Göttin der Anarchie - Jacqueline Jones - E-Book

Göttin der Anarchie E-Book

Jacqueline Jones

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Beschreibung

Lucy Parsons, nie gehört? Nun, sie war eine der bekanntesten Anarchist*innen Amerikas, Wortführerin der US-Arbeiterbewegung, eine der radikalsten Schwarzen Frauen des späten 19. Jahrhunderts. Trotzdem ist sie hierzulande höchstens als Witwe von Albert Parsons bekannt, einem der fünf Anarchisten, die nach dem Haymarket-Aufstand von 1886 hingerichtet wurden. Dabei hat sie ihren Mann um Jahrzehnte überlebt und war so viel mehr als bloß »die Witwe«: Mitgründerin der IWW, Gewerkschafterin, Rednerin, Autorin, Herausgeberin, Briefpartnerin von Pjotr Kropotkin, Errico Malatesta, Johann Most, Emma Goldman und vielen anderen. Zu ihrem Schwarzsein hatte sie jedoch ein ambivalentes Verhältnis, die Klassenfrage stand für sie zeitlebens im Vordergrund. Jacqueline Jones zeichnet nicht nur das fesselnde Porträt der noch als Sklavin geborenen politischen Kämpferin, unerschrockenen Revolutionärin und Zeitgenossin in all ihren Facetten und Widersprüchen. Es gelingt ihr auch, das wechselvolle Jahrhundert dieses Lebens zu erfassen sowie die verschiedenen Strömungen der Arbeiterbewegung – zwischen Reform und Revolution, zwischen Paternalismus und Propaganda der Tat – differenziert darzustellen. Ihre Biografie schlägt eine Brücke zu widerständischen politischen Bewegungen der Gegenwart.

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JACQUELINE JONES, geboren 1948 in Delaware, ist Professorin für Sozial- und Ideengeschichte an der University of Texas in Austin. Ihr Spezialgebiet sind feministische Ökonomie sowie Geschichte der Sklaverei, Klasse und Race. Für ihr Buch Labor of Love, Labor of Sorrow: Black Women, Work, and the Family from Slavery to the Present wurde sie 1986 mit dem Bancroft Prize in American History ausgezeichnet und war Finalistin für den Pulitzer-Preis, ebenso wie ein zweites Mal 2017 mit A Dreadful Deceit: The Myth of Race from the Colonial Era to Obama’s America.

FELIX KURZ übersetzt Essays, Sachbücher und wissenschaftliche Literatur aus dem Englischen und Französischen. Für die Edition Nautilus hat er zuletzt Der wilde Sozialismus (2019) von Charles Reeve ins Deutsche übertragen.

Die Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien unter dem Titel Goddess of anarchy: the life and times of Lucy Parsons, American radical bei Basic Books, New York, Dezember 2017

Copyright © by Jacqueline Jones

Diese Ausgabe erscheint gemäß Vereinbarung mit Basic Books, Imprint von Perseus Books, LLC, Teil der Hachette Book Group, Inc., New York, NY USA.

Die Übersetzung wurde vom Deutschen Übersetzerfonds im Rahmen des Bundesprogramms »Neustart Kultur« mit Bundesmitteln und auch von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert.

Der Verlag dankt dem Störtebeker Fonds für den Druckkostenzuschuss.

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a

D-22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus GmbH 2021

Deutsche Erstausgabe Januar 2023

Umschlaggestaltung: Maja Bechert

www.majabechert.de

Satz: Corinna Theis-Hammad

www.cth-buchdesign.de

Porträt der Autorin auf S. 2: © Marsha Miller

1. Auflage

ePub ISBN 978-3-96054-302-2

FÜR STEVE UND HENRY

INHALT

Einleitung

TEIL 1: EIN ANDAUERNDER BÜRGERKRIEG

KAPITEL 1 Im wilden Waco

KAPITEL 2 Die Blütezeit der Republikaner

TEIL 2: DYNAMIT IM GILDED AGE

KAPITEL 3 Ein lokaler Krieg

KAPITEL 4 Abschied von der Wahlurne

KAPITEL 5 Ein falscher Alarm?

KAPITEL 6 Die Haymarket-Affäre

KAPITEL 7 Bittere Früchte der Prahlerei

KAPITEL 8 »Die dunkle Göttin der Anarchie ergreift das Wort«

KAPITEL 9 Das Blut meines Mannes

TEIL 3: NUR MAULHELDENTUM – ODER EIN HELDENHAFTER KAMPF FÜR DIE REDEFREIHEIT?

KAPITEL 10 Eine Witwe sucht ihren Weg

KAPITEL 11 Die Vielfalt im Leben und ihre Kritiker

KAPITEL 12 Die Hüterin der heiligen Flamme des Haymarket Square

KAPITEL 13 Krieg im eigenen Land, Krieg in Europa

TEIL 4: DER VORHANG DES LETZTEN GEHEIMNISSES FÄLLT

KAPITEL 14 Fakten und feinziselierte Theorien

Epilog

Danksagung

Abkürzungsverzeichnis

Anmerkungen

Bildnachweise

Register

EINLEITUNG

DIE RADIKALE ARBEITERAGITATORIN Lucy Parsons verbrachte ihr langes Leben überwiegend im Blick der Öffentlichkeit und blieb doch in Rätsel gehüllt. Sie beherrschte meisterhaft eine provokative Rhetorik, mit der sie Gerechtigkeit für die arbeitenden Klassen einklagte, aber über ihre Abstammung verbreitete sie Erfindungen und leugnete wesentliche Elemente der eigenen Geschichte. 1851 in Virginia als Kind einer Sklavin geboren, heiratete sie 21 Jahre später im texanischen Waco Albert R. Parsons, einen Weißen. Das Paar machte eine stürmische Karriere in der sozialistischen und später der anarchistischen Bewegung und rief die Arbeiter:innen dazu auf, den Verheerungen des Industriekapitalismus mit allen verfügbaren Mitteln entgegenzutreten – auch mit Gewalt. Ihre rohe Klassenkampfrhetorik führte dazu, dass Albert im Zusammenhang mit dem Chicagoer Haymarket-Massaker von 1886 wegen Mordes und Verschwörung verurteilt wurde; im November 1887 starb er am Galgen. Als Witwe avancierte Lucy Parsons unter zeitgenössischen Arbeiter:innen wie späteren Historiker:innen zu einer säkularen Heiligen. Doch ihre Laufbahn lässt sich nicht auf das Schicksal ihres berühmten Ehemannes reduzieren.

Als Albert hingerichtet wurde, war Lucy bereits im ganzen Land als kraftvolle Agitatorin und Kämpferin für Rede- und Versammlungsfreiheit bekannt. Diesen Ruf behielt sie von 1886 bis zu ihrem Tod im Jahr 1942. Mehr als jede andere damals – und später – hielt sie die Flamme des Haymarket Square am Leben, indem sie die Öffentlichkeit daran erinnerte, zu welchem Fehlurteil ein unfairer Prozess geführt hatte. Parsonsʼ Leben bietet Einblick in die Geschichte städtisch-industrieller Arbeiter während der Umbrüche von den 1880er Jahren bis in die 1930er. Doch so präsent sie als öffentliche Figur war, so wenig ist über ihr privates Leben bekannt. Dem begeisterten Publikum und neugierigen Journalisten verriet sie nicht mehr als die elementarsten Fakten über ihre Familie, auch nicht über Albert und ihre zwei Kinder Albert Junior und Lulu. Bei einer sechsmonatigen Tournee vom Herbst 1886 bis zum Frühjahr 1887 reiste sie durch 17 Bundesstaaten und trat (eigenen Angaben zufolge) bei 43 Veranstaltungen als Rednerin auf, die mal ein paar hundert, mal mehrere tausend Menschen anzogen. In Cincinnati, der ersten Station, fragte ein Journalist nach ihrem persönlichen Hintergrund. Parsons, damals 35 Jahre alt, erwiderte: »Ich kandidiere für kein Amt, die Öffentlichkeit hat kein Auskunftsrecht, was meine Geschichte betrifft. Ich zähle nichts in dieser Welt und den Menschen bin ich egal. Ich kämpfe bloß für ein Prinzip.« Mit dieser Behauptung, das öffentliche Interesse an ihr gelte allein der Botschaft eines bevorstehenden revolutionären Sturzes des Kapitalismus, täuschte sich Parsons.1

Als Rednerin, Redakteurin, Aktivistin für Meinungsfreiheit, Essayistin, Verfasserin fiktionaler Literatur, Publizistin und politische Kommentatorin war Parsons damals eine von sehr wenigen Frauen und neben Frederick Douglass praktisch die einzige Person afrikanischer Abstammung, die regelmäßig vor großem Publikum sprach. Entlang der Ostküste, im Mittleren Westen und weit darüber hinaus in Richtung Westküste stand sie mehr als fünf Jahrzehnte lang vor begeisterten Menschenmengen. Sie war eine mutige Verfechterin der Freiheitsrechte, die das First Amendment der US-Verfassung versprach, und fiel dabei durch eine konfrontative Taktik und drastische Wortwahl auf. Pressefreiheit war für sie nicht verhandelbar, und die alternativen Zeitschriften, die sie herausgab oder mit Artikeln belieferte, bildeten ein erfrischendes Korrektiv zur etablierten Presse, die den Interessen der Herrschenden diente. Parsonsʼ jahrzehntelange Beharrungskraft (als sie geboren wurde, betrug die Lebenserwartung vierzig Jahre) zeugt von einem starken Antrieb: Sie liebte das Rampenlicht, sei es im Veranstaltungssaal oder in Gestalt von Schlagzeilen.

