen Scan entdecken konnte, was nicht entdeckt werden durfte.

Ein weiterer Zweck der Kugelform war die Tatsache, dass kugelförmige Raumschiffe von verschiedenen Völkern innerhalb und außerhalb der ISA benutzt wurden, sodass nicht mehr wie vorher durch ausfahrbare Aufbauten die Form verändert werden musste, um die PHOENIX „unsichtbar“ zu machen. Hatte das alte Schiff nur zwei Tarnidentiäten als tinuskischer Aufklärer und lingulanisches Forschungsschiff besessen, so konnte das neue auf fünf zurückgreifen. Eine davon war die eines Passagierschiffs der Arrithaafeh, einem humanoiden, in der Gronthagu Liga beheimateten Volk, eine andere die eines Forschungsschiffs der Ikkuneh.

Dieses ebenfalls humanoide Volk lebte etwa 2000 Lichtjahre außerhalb der ISA. Bisher hatte es nur einen einzigen und friedlichen Kontakt zu ihnen gegeben. Aus dem resultierten die Informationen über ihr Aussehen und eine komplette Datenbank mit ihrer Sprache. Elektronisch Tarnmasken, die auch den jeweiligen Körperbau imitierten, stellten sicher, dass die Besatzung tatsächlich so aussah wie die Wesen, die sie vorgaben zu sein. Und da die komplette Auskleidung mit der RS-Legierung alle Scans des Inneren verhinderten, konnte auch niemand die Biosignaturen als überwiegend menschlich identifizieren. Für die Identitäten als ISA-Schiffe gab es wie schon für ihre Vorgänger perfekte falsche „Lebensläufe“ in den Datenbanken der jeweiligen Flotten, die bestätigten, dass das Schiff seit Jahren im Dienst stand, was durch gefälschte Logbücher belegt wurde.

Die beiden Vorgängerschiffe waren angeblich zerstört worden. Der tinuskische Aufklärer hatte noch einen Notruf abgesetzt, dass ein durch Kollision mit einem Meteoriten verursachter Schaden an den Triebwerken das Schiff unaufhaltsam in eine Sonne zog, in die es dann gestürzt und verglüht war. Das lingulanische Forschungsschiff konnte noch einen Piratenüberfall melden, der es Minuten danach vernichtet hatte. Ein von einem unbewohnten Schrottplaneten geborgenes Wrack eines lingulanischen Schiffes, das ungefähr so alt war wie das angeblich zerstörte, war dort platziert worden, wo der angebliche Angriff stattgefunden hatte, und zusammengeschossen worden. So intensiv, dass die Überreste zwar noch als von Lingula stammendes Schiff identifiziert werden konnten, aber eine Widerlegung, dass es sich um die YAROKA YALA handelte, unmöglich war. Somit waren beide Schiffe und ihre Crews auf plausible Weise „gestorben“, und niemand hegte daran den geringsten Zweifel.

Melori ging langsam um die PHOENIX herum. Statt der ursprünglichen zwölf Decks besaß sie nun siebzehn. Zum Teil war das der Erweiterung der Quartiere geschuldet. Hatten die meisten Kabinen für die terranischen und anderen humanoiden Mitglieder der Crew inklusive der Nasszellen ursprünglich nur zwölf Quadratmeter betragen und sechszehn für die großgewachsenen Sauroiden und Insektoiden, so hatten jetzt alle gleichermaßen zwanzig Quadratmeter zur Verfügung. Außerdem gab es zusätzliche Gästequartiere, denn ein Schiff der Terranischen Raumflotte, das keine Kabinen für die unangemeldeten Inspektionsbesuche von Vorgesetzten hatte, war suspekt. Die Freizeiträume waren ebenfalls erweitert und ergänzt worden.

