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Grenzen können je nach Perspektive und Kontext unterschiedlich gedeutet und erfahren werden. Das gilt auch für die Grenzregion zwischen den Südbündner Tälern Fex und Bergell und den italienischen Nachbartälern der Provinz Sondrio. Sie wurde in den 1930er- und 1940er-Jahren nicht nur zum Schauplatz intensiven Warenschmuggels; hier entschied sich auch das Schicksal zahlreicher Flüchtender, die dem faschistischen Terror zu entkommen suchten. Unter Einbezug von Zeitzeugenberichten und bisher unbekannten Grenzwachtdokumenten beleuchten die Autoren eindrücklich die Ambivalenzen, die Grenzen innewohnen.
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Seitenzahl: 843
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Schmuggel und Flüchtlingsbewegungen im Fextal und Bergell 1930–1948
Mirella Carbone
Joachim Jung
Institut für Kulturforschung Graubünden (Hg.)
Vorwort: Über Grenzen
Biografische Motive für die Wahl des Themas: ein Leben in Grenznähe
Einführung: Grenze als Paradigma
«Border studies»
Forschungsstand und Fragestellung
Quellen
Die Grenztäler Fextal und Bergell
Das Fextal
Geografie und Grenzbeschreibung
Historisches und Wirtschaftliches
Ein Blick auf die andere Seite der Grenze: das Valmalenco
Das Bergell
Geografie und Grenzbeschreibung
Historisches und Wirtschaftliches
Exkurs I: Der Fall des Gaudenzio Giovanoli
Der Schmuggel im Fextal
Der eidgenössische Grenzwachtdienst
Die Vorgeschichte des Postens im Fextal
Fexer Ausfuhrschmuggel zu Beginn der 1930er-Jahre
Eine Zeitzeugin aus Sils: Tosca Nett-Prevosti
Perspektivenwechsel: eine Schmugglerstimme
Die Einrichtung des Postens im Sommer 1935
Immer im Dienst (Sommer 1936)
Exkurs II: Entstehung und Entwicklung des Eidgenössischen Grenzwachtkorps
Exkurs III: Arbeits- und Lebensbedingungen eines Gebirgs-Grenzwächters
Allein auf dem Posten (Sommer 1937)
Exkurs IV: Das Sozialleben der Grenzwächter
Der Schmuggel kennt keine Winterpause (Herbst und Winter 1937/38)
Exkurs V: Die Verpflegung der ledigen Grenzwächter
Die Grenzwächter – einmal Störer, ein anderes Mal Verbündete
Exkurs VI: Der Winteralltag der Fexer Grenzwächter
Einführung einer Doppelbesetzung des Postens (Sommer und Herbst 1938)
Exkurs VII: Die Wohnverhältnisse der Grenzwächter im Fextal
Schmuggeln bei Minustemperaturen (Winter 1938/39)
Die «Gianda da las Plattas» als Rast- und Umschlagplatz für Schmuggler
Exkurs VIII: Militärische Aufgaben der Grenzwächter vor und während des Kriegs
Personalwechsel und Seuchengefahr
Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – rigorose Grenzsicherung (Herbst 1939)
Deutliche Abnahme des Schmuggelbetriebs in den ersten Kriegsjahren (1939–1942)
Exkurs IX: Die Brieffreundschaft Lukas Luck mit Elisabeth Feller
Wiedererstarken des Schmuggels an der Südgrenze (1943–1945)
Ein besonderes Schmuggelgut
Aus den Erinnerungen italienischer Schmuggler
Kuriose Waren, gespenstische Erscheinungen und ein wohlverwahrtes Geschenk
Schwarzhemden, Partisanen und der Duce – Malenker Schmuggler zwischen Skylla und Charybdis
Der Einfuhrschmuggel in der letzten Kriegsphase
«Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?» – Erinnerungen der Silser und Fexer Bevölkerung an den Schmuggel und die «Malencs»
Der «Schmuggel-Boom» aus Sicht der Fexer Grenzwächter
Eine abenteuerliche Jagd
Erneute Intensivierung des Schmuggels nach Kriegsende (Sommer und Herbst 1945)
Zeitweilige Verstärkung und bessere Bewaffnung gegen das «gemeine Banditentum»
Exkurs X: Demissionswelle im Grenzwachtkorps in der frühen Nachkriegszeit
Absperrungen im Lej Sgrischus-Gebiet
Zwischenhändler
Unterstützung auf vier Beinen (Frühling und Sommer 1946)
Schmuggel auf noch gefährlicheren Wegen
Gelegenheitsschmuggel durch auswärtige Arbeitskräfte
Der Schmuggel erreicht einen Höhepunkt (Herbst und Winter 1946/47)
Schmuggel von Gross- und Kleinvieh im Fextal?
Eine Tragödie am Scerscen-Gletscher
In neuen Schlafsäcken und mit Maschinenpistole auf der Lauer (Sommer und Herbst 1947)
Waffeneinsatz als «ultima ratio»
Wenn der Bock zum Gärtner kommt – kuriose Schmuggelfälle im Fextal
1948 – eine Wende in der Geschichte des Schmuggels an der schweizerisch-italienischen Südgrenze
Der Schmuggel im Bergell
Aufblühen des Schmuggels in den 1930er-Jahren
Perspektivenwechsel: der Schmuggler Andrea Tam
Der Fall Folladori – ein Grenzzwischenfall wird zum internationalen Politikum
Die hochgelegenen Schmugglerrouten
Erste Kriegsjahre (1939–1942)
Letzte Kriegsjahre und erste Nachkriegsphase (1943–1948)
Ein immaterielles Schmuggelgut
Arbeitsbedingungen der Bergeller Grenzwächter
Wirkungslose Gegenmassnahme auf der italienischen Seite: die «zona chiusa»
Ein hoher Preis für dreissig Kilogramm Reis
Neue Akteure des Schmuggels
Die Erinnerungen der Bergeller Bevölkerung
Exkurs XI: Die schwierige Umsetzung des «Plan Wahlen» im Bergell
Das Verhältnis der Talbevölkerung zu den Schmugglern
Weitere Stimmen von Schmugglern
Flüchtlingsbewegungen an den Fexer und Bergeller Grenzen
Zwischen Überfremdungsdiskurs und humanitärer Tradition
Antisemitismus
Die 1930er-Jahre
Der Kriegsausbruch und die Praxis der Internierung
Arbeitslager und Flüchtlingsheime des EJPD
1940–1942
Die rigorose Grenzsperre vom 13. August 1942
Die Weisungen vom 29. Dezember 1942
Flüchtlingsbewegungen an den Bündner Südgrenzen (Herbst 1938–Sommer 1943)
Die Ereignisse in Italien im Sommer 1943
Die Lage an der Schweizer Südgrenze nach dem 8. September 1943
17. September 1943: 21 000 Flüchtlinge überrennen die Tessiner Grenze
Die Lage an der Bündner Südgrenze nach dem 8. September 1943
Flüchtlingsbewegungen im Fextal
September bis November 1943
15. November 1943: neue Instruktionen und die Last der Verantwortung
Die Fexer Grenzwacht im November 1943
Die Einschätzung der Lage der norditalienischen Juden durch die Schweizer Behörden (Herbst 1943)
Dezember 1943: keine Flüchtlinge im Fextal und ein liegengebliebenes ‹Weihnachtsgeschenk›
Januar und Februar 1944
März 1944
April bis Juni 1944
Sommer 1944
September bis November 1944: die letzten Flüchtlinge erreichen das Fextal
Flüchtlingsbewegungen im Bergell
August 1939 bis August 1943
Der 8. September 1943
Exkurs XII: «Ein furchtbar hartes Handwerk» – Grenzwächter als Vollstrecker der Flüchtlingspolitik
«Unser Land drohte überflutet zu werden» – der Flüchtlingsandrang an der Grenze von Castasegna im September 1943
Nachbarschaftliche Beziehungen über die Grenze hinweg
Von entflohenen Kriegsgefangenen, Ritualen der Nächstenliebe und exotischen Begegnungen
Erste Empfangsstationen im Bergell
Jüdische Flüchtlinge aus Jugoslawien
Die italienischen Jüdinnen und Juden
Grenz- und politische Flüchtlinge
Flüchtende Partisaninnen und Partisanen
Politische Flüchtlinge der «anderen Sorte»
Vorbeiziehende Flüchtlinge versus bleibende Internierte im Bergell
Das Interniertenheim Hotel Helvetia
Beziehungen zwischen der zivilen Bevölkerung und den Internierten in Vicosoprano
Das Ende des Interniertenheims Hotel Helvetia
Schweizer Flüchtlingspolitik: Anspruch, Realität und Aufarbeitung
Die Bergeller Grenze heute
Schlussbetrachtung
Welche Fragen bleiben offen?