Lucy Parsons erlebte den Bürgerkrieg und die anschließende Reconstruction und befasste sich mit den großen Fragen des »Gilded Age«, der Progressiven Ära, der Zeit der »Roten Angst« während des Ersten Weltkriegs und danach (eine politische Bewegung, die auf Versuche in den späten 1880er Jahren zurückging, Parsons mundtot zu machen), der reaktionären 1920er Jahre sowie der Großen Depression und des New Deal. Mit Blick auf geschichtliche Tendenzen des Kapitalismus bewies sie erstaunliche Hellsicht – sie erkannte früh die Auswirkungen neuer Technologien auf die Betriebe und die Struktur der Erwerbsbevölkerung, die Rolle von Gewerkschaften als Gegengewicht zu den Konzernen, den korrumpierenden Einfluss von Geld auf die Politik, die Unfähigkeit des Zweiparteiensystems, grundlegende wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten in der amerikanischen Gesellschaft anzugehen, die wiederkehrenden Wirtschaftskrisen und Depressionen, die arbeitende Menschen hart trafen, den Einsatz von Polizei und privaten Sicherheitsfirmen, um Streiks niederzuschlagen und ihre Anführer mit Gewalt einzuschüchtern, und die alltäglichen Kämpfe einfacher Menschen, Männer wie Frauen, die ein anständiges Leben für sich und ihre Familien wollten. Zahllose Male widersetzte sich Parsons den Versuchen von Behörden, sie zum Schweigen zu bringen, und sie blieb kompromisslos in ihrer Verurteilung eines Wirtschaftssystems, das für Arbeitslose und die weiße Industriearbeiterklasse verheerend war. Seit den frühen 1880er Jahren hielt Parsons am Ideal einer herrschaftsfreien Gesellschaft fest, die aus den Gewerkschaften hervorgehen sollte – einer Gesellschaft ohne Lohnarbeit und ohne jede Art von staatlichem Zwangsapparat.

Weder sie noch ihre anarchistischen Genoss:innen verstanden allerdings die starken ethnischen und religiösen Bindungen vieler Amerikaner, die weitreichende politische Bedeutung hatten. Und sie ignorierte die besondere Schutzlosigkeit der afroamerikanischen Bevölkerung, deren Geschichte nicht einfach eine Variante der Ausbeutung der Arbeiterklasse war, sondern ein Produkt des Rassemythos in all seinen furchtbaren Ausprägungen. Sie und Albert verloren den Glauben an die Macht von Worten, zu überzeugen und zu erziehen, und setzten sie stattdessen zur Drohung und Einschüchterung ein – eine fatale Entscheidung, die Albert und seine Gefährten in den Tod schickte. Nunmehr allein, erging sich Lucy gerne in schrillen Prophezeiungen darüber, welches Schicksal Räuberbarone, Richter und Polizisten erwarte, sollte es nach ihr gehen; solche Äußerungen ließen den Eindruck entstehen, Anarchist:innen seien durchweg für gewaltsamen Aufruhr, und schreckten reformerische Kräfte ab, die schrittweise gesetzliche Verbesserungen und regulierende Eingriffe des Staates anstrebten. Im Gilded Age konnten die von Parsons und ihren Mitstreiter:innen befürworteten Streiks ganze Städte und den landesweiten Eisenbahnverkehr zum Erliegen bringen, doch die Wirkungsmacht solcher Aktionen verdeckte die Tatsache, dass die meisten amerikanischen Lohnabhängigen Radikalismus ablehnten und stattdessen an die Schimäre eines humanen Kapitalismus glaubten.2

Eine Heilige, säkularer oder anderer Art, war Lucy Parsons nicht. Ihr Leben wies etliche Ironien und Widersprüche auf: Sie war das Kind einer Sklavin, stand dem Los afroamerikanischer Arbeiter:innen sowohl im Süden als auch in ihrer Wahlheimat Chicago aber völlig gleichgültig gegenüber. Sie war sexuell freizügig, trat in der Öffentlichkeit aber als traditionelle Ehefrau und Mutter auf. Sie pries Familienbande, doch ihre Mutter und Geschwister ließ sie in Waco zurück und vernachlässigte sie bis an ihr Lebensende. Sie instrumentalisierte ihre Kinder politisch und entledigte sich ihres Sohnes, als er sie öffentlich zu blamieren drohte. Sie war eine Arbeiteragitatorin, hatte aber weder die Geduld noch wirklich ein Interesse daran, Arbeiter:innen zu organisieren, und eine Anarchistin, die große historische Zeiträume im Blick hatte, aber bedeutende politische und wirtschaftliche Entwicklungen, die Amerika nach dem Bürgerkrieg tiefgreifend veränderten, hartnäckig übersah. Sie war einerseits an fundierten Debatten und gelehrten Abhandlungen interessiert und pries andererseits die Vorzüge von Sprengstoff.

Als vehemente Kritikerin jeder Form von Staat wendete sich Parsons bedenkenlos an die Gerichte und die Polizei, um private Konflikte mit Gläubigern, Nachbarinnen, Liebhabern und selbst Verwandten zu regeln. Sie predigte die Notwendigkeit einer Einheitsfront der arbeitenden Klassen und ihrer Verbündeten gegen räuberische Kapitalisten, war aber zugleich für ihre Fehden mit anderen Radikalen bekannt – auch mit solchen, die ihre Auffassungen über Macht und Gerechtigkeit grundsätzlich teilten. Sie verherrlichte die Massen als Akteure einer bevorstehenden Revolution, doch um diese Revolution in Gang zu setzen, mussten einfache Menschen ihrer Überzeugung nach anspruchsvolle Schriften über Geschichte und politische Theorie studieren. Sie begriff nie, dass die europäischen Taktiken und kulturellen Symbole, die sie wählte, unter gebürtigen Amerikaner:innen als Mittel einer effektiven Organisierung versagen mussten. Parsonsʼ Geschichte mahnt zu der Einsicht, wie schwierig es ist, eine durch Beruf, Abstammung, Religion, politische Überzeugungen, Geschlecht und rassistische Ideologien gespaltene Arbeiterschaft für eine radikale Botschaft zu gewinnen.

Zeitungsberichte schildern Parsonsʼ öffentliche Auftritte, geben aber kaum Aufschluss über ihre inneren Zweifel und Verstimmungen. Von New York bis San Francisco, von Georgia bis Seattle und von Texas bis Wisconsin verfolgte die Presse ihr Wirken wie besessen. Als eine Art Internet des 19. Jahrhunderts verbreiteten die Telegrafenämter ihre von Journalisten stenografierten Reden im ganzen Land, markante Äußerungen erreichten die Leserschaft in entlegenen Dörfern ebenso wie in den Großstädten – besonders Parsonsʼ berühmtester Appell an ihre Anhänger:innen: »Lernt, wie man Sprengstoff benutzt!« Kritische Stimmen fühlten sich an die Zerstörungskraft des Großen Brandes von Chicago im Jahr 1871 erinnert: Lucy wurde als feuriger Hitzkopf bezeichnet, ihre Reden als Brandreden, ihr hartnäckiger Widerstand gegen die herrschende Ordnung als geistige Brandstiftung. Parsonsʼ schwer zu bestimmende ethnische »Identität« – sie sah weder eindeutig Schwarz noch eindeutig weiß aus – machte sie für Amerikaner aller politischen Überzeugungen umso faszinierender. Um die Frage zu beantworten, wer diese Lucy Parsons eigentlich ist, beschrieb die Presse mit großer Akribie (und häufig voneinander abweichend) ihre Hautfarbe und ihr Haar, ihre Stimme und die Form ihrer Nase, ihre Art zu reden und die Tragödie, die ihre Familie heimgesucht hatte. Von der Zeit der »Reconstruction« bis in die 1930er Jahre blieb Parsonsʼ häufig kommentierte exotische Erscheinung verwirrend für Weiße, die über ihre Abstammung rätselten.

Erhebliche Teile ihres Lebens, die sich abseits der Öffentlichkeit abspielten, bleiben uns verschlossen. Bei der Vorbereitung auf ihre erste landesweite Redetournee legte sich Parsons eine falsche Biografie als Tochter mexikanischer und indigener Eltern zurecht. Allerdings tat sie wenig, um diese Erfindung zu verbreiten, und wenn sie sich an Details wie die angeblichen Geburtsorte ihrer Eltern zu erinnern versuchte, kam sie oft durcheinander. Obwohl afrikanischer Abstammung, betrachtete sich Parsons nicht als Schwarze und leugnete mit beträchtlichem Aufwand die Umstände ihrer Geburt und ihre Kindheit in der Versklavung. Sie versuchte allerdings auch nicht, sich als Weiße auszugeben, was angesichts ihrer äußeren Erscheinung auch schwierig gewesen wäre. Letztlich lehnte sie eine durch ihre persönliche Geschichte oder ethnische Zugehörigkeit bestimmte Identität ab und trat stattdessen als Vorkämpferin der arbeitenden Klassen auf; mehr, so ihre Überzeugung, brauchte niemand über sie zu wissen.

Parsonsʼ Temperament und Lebenseinstellung waren zweifellos von einer Reihe persönlicher Traumata und Krisen geprägt. Mit ihrer Mutter und einem jüngeren Bruder hatte sie während des Bürgerkriegs einen brutalen Zwangstransport, eine sogenannte middle passage, von Virginia nach Mitteltexas durchgemacht. Sie erlebte den Tod ihres Mannes und ihrer drei Kinder, eines davon noch ein Säugling, der während ihrer Zeit in Waco starb. Die Polizei in Chicago und anderen Städten verfolgte sie auf Schritt und Tritt, versuchte ihre Auftritte zu verhindern und führte sie notfalls von der Bühne ab. Sie stritt sich mit einigen der damals bekanntesten Radikalen wie Eugene V. Debs und Emma Goldman und hatte nach Alberts Hinrichtung ein angespanntes Verhältnis zu seinen Gefährten. Sie überlebte einen verheerenden Brand, nur um vier Jahrzehnte später bei einem anderen ums Leben zu kommen.

Manche Entscheidungen von Parsons sind heute schwer nachvollziehbar, viele beunruhigten selbst ihre damaligen Freund:innen. Allerdings steht auch außer Frage, dass sie als Frau, ehemalige Sklavin und Radikale schwere Bürden trug und in ihrem Bemühen, als freie und eigenständige Person zu handeln, vor gewaltigen Barrieren stand. Während ihres gesamten langen Lebens verfolgte sie persönliche Interessen sexueller, finanzieller und anderer Art mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit, selbst wenn es zulasten geliebter Menschen ging. Sie setzte sich öffentlicher Missbilligung aus, indem sie sich Liebhaber nahm und so den Vorurteilen und Erwartungen von Freund wie Feind bewusst entgegentrat. Parsons wird im vorliegenden Buch als eine Ehefrau, Mutter, Liebhaberin und öffentliche Figur aus Fleisch und Blut dargestellt, nicht als Karikatur einer Heldin der Arbeiterklasse; dennoch behält sie eine rätselhafte Aura. Ihren Zeitgenossinnen, selbst glühendsten Anhängern, verwehrte sie ein wirkliches Verständnis ihrer Person. Wir verfügen über keine klare schriftliche Darlegung ihrer innersten Bedürfnisse und sind daher auf bloße Hinweise zurückgeworfen, wenn es um die Quellen der Wut und Verbitterung geht, die Parsons zeitlebens sehr deutlich an den Tag legte.