Auch die normalen Hangars hatten Zuwachs bekommen. Statt vier Großraumshuttles zum Transport von Ausrüstung und Crewmitgliedern gab es nun sieben, statt acht Aufklärungsshuttles zwölf. Die Zahl der Drohnen für Aufklärung und Ortung hatte sich auf dreihundert erhöht, die Zahl der Personentransmitter auf fünf. Zwar war die Zahl der Standardwaffen beibehalten worden, denn ein Forschungsschiff musste sich allenfalls gegen einzelne Gegner verteidigen und flog normalerweise keine Kampfeinsätze. Aber die PHOENIX hatte schon einige Kampfeinsätze hinter sich und sicherlich noch erheblich mehr vor sich. Und ohne die Sonderbewaffnung hätte das Schiff den Ausflug in die Gronthagu Liga nicht überlebt.

Aus diesem Grund besaß die PHOENIX nun zwanzig statt bisher zwölf Kirox-Strahler und vier statt zwei Geschütze für Antimaterietorpedos. Das alles machte die PHOENIX zu einem sehr effektiven Kampfschiff. Dazu trugen auch die Antriebe bei, die in den beiden Polen und dem Äquatorbereich saßen und Beschleunigungskomponenten besaßen, über die herkömmliche ISA-Schiffe, auch die der IsteP, nicht verfügten. Und die von der technischen und navigatorischen Crew der PHOENIX entwickelten Manövertriebwerke erlaubten in Verbindung mit den exzellenten Künsten der Navigations- und Pilotencrew Kapriolen, die bisher kein anderes Schiff fertigbrachte.

Natürlich war auch die Ausstattung in den Forschungsabteilungen verbessert und erweitert worden. Modernste und leistungsfähigste Analysegeräte warteten auf ihren Einsatz. Es gab kein Forschungsgebiet, das die PHOENIX nicht bedienen konnte.

Kurzum: Das neue Schiff übertraf das alte bei Weitem und war zum zweiten Mal wie ein Phönix, dessen Namen es trug, aus seiner eigenen „Asche“ wiedergeboren worden. Und weil mehrere Tausend Roboter rund um die Uhr daran gearbeitet hatten, war die Arbeit nach dreiunddreißig Tagen abgeschlossen. Ihren Testflug hatte die PHOENIX ebenfalls mit Bravour bestanden. Nun war es an der Zeit, sie in den Einsatz zu schicken.

Melori betätigte das in ihr Kom-Gerät eingearbeitete Transmittersignal, und der Transmitter holte sie an Bord. Auch das war eine der jüngsten Verbesserungen aus der Technikabteilung. Statt dass wie bisher die Transmitter nur vom Schiff aus bedient werden konnten, sendete das Kom-Signal die Identität und den Standort der zu transportierenden Person und initiierte den automatischen Transport. Das sparte bei erforderlichen Notfalltransporten wertvolle Sekunden, in denen sonst erst per Notruf ein Transportgesuch übermittelt und der Transport per Hand ausgeführt werden musste. Und damit ein Missbrauch der Kom-Geräte, mit denen Unbefugte sich Zutritt zur PHOENIX verschaffen könnten, unmöglich wurde, war jedes Gerät nur für eine einzige Person programmiert. Jemand anderes konnte es nicht benutzen.

Melori materialisierte im Hauptpersonentransmitter auf Deck 6 und fuhr mit dem Lift zur Zentrale auf Deck 9. Die hatte sich vorher ebenfalls auf Deck 6 befunden, denn die Zentrale lag ihrer Bezeichnung entsprechend immer in der Mitte eines Schiffes, damit bei Hüllenbrüchen in Außenbereichen das „Herz“ des Schiffes nicht auf einen Schlag vernichtet werden konnte.

Erster Offizier Commander Halan Ashkonn saß im Kommandosessel, Sicherheitschef und Zweiter Offizier Daar Abraan im Beratersessel neben ihm.

„... und bereit“, verkündete Ortungsoffizierin Kya Shedora.

„Navigation auf Standby“, meldete Ensign Kemo Tagori vom Navigationspult. „Kurs aus dem Ayarya-System ist programmiert mit automatischer Anpassung an die Umlaufbahn des Mondes in Relation zu den bewohnten Gebieten von Yokanda.“

„Sehr gut, Ensign“, lobte Ashkonn.