Die Aktualität der Flüchtlingsthematik
Anhang
Anmerkungen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Archive
Interviews
Literatur
Nicht veröffentlichte Literatur
Zeitungen
Bildnachweis
Dank
Grenzen sind etwas Allgegenwärtiges. Grenzenlosigkeit ist eine manchmal sehr reizvolle, manchmal auch sehr bedrohliche Vokabel; was sie bezeichnet, liegt aber ausserhalb unseres Vorstellungsvermögens. Denn dieses bleibt darauf angewiesen, alles Vorstellbare abzugrenzen, in räumlichen und zeitlichen Grenzen zu imaginieren. Und so können Grenzen zwar erweitert, überschritten oder gar aufgehoben werden, aber die neuen Räume, die daraus entstehen oder betreten werden, haben wiederum Grenzen. Ewigkeit, Unendlichkeit, Grenzenlosigkeit bleiben für uns – paradox genug – Grenzbegriffe. Selbst Sprache als Medium der Verständigung ist ein Prozess fortgesetzter Grenzziehung, eine Abfolge distinkter Einheiten (Laute, Zeichen) nach definitorischen Übereinkünften. Definitionen selbst sind nichts anderes als Grenzmarkierungen (finis: Ende, Grenze). Denken bleibt auf die Grundoperation des Unterscheidens – und das heisst: auf ein Voneinander-Abgrenzen – angewiesen.
Es gehört zur Dialektik der Grenze, dass sie ein Innerhalb und Ausserhalb, ein Diesseits und Jenseits zugleich setzt und damit den vielfachen Antrieb hervorbringt, sie zu erweitern, in Richtung des Aussen zu verschieben oder gar zu überschreiten, das, was hinter ihr liegt, zu entdecken. Grenzen machen neugierig, sie wecken Sehnsüchte und den Willen zur Horizonterweiterung, zur Erkundung oder gar Aneignung eines neuen, unbekannten Stückchens Welt. Der nach aussen gewandten Weltlust solcher Überschreitungsimpulse, die sozial, ökonomisch, militärisch, machtpolitisch oder individualpsychologisch motiviert sein können, stehen in perspektivischer Umkehr vielfältige Ängste entgegen: zum Beispiel davor, dass die Begegnung mit dem Anderen, Unbekannten, Nicht-Dazugehörigen uns überfordern oder gar überwältigen könnte, dass sie unser in eigenen Grenzen gewachsenes Selbstverständnis infrage stellt, brüchig werden lässt. Kurz: dass wir den Halt verlieren, wenn wir das Stoppschild «Halt, hier Grenze!» passiert haben. Solchen Ängsten wirken Grenzen entgegen, versprechen Schutz, umhegen als «Einfriedung» unsere um ihren Bestand und ihre Besitzstände besorgte Eigentümlichkeit. In manchen Zeiten und Regionen war und ist «Halt, hier Grenze!» allerdings viel mehr als ein blosses Grenz-Signalement. Im geteilten Deutschland zum Beispiel säumte dieses Schild als beständiger Warnhinweis vor Todesgefahr die Demarkationslinie zwischen West und Ost.
Biografische Motive für die Wahl des Themas: ein Leben in Grenznähe
Joachim Jung: Mir ist das Interesse an Grenzen quasi in die Wiege gelegt worden. Nicht nur, weil mein Geburtsjahr mit dem einer brachialen historischen Grenzziehung – dem Bau der Berliner Mauer – zusammenfiel, sondern auch, weil ich im Ostseebad Travemünde, in unmittelbarer Nähe des «Eisernen Vorhangs» mit seinen schier unüberwindlichen Sperr- und Grenzanlagen aufwuchs, in Sichtweite jener tödlichen innerdeutschen Grenze, die mit Wachtürmen, Lichtmasten-Alleen, meterhohen Zäunen und Betonbarrieren, Hundelaufleinen, Minenfeldern und Selbstschussanlagen den tiefen ideologischen Graben zweier weltanschaulicher Systeme markierte. Nacht für Nacht tasteten die Leuchtfinger der küstennahen Grenzscheinwerfer oder DDR-Patrouillenboote die Lübecker Bucht nach Flüchtlingen ab, die während der fast drei Jahrzehnte, in denen diese Grenze bestand, zu Tausenden ihr Leben riskierten, indem sie auf jegliche, zum Teil kaum vorstellbare Weise versuchten, übers Meer in den Westen zu gelangen: Schwimmend, auf Luftmatratzen, mit Schlauch- und Paddelbooten, mit selbstgebastelten Mini-Unterseebooten oder auf Styropor-Surfbrettern hofften sie die Fahrrinne der Skandinavien-Fähren zu erreichen oder in die Nähe eines westdeutschen Fischerbootes zu kommen.1
Die Stacheldrahtkronen auf den Grenzbefestigungen waren gen Osten ausgerichtet und sprachen damit der offiziellen DDR-Namensgebung für diese Grenze als eines «antifaschistischen Schutzwalls» offen Hohn. Sie sollte nicht einen äusseren Feind abwehren, sondern die «Republikflucht» – auch das DDR-Jargon – der eigenen Bevölkerung verhindern. Sie machte ein ganzes Land zum Gefängnis.