Seit dem Umzug von Waco nach Chicago 1873 bis zu Alberts Tod führten die beiden eine starke, wenn auch offenbar eigentümliche Partnerschaft, in der sich ihre individuellen Geschichten eng miteinander verflochten. Gemeinsam fütterten sie eine unersättliche Presse mit öffentlicher Theatralik und aufsehenerregenden Äußerungen, wie die Leserschaft sie liebte, und entwickelten so eine symbiotische Beziehung zu ihr. Während der Jahre in Chicago waren Lucys und Alberts Leben praktisch eins – sie lernten voneinander, zogen gemeinsam zwei Kinder groß, hielten Vorträge, entwarfen Strategien.

Dennoch ist die folgende Geschichte die von Lucy Parsons. Die erste und bislang einzige Biografie über sie legte 1976 Carolyn Ashbaugh vor. In Lucy Parsons. An American Revolutionary zeichnete sie den Verlauf von Parsonsʼ öffentlichem Leben detailreich nach, nahm aber eine weitgehend unkritische Perspektive auf ihren Aktivismus ein. Ashbaugh übersah auch Parsonsʼ Kindheit in Virginia und vernachlässigte die prägenden Jahre in Waco. Das vorliegende Buch folgt einem nuancierteren Ansatz, indem es Parsonsʼ verborgenes Privatleben mit ihrem Wirken als bekannte öffentliche Figur verbindet, um die Kämpfe zu verstehen, die sie als Radikale und als Schwarze Frau führen musste. Außerdem stützt es sich auf amerikanische Presseberichte, an denen sich ihr Einfluss als Agitatorin ablesen lässt.

Obwohl dieses Buch das Leben eines Mitte des 19. Jahrhunderts geborenen Menschen schildert, sagt es einiges über die Gegenwart. Parsons und ihre Genoss:innen analysierten die politische Ökonomie Amerikas auf eine Weise, die für uns auch heute noch plausibel und aufschlussreich ist, sei es mit Blick auf die Folgen technologischer Innovationen für die Arbeitswelt, die Erosion der Mittelschicht, die Korruption von Politik durch Geld und Einflussnahme oder die Unfähigkeit der beiden großen Parteien, krasse Formen von Ungleichheit anzugehen. Gleichzeitig bietet Lucy Parsonsʼ eigener Werdegang Stoff für eine scharfe Kritik an radikalen Arbeiterführer:innen, die auf Gewaltandrohungen zurückgriffen, den Ängsten und tief verwurzelten Werten vieler arbeitender Männer und Frauen mit Unverständnis und Geringschätzung begegneten und zudem den Zuspruch entscheidender Bevölkerungsgruppen verspielten, indem sie ihnen jede Bedeutung für den Kampf um Gerechtigkeit absprachen. In mancher Hinsicht handelt die Lebensgeschichte von Lucy Parsons somit auch von unserer eigenen Zeit.

Auf den folgenden Seiten überschneiden sich mehrere Erzählungen – es geht um die Liebesgeschichte zwischen einer ehemaligen Sklavin und einem ehemaligen Soldaten der Konföderierten Staaten, um Aufstieg und Niedergang der radikalen Arbeiteragitation, die Wandelbarkeit des Rassegedankens als politische Ideologie und gesellschaftliche Markierung, die Entwicklung der Sozialreformen von der Reconstruction bis zum New Deal sowie darum, wie sich Ansichten über das Verhältnis von Terrorismus und dem gesprochenen wie geschriebenen Wort veränderten. Vor allem aber wird eine Frau dargestellt, die es auf bemerkenswerte Weise verstand, sich zu behaupten und immer wieder neu zu erfinden. So soll das Buch letztlich eine unredliche Behauptung von Lucy Parsons widerlegen: »Ich zähle nichts in dieser Welt und den Menschen bin ich egal« – eine Behauptung, die 1886 genauso falsch war, wie sie es heute ist oder zumindest sein sollte.

Teil 1

EIN ANDAUERNDER BÜRGERKRIEG

KAPITEL 1

IM WILDEN WACO

EINES TAGES ENDE 1873 stieg ein Ehepaar in der texanischen Kleinstadt Waco in den Zug und fuhr ab – genauer gesagt: floh – in der verzweifelten Hoffnung, sich ein neues Leben in Chicago aufzubauen. Die beiden waren ein ungewöhnliches Paar: Sie eine Näherin namens Lucia Carter, vormals versklavt, 22 Jahre alt, er ein aktives Mitglied der Republikanischen Partei und Journalist namens Albert Parsons, vormals Kavallerist der Konföderierten Staaten, 28 Jahre alt. Dass ihr Liebesverhältnis verboten war, wussten sie nur zu gut. In den Südstaaten des 19. Jahrhunderts begaben sich ein weißer Mann und eine Schwarze Frau in Lebensgefahr, wenn sie eine Beziehung eingingen.1

Lucia ließ in Waco ihre Mutter und zwei jüngere Brüder sowie einen geschäftstüchtigen Freigelassenen namens Oliver Benton zurück, der ursprünglich Oliver Gathings hieß und mutmaßlich der Vater ihres noch im Säuglingsalter gestorbenen Sohnes war. Mit dem Umzug in den Norden gab sie auch ihre Identität als ehemalige Sklavin auf, änderte ihren Vornamen von Lucia zu Lucy und den Nachnamen von dem des Stiefvaters zu dem ihres Mannes. Von diesem Moment an lehnte Parsons es ab, dass ihre 14 Jahre als Sklavin sie definierten oder ihre Lebensmöglichkeiten beschränkten. Sie und Albert, deren Namen und Lebenswege nun für immer unauflöslich miteinander verbunden waren, sollten bald weltweit als Anarchist:innen berühmt – und berüchtigt – werden, die darauf brannten, die politischen und wirtschaftlichen Fundamente der Vereinigten Staaten zu zerstören. Sie waren ein auffälliges Paar, überall drehten sich die Leute nach ihnen um: Albert klein, schlank und elegant, das vorzeitig ergraute Haar mit schwarzer Schuhcreme gefärbt, den englischen Schnauzbart sorgfältig getrimmt; Lucia hochgewachsen, mit gewelltem schwarzen Haar. Sie trat würdevoll, ja hochmütig auf, beeindruckte durch ein auffallend gutes Aussehen, ihren Scharfsinn und modische Kleidung.

Das Paar begann sein gemeinsames Leben in einer Kleinstadt, die in der Hochprärie an den Ufern des Brazos River lag und dazu vorbestimmt war, zum Schauplatz blutiger Kämpfe zwischen verschiedenen Gruppen zu werden. Waco wurde 1849 in McLennan County auf vormals von den Waco und Tawakoni besiedeltem Land gegründet. Ein anderes indigenes Volk, die erbitterten Comanchen, kämpfte noch 1860 hartnäckig um sein gestohlenes Territorium unweit der Siedlung. Während des Bürgerkriegs (1861–1865) nahm die Stadt Sklavenhalter aus dem gesamten Süden auf, die ihr menschliches Eigentum vor den Unionstruppen und der Zwangsrekrutierung für die Konföderierten in Sicherheit bringen wollten; die Sklavenbefreiung im Jahr 1865 reduzierte die materiellen Vermögenswerte im County um fast die Hälfte. Nach dem Bürgerkrieg setzte eine bezwungene, aber weiterhin schwerbewaffnete Masse weißer Männer die örtliche Tradition anhaltender Kämpfe gegen reale wie mutmaßliche Feinde fort – ging es früher gegen Comanchen, Mexikaner und die US-Regierung, so nun gegen Freigelassene, Republikaner und die Besatzungstruppen der Union. Der vollständige Zusammenbruch seiner Zivilverwaltung verschaffte dem County einen zweifelhaften Ruf. Brutale, grundlose Angriffe auf Freigelassene zeugten von einem selbst für Texas extremen Ausmaß von Gesetzlosigkeit.

Wacos raues Klima förderte Verhaltensweisen und Beziehungen, die gegen die guten Sitten verstießen. Die Kaufleute der Stadt boten ihre Güter und Dienste Schafzüchtern, Mais- und Getreidebauern, Baumwollpflanzern sowie den Viehtreibern an, die ihre riesigen Herden auf dem Chisholm Trail ins nördlich gelegene Wichita führten; den zentralen Stadtplatz beherrschten die Büros von Männern, deren Unternehmen auf Kredit und Grundeigentum beruhten und die mit Baum- und Schafwolle, Getreide, Fellen und Mehl handelten. Doch auf dem Platz kam es auch immer wieder zu mitunter tödlichen Schießereien. Wie in der Vorkriegszeit hatten die Söhne der reichen Pflanzer die Angewohnheit, »unter lautem Gejohle auf dem Platz umherzureiten und um sich zu schießen«, sich der Festnahme zu entziehen und »anderweitig zu amüsieren«, wie ein Lokalhistoriker schrieb. Unweit davon befand sich ein Rotlichtviertel mit etlichen Bordellen und Dutzenden von Prostituierten, die die Behörden dezent als »Schauspielerinnen« bezeichneten. Waco war eine wilde Stadt, die Handel mit Begierden aller Art trieb.2

Von Zeit zu Zeit beugte sich die Polizei dem Druck empörter Pfarrer und ging gegen Bigamist:innen, Schwarzhändler:innen, Eigentümer:innen von »liederlichen Häusern« (Bordellen) und Fans von Chuck Luck und anderen Glücksspielen vor. Prostituierte wie Mollie Davis und Frogmouth Lou wurden vor Gericht gezerrt, nur um von zwölf männlichen Geschworenen freigesprochen zu werden und schon bald wieder ihrem Gewerbe nachzugehen – bis zur nächsten Razzia. So sehr die Stadtväter auch gegen die Sünde wetterten, seien es Falschspieler, die unbedarfte Farmjungs ausnahmen, oder in wilder Ehe lebende Paare, die Farce von Festnahme und Freilassung ging weiter. In Wirklichkeit waren Cowboys und naive Feldarbeiter unverzichtbare Kundschaft für die Ladenbesitzer und andere Gewerbetreibende.3