„Kom-Station aktiv“, gab Lieutenant Sutaro Han bekannt.

„Taktische Systeme auf Standby und einsatzbereit“, meldete Commander Shakti Janssen.

„Technische Abteilung einsatzbereit“, verkündete Commander Robar Selakem von der Technikstation. „Triebwerke auf Standby. Und ich kann es kaum erwarten, unser Schmuckstück ins All zu entlassen.“

„Was wir augenblicklich tun werden“, ordnete Melori an und nickte Ashkonn zu.

Inzwischen waren sie und ihre Führungsoffiziere ein eingespieltes Team. Ashkonn interpretierte Meloris Nicken deshalb als Hinweis, dass sie das Kommando noch nicht offiziell übernehmen wollte. Sie setzte sich in den Sessel zu Ashkonns anderer Seite.

„Ortung?“, verlangte Ashkonn.

„Keine Schiffe im gesamten System detektiert“, meldete Shedora.

„Ensign Tagori, starten Sie und bringen Sie uns aus dem System“, befahl Ashkonn. Ein Blick zu Melori und ihr Kopfschütteln sagte ihm alles, was er wissen musste. „Danach behalten Sie den eingeschlagenen Kurs bei bis Sie andere Anweisung erhalten. Lieutenant Han, sobald wir die Station verlassen haben, senden Sie den Deaktivierungscode an den Stationscomputer.“

„Jawohl, Commander“, bestätigten beide unisono.

Tagori gab den Öffnungscode für das über der PHOENIX befindliche Hangartor ein. Die Atmosphäre im Hangar wurde abgesaugt, und die riesigen Schotten glitten auf. Staub, Sand und kleine Geröllbrocken von der Oberfläche rieselten herein. Die Stationsroboter würde ihn später wegräumen. Der Bildschirm zeigte die taktische Darstellung der Schiffsposition und eine über Außenkameras übertragene Realansicht des spärlich mit Sternen gespickten Himmels über dem Mond. Die rote Sonne Ayarya schob sich ins Bild, je weiter die Tore aufglitten. Die automatische Sonnenblende dämpfte das einfallende Licht. Trotzdem blieb der Anblick grandios.

Die PHOENIX schwebte aus dem Hangar, dessen Tore sich hinter ihr schlossen. Von oben sah das geschlossene Tor wie ein natürlicher Krater aus, dessen Boden mit Felsbrocken und Geröll bedeckt war. Die Ortungsgeräte zeigten darunter massives Gestein an, und nichts deutete darauf hin, dass sich hier eine weitläufige Reparaturwerft mit einem gut bestückten Ersatzteillager befand, die zehn Großkampfschiffe gleichzeitig hätte aufnehmen können.

Han sendete den Deaktivierungscode, der die Basis wieder in den Ruhemodus versetzte, aus dem die PHOENIX sie bei ihrer Ankunft geweckt hatte.

„Ihr Deaktivierungscode wurde akzeptiert“, teilte der Stationscomputer mit. „Ihre Zugangscodes wurden gelöscht und können kein zweites Mal verwendet werden. Benötigen Sie die Dienste dieser Station erneut, müssen Sie andere gültige Codes benutzen. Gute Reise!“

Die Verbindung wurde beendet.

Melori stand auf. „Commanders Ashkonn, Abraan und Janssen, folgen Sie mir in den Besprechungsraum. Commander Selakem, Sie haben das Kommando.“

„Jawohl, Captain“, bestätigte Selakem, stand auf und setzte sich in den Kommandosessel, den Halan Ashkonn räumte.

Eine weitere Verbesserung bestand darin, dass der Kommandowechsel nicht mehr ausdrücklich fürs Protokoll der automatischen Aufzeichnung aller Vorgänge in der Zentrale genannt werden musste. Die Spracherkennung war so programmiert worden, dass sie die namentliche Anrede in Verbindung mit Worten wie „Sie haben das Kommando“ oder ähnlichen als Kommandoübergabe erkannte und den Wechsel sowie dessen genauen Zeitpunkt automatisch ins Logbuch übertrug. Auch das sparte im Notfall wertvolle Sekunden.