Ich habe also das, was Grenzen sein und bewirken können, zunächst in seiner härtesten Ausprägung, aber doch glücklicherweise aus einer Aussenperspektive, kennengelernt: Grenzziehung als Freiheitsentzug nach innen. Die umgekehrte Form dieser Härte ist heute an vielen neu in die Höhe gewachsenen Grenzzäunen und Mauern zu beobachten: Grenzen, die als vermeintliche Freiheitsgarantien errichtet werden, um denen, die zu dieser Freiheit von aussen hindrängen, den Zugang zu verwehren. Man denke, um nur zwei prägnante Beispiele zu nennen, an die gegenwärtige US-Migrationspolitik oder an jene der EU mit ihren nach innen durchlässig gewordenen, dafür gen aussen verstärkten Grenzen.
Warnhinweis an der innerdeutschen Grenze auf der Halbinsel Priwall in Travemünde, 1970er-Jahre.
Vielleicht erinnert man sich in diesem Kontext auch noch einmal an die Preisrede2 Friedrich Dürrenmatts auf seinen Schriftstellerkollegen Václav Havel, in welcher Dürrenmatt mit Bezug auf die Schweiz dialektisch-virtuos vorführte, wie jeder Versuch, Freiheit exklusiv zu behandeln, will sagen: als etwas, das nur auf eigenem, grenzbewehrtem Territorium gedeihen könne, sich in eine Fülle von Paradoxien und grotesken Widersprüchen verstrickt.
Zurück zum «Eisernen Vorhang»: Bis zum Fall der Mauer hatten sich westdeutsche Berlinreisende innerhalb der DDR praktisch nur auf ausgewiesenen, streng kontrollierten, visumspflichtigen Transitstrecken bewegen können. Und auch wer aus Westdeutschland innerhalb der DDR Verwandte besuchen oder Orte touristisch bereisen wollte, blieb einem strengen Antrags-, Genehmigungs- und Kontrollregime seitens der ostdeutschen Behörden unterworfen.3 An den norddeutschen Transitübergängen setzte die DDR vornehmlich Grenzbeamte aus dem Süden, aus Sachsen, ein. Als die Grenze im November 1989 erstmals in beide Richtungen durchlässig wurde, um dann im Zuge der Wiedervereinigung zumindest in einem materialen Sinn gänzlich demontiert zu werden – in den Köpfen ist diese Grenztilgung leider längst noch nicht abgeschlossen –, konnte ich nun erstmals den Landstrich direkt hinter den ehemaligen Grenzbefestigungen erkunden, der mir seit je in Sichtweite gelegen hatte. Als ich dort jemanden nach dem Weg fragte, war ich völlig überrascht, als dessen Antwort statt der sächsischen die Färbung meiner norddeutschen Mundart trug. Wie hätte es auch anders sein sollen? Die fast dreissig Jahre bestehende, nahezu undurchdringliche Grenze sowie die Kontrollen durch sächsische Grenzbeamte hatten beinahe vergessen lassen, was eine Grenze auch ist: Sie scheidet nicht nur zwei Territorien voneinander, sondern ist zugleich der Ort ihrer grösstmöglichen Nähe. Die im Grenzbereich Lebenden sind Nachbarn; die Kontrolleure der Grenze kommen hingegen oft aus anderen Landesteilen, wohl nicht zuletzt auch, um eine Fraternisierung mit der aus dem Grenzgebiet stammenden Bevölkerung zu verhindern.
Die Nachbarschaft derer, die diesseits und jenseits der Grenze leben, kann dabei unter Umständen auf einem älteren sprachlich-kulturellen Fundament ruhen und homogener sein als die nationale Identifikation, die erst im 19. Jahrhundert mit der Konstruktion nationalstaatlicher Territorialität durch gesicherte Landesgrenzen einsetzte und gefördert wurde.
Mirella Carbone: Ich bin Sizilianerin, in Catania am Ionischen Meer aufgewachsen, und also nicht, wie die Bewohnerinnen und Bewohner des Valchiavenna oder Valmalenco, in unmittelbarer Nähe einer Territorialgrenze. Und doch stellt die Insellage Siziliens auch eine Art Grenzsituation dar; selbst die nur wenige Kilometer breite Strasse von Messina – so scheinbar leicht und alltäglich sie heute im steten Fährverkehr überquert wird – bildet im Bewusstsein der Inselbevölkerung eine markante Grenzlinie zum italienischen Festland. Einen Graben, der in der Geschichte Siziliens nie nur geografisch wahrgenommen wurde, sondern bis heute – im Misstrauen und in der Unzufriedenheit gegenüber der fernen, den Süden vernachlässigenden Staatsmacht in Rom – auch politisch konnotiert ist. Und gerade hier zeigt sich wiederum eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Perspektive der sizilianischen und jener der italienischen Bevölkerung an der nördlichen Staatsgrenze: Es ist die Perspektive der am Rande Lebenden. Sehr lange verband die Menschen in den peripheren Regionen Italiens, der nördlichen und der südlichen, eine in der Geschichte dieses Nationalstaates begründete, fehlende Identifikation mit der Zentralregierung, die als fremde und willkürliche Macht wahrgenommen wurde, was zum Teil bis heute gilt.4 Diese Einstellung gegenüber dem Staat hatte, wie im 1. Kapitel dieser Arbeit deutlich wird, einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die positive Haltung, mit der die lokale Bevölkerung der norditalienischen Grenzgebiete einem Phänomen wie dem Schmuggel begegnete.
Es ist wohl kein Zufall, dass wir, selbst an Rändern, in Grenzregionen aufgewachsen, unsere zweite Heimat wieder in der Nähe einer Grenze gefunden haben. Auf den Spuren des Philosophen Nietzsche, eines heimat- und staatenlosen Grenzgängers par excellence, dessen Denken in vielerlei Hinsicht exzentrisch und grenzüberschreitend genannt werden darf, kamen wir ins Oberengadin nach Sils, heute eine Feriendestination, jahrhundertelang aber ein Teilstück transalpinen Handels und Reisens, für das Nietzsches Neologismus «durchreisendamente»5 in jenen Zeiten gut gepasst hätte. Eine Nord-Süd-Schwelle, eine transitorische Landschaft, wo «Finnland und Italien zum Bunde zusammengekommen»6 zu sein scheinen, wie es der Philosoph einst mit Blick auf die spannungsvolle Simultaneität von Gletscherwelt und südwärts weit geöffnetem Horizont formulierte. In Sils, in unmittelbarer Nähe der Südbündner Grenze zur italienischen Provinz Sondrio, ist man auch den Ambivalenzen, Ängsten, Hoffnungen und Herausforderungen ein Stückchen näher, die Grenzräume im historischen Wandel mit sich bringen – als Lebensräume, als Übergangsbereiche, als Kontroll- und Sperrgebiete, als Pendlerzonen, als Auffang- oder Rückweisungsräume.