Als die Republikaner in den frühen 1870er Jahren für kurze Zeit sowohl im Bundesstaat als auch auf lokaler Ebene die Regierung stellten, schien es möglich, dass Lucia und Albert gefahrlos als Ehepaar in Waco leben könnten. Schwarze und weiße Reformer:innen propagierten eine neue »soziale Gleichheit«, die einvernehmliche sexuelle Beziehungen und Eheschließungen zwischen Menschen verschiedener Hautfarben einschloss, und diese Gelegenheit nutzte das Paar, um in einem von weißen Rassisten dominierten Staat legal zu heiraten. Albert schien eine vielversprechende, ja lukrative Karriere als politischer Organisator, Redner und vielleicht auch Amtsträger im Dienst von Lincolns Partei vor sich zu haben. 1873 hatten die Demokraten jedoch zu neuer Kraft gefunden und gewannen die Wahlen in Texas mit einem Programm, das den Geist der Konföderierten fortschrieb. Dass die Parsons Ende des Jahres nach Chicago gingen, kam insofern einer Zwangsumsiedlung gleich – in Mitteltexas verschlechterten sich ihre Aussichten, und sie waren ständig in Gefahr. Doch die Jahre in Waco blieben für ihre lebenslange Rolle als Widersacher der Reichen und Mächtigen durchaus prägend. Sehr vieles, was ihr späteres Leben ausmachte, zeichnete sich bereits in Texas ab – von der Überzeugung, dass Ideen radikale Veränderungen bewirken können, bis zu ihrer Unerschrockenheit gegenüber Menschen, die ihnen mit Verachtung und Angst begegneten.

VON IHREN GEBURTSORTEN in Alabama und Virginia waren Albert Parsons und Lucia Carter inmitten der Wirren von Massenmigration, Bürgerkrieg und Abschaffung der Sklaverei auf verschlungenen Wegen nach Waco gelangt. Albert Richard Parsons wurde am 20. Juni 1845 in Montgomery (Alabama) geboren. Seine Vorfahren zählten zu den ersten Siedler:innen in Neuengland. Später berief er sich auf seine berühmten Ahnen wie etwa hochrangige Kirchenvertreter und Helden des Unabhängigkeitskrieges, um zu belegen, wie durch und durch amerikanisch er sei. Sein Vater Samuel Parsons, gebürtig aus Maine, war Besitzer eines Lebensmittelgeschäfts sowie einer Schuh- und Lederfabrik in Montgomery; mit seiner Frau Hannah hatte er zehn Kinder. 1850 waren beide gestorben, und Albert wurde nach Tyler im nordosttexanischen Smith County geschickt, um bei seinem 19 Jahre älteren Bruder William H. Parsons zu leben. William hatte im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg, bei dem die Vereinigten Staaten ihrem südlichen Nachbarn riesige Gebiete abnahmen, unter General Zachary Taylor im 2. Dragonerregiment gekämpft. Ausgebildet zum Rechtsanwalt, gab er von 1851 bis 1853 die Zeitung Tyler Telegraph heraus und interessierte sich schon früh für die Politik der Demokraten in Texas. Von 1855 bis 1860 zog er mit seiner Familie dreimal in südwestlicher Richtung um: nach Johnson County, Hill und schließlich McLennan. Albert hatte glückliche Erinnerungen an seine Kindheit »auf den Weideländern«, wo es von Antilopen und Büffeln wimmelte. Wie er später aus seiner Gefängniszelle schrieb: »Durch mein Leben an der Frontier war ich es gewohnt, mit Gewehr und Pistole umzugehen, zu jagen und zu reiten, und galt in solchen Dingen als sehr geübt.«4

1859 ging Albert als mittlerweile 14-Jähriger nach Waco und lebte bei seiner 19-jährigen Schwester Mary, die einen vermögenden Kaufmann geheiratet hatte. Vermutlich auf Wunsch von William besuchte er ein Jahr lang die Schule. Etwa zur selben Zeit ließ sich William mit seiner Familie unweit davon auf einem Stück Land in Waco Creek nieder. Als eifriger Verfechter unabhängiger Südstaaten gab er die Zeitschrift South West heraus, die für die Wiederaufnahme des Sklavenhandels mit Afrika eintrat – eine Position, die kurz vor dem Bürgerkrieg selbst für die glühendsten Befürworter:innen der Sklaverei drastisch war. Das Blatt war in den Worten eines Zeitgenossen »so heiß auf die Sezession, dass man es mit der Zange anfassen musste«. William hatte auch vor, ein Buch mit dem Titel Negro Slavery, Its Past, Present, and Future zu schreiben. Angesichts seiner unnachgiebigen Verteidigung »der Reinheit des Blutes und der Vormachtstellung« der Weißen als »einer besonderen Rasse« hätte er sich wohl kaum vorstellen können, dass er eines Tages der Schwager einer ehemaligen Sklavin sein würde.5

Der Haushalt der Familie umfasste lediglich eine versklavte Arbeiterin, »Aunt Easter«, die Williams Frau Louisa in die Ehe eingebracht hatte. 1860 war Easter fünfzig Jahre alt und auf dem Menschenmarkt achthundert Dollar wert. In Texas lebten damals 604.215 Personen, darunter 182.566 versklavte und lediglich 355 freie Schwarze. (Virginia zählte dagegen bei einer Gesamtbevölkerung von rund 1,59 Millionen Menschen 490.865 versklavte und 58.042 freie Schwarze.) Die Sklav:innen in Mitteltexas hatten zusammen einen Wert von 2,7 Millionen Dollar – mehr als der Grund und Boden der Region.6

Texas war ein starker Magnet für südliche Plantagenbesitzer, die von dem fruchtbaren, für den Baumwollanbau geeigneten und zugleich günstigen Boden im Osten und Zentrum des Staates profitieren wollten, und einer dieser Sklavenhalter hieß James J. Gathings. 1817 in South Carolina geboren, hatte Gathings mit seinen beiden Brüdern 1839 in der Nähe von Prairie in Mississippi eine Plantage gegründet. Zu den versklavten Arbeiter:innen, die sie dort kauften, gehörten Clara Gatherus und ihr 1832 geborener Sohn Oliver (von Weißen später Oliver Gathings genannt). Als Erwachsener war Oliver, inzwischen unter dem Nachnamen Benton bekannt, davon überzeugt, der Vater von Lucias erstem Kind zu sein, und betrachtete sie als seine Ehefrau. 1849 zogen die Brüder Gathings mit ihren gut dreißig Sklav:innen nach Hill County in Texas um. Nach dem Bürgerkrieg bot James ein eindrückliches Beispiel für den erbitterten Widerstand gegen die Sklavenbefreiung und die republikanische Regierung, wie ihn gewaltige Teile der englischstämmigen Bevölkerung von Texas betrieben.7

Die große und einflussreiche Sklavenhalterklasse des Bundesstaates unterstützte die Sezession mit überwältigender Mehrheit. Auf einer Sondersitzung im Februar 1861 stimmte der Konvent mit 166 zu 8 Stimmen für den Austritt aus der Union, und anders als ihre Gleichgesinnten in den meisten anderen Südstaaten ließen die texanischen Pro-Sklaverei-Demokraten – die sogenannten Fire-Eaters – danach die Wähler darüber abstimmen, die ihrem Votum mit 46.153 zu 14.747 Stimmen folgten. Allerdings war die Opposition stärker, als dieses Ergebnis vermuten lässt, denn einige aus Mexiko und Deutschland eingewanderte Männer gaben ihre Stimme schlicht aus Angst vor Gewalt nicht ab, während andere nicht an einem Referendum teilnehmen wollten, das sie für verfassungswidrig oder zumindest unklug hielten. Außerdem bedeutete ein Votum für den Austritt nicht unbedingt Zustimmung zur Institution der Sklaverei: Manche Sezessionisten wollten lediglich dagegen protestieren, dass die Bundesregierung aus ihrer Sicht nichts tat, um die anhaltenden Überfälle von Ureinwohnern auf die weißen Siedlungen in Texas zu unterbinden.8

McLennan County votierte mit 586 zu 191 Stimmen für die Sezession, ein klarer Sieg. Kurz nach Beginn der Kampfhandlungen im April meldeten sich 900 Männer aus dem County (das insgesamt 6.200 Einwohner zählte) als Freiwillige für die Armee der neu gegründeten Konföderierten Staaten von Amerika. Zusammen bildeten sie 17 Kompanien, die sowohl aus Kavalleristen als auch Infanterie bestanden. Im Oktober 1861 stellte William H. Parsons in Waco ein Regiment auf, die 12. Texas Cavalry, und zog mit seinen Truppen nach Arkansas. Während des Krieges diente er als Regiments- wie als Brigadekommandeur.9

Albert Parsons befand sich nicht in Waco, als der Aufbruch der örtlichen Truppen 1861 mit großen Fackelmärschen gefeiert wurde. Im Jahr davor hatte William ihm bei Willard Richardson, dem Verleger und Eigentümer der Galveston Daily News, eine Lehrstelle als Drucker verschafft. Galveston erlebte Albert als einen kosmopolitischen Ort, an dem er vom »Frontier Boy zum Stadtbürger« heranreifte, wie er später meinte. Der Haushalt der Richardsons umfasste neben der Familie des Verlegers einen Büroangestellten, drei Drucker und fünf Lehrlinge, die aus Irland, Deutschland, New York, Missouri und Louisiana stammten und nun in einem imposanten vierstöckigen Gebäude arbeiteten, das den politischen Einfluss des Blatts widerspiegelte. Während er sein Handwerk lernte, lernte Albert auch einiges über Politik, denn unter der Leitung von Richardson berichteten die Daily News – mit klarer Parteilichkeit für die Südstaaten – über die stürmischen Ereignisse der Zeit. So begann Albert Parsonsʼ lebenslanger Bund mit der Druckerpresse und seine Begeisterung für das gedruckte und gesprochene Wort als Mittel der Parteinahme und Provokation.10