Melori betrat den Bereitschaftsraum und setzte sich an den Konferenztisch, der vor dem Bildschirm stand, auf den die Außenkameras das Realbild des umgebenden Weltraums übertrugen. Auch der Bereitschaftsraum hatte eine Verbesserung erhalten, war doppelt so groß wie vorher und dadurch nicht mehr so eng.

Melori wartete, bis sich alle gesetzt hatten. „Nachdem wir nun voll einsatzfähig sind, werden wir uns vordringlich wieder der Aufgabe widmen, für die Mission Phönix ursprünglich ins Leben gerufen wurde: Wir fegen die Piratenplage aus der ISA.“

„Wofür uns die Ruaneh schon die halbe Arbeit abgenommen haben“, erinnerte Daar Abraan sie. „Mehr als die Hälfte, wage ich zu sagen.“

Melori schätzte, dass dank der Ruaneh inzwischen mindestens achtzig Prozent aller geheimen oder als Handelshäuser getarnten Piratenstützpunkte aufgeflogen waren. In ihrem letzten Gespräch mit K, dem inoffiziellen Oberhaupt der Ruaneh, hatte sie ihn zu überzeugen versucht, dass zumindest einige der Piratenclans mit den Verschwörern zusammenarbeiteten, um die ISA den Grontheh in die Klauen zu spielen – was ihm nichts Neues war – und dass auch die Ruaneh in Gefahr waren, falls sie damit Erfolg hatten. Offenbar hatte ihre „Ansprache“ bei ihm gefruchtet, denn die Ruaneh hatten über Nacht entdeckt, dass sie doch überaus gesetzestreue und vor allem loyale ISA-Mitglieder waren.

Statt sich wie bisher aus allem herauszuhalten und nach dem Motto „leben und leben lassen“ so zu tun, als gingen sie das Unwesen der Piraten nichts an, verging seitdem fast kein Tag, an dem nicht ein ruanisches Schiff der IsteP verdächtige Aktivitäten auf abgelegenen Planeten meldete oder den Verdacht zu Protokoll gab, dass dieses oder jenes Handelshaus unrechtmäßig erworbene Güter verkaufte. Die auf den Handelswelten stationierten IsteP-Einheiten und die IsteP-Flotten hatten alle Hände voll zu tun, um diese Anzeigen zu überprüfen und die angezeigten Handelsschiffe zu verfolgen. Bisher hatte sich jede Anzeige als wahr erwiesen. Und die bei den ISA-Gerichten anhängigen Verfahren gegen die Piraten und ihre Sympathisanten stapelten sich.

Denn hatte sich ein Verdacht bestätigt, führte diese Entdeckung in der Regel zu weiteren Verbindungen zu Wesen, die zwar nicht immer selbst Piraten waren, aber von ihnen Waren kauften, obwohl sie wegen fehlender Herkunftsnachweise wussten oder zumindest ahnten, dass es sich um Diebesgut handelte. Auch diese wurden angeklagt und erwarteten einen Prozess. Mit dem zusätzlichen Erfolg, dass keine seriösen Handeltreibenden mehr wagten Waren anzunehmen, deren Herkunft nicht zweifelsfrei nachgewiesen war.

Die Piraten waren nirgends mehr sicher, hatten keine Unterstützung mehr, nicht einmal durch passives Wegsehen, und wurden von der IsteP gnadenlos verfolgt. Allerdings gab es bereits Gerüchte, dass einige Clans sich zusammengeschlossen hatten und entschlossen waren, kämpfend und plündernd unterzugehen, statt zu fliehen oder unterzutauchen wie einige andere.