Der für diese Forschungsarbeit gewählte doppelte Fokus auf Schmuggel und Flüchtlingsbewegungen in den 1930er- und 1940er-Jahren an den Grenzen zwischen Fextal/Bergell und den italienischen Nachbartälern ist nicht nur einem biografisch beeinflussten Interesse an Grenzen und der Ortsnähe zum Forschungsgegenstand geschuldet. In der raumzeitlichen Beschränkung auf einen bestimmten Grenzabschnitt während einer historischen Krisen- und Bedrohungslage tritt das Phänomen «Grenze» einerseits konturiert hervor. Andererseits wird es erst unter Berücksichtigung ganz unterschiedlicher Erfahrungsräume, Interessenlagen und Wertsetzungen umfänglicher fassbar: Die Grenzwächter, welche die Grenze kontrollieren, bewachen, verteidigen; die Schmuggler, denen sie als ökonomische Chance und als beständige Herausforderung begegnet; die lokale Grenzbevölkerung, deren Sympathie eher den Schmugglern gehört, die sich aber – je nach Interessenlage – auch einmal auf die Seite der Grenzschützer schlägt; die Flüchtlinge, denen sie zur Trennlinie zwischen Leben und Tod werden kann – für alle diese Gruppen bedeutet «Grenze» jeweils etwas anderes.
Die vorliegende Studie fokussiert zwar einerseits auf zwei bestimmte Grenzterritorien, das Fextal und das Bergell, innerhalb eines begrenzten Zeitfensters. Aber es geht in ihr auch um Grenzziehungen, -überschreitungen und -verwischungen in einem viel weiteren, nicht nur geopolitischen Sinne. Es geht um moralische Grenzen, die in bestimmten historischen Krisensituationen verschoben werden, es geht – mit Blick auf den Schmuggel, aber auch auf den Status von Flüchtlingen und Internierten – um die sich verwischenden Grenzen zwischen Legalität und Illegalität. Und schliesslich geht es auch um jene Grenzsituationen, in denen zwischen Legalität und Legitimität zu unterscheiden ist, das heisst zwischen einem Handeln, das gültigen Gesetzesparagrafen verpflichtet bleibt und einem, das sich ein humanitäres, gegebenenfalls paragrafenüberschreitendes Rechtsempfinden zur Leitschnur macht.
So entscheiden innere Grenzziehungen mit darüber, wie durchlässig oder undurchlässig jene äusseren Demarkationslinien werden können, die als nationale Landesgrenzen politische Systeme, Sprachen sowie Kultur- und Wirtschaftsräume voneinander trennen, in einer bestimmten historischen Lage aber eben auch zu Grenzen zwischen Freiheit und Gefangenschaft, Sicherheit und Todesdrohung mutieren.
Eine Grenze ist in dieser Hinsicht nicht als statisches Gebilde, sondern dynamisch aufzufassen: als etwas, das durch das Handeln der Menschen, ihre unterschiedlichen Interessenlagen, Perspektiven und Aktionsfelder konstituiert wird und damit über alle scheinbaren Fixierungen in Grenzsteinen und Zäunen hinweg ständiger Veränderung und Uminterpretation unterliegt.
Dieses handlungsbezogene, dynamische Verständnis von Grenze im Sinne eines «doing border» findet auch in den Ergebnissen der vorliegenden Forschungsarbeit seine Bekräftigung. Neben der staatspolitischen Macht mit ihren Gesetzen und Vorgaben sind es die unterschiedlichen Akteurinnen und Akteure im Grenzraum, die durch ihr aufeinander bezogenes Handeln und aufgrund ihrer jeweiligen Motive, Bedürfnisse, Ängste und Wünsche die Bedeutung(en) und Funktion(en) der Grenze mitbestimmen, ebenso wie den Grad ihrer Dichte oder Durchlässigkeit.
«Border studies»
Längst widmet sich dem Thema «Grenze» ein eigenes, umfangreiches Forschungsfeld, das den Begriff aus seiner traditionellen Fixierung auf das Räumlich-Territoriale oder das Politisch-Nationale befreit und zum Gegenstand einer multiperspektivischen, interdisziplinären Betrachtungsweise gemacht hat, die der Komplexität dessen, was alles «Grenze» sein und bedeuten kann, auf eine umfänglichere Weise Rechnung zu tragen versucht, als dies früher geschehen ist. Kulturwissenschaftlich wird das neue Forschungsfeld wie folgt definiert:
«Im Zuge der Steigerung von Mobilität, fortschreitender Technologisierung, anhaltender Migrationsbewegungen sowie des aufstrebenden Populismus stehen Grenzen erneut im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Dabei hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass Grenzen – entgegen simplifizierender Darstellungen im öffentlichen Diskurs – nicht als gegebene Tatsachen, sondern in ihrer Gemachtheit und historischen Kontingenz, d. h. als Ergebnisse von sozialen und kulturellen Prozessen erschließbar sind. Diese Perspektive des Doing B/Order [fokussiert] […] das ‹Praktizieren› von Grenze und Differenz (etwa als imaginierte oder medial vermittelte (Grenz-) Räume oder im Kontext von In- und Exklusion) und damit auch transkulturelle Grenzüberschreitungen.»1
Dabei geht es aber nicht nur darum, das Phänomen «Grenze» im Rahmen ganz unterschiedlicher Konzepte, Wissensbestände und Disziplinen auszuleuchten. Angestrebt wird vielmehr, die perspektivische Vielfalt der Zugänge in einem neuen Forschungsrahmen zusammenzuführen, wo sie in Form von Interferenzen, wechselseitigen Berührungen und Durchdringungen, Verstärkungen und Kontrasten den vormals primär mit Linearität assoziierten Begriff «Grenze» in einer seiner Komplexität viel adäquateren Form, nämlich als offene Textur2 erfahrbar machen. Eine Grenze als Textur, als ein Gewebe aus einander berührenden und durchkreuzenden Verhaltensweisen, diskursiven Sinnzuschreibungen und symbolischen Zeichensetzungen zu begreifen, unterläuft die simplifizierende, statische Differenzlogik von «Hier» und «Dort» zugunsten der Vorstellung eines dynamischen Grenz-Raumes, einer Kontaktzone. Die Textur dieser Kontaktzone ist nicht fixiert. Im Sinne eines «doing border» prägt sie sich in der Vielfalt historischer, politischer, rechtlicher, moralischer, kultureller und symbolischer Zuschreibungen, Umschreibungen und Überschreibungen aus, aber zugleich auch in der Überlagerung, Verschränkung und Hybridisierung ganz unterschiedlicher – mal kooperativer, mal antagonistischer – Aktionen und Beziehungen derer, die diese Kontaktzone bewohnen oder durchqueren.
Dieses Verständnis der Grenze als «Bordertextur»3 scheint geeignet, eine antithetisch und dichotomisch fixierte Grenz-Logik performativ zu unterlaufen, die Entgegensetzungen von Heimat und Fremde, von Identität und Alterität neu zu konzeptualisieren. Anders und weitreichender, als dies ein bloss reziproker Wechselbezug ermöglichen könnte, der sich etwa des Eigenen durch das Andere vergewisserte, der im Akt der Grenzziehung erst die Voraussetzung für Definition und Identifikation erschüfe, für ein Sein, das alles andere nicht ist. Anders auch als eine dialektische Betrachtungsweise der Grenze, in der jede Grenzziehung, wenn auch nur negativ, immer auch auf das Bezug nimmt, wovon sie sich abgrenzt.4 An der Grenze selbst sind sich Abgrenzende und Ausgegrenzte am nächsten. Das Konzept der Dialektik bleibt dabei aber auf die Vorstellung von Grenze als (Trenn-)linie, als Limes fixiert. In der Vorstellung von Grenze als Textur wird der Grenz-Raum selbst als «potentiell hybride Zone von verschränkten Existenzen»5 gedacht. Das hebt Grenzen nicht auf, wohl aber die Vorstellung einsinniger Grenzverläufe.