Um Richardsons Vorhersage, der Krieg werde bloß ein kurzer, zweimonatiger Spaziergang sein, scherte sich der 16-Jährige nicht weiter und schloss sich 1861 den Lone Star Grays an, einer Freiwilligentruppe in Galveston. Über diese Entscheidung schrieb Albert später: »Es waren aufwühlende ›Kriegszeiten‹, und davon wurde natürlich auch mein junges Blut infiziert.« Im November des Jahres kam er in ein behelfsmäßiges Fort am texanischen Sabine Pass, wo er unter der Aufsicht eines weiteren älteren Bruders – Richard Parsons, Hauptmann einer Infanteriekompanie – die Position des »Pulveraffen« übernahm, der das Schwarzpulver zu den Geschützen brachte. Im Juni 1862 entlassen, schloss Albert sich William an, der mittlerweile eine Brigade der konföderierten Kavallerie westlich des Mississippi anführte, und wurde dort Späher. Die Brigade war im Lauf des Krieges an fünfzig Scharmützeln und Schlachten beteiligt und William genoss den Respekt seiner Männer, die ihn ehrfürchtig »Wild Bill« nannten; dennoch beförderte der Kongress der Konföderierten ihn nicht zum Brigadegeneral. Weil er darin eine mangelnde Würdigung von Williams Leistungen sah, verlieh der texanische Gouverneur ihm nach dem Krieg den Titel eines Generalmajors. Williams spätere Hinwendung zur Republikanischen Partei ist erklärungsbedürftig, seine Abwendung von der ehemaligen Führung der Konföderation vielleicht weniger.11

Auf texanischem Boden fanden kaum Gefechte zwischen Konföderierten und Unionstruppen statt, aber es kam zu zahlreichen Konflikten zwischen Sezessionisten und Anhängern der Union sowie zwischen Einwohnern englischer Abstammung einerseits, deutscher und mexikanischer (Tejanos) andererseits, die in den Augen der ersteren die Sache der Südstaaten verraten hatten. Unter dem Vorwand, nach Deserteuren zu fahnden, zogen Bewaffnete durch die Landstriche und raubten Zivilist:innen aus. Gleichzeitig trieben die Wirren des »Freiheitskrieges«, wie Schwarze Männer und Frauen den Konflikt nannten, Scharen von Menschen aus dem südöstlich gelegenen Deep South in den Bundesstaat: »folks everywhere was cominʼ to Texas«, erklärte der ehemalige Sklave Nelsen Denson später. Als New Orleans im April 1862 an die Unionstruppen fiel, trieben Plantagenbesitzer ihre versklavten Arbeitskräfte zusammen und brachen gen Westen auf; viele weitere folgten ihnen aus Mississippi, Louisiana und dem Red River Valley in Arkansas nach der Einnahme von Vicksburg im Sommer 1863.12

Verstärkt wurde ihre Panik durch Bemühungen der konföderierten Armee, gleich ein Viertel der Sklav:innen, die auf dem Weg nach Texas oder bereits dort eingetroffen waren, für eigene Zwecke in Beschlag zu nehmen. Verbittert klagten Sklavenhalter, man requiriere ihre Arbeitskräfte, bevor sie sich in Texas überhaupt ansiedeln könnten. General John B. Magruder erwiderte dies mit der Klage, Sklavenhalter würden mit den Arbeitskräften ganzer Plantagen bewusst immer weiter ziehen, und wenn die, »die sich noch immer nicht niedergelassen haben«, sich ihm weiterhin entzögen, würde er über praktisch keine Schwarzen für unterstützende Arbeiten verfügen. Nach Schätzungen des Generals hatten die Besitzer während des Krieges rund 150.000 Sklaven nach Texas gebracht (eine zweifellos übertriebene Zahl), das Gros davon zwischen Juli 1863 und Juli 1864. Im gesamten Süden äußerten Kommandeure der Konföderierten bestürzt, die auf diese Weise (unfreiwillig) aus den Kampfzonen »geflüchteten« Sklaven fehlten nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch im Heer als Köche, Kutscher oder zum Ausheben von Gräben.13

Während die Truppen des Nordens und solche Begehrlichkeiten der konföderierten Armee die Sklavenhalter aus dem Mississippi Valley trieben, zog Texasʼ Ruf als ein unbezwingbares Bollwerk der Sklaverei sie nach Westen. Ehemalige Sklav:innen, die diesen Massenzustrom Jahre später in Interviews schilderten, erläuterten die Einschätzung ihrer früheren Eigentümer: »Cause nobody thunk deyʼd have to free de slaves in Texas«, meinte Patsy Moses. Texas, so die Annahme, sei von den Schlachtfeldern und der Bundesregierung zu weit entfernt, um an die Unionstruppen zu fallen, und zu rebellisch, um zu kapitulieren. Die Texas Firsters, weiße Männer, die fest an die Einzigartigkeit ihres Staates glaubten, vertrauten für den Fall einer Niederlage der Konföderierten auf die Neugründung von Texas als unabhängige Republik. Manche Plantagenbesitzer hofften unterdessen, der Oberste Gerichtshof werde Lincolns Emanzipationserklärung vom 1. Januar 1863 aufheben. In einer Botschaft vom 8. Dezember des Jahres verlangte der Präsident von bezwungenen Südstaatenbewohnern einen Treueeid auf die Union und die Freilassung ihrer Sklav:innen, »solange und insoweit dies nicht durch eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs abgeändert oder für nichtig erklärt wird«. Es war also denkbar, dass die Sklavenbefreiung vor Gericht keinen Bestand haben würde.14

Während des Krieges löste die bloße Erwähnung von Texas bei Schwarzen im gesamten Süden furchtbare Angst aus. Die brutalen Zwangsmärsche aus dem Deep South konnten von Baton Rouge aus drei bis vier Monate dauern, von Richmond aus sogar zwei Jahre. Unterwegs wurden die Sklav:innen von ihren Herren gezwungen, Nahrung aufzutreiben. Um den Soldaten der Union und der Konföderierten auszuweichen, mussten sie sich an Nebenstraßen und Waldpfade halten. Familien wurden auseinandergerissen, Mütter begruben ihre Babys am Wegesrand. Alte und Kranke wurden beim ersten Anzeichen, dass sie den Strapazen nicht gewachsen wären, zurückgelassen. Einigen Mutigen gelang die Flucht, doch die meisten entschieden sich dafür, das Martyrium mit Verwandten und Community-Angehörigen durchzustehen.15

Das Tal des Rio de los Brazos de Dios (wörtlich: Fluss der Arme Gottes), in dem es von Präriehühnern, Bären und Panthern wimmelte, wo es aber keinerlei Unterkünfte, sonstige Gebäude, Zäune oder Obstplantagen gab, bot den Zwangsmigrant:innen keine Atempause. Sie lebten in Planwagen und schufteten »vom Morgengrauen bis in die Dämmerung«. Männer und Frauen, die bislang auf Baumwoll- und Tabakplantagen gearbeitet hatten, mussten nun Büsche roden, Bäume fällen, hochgewachsene Wildwiesen mähen, harte Böden umpflügen sowie Brücken und Hütten bauen – eine Plackerei, wie ihre Vorfahren im 17. und 18. Jahrhundert sie gekannt hatten. Bis weit in die 1850er Jahre hinein rückten zudem im Mondschein Ureinwohner an, um Vieh und Pferde zu erbeuten. Während des Krieges machten die Raubzüge von Deserteuren der Konföderierten, Viehdieben und Banditen Leben und Arbeit an dieser Frontier in der Wildnis nicht nur strapaziös, sondern auch gefährlich.16

Von 1860 bis 1864 stieg die Zahl der steuerpflichtigen Sklav:innen in McLennan County von 2.105 auf 3.807. Das County und die Stadt Waco hießen ihre Eigentümer willkommen und stellten den weißen Männern, die den Konföderierten ihre Sklav:innen vorenthalten wollten, offenbar wenige Fragen – auch nicht, was ihren eigenen Dienst als Soldaten betraf. Während des Krieges pflegte Waco eine Art Kriegssozialismus: Das Geld der Steuerzahler floss in Waffen und Munition für die in Gefahr befindlichen Söhne der Stadt, in die Unterstützung ihrer Familien und die Begräbnisse der zurückgeführten Leichname. Die Unterstützung der Region für die Südstaaten kannte allerdings auch Grenzen. Anfang 1864 empfahl das Bezirksgericht, Ärzte vom Kriegsdienst zu befreien, damit sie sich um die Kranken zuhause in Mitteltexas kümmern konnten.17

Nicht auf dieser Liste der Freigestellten stand Thomas J. Taliaferro, ein Sklavenhalter und Arzt, der Ende 1862 oder 1863 zumindest einen Teil seiner Arbeitskräfte nach Texas überführt hatte. Im November 1861 schloss er sich im Alter von 36 Jahren in Henry County (Tennessee), dem 46. Infanterieregiment des Bundesstaates als Hilfschirurg an. Später nahmen ihn Unionssoldaten gefangen und brachten ihn nach Camp Douglas in Illinois. Im Juli 1862 wurde Taliaferro in Chicago auf freien Fuß gesetzt und zwei Monate später in Vicksburg (Mississippi), gegen gefangene Unionssoldaten ausgetauscht. Sein Regiment war inzwischen in Jackson, wo es neu aufgestellt wurde. Taliaferro quittierte jedoch den Dienst und ging offenbar nach Virginia oder Tennessee zurück, um von dort wenig später mit seinen Sklav:innen nach Texas aufzubrechen. Anfang 1863 kaufte er rund zweihundert Morgen Land im Norden von McLennan County. Auf der Liste der freigestellten Ärzte stand er vielleicht deshalb nicht, weil er seine militärischen Pflichten ohnehin schon erfüllt hatte oder weil seine Freilassung an die Bedingung geknüpft war, dass er sich nicht erneut der Armee anschloss.18

Zu den Arbeitskräften, die Taliaferro 1863 nach Texas brachte, gehörten mindestens vier in Virginia geborene Sklav:innen: Charlotte, 29 Jahre alt, ihre 12-jährige Tochter Lucia und ihr 7-jähriger Sohn Tanner sowie eine weitere junge Frau, die 18-jährige Jane. Da Charlotte dunkelhäutig war – und »hübsch«, wie ein Weißer aus Waco meinte –, war Lucia angesichts ihrer helleren Hautfarbe wahrscheinlich die Tochter ihres Herren (so das Gerücht in der Stadt) oder eines anderen Weißen. Charlotte und Jane wurden beide früh Mütter. Kurz nach ihrer Ankunft in Texas brachte Charlotte einen weiteren Jungen, Webster, zur Welt und Jane ihr erstes Kind Nellie.19

Das Trauma des Zwangsmarsches nach Texas wurde für Lucia vielleicht durch die Gegenwart ihrer Mutter, ihres jüngeren Bruders und Janes gemildert. Denkbar ist außerdem, dass Dr. Taliaferro ausschließlich als Arzt arbeitete und seinen Sklav:innen so die beschwerliche Arbeit ersparte, das Land urbar zu machen. Charlotte verfügte über Fähigkeiten als Haushälterin und auch Lucia lernte als junge Frau Kochen und Nähen; vermutlich musste sie nie auf dem Feld arbeiten. Aber als sie ihre vertraute Umgebung in Virginia verlassen musste und sich viele Wochen und Monate auf dem Marsch befand, war sie alt genug, um sich später daran zu erinnern – es dürfte eine Qual gewesen sein, die sie bis an ihr Lebensende verfolgte.