„Ich dachte auch mehr an unsere spezielle Feindin Mrreyna vom Zarshash-Clan“, antwortete Melori Abraan. „Commander Abraan, Sie sind, bevor Sie der Terranischen Raumflotte beitraten, recht weit herumgekommen und haben viel erlebt und gehört. Ist Ihnen irgendwann einmal eine Information zu Ohren gekommen, aus der man schließen könnte, was eine einzelne Piratengruppe dazu veranlassen könnte, mit ihrer gesamten Flotte eine bestimmte Gegend im All aufzusuchen? Unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Situation der Piraten.“

Daar bewunderte, wie diplomatisch Melori ihre Frage formuliert hatte. Er war sich inzwischen sicher, dass sie ahnte, dass er mit der Piratengilde besser bekannt gewesen war, als für ihn gut war. Trotzdem deutete sie das mit keiner Silbe an. Es war an der Zeit, sie ins Vertrauen zu ziehen. Ihr alles zu offenbaren. Auch wenn das bedeutete, dass sie ihre kaum begonnene Beziehung zu ihm wahrscheinlich beenden würde. Aber darüber konnte er sich später Gedanken machen.

„Wenn sie eine besonders fette Beute in Aussicht hätten, die ein Gefecht mit deren Wachschiffen rechtfertigt und sie genug überlegene Feuerkraft besitzen, um eben diese Schiffe ohne große eigene Verluste zu besiegen, würden sie sich die nicht entgehen lassen.“

„Das gilt wohl für alle Piraten“, meinte Ashkonn in einem Tonfall, der andeutete, dass er keinen solchen Gemeinplatz von Daar erwartet hatte.

Daar nickte. „Natürlich. Aber wenn wir den speziellen Piraten um Mrreyna eine Falle stellen wollen, worauf der Captain offenbar hinaus will,“ – Melori nickte – „dann sollten wir ihnen als zusätzlichen Köder anbieten, dass die PHOENIX mit zur Wachflotte gehören wird. Da Mrreyna Meloris Tod um jeden Preis will, dürfte sie das mit Sicherheit hinlocken. Wenn es dann noch fette Beute gibt, die den Einsatz ihrer gesamten Flotte – vielmehr des kümmerlichen Rests davon – lohnt, dürfte sie dem Köder nicht widerstehen können.“

„Das sehe ich auch so“, stimmte Shakti Janssen ihm zu. „Wie Sie selbst uns sagten, Captain, haben die Ruaneh gemeldet, dass diese Mrreyna sich mit drei anderen Clans zusammengeschlossen hat, um ihre Kampfkraft zu stärken, nachdem wohl ein Großteil ihrer Leute sie im Stich gelassen hat.“

„‚Zusammengeschlossen’ ist gut“, höhnte Daar. „Ich wette, sie hat in typischer Manier die Clanführer in eine Falle gelockt oder zum Kampf um die Führung herausgefordert, um sie dann zu ermorden und auf diese Weise ihre Schiffe übernommen.“

Ashkonn blickte ihn an, deutliches Misstrauen im Blick. „Und Sie sind über die ‚typische Manier’ dieser Piraten so gut informiert?“

Daar hoffte, dass ihm gelang, ein unbewegtes Gesicht zu wahren. Verdammt, er musste aufpassen, was er sagte! Dass ihm diese Äußerung entschlüpft war, zeigte, dass er sich inzwischen hier viel zu wohl und vor allem zu sicher fühlte. Nicht nur mit Melori, der er vollkommen vertraute, sondern auch mit Ashkonn und Janssen und den übrigen Führungsmitgliedern der Crew.