Im Folgenden sei knapp angedeutet, wie sich in den Ergebnissen unserer Forschung jeweils Aspekte dieses mehrdimensionalen Verständnisses von «Grenze» spiegeln. So finden sich im Kapitel über den Schmuggel im Fextal mehrere Beispiele für eine perspektivisch und zeitbezogen changierende Wahrnehmung und Bewertung der Grenze. Selbst aufseiten der Schweizer Behörden bestand keine Klarheit darüber, wie der in den 1930er-Jahren florierende Ausfuhrschmuggel zu beurteilen und zu behandeln sei, was sich unter anderem in einem Kompetenzgerangel zwischen Polizei- und Zollorganen, zwischen Landjägern und Grenzwächtern niederschlug. Während die Grenzwächter, die der Zolldirektion unterstanden, offenbar mit Rückendeckung des Bündner Kleinen Rates den illegalen Ausfuhrschmuggel vom Fextal nach Italien als wirtschaftlich vorteilhaft duldeten, agierten die lokalen Polizisten (Landjäger) meist streng legalistisch, verfolgten illegal Eingereiste und beriefen sich dabei auf bundesbehördliche Vorschriften, denen zufolge für einen Grenzübertritt nur die offiziell bezeichneten Übergangsstellen (Campocologno, Castasegna, Splügen) erlaubt und ein gültiger Pass nötig seien.
Vonseiten der Bergeller, Fexer und Silser Bevölkerung konnte die Bewertung der Grenze sowie jene der Schmugglerinnen und Schmuggler schnell ihr Vorzeichen ändern. Dass Letztere regelmässig die grüne Grenze überwanden, um beim lokalen Gewerbe Waren für den Ausfuhrschmuggel zu kaufen oder – während des Kriegs – rationierte, daher begehrte Lebensmittel wie Reis, Mehl oder Fleisch trotz Grenzsperre in die Südbündner Täler schmuggelten, machte sie zu Wohltätern, die von der grenznahen Bevölkerung unterstützt wurden. Mit dieser Unterstützung blieb die Grenze auch zu Zeiten strengster Kontrollen durchlässig. Brach jedoch in Italien eine Viehseuche aus, wurde jeder Schmuggler, der sich über die daraufhin erfolgende Grenzsperre hinwegsetzte, zum Feind, von dem Ansteckungsgefahr ausging. Dann kooperierte die Südbündner Grenzbevölkerung mit der Grenzwache; die Grenze, zuvor ein lästiges Hindernis für den reibungslosen Schmuggelverkehr, wurde plötzlich als Schutzwall gesehen. Erst diese Kooperation machte die Staatsgrenze für Schmugglerinnen und Schmuggler zur fast unüberwindbaren Barriere. Entsprechend wurden die Grenzwächter, deren allzu eifriges Wirken man in seuchenfreien Zeiten eher als störend, weil geschäftsgefährdend, wahrnahm, bei Seuchengefahren zu Beschützern der eigenen Viehbestände, deren Arbeit es zu unterstützen galt.
Prononciert wurde die Grenze für diejenigen «beweglich», die ab Herbst 1943 vor den deutschen Besatzern Norditaliens flohen und ihr Leben durch das Überschreiten der Bündner Südgrenzen zu retten hofften. Mit Ausnahme der wenigen anerkannten politischen Flüchtlinge hatte praktisch jede Zivilperson, die bei dem Versuch, über die Landesgrenze in die Schweiz zu fliehen, nicht zurückgewiesen wurde, zwar eine äussere Grenze überwunden, musste nun aber eine innere überallhin mitnehmen, die ihr per Definitionsmacht des Staates für die Zeit ihres Aufenthaltes eingestempelt wurde: den Status der Illegalität, in den vorläufig Aufgenommene mit der Absicht gesetzt wurden, sie kontinuierlich daran zu erinnern, dass der Aufenthalt nur ein temporärer sein könne, dass keinerlei Aussicht bestehe, diesen prekären Zustand vielleicht irgendwann in ein dauerndes Bleiberecht umwandeln zu können. Dieses Kainsmal der Illegalität liess, kaum hatte man sich in die Schweiz gerettet, sogleich im Landesinneren weitere Grenzen wachsen: Der vermeintliche Weg in die Freiheit führte direkt in – zum Teil stacheldrahtbewehrte – Arbeits- und Internierungslager, in einen von vielfältigen Restriktionen und Kontrollmechanismen bestimmten Alltag, in Warteräume zum begrenzten Aufenthalt. Wer sie bewohnte, hatte zuvor schriftlich zuzusichern, alles für einen baldmöglichen Weiterzug zu tun.
In die Reflexion auf so unterschiedliche Grenz-Erfahrungen gilt es auch die Gruppe der Grenzwächter miteinzubeziehen. Sie hatte es nicht nur mit den Grenzübertritten von Schmugglern und Flüchtlingen zu tun. Ihr Dienstalltag war sehr hart und von vielen, heute kaum mehr vorstellbaren Einschränkungen geprägt: Als eine Grenzüberschreitung eigener Art lässt sich das Verhalten ihrer Vorgesetzten bewerten, wenn diese verlangten – und kontrollierten –, dass die Grenzwächter auch weite Bereiche ihres Privatlebens (Freizeit, Sozialleben, Wohnsituation) den Erfordernissen des Dienstes unterordneten. Ein genauerer Blick in die Dienstregister verrät zudem, wie manche Vorgesetzte in ihrem Kontrollzwang gegenüber den eigenen Mitarbeitern jede vernünftige Grenze überschritten.
Forschungsstand und Fragestellung
Bei unserer Beschäftigung mit der Schmuggel- und Flüchtlingsthematik im Bergell und Fextal stiessen wir auf eine Forschungslücke. Zwar ist über illegale Grenzüberschreitungen – Schmuggelverkehr und Flüchtlingsbewegungen – an der Schweizer Südgrenze in den Jahren der Weltwirtschaftskrise, der faschistischen Diktatur in Italien und des Zweiten Weltkriegs bereits vieles erforscht und publiziert worden, auf italienischer wie auf Schweizer Seite.6 Die bisherigen Studien haben sich allerdings fast ausschliesslich auf die Grenze zum Tessin und, was den Kanton Graubünden betrifft, auf jene zwischen dem Veltlin und dem Puschlav konzentriert, wo beide Phänomene innerhalb der genannten historischen Phasen in potenzierter Dimension auftraten.