ALS DER KRIEG im Spätfrühjahr 1865 endete, erwies sich ausgerechnet das gesetzlose Waco als Zufluchtsort für Menschen aus der ländlichen Umgebung, in der weiße Texaner versuchten, die Sklaverei de facto wiederherzustellen. Taliaferro kehrte 1866 nach Tennessee zurück, um Martha D. Woods zu heiraten. Vielleicht war er bereits fort, als Charlotte und Jane mit ihren Kindern nach Waco gingen und so der grauenvollen Gewalt gegen Freigelassene im ländlichen McLennan County entflohen. Auch der ehemalige Sklave Oliver Gathings verließ die Plantage seines Eigentümers und zog nach Waco. James J. Gathings hatte mittlerweile eine kriminelle Gang organisiert, die durchs Land streifte und Schwarze Männer, Frauen und Kinder auspeitschte und erschoss. Ein Vertreter des Bureau of Refugees, Freedmen, and Abandoned Lands – eine im März 1865 vom Kongress eingesetzte Bundesbehörde, die den Übergang von der Sklaverei zur Freiheit fördern sollte – alarmierte wegen der Verbrechen der Gathings Gang seine Vorgesetzten. Ein Kollege von ihm verwies auf das Ausmaß von Mord und Verstümmelung – Kastrationen, verbrannte Gliedmaßen, ausgestochene Augen – und meinte, erneut versklavt würde es den Schwarzen möglicherweise besser ergehen.20

Die vielen Gewalttaten von Weißen gegen Schwarze gehörten zu einer allgemeinen Schreckensherrschaft auf dem Land. Selbsternannte Standgerichte befanden die Angeklagten für schuldig und hängten sie, weil sie »offenbar jedes Vertrauen in die Gefängnisse und normalen Geschworenengerichte verloren« hatten, wie ein Vertreter des Bureau berichtete. Mit Revolvern bewaffnet, traten Weiße als Gesetzesvollstrecker auf – als Sheriff, Richter, Geschworene und Henker in einem – und erklärten ihre Opfer zu Pferdedieben, um einen Vorwand für Auspeitschungen und Mord zu haben. Schwarze versuchten es zu vermeiden, Arbeitsverträge zu unterzeichnen, obwohl Weiße starken Bedarf an ihrer Arbeitskraft hatten, und arbeiteten lieber für sich selbst; mangels Land und Krediten blieb ihnen jedoch kaum etwas übrig, als für weiße Grundeigentümer – ihre ehemaligen Herren – Baumwolle zu pflücken und die Felder umzugraben, nur um am Jahresende um ihren Lohn geprellt zu werden.21

Die Weißen in Texas begegneten allen »Yankees« aus dem Norden mit »hochmütiger Verachtung«, wie ein Unionsvertreter meinte, und ignorierten die Anordnung des Bundes, die rechtlich-politischen Verhältnisse in ihrem Staat neu zu organisieren. Alle anderen ehemals konföderierten Staaten mit provisorischen Regierungen hatten bis Dezember 1865 Verfassungskonvente abgehalten und neue Amtsträger gewählt; nur Texas versäumte es im selben Monat, Abgeordnete für den Kongress zu wählen. Das 11.Texanische Parlament, das im August 1866 zusammentrat, weigerte sich, den 13. und 14. Verfassungszusatz zu ratifizieren, die die Sklaverei abschafften und den ehemaligen Sklav:innen Bürgerrechte gewährten. Bundestruppen hielten zwar Teile von Mitteltexas besetzt, konnten aber ebenso wenig wie das Bureau die um sich greifenden »Schandtaten« verfolgen, die Weiße an Schwarzen begingen – sei es allein oder in Gruppen wie dem Ku Klux Klan, der im gesamten Süden aktiv war, und lokalen Terrorbanden wie der Gathings Gang, den Families of the South, den Knights of the Rising Sun und den von Bud und Bill Fisher angeführten Fishbackers. Für die Vergewaltigung von Schwarzen Frauen und Mädchen hatten solche weißen Männer eine eigene Bezeichnung – sie »spalteten« sie.22

Charlotte fürchtete zweifellos um ihre Unversehrtheit und die ihrer Kinder. Eine direkte Bedrohung ging außerdem von einer Reihe neuer »Black Codes« aus. So durften die Behörden laut einem Gesetz von 1865 über die »unfreiwillige Lehre« Schwarze Kinder an sich nehmen und sie dazu zwingen, für weiße Männer und Frauen zu arbeiten. Im Jahr darauf verabschiedete das texanische Parlament ein »Gesetz zur Definition von vormals als Sklaven bekannten Personen und von freien Schwarzen sowie zur Festlegung ihrer Rechte«. Es schrieb vor, dass alle Familienangehörigen auf den Feldern arbeiten mussten, nahm Schwarzen Arbeiter:innen die Möglichkeit, sich gegen Lohnraub zu wehren, und sah harte Strafen für »Landstreicher« vor – für Schwarze, die nicht unter direkter Aufsicht von Weißen arbeiteten.23

Mit dem Umzug nach Waco wollte Charlotte ihre Familie vor den weißen Gewalttätern auf dem Land und den Black Codes schützen – und vielleicht auch vor Taliaferro. Die Stadt bot Arbeit (wenn auch schlecht bezahlte), eine Community ehemals versklavter Menschen, die eigene Kirchen und Schulen aufbauten, und Zuflucht vor rachsüchtigen Plantagenbesitzern und marodierenden Banden. Charlottes Umzug war Teil einer breiteren regionalen Migration nach dem Krieg, als selbst Kleinstädte für Freigelassene attraktiv waren, die den in großen Teilen des ländlichen Südens fortwirkenden Zwängen der Sklaverei entfliehen wollten.

ABER AUCH WEISSE zog es nach dem Krieg nach Waco. 1865, nach vier langen Jahren des Soldatenlebens, schloss sich der 21-jährige Albert Parsons einem steten Strom heimkehrender Veteranen an. Unverzüglich tauschte er »bei einem Mann, der aus Waco fliehen wollte, ein gutes Maultier – mein gesamtes Eigentum – gegen vierzig Morgen Land ein, auf denen der erntereife Mais stand«. Er heuerte einige Freigelassene an, »und gemeinsam brachten wir die Ernte ein«. Mit dem Erlös bezahlte er die Studiengebühren für ein Semester an der Waco University (die später in der Baylor University aufging). Parsons war für einen Vorbereitungskurs eingeschrieben, in dem er manuelles Schreiben, schriftstellerische Techniken, Vortrag und Arithmetik lernte. Nach einem Semester ging er von der Universität ab und nahm eine Beschäftigung als Schriftsetzer auf, wenig später wechselte er als stellvertretender Sekretär in die Verwaltung des County. Wie unter aufstrebenden jungen Männern in Waco üblich, wurde er außerdem mit dem Grad eines »Lehrlings« Mitglied der örtlichen Freimaurerloge 92. Zu dieser Zeit wohnte er wahrscheinlich bei seiner Schwester und ihrem Mann. Bekannte nannten ihn aufgrund seines Einsatzes im Krieg respektvoll »Colonel Parsons« oder »Captain Parsons«. Anfang 1867 verfügte er über eine formelle Grundbildung und eine sichere, schwungvolle Handschrift, womit er gute Chancen gehabt hätte, Buchhalter oder leitender Angestellter im Einzelhandel und ein rechtschaffenes Mitglied der Wacoer Geschäftswelt zu werden.24

Wie sich herausstellte, verfolgte Albert Parsons allerdings weitaus größere Ambitionen und fand Geschmack am Risiko, was dazu führte, dass er in die Politik der Nachkriegszeit hineingezogen wurde. Die Minderheit der Unionisten in Waco – ein paar Weiße und sämtliche Schwarze – erlitt in den Jahren unmittelbar nach dem Bürgerkrieg demütigende Niederlagen, da die ehemaligen Konföderierten selbstherrlich in Stadt, County und Bundesstaat regierten. In einem Schreiben an den Kongressabgeordneten Thaddeus Stevens von den Radikalen Republikanern erklärte ein Unionsanhänger, in welcher Gefahr er und seine Gleichgesinnten sich befanden: »Wir werden von denselben verräterischen Höllenhunden wie früher verfolgt und suchen abermals den Schutz von Leben und Eigentum, den wir sechs Jahre lang nicht hatten. Werden wir ihn bekommen? Wird der Milan den Spatzen schützen, der Löwe das Lamm?« Allerdings umfasste das im Frühjahr 1867 vom Kongress verabschiedete Programm der radikalen Reconstruction die militärische Besatzung der bezwungenen Südstaaten durch Bundestruppen, was bedeutete, dass der Weg zur politischen Macht in Texas durch die Republikanische Partei verlaufen würde, die sich im Bundesstaat neu organisiert hatte. Parsons bekannte sich später zur Unterstützung der »Maßnahmen der Reconstruction, die die politischen Rechte der Schwarzen sicherstellten«, und nannte als Grund für diesen Sinneswandel seine »von Liebe und Respekt geprägten Erinnerungen an die gute alte ›Aunt Easter‹, die inzwischen verstorben war, eine ehemalige Sklavin und Hausbedienstete der Familie meines Bruders, die mir stets zur Seite gestanden und mich mit großer Güte und mütterlicher Liebe praktisch großgezogen hatte«. Doch ob sein Republikanismus auf einem überzeugten Eintreten für die Rechte der Schwarzen beruhte oder auf Opportunismus, da er ihm Möglichkeiten eröffnete, durch Beziehungen an Jobs zu kommen und breiteren Einfluss in Texas zu gewinnen, ist unklar. Parsons schrieb schlicht: »Ich wurde Republikaner, und natürlich musste ich in die Politik gehen.« So baute er die Partei in Texas mit auf – gemeinsam mit ein paar im Süden geborenen Weißen, der gewaltigen Mehrheit der Freigelassenen, einigen Zugezogenen aus dem Norden und den Deutschen, die fünf Prozent der Bevölkerung ausmachten.25