„Das sind wir beide“, antwortete Melori an seiner Stelle. „K hat uns entsprechend informiert, um uns zu verdeutlichen, mit was für einem skrupellosen Wesen wir es bei Mrreyna zu tun haben. Sie ist laut K auch die einzige Piratin, die sich nicht nur damit begnügt, die überfallenen Schiffe auszurauben, sondern sie nach der Plünderung vernichtet, sofern sie die nicht gebrauchen kann, und alle bis dahin noch lebenden Crewmitglieder ermordet. Nach seinem letzten Bericht verfügt sie gegenwärtig über dreiunddreißig Schiffe. Und weil sie uns nicht finden kann, konzentriert sie sich erst mal wieder auf Raubzüge.“

„Aber nur in abgelegenen Gebieten, die nicht permanent von der IsteP überwacht oder abgesucht werden“, ergänzte Daar, zutiefst dankbar für Meloris plausible Erklärung. „Was sie nicht besonders erfolgreich machen dürfte.“

Melori lächelte. „Und genau das gedenke ich zu nutzen.“

„Mit dem derzeitigen Status unseres Schiffes hinsichtlich Feuerkraft, Manövrierfähigkeit und vor allem Schutzschilden können uns die Piraten nicht allzu gefährlich werden“, war Janssen überzeugt. „Wie wir wissen, haben die meisten Clans ihre Schiffe aus ihren Beutezügen zusammengeraubt und auf Schrottwerften umgebaut oder sie von vorn herein auf einer piratenaffinen Schrottwerft gebaut wie der auf Gredion.“ Sie errötete. „Verzeihung, Captain. Ich wollte mit dieser Bemerkung keine Wunde aufreißen.“

„Das haben Sie nicht“, versicherte Melori. Eine Lüge, denn der Verrat ihrer ehemals guten Freundin Ringa Kala, der die Werft gehört hatte und die Melori sogar im Auftrag der Piraten zu töten versucht hatte, schmerzte sie auch nach über einem Jahr noch. „Fahren Sie fort.“

„Das heißt, dass die wenigsten Piratenschiffe allzu gefechtsstark sein dürften. Wie wir wissen, weil sie bei Lomokk aufgetaucht sind und uns dort gesucht haben, hat Mrreyna nur noch fünf Schiffe, die ein Tarngerät besitzen. Falls sie von denen nicht inzwischen einen Teil verloren hat. Diese Schiffe, weil sie höchstwahrscheinlich mit gronthischer und nagdanischer Technologie ausgestattet sind, sind die einzigen, die uns eventuell gefährlich werden könnten. Die achtundzwanzig anderen Schiffe, die ihr folgen, dürften nur eine geringere Bedrohung sein.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Eigentlich gar keine, wenn wir unsere Raumjäger einsetzen.“

„Was wir nicht tun werden“, erinnerte Melori sie. „Die Jäger sind unsere Geheimwaffe, von der idealerweise niemand etwas wissen darf. Nicht mal unsere Vorgesetzten außer Admiral Rhan. Wir werden sie nur im äußersten Notfall einsetzen. Und der ist hier nicht gegeben, falls nicht etwas Unvorhergesehenes geschieht.“

„Und weil die Piratenschiffe nicht besonders gefechtsstark sind außer diesen fünf, werden sie keinen Konvoi angreifen, um Beute zu machen“, war Ashkonn überzeugt. „Weitere Verluste können sie nicht riskieren.“

Janssen nickte. „Darauf will ich hinaus. Wenn die scheinbare Beute gar nicht mal übertrieben groß ist, aber umso wertvoller, sodass sie in ein einzelnes Schiff passt, weshalb keine halbe Flotte als Begleitschutz erforderlich ist, müsste Mrreyna anbeißen.“

„Das sehe ich auch so“, stimmte Daar ihr zu. „Besonders weil Mrreyna unter enormem Erfolgsdruck steht. Sie muss sich nicht nur als Anführerin beweisen, sondern auch zeigen, dass sie trotz der Krise in der Lage ist, für ihren Clan zu sorgen und ausreichend Beute zu machen. Das heißt, sie wird sich sowieso auf Beute konzentrieren, bei der sie gute Chancen auf Erfolg hat, keine großen Handelskonvois. Je kleiner und wertvoller der Transport ist, desto wahrscheinlicher, dass sie ihn überfällt.“ Er blickte Melori an. „Was haben Sie vor, Ma’am?“