Welche Dimension und Ausprägung erreichten diese Phänomene aber in den Bündner Grenztälern Bergell und Fextal zwischen 1930 und 1948? Wie oft haben Schmuggler sowie Flüchtlinge, mit oder ohne Begleiter, in den 1930er- und 1940er-Jahren diese nicht zu den traditionellen Hauptrouten gehörenden Täler gewählt? Welche sozioökonomische Bedeutung hatte der Schmuggel für die italienische Grenzbevölkerung und für die Talschaften Fextal und Bergell? Wie erlebten die Menschen im Grenzraum Fextal und Bergell die Schmuggeltätigkeit und die Fluchtbewegungen aus Italien während der Vorkriegs- und Kriegszeit? Vieles ist über das harte und entbehrungsreiche Leben der Schmuggler in den Gebirgsregionen geschrieben worden. Aber unter welchen Bedingungen arbeiteten und lebten die Grenzwächter auf den Gebirgsposten wie jenem im Fextal? Diese Leitfragen, aus denen sich im Verlauf der Recherchen eine Vielzahl weiterer Detailfragen ergab, bildeten den Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit, die einen ergänzenden Beitrag zu bereits bestehenden Studien im Bereich der Schmuggel- und Flüchtlingsthematik leisten möchte.
Insgesamt sind die Vorkriegszeit und die Zeit des Zweiten Weltkriegs in Graubünden bis heute wenig erforscht.7 Die Zahl der diesbezüglichen Publikationen bleibt überschaubar.8 Über die Schmuggelthematik im Bergell existiert auf Schweizer Seite,9 neben einem Kapitel im Kulturreiseführer «Grenzland Bergell» von Ursula Bauer und Jürg Frischknecht,10 lediglich eine Diplomarbeit.11 Was die Flüchtlingsthematik anbelangt, ist neben einzelnen Erwähnungen in der allgemeinen Forschungsliteratur zu Graubünden während des Zweiten Weltkriegs ein Aufsatz von Kurt Fischer zu erwähnen, der die Flucht einer grossen italienischen Partisanengruppe ins Bergell beschreibt,12 sowie ein autobiografischer Text des Bergellers Giorgio Derungs.13
Zu Schmuggel- und Flüchtlingsbewegungen an der Grenze zwischen dem Fextal und dem Valmalenco gibt es bislang weder auf Schweizer noch auf italienischer Seite eine Untersuchung.
Quellen
Bereits zu Beginn unserer Forschungsarbeit stand für uns fest, dass wir zur Erschliessung des gewählten Themas nicht nur auf schriftliche Quellen zurückgreifen wollten. Wir setzten vielmehr darauf, dass die Geschichte über den Schmuggel und die Weltkriegsflüchtlinge an den Südbündner Grenzen Fextal und Bergell als Erzählung von Geschichten zusätzlich Kontur gewinnen würde: Geschichten, welche noch lebende Protagonistinnen und Zeitzeugen zu erzählen hatten, die uns damit jene ferne Zeit, im persönlichen Erinnern perspektivisch gebrochen und zugleich neu verlebendigt, würden näherbringen können. Geschichte, erzählt als ein Puzzle von Geschichten derer, die damals als Schmuggler, Grenzwächter, Flüchtlinge und Einheimische interagierten.
So wurden mündliche Zeitzeugenaussagen zu einer wesentlichen Quelle dieser Arbeit. Wir sammelten zum einen die Erinnerungen älterer Talbewohnerinnen und -bewohner aus dem Bergell, aus Sils und dem Fextal, die den Schmuggel und die Präsenz von Flüchtlingen während des Zweiten Weltkriegs erlebt hatten.14 Zum anderen hatten wir das Glück, auch noch lebende ehemalige Flüchtlinge, die in den letzten Kriegsjahren versucht hatten, sich ins Bergell zu retten, aufzufinden und ihren Stimmen und Schicksalen in dieser Arbeit Raum geben zu können. Noch lebende ehemalige Flüchtlinge, die ins Fextal kamen, fanden wir keine. Hierbei ist zu bedenken, dass die sehr schwierigen und gefährlichen hochalpinen Fluchtrouten ins Fextal von erwachsenen Männern, nicht aber von Familien mit Kindern oder Jugendlichen gewählt wurden.
Individuelle, mündlich mitgeteilte Erinnerungen als historisches Quellenmaterial zu nutzen und auszuwerten, ist nicht unproblematisch. Denn menschliches Erinnern ist weniger ein reproduktiver als ein produktiver, kreativer Prozess: Es wählt aus, steuert bestimmte Bilder an, die sich besonders eingeprägt haben, wobei nicht immer klar ist, ob diese Prägung sich allein der Intensität vergangenen Erlebens verdankt oder im Laufe vielfach wiederholter Erinnerungsprozesse selbst entstanden ist. Wir kombinieren diese Bilder und interpretieren sie unter Einwirkung vieler Faktoren: Bevorzugte Selbstdeutungsmuster, vermeintliche Erwartungen des Interviewpartners, der Einfluss tagesaktueller Themen, der situative Kontext – all das wirkt auf unser Erinnern mit ein. In diesem Sinne bleibt die erinnerte Vergangenheit bis zu einem gewissen Grad ein Konstrukt. Das schmälert aber keinesfalls ihren Wert. Den subjektiven, selbstdarstellerischen und narrativen Charakter mündlicher Quellen anzuerkennen, ja als unumgänglich zu begreifen, bedeutet nicht, das real Erlebte, die Wirklichkeitserfahrung, die dem Erinnern zugrunde liegt und die im Prozess des Erinnerns subjektiven Formungen und Färbungen unterliegt, gleich selbst in Zweifel zu ziehen. Diese Formungen und Färbungen lassen sich nicht einfach «herausrechnen», um dann am Ende eine Art «factum brutum» dahinter freizulegen. Sie eröffnen vielmehr den lebendigen Zugang zu einer Vergangenheit, die sich uns immer nur perspektivisch, im Horizont vielfältigen – auch widersprüchlichen – Erinnerns von Erlebtem, Erlittenem, innerlich immer wieder Um- und Neugestaltetem erschliesst.
Die Nutzung und Bewertung mündlicher Quellen erfordert also eine besondere Anstrengung, die sowohl die Bedingungen und Beweggründe ihrer Produktion berücksichtigt als auch ihren Informationsgehalt im Kontext dieser Faktoren einzuschätzen versucht. Dies gilt zum Beispiel gerade auch im Hinblick auf die schweizerische Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs, die noch bis in die jüngste Zeit Gegenstand teils heftiger Debatten und Wertediskussionen war, was die Erinnerung von Zeitzeugen und das Narrativ ihrer eigenen Vergangenheitsdeutung möglicherweise beeinflussen und in Richtung von Uminterpretationen und Neubewertungen verändern kann.
Zwischen Dezember 2018 und Anfang März 2020 wurden Interviews mit 32 Personen aus dem Bergell (17), dem Fextal einschliesslich Sils (12) und dem restlichen Oberengadin (3) geführt. Mit einigen Gesprächspartnerinnen und -partnern wurde dann, nach dem ersten Corona-Lockdown im Frühling 2020, ein zweiter oder auch dritter Termin für Nachfragen vereinbart. Die drei ältesten Zeitzeugen sind im Jahr 1926 geboren, weitere fünf im Zeitraum zwischen 1928 und 1929. 14 Personen kamen in den 1930er-Jahren auf die Welt, die restlichen zehn später, zwischen 1940 und 1963. Die meisten interviewten Personen gehören also einer älteren Generation an, deren Wissen unbedingt gesammelt und aufbewahrt werden sollte. Die zehn Jüngsten waren hingegen nur noch ausnahmsweise direkte Zeitzeugen, sondern hauptsächlich Personen, die von den Eltern oder Grosseltern Berichte über Schmuggel und Flüchtlingsbewegungen in ihren Tälern gehört haben.