Dass Parsons bei den texanischen Republikanern regelmäßig mit Deutsch-Amerikanern zu tun hatte, erwies sich später als prägend für sein Leben. Insgesamt waren Deutsche in Texas zwar nicht besonders zahlreich vertreten, doch in bestimmten Regionen – der Küstenebene östlich von Waco und in Hill County im Westen – spielten sie während des Krieges eine unverhältnismäßig große Rolle in der Politik. Mit Blick auf Konfession, Beruf und Kultur durchaus unterschiedlich, verband sie die gemeinsame Muttersprache, und ein großer Teil von ihnen war gegen die Sklaverei und die Sezession gewesen. In den Jahren des Bürgerkriegs hatten viele deutsche Einwander:innen stark unter ihren englischstämmigen Nachbarn gelitten, die solchen ausländischen, liberalen und freigeistigen Unionsbürgern mit Verachtung und Furcht begegneten. In Hill County waren die meisten Todesopfer während des Krieges Deutsche, die bei Überfällen von Sklavereibefürwortern auf ihren Farmen gehängt oder erschossen wurden; dass so viele von ihnen in der Nachkriegszeit zu den Republikanern gingen, war kein Wunder. Parsons traf bei lokalen und bundesstaatlichen Versammlungen sowie bei Kundgebungen regelmäßig deutsche Männer, und wahrscheinlich erwarb er zumindest Grundkenntnisse ihrer Muttersprache. Später wurde dies ausschlaggebend für den Wohnort von Albert und Lucy, für die Muster ihres Soziallebens und sogar für die Ideen und die politische Kultur, die sie als Radikale vertraten.26

1868, NACH IHRER ANKUNFT in Waco, heiratete Charlotte den in Virginia geborenen Freigelassenen Charlie Carter, der in J. B. Bakers Ziegelwerk auf der Ostseite des Brazos arbeitete. (In der Heiratsurkunde wird ihr Name mit »Charlott Taliferro« angegeben.) Charlie hatte seinen Sklavennamen Crane abgelegt und nannte sich nun Carter; auch Charlotte nahm den Namen für sich und ihre drei Kinder an. Um zum Einkommen der Familie beizutragen, ging Lucia Gelegenheitsarbeiten als Köchin und Schneiderin in den Haushalten mehrerer Zugezogener aus dem Norden nach, ihre Mutter war ebenfalls als Hausangestellte tätig. Aber schon als Jugendliche versuchte Lucia, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen und sich eine Zukunft ohne Einschränkungen durch ihren früheren Herrn oder ihre Mutter aufzubauen.27

Mit 16 oder 17 ging Lucia eine Beziehung zu einem Mann ein, der ursprünglich Oliver Gathings hieß und 35 oder 36 Jahre alt war. Er behauptete später stets, sie hätten geheiratet, obwohl es dafür keine Belege gibt – zumindest nicht für eine rechtliche Eheschließung. Nach dem Krieg musste der in Mississippi geborene Freigelassene den Spott der Weißen in Waco ertragen, weil er entschlossen war, als eine neue Person aufzutreten: Er legte den Namen seines ehemaligen Besitzers ab und nannte sich stattdessen Benton, nach seinem Vater. Am 19. Juni jeden Jahres zog er seine beste Kleidung an und feierte Juneteenth, um an die Emanzipation der texanischen Sklav:innen an jenem Tag im Jahr 1865 zu erinnern. Während seines langen Lebens in Waco fand Benton immer genug Arbeit als Handwerker und verdiente damit gemessen an den begrenzten Möglichkeiten eines Schwarzen recht gut. Er ermutigte Lucia, die erste Schule für Schwarze Kinder in Waco zu besuchen, und bezahlte das stattliche Schulgeld – einem Reporter erzählte er später, er habe »sein gesamtes Geld für ihre Bildung« ausgegeben. Vielleicht konnte er sie auch mit schönen Kleidern verwöhnen, die sie so liebte.28

Charlie Carter und Oliver Benton verdankten ihre Jobs einem Nachkriegsbauboom in Waco und erzielten ein Einkommen, das vielen Schwarzen Männern auf dem Land verwehrt blieb. Die meisten Freigelassenen in der Stadt waren Hilfsarbeiter, manche fanden aufgrund eines Arbeitskräftemangels aber auch Beschäftigung als Kutscher, Friseur, Kellner, Koch, Schmied, Schuster und Schlachter. Sie verdienten genug, um unabhängig von Weißen einen eigenen Haushalt zu gründen; ihre Frauen konnten zuhause bleiben, ihre Kinder die Schule besuchen. Die relative finanzielle Stabilität, die einige Schwarze in Waco genossen, brachte eine Führungsschicht hervor, die sich aus den Reihen der Pfarrer, Lehrer und talentierten Geschäftsmänner rekrutierte und teilweise bei den Republikanern aktiv wurde. Der Schmied Shep Mullins fädelte den Ankauf eines 14 Morgen großen Grundstücks für ein Schulgebäude ein, eine wichtige Einrichtung für jede Gemeinschaft ehemaliger Sklav:innen. Wie ein Beobachter anerkennend meinte: »Die Schwarzen sind sehr geeint und wollen unbedingt Bildung.«29

Der Anblick einer Schule für Schwarze, ganz gleich wie notdürftig zusammengezimmert, war der weißen Bevölkerung ein Dorn im Auge. Zugleich konkurrierten alphabetisierte Schwarze und weiße Männer wie Frauen um Stellen als Lehrkräfte, um im finanzschwachen Süden der Nachkriegszeit ein bescheidenes Einkommen zu erzielen. Im April 1866 eröffnete David F. Davis, der gerade aus New Hampshire hergezogen war, eine Schule in Waco, auf die auch Lucia Carter bald ging. Dabei stand er als Schulleiter vor finanziellen und politischen Herausforderungen; eifersüchtig wachte er über den geringen monatlichen Zuschuss vom Freedmenʼs Bureau. (Auf die Frage, wie lange die Bundesbehörden solche Schulen noch unterstützen müssten, antwortete ein Vertreter des Bureau in Waco: »Bis die heutige Generation von [weißen] Südstaatlern gestorben ist.«) Weiße Frauen und Freigelassene sollten laut Davis nicht als Lehrkräfte eingesetzt werden, da es beiden Gruppen an den nötigen Fähigkeiten fehle. Er zog sich den Zorn Schwarzer Lehrer im Ort zu, die ihn als lästigen Eindringling betrachteten, und von Schwarzen wie weißen Missionaren, denen seine konfessionell ungebundene Schule missfiel. In solchen schulpolitischen Konflikten spiegelten sich mitunter Auseinandersetzungen in der Republikanischen Partei wider, bei denen vermeintliche Verbündete sich befehdeten. Auch David Davis und Albert Parsons, die beide bald zu Wacos führenden Republikanern zählten, waren de facto Rivalen – um Einfluss in der Stadt, um die Gunst des Gouverneurs und vielleicht auch um die Zuneigung von Davisʼ frühreifer Schülerin Lucia Carter.30

Während Freigelassene daran arbeiteten, volle Bürgerrechte und die Kontrolle über ihr wirtschaftliches Leben in der Stadt und auf den Feldern zu erlangen, setzten sich einige junge Schwarze und Weiße beiderlei Geschlechts über die gesellschaftlichen Konventionen hinweg, die das System der Sklaverei wesentlich geprägt hatten. Um 1867 hatte Albert Parsons sich von seiner Vergangenheit als Konföderierter gelöst – die bei ihm, einem noch jugendlichen Soldaten, ohnehin kein Ausdruck fester Überzeugungen gewesen war – und sich den Gedanken einer neuen Art von Gleichheit zwischen Schwarzen und Weißen zumindest vorsichtig zu eigen gemacht. Er trat allmählich dafür ein, Schwarzen Männern einen Platz in der Republikanischen Partei zu geben, zeigte sich aber auch für die erotischen Dimensionen der neuen Ordnung aufgeschlossen.