Bei der Wahl der Interviewten haben wir zuerst uns persönlich bekannte Personen angefragt, die uns dann im Gespräch weitere Personen empfahlen und sich nicht selten bereit erklärten, selbst die Kontakte zu ihnen herzustellen. Im Bergell hatten wir das Glück, dass uns die Bergeller Kulturvermittlerin und Autorin Anna Ratti Anfang Mai 2019 zu einem der regelmässig stattfindenden Mittagstische für die einheimischen Seniorinnen und Senioren einlud. Dieser Anlass öffnete uns viele Türen. Ermutigend und motivierend war die Tatsache, dass niemand der 32 Angefragten das Interview verweigert hat. Sie waren insgesamt sehr kooperativ, viele auch dankbar dafür, dass ihre Erinnerungen als wichtig erachtet und aufbewahrt werden. Für die Kontakte zu den älteren Engadinerinnen und Bergellern war sicher von Vorteil, dass wir seit über dreissig Jahren in Sils leben und durch unsere Kulturarbeit in der Region bekannt sind.
Mittels weiterer Recherchen konnten wir acht noch lebende ehemalige Flüchtlinge ausfindig machen, denen im Herbst 1943 die Flucht aus Italien ins Bergell gelungen war und die dann in der Schweiz interniert wurden. Da die meisten von ihnen heute ausserhalb der Schweiz leben, wurden – mit einer Ausnahme – die Gespräche telefonisch und brieflich geführt.
Die vorliegende Forschungsarbeit hat qualitativen, nicht quantitativen Charakter. Das heisst, sie kann keinerlei statistisch verlässliche Aussagen zu der Frage machen, wie die Bevölkerung im Bergell und Fextal den Schmuggel und die Flüchtlingsbewegungen erlebt hat. Auch quantifizierende Angaben, aus denen sich die wirtschaftliche oder soziokulturelle Bedeutung dieser Phänomene für die beiden Talschaften genauer ablesen liesse, hat diese Studie nicht zu bieten. Einzig für das Fextal, für das uns die schriftlichen Quellen des dortigen Grenzwachtpostens vorlagen, liessen sich die Flüchtlingsbewegungen auch quantifizieren. Dass sich diese Quellen erhalten haben, ist, wie weiter unten ausgeführt, schweizweit ein seltener Glücksfall. Zu praktisch allen übrigen Grenzwachtstellen sind Dokumente dieser Art (Postenbücher, Dienstregister) aus jener Zeit nicht mehr vorhanden, weshalb denn auch eine genaue Quantifizierung der Flüchtlingsbewegungen für ganz Graubünden nicht möglich ist.
Gleichwohl rufen die durchgeführten Interviews in ihrer lebendigen Vielstimmigkeit vieles aus jener Zeit erinnernd herauf, das Tendenzen hervortreten lässt, zur materialgestützten Hypothesenbildung und zur Erprobung von Deutungsansätzen einlädt.
Was die Wiedergabe des Gehörten anbelangt, so haben wir auf eine wortgetreue Transkription verzichtet. Uns ging es in erster Linie um eine inhalts- und sinngetreue Verschriftlichung der Zeugenaussagen; dabei blieben sprachliche Eigenheiten oder dialektale Färbungen zugunsten einer am Standard-Italienisch oder -Deutsch orientierten Transkription weitgehend unberücksichtigt. Zitate aus Gesprächen, die in italienischer Sprache geführt und verschriftlicht wurden, sind für den Forschungstext ins Deutsche übersetzt worden. Nur dort, wo die Zeitzeugen bei ihren Erzählungen ausdrücklich Worte aus dem Bergeller Dialekt oder dem Romanischen (Puter) benutzten, weil sie ihnen besonders aussagekräftig schienen, wurden diese in die Transkription aufgenommen.
Was die Stimmen der italienischen Schmuggler aus Valmalenco oder Valchiavenna sowie jene der damaligen Grenzwächter betrifft, so konnten wir auf verschriftlichte und zum Teil publizierte Interviews anderer Forschenden zurückgreifen. Besonders wichtig für unsere Forschung waren drei Quellen: die vom Historiker Annibale Masa gesammelten Erinnerungen ehemaliger Schmuggler aus dem Valmalenco, die Massimo Mandelli und Diego Zoia später in ihrem Standardwerk «La carga. Contrabbando in Valtellina e Valchiavenna» publizierten; die Diplomarbeit von Silvia Pedrini, «Contrabbando. Storia di una comunità di frontiera», die auf Interviews mit ehemaligen Schmugglern aus Villa di Chiavenna basiert; die Notizen zu Gesprächen, die Martin Sprecher, der ehemalige Postenchef des Grenzwachtpostens Graubünden, mit früheren Grenzwächtern des Fexer Postens geführt hatte und die er uns zur Verfügung stellte. Bei der Integration der Inhalte aus solchen indirekten Quellen in die eigene Arbeit bleibt allerdings Vorsicht geboten, da man keine Informationen über die Beziehung zwischen Zeitzeugen und Interviewern oder über die Interviewsituation hat.
Auf sehr wertvolles schriftliches Material stiessen wir durch einen glücklichen Zufall, der uns im Laufe unserer Recherchen in Kontakt mit dem bereits erwähnten Martin Sprecher brachte. Dieser stellte uns dankenswerterweise neben den Gesprächsnotizen bislang nicht ausgewertete Dokumente zur Verfügung, die das Fextal und speziell den ehemaligen dortigen Grenzwachtposten betreffen. Es handelt sich vor allem um die zum grossen Teil handgeschriebenen Dienst- und Aktenregister dieses Postens aus den Jahren 1935 bis 1958 sowie um die Kopierbücher mit Monatsrapporten aus dem Zeitraum von 1943 bis 1948. Dass dieses Material erhalten geblieben ist, hat schweizweit grossen Seltenheitswert, sind doch Register, Rapporte und Kopierbücher der Grenzwachtposten aus jener Zeit, vor allem aus den Kriegsjahren, fast nirgendwo mehr vorhanden.15 Ob sie nach Kriegsende absichtlich vernichtet wurden, weil sie auch Informationen über Wegweisungen von Flüchtlingen enthielten und dadurch die teils rigide Rückweisungspolitik der Eidgenossenschaft belegten, kann vermutet, aber nicht bewiesen werden.16 Jedenfalls bieten die Dokumente des Grenzwachtpostens Fex die einzigartige Möglichkeit, den Schmuggel und die Flüchtlingsbewegungen in einer historisch wichtigen Phase quasi als Mikro-Geschichte aus der Sicht des dortigen Grenzwachtpostenpersonals zu rekonstruieren (siehe S. 70ff. und S. 290ff.).17
Zu den genannten schriftlichen Quellen kamen Dokumente aus den Engadiner und Bergeller Gemeindearchiven, dem Staatsarchiv Graubünden, dem Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich sowie dem Bundesarchiv (BAR) hinzu. Eine wichtige Hilfe beim Versuch einer genauen Quantifizierung der Bewegungen von Zivilflüchtlingen während des Zweiten Weltkriegs stellt die AUPER-Datenbank dar, ein elektronisches Findmittel des Bundesarchivs. Die darin enthaltenen Daten stammen aus rund 45 000 Dossiers, die im Zeitraum von 1936 bis 1946 angelegt wurden und in denen Dokumente von über 67 000 Personen zu finden sind. Dabei handelt es sich zum grössten Teil um Zivilflüchtlinge und Emigranten, die im genannten Zeitraum in die Schweiz kamen und registriert wurden. Diese Flüchtlingsdossiers gehören alle zur Personenakten-Serie «Niederlassung und Aufenthalt», der sogenannten N-Serie, die von der Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) dem Bundesarchiv übergeben wurde. Von jedem Flüchtling wurden folgende Daten in die Datenbank aufgenommen: Name und Vorname, Geschlecht und Geburtsdatum, Nationalität beim Grenzübertritt und, bei verheirateten Frauen und Staatenlosen, die frühere Nationalität, die Religion, dann die Daten zur Flucht (Ort und Datum des Grenzübertritts sowie der Entscheid der Behörde über Art der Aufnahme oder Rückweisung) und schliesslich die archivalischen Daten (Eröffnungsdatum und Nummer des Dossiers sowie dessen Abschlussjahr). Allerdings ist die AUPER-Datenbank, wie im Verlauf dieser Arbeit gezeigt wird, nicht vollständig: Mehrere Zivilflüchtlinge, deren Grenzübertritt und Aufnahme belegt sind, sind dort nicht zu finden. Ausserdem enthält sie zahlreiche Schreibfehler bei Personenwie Ortsnamen und Daten, was die Recherchen erschwert.
Wichtig war für uns auch ein Konvolut von Dokumenten aus verschiedenen Quellen, die das ehemalige Interniertenheim Hotel Helvetia in Vicosoprano betreffen und uns von der Künstlerin Patricia Jegher18 und dem Historiker Marc Bundi dankenswerterweise zur Verfügung gestellt wurden.
Oft ergänzten und erhellten sich Informationen aus mündlichen und schriftlichen Quellen gegenseitig. Mehr als einmal gab es allerdings auch Divergenzen zwischen den Angaben eines oder gleich mehrerer Zeitzeugen und Archivdokumenten, die sich ihnen zuordnen liessen. Das entwertete die Angaben der Zeitzeugen jedoch nicht. Denn wertvoll ist eine mündliche Aussage nicht nur dann, wenn sie mit dokumentierten Fakten übereinstimmt. Auch Abweichungen können aufschlussreich sein, weil sich in ihnen möglicherweise Bedürfnisse, Wünsche, Ängste oder Hoffnungen der erzählenden Person offenbaren.
Im letzten Kapitel werden wir zum Beispiel den Fall eines italienischen Deserteurs schildern, der im Herbst 1942 im Bergell Zuflucht suchte und auch nach Kriegsende dortblieb. In Bezug auf seine Flucht über die Grenze widersprechen die Archivquellen den Berichten der Bergellerinnen und Bergeller und offenbaren dabei manche Mechanismen der mündlichen Überlieferung. Offensichtlich haben die eindrücklichen Schilderungen, die der Italiener später von seiner Flucht machte, die Informationen und Erinnerungen der Talbevölkerung überlagert und so einen Wandel im kollektiven Gedächtnis der Talgemeinschaft herbeigeführt. Die Erinnerung verliert in diesem Beispiel somit nicht an Wert, sondern ihr kreatives Potenzial tritt besonders deutlich hervor: Über die dokumentierten Fakten hinweg erfindet sich jemand eine eigene, «bessere» Geschichte, die als vielfach und gut erzählte zum Kern einer neuen Erinnerung werden kann.
Zuerst sollen im Folgenden die beiden Schauplätze dieser Forschungsarbeit vorgestellt werden, die zwar räumlich sehr nah beieinander liegen, aber sowohl auf geomorphologischer Ebene als auch in ihrer historisch-kulturellen Entwicklung wesentliche Unterschiede ausweisen. Was sie verbindet, ist die Tatsache, dass in beiden Regionen der Schmuggel im untersuchten Zeitraum eine ähnlich grosse ökonomische wie soziokulturelle Bedeutung gehabt hat und selbst heute noch stark im Bewusstsein der einheimischen Bevölkerung verankert ist.
Geografie und Grenzbeschreibung
Das Fextal1 ist ein Seitental auf der Südseite des Oberengadins. Die Trogform verrät, dass es vom Gletscher modelliert wurde. Das Tal erstreckt sich über zehn Kilometer von Südosten nach Nordwesten. Der teilweise vereiste Bergkamm am Talabschluss trennt den Kanton Graubünden vom Veltlin und bildet so eine Landesgrenze. Der Grenzverlauf ist weder durch Grenzsteine noch durch sonstige Markierungen gekennzeichnet.2 Er fällt mit der Wasserscheide zusammen, hält sich fast immer auf einer Höhe von 3000 m ü. M. oder sogar weit darüber und verbindet von Osten nach Westen den Piz da la Fuorcla (3398 m ü. M.), die Fuorcla Fex-Scerscen (3085 m ü. M.), den Piz Tremoggia (3441 m ü. M.), den Tremoggiapass (3014 m ü. M.), die Fuorcla dal Chapütsch (2930 m ü. M.) und den Piz Fora (3363 m ü. M.). Auf italienischer Seite ist der Abstieg von den Grenzübergängen ins Valmalenco sehr steil. Wenn man ausserdem bedenkt, dass die heute stark geschmolzenen Gletscher Tremoggia und Fex auf Schweizer sowie Scerscen auf italienischer Seite zur Zeit der vorliegenden Untersuchung noch eine beträchtliche Ausdehnung hatten, dann würde man den Schluss ziehen, dass dieses Grenzgebiet damals kaum begangen wurde. Dass dem ganz und gar nicht so war, wird im weiteren Verlauf des Textes ausgeführt.
Vom Norden nach Süden zählt das Fextal die Kleinsiedlungen Vaüglia (1910 m ü. M.), Platta, Crasta (1951 m ü. M.), Vals und Curtins (1973 m ü. M.). Hinter Curtins befinden sich der Hof Chalchais, wo zwischen 1935 und 1949 der Grenzwachtposten untergebracht war, und das Hotel Fex. Der Hügelzug des God Laret (Laretwald) riegelt das Fextal gegen die Silser Ebene ab. Die Fedacla fliesst durch das Tal und erreicht durch die Schlucht von Drög Sils Maria. Quer zum Oberengadin liegend, ist das Fextal geschützter als die 100 Meter tiefer gelegene