Später erklärte Parsons, Sex zwischen Schwarzen und Weißen sei im Waco der Reconstruction »eine Art Brauch« gewesen: »Solche Geschichten waren in Texas sehr verbreitet, und damals kümmerte sich niemand weiter darum.« Wie er hinzufügte: »Ich war sehr stürmisch als junger Mann und hatte viele Affären mit Frauen.« In den Bordellen der Stadt konnten weiße Männer gegen Bezahlung Sex mit Schwarzen Frauen haben. Doch Parsons Worte verweisen auf eine neue, weiterreichende Offenheit für Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen, insbesondere zwischen Schwarzen Frauen und weißen Männern, unter denen er nicht der Einzige war, der sich über lange währende Konventionen hinwegsetzte. Schulleiter Davis – nach allen Berichten ein gutaussehender Mann mit »schwarzem Haar, vollem Bart und dunklem Teint« – spazierte oft in Begleitung einer jungen Freigelassenen durch die Stadt, und das Gerücht, er sei der Vater des Kindes einer anderen Schwarzen, schien ihn nicht weiter zu kümmern. Ein Wacoer erinnerte sich später, wie »junge Burschen« Tag und Nacht Lucia hinterhergelaufen seien, angezogen von »ihrem Haar und ihrer Figur«. Je nach politischem Lager fürchtete oder begrüßte man in Waco, was einhellig als Anbruch einer neuen Zeit in Texas wahrgenommen wurde, die vormals private Beziehungen öffentlich sichtbar machte und so gegen Tabus verstieß.31

Der institutionelle Garant dieser neuen Ära schien die Bundesregierung zu sein. Im März 1867 verabschiedete der Kongress den First Reconstruction Act, der Schwarzen Männern in den ehemaligen Konföderierten Staaten das Wahlrecht gab und die Black Codes sowie andere diskriminierende Gesetze zügig aufhob. Darauf folgte die Aufteilung des Südens in fünf Militärbezirke, die eine neue Welle der Gewalt in Texas auslöste. Voller Wut auf die erstarkende Republikanische Partei reagierten Weiße in McLennan County mit Gewalttaten, als ehemalige Unionisten in politische Ämter gewählt oder kurzerhand ernannt wurden. Obwohl in den Countys in Mitteltexas nur vier Prozent der Bevölkerung des Bundesstaates lebten, entfielen auf die Region von 1865 bis 1868 rund zwölf Prozent aller Morde von Weißen an Schwarzen, wobei sich die meisten 1867 und 1868 ereigneten. Ein Vertreter des Bureau brachte die düstere Realität auf den Punkt: »Das Leben eines weißen Mannes [der Unionsanhänger ist oder aus dem Norden stammt] ist wenig wert, das eines Freigelassenen gar nichts.«32

Am 10. Juli 1867, dem ersten Tag der Wählerregistrierung unter der Radical Reconstruction, stand Albert Parsons als fünfter in einer Schlange von zwanzig Schwarzen wie weißen Männern vor dem zuständigen Büro in Waco. Weit vorn in der Reihe befanden sich auch aus Kentucky und Tennessee stammende gutsituierte Weiße, was darauf hindeutete, dass sie während des Krieges am Unionismus der Grenzstaaten festgehalten hatten. Der örtliche Vertreter des Freedmenʼs Bureau zeigte sich in den ersten Tagen der Registrierung alarmiert über die Zahl von bewaffneten Freigelassenen, die mit einer roten Fahne aus der ländlichen Umgebung in die Stadt marschierten, um sich in die Listen einzutragen, und so den Weißen Angst machten. Er sah in ihrem Auftreten keine zeitgenössische Form von politischem Aktivismus (obwohl es genau das war), sondern führte es auf ihre »Lust am Posieren« zurück. Als die Registrierung Ende August abgeschlossen war, hatten sich 1.003 Schwarze und 877 Weiße als Wähler eintragen lassen. Mit diesem Übergewicht entsandten die Schwarzen in McLennan County den 38-jährigen Schmied Shep Mullins als Delegierten in den texanischen Verfassungskonvent (1868/69) und wählten im Jahr 1869 Freigelassene in das Parlament des Bundesstaates. Zusammen mit dem Anblick von Schwarzen Männern, die Pistolen und Gewehre trugen, weckten diese verblüffenden Entwicklungen bei Wacoern aller politischen Lager die Befürchtung eines regelrechten Krieges, sollte irgendjemand auch nur versehentlich einen Schuss abgeben, doch aus Gründen der Selbstverteidigung schien es für Schwarze Feldarbeiter wie neugewählte Amtsträger geboten, weiterhin Waffen zu tragen und mit ihnen zu »posieren«.33

In diesem aufgeheizten Klima bewiesen Schwarze Eltern beträchtlichen Mut, wenn sie ihre Kinder auf die im Frühjahr 1866 von David Davis eröffnete Schule schickten, der ersten ihrer Art. 49 Schüler:innen – 29 Mädchen und 20 Jungen – besuchten den Unterricht in einem primitiven, fensterlosen Gebäude mit Lehmfußboden und ohne Bänke oder Tafel. Davis prahlte schon bald gegenüber seinen Vorgesetzten: »Was ich hier aufgebaut habe, kann meines Erachtens keine Schwarze Schule im Süden vom Niveau her übertreffen.« Doch im Dezember des Jahres erschienen nur noch 25 Schüler:innen regelmäßig, was zumindest teilweise der starken Nachfrage nach Arbeitskräften auf den Baumwollfeldern geschuldet war. Auch unter den hundert Beschäftigten der Waco Manufacturing Company, einer Woll- und Baumwollspinnerei, könnten sich etliche Kinder befunden haben. Eine weitere Hürde war das von Davis erhobene Schulgeld von 1,50 Dollar – deutlich mehr, als sich die meisten Handarbeiter:innen und Baumwollpflücker:innen leisten konnten. Lucia Carter zählte zu einer Handvoll von Privilegierten, da Oliver Benton für ihre Bücher und das Schulgeld aufkam, sodass sie durchgängig am Unterricht teilnehmen konnte. (Vermutlich gehörte sie zu den vier oder fünf Mädchen im Alter von über 16 Jahren, die sich 1867 und 1868 fast immer auf Davisʼ monatlicher Anwesenheitsliste finden.) Benton war laut einem Reporter, der ihn interviewt hatte, »stolz auf seine hübsche Frau und tat alles, damit sie möglichst weit aufsteigen konnte«.34

Der Lehrer Davis war auf Ersuchen eines Freundes beim Freedmenʼs Bureau nach Waco gegangen und fühlte sich unter den weißen Südstaatlern vollkommen deplatziert. Er hatte die Phillips Exeter Academy und das Dartmouth College absolviert, von 1863 bis 1865 als Quartiermeister in der Unionsarmee gedient und war gegen Kriegsende in Waco eingetroffen. Davis verfasste Gedichte und pflegte eine Art von Spiritualität, die ihn von seinen im Süden geborenen, geschäftstüchtigen baptistischen und methodistischen Nachbarn deutlich unterschied – seine republikanischen Verbündeten rief er auf, sich »fest an die vitale Kraft zu halten«, die eines Tages »die alten Ideen begraben« werde. Wie der Schriftsetzer Parsons hatte er größere Ambitionen, als der bescheidene Titel eines Schullehrers vermuten ließ.35

Irgendwann zwischen Dezember 1867 und November 1868 wurde Lucia Carter schwanger. (Das Baby kam zwischen August 1868 und Juli 1869 auf die Welt.) Inzwischen waren mehrere ältere Männer in ihr Leben getreten. Ihr Lehrer Davis entwickelte offenbar zu mindestens einer Freigelassenen unbekannten Namens eine enge Beziehung. Als der Bureau-Vertreter Charles Haughn im September 1868 erfuhr, dass sich Davis darum bewarb, zum Wählerregistrar ernannt zu werden, schrieb er an seine Vorgesetzten: »Mr. Davis ist ein Mann des Geistes und der Bildung, aber nicht der Moral. Mr. Davis wurde in den Straßen von Waco häufig in Begleitung einer Freigelassenen gesehen; eine andere Freigelassene hier hat ein Kind, und ich hege nicht den geringsten Zweifel, dass er der Vater ist, denn die Beweislast ist erdrückend.« Haughn erklärte, dieser skandalöse Sachverhalt sei allgemein bekannt und er habe Davis eine Chance gegeben, »seinen Ruf wiederherzustellen, doch vergebens«. Ob Davis in seine Schülerin Lucia Carter verliebt war, ist nicht bekannt, aber zweifellos denkbar.36

Oliver Benton betrachtete Lucia als seine Frau und behauptete, der Vater ihres Kindes zu sein; sofern sie keine Liebesbeziehung mit ihm führte, war sie ihm zumindest dankbar für ihre Schulbildung. Sie arbeitete weiterhin gelegentlich als Köchin bei namhaften weißen Familien und erweiterte so in gut ausgestatteten Küchen und gut geführten Salons ihre informelle Bildung. Einer ihrer Arbeitgeber war Oscar H. Leland, der aus Vermont stammte und die Steuerbehörde in Waco leitete.37

Wann genau Albert und Lucia sich erstmals begegneten, wissen wir nicht, doch der kleine Kreis von Republikanern in Waco bot ihnen reichlich Gelegenheit dazu. Einige Kuratoren von Lucias Schule waren zugleich bekannte Republikaner, manche von ihnen wohnten zudem in der Nähe von ihr und ihrer Mutter in der Gegend um die River Street. Als Albert eine Stelle bei der Steuerbehörde bekam, wurde Oscar Leland sein Vor gesetzter. Einwohner der Stadt erzählten später, die jugendliche Lucia Carter habe immer die Blicke von Schwarzen wie weißen Männern auf sich gezogen, die sie zugleich klug und hübsch fanden. Dass sie eine besondere Ausstrahlung hatte, wurde ihr so schon früh bewusst.

DAVID DAVIS UND Albert Parsons konkurrierten um Einfluss in der entstehenden Republikanischen Partei. Während Davis seit Mai 1867 bei politischen Kundgebungen in Waco auftrat, um Schwarze als Mitglieder zu gewinnen, streckte Parsons seine Fühler in ganz verschiedene Richtungen aus. Er versuchte sich als Herausgeber einer republikanischen Zeitung, The Spectator, die allerdings, wie er selbst einräumte, »aufgrund überwältigender Ablehnung im Ort nur kurz bestand«. Deutlich mehr Erfolg als mit Publizistik hatte er als Redner. Über seine Jahre als Wahlkämpfer in ganz Texas schrieb er mit einer gewissen Untertreibung: »Meine politische Laufbahn war voller Aufregungen und Gefahren.« Mit dem für ihn typischen Schwulst fuhr Parsons fort: »In einem großen Teil des Landes lernten mich die Sklaven, die gerade das Wahlrecht erhalten hatten, als ihren Freund und Verteidiger kennen und verehrten mich zutiefst, während viele meiner früheren Weggefährten mich als Abtrünnigen und Verräter betrachteten.« In seiner Autobiografie prahlte Parsons, wie ergeben ihm »eine Masse von ungebildeten, aber treuen Schwarzen« gewesen sei. Auf sein Talent als Redner war er immer stolz; obgleich zierlich (sein damaliges Gewicht schätzte er auf 60 Kilo), besaß er die körperliche Ausdauer und rhetorische Fertigkeit, große Menschenmengen über Stunden hinweg in seinen Bann zu ziehen. Als Tribüne diente ihm, was immer sich gerade fand, und ganz gleich, wie heiß oder schwül es war, belehrte, umgarnte und ermahnte er seine Zuhörerschaft. In den Worten eines Beobachters, der ihn als Republikaner kannte: Parsons war »ein pausenloser Redner«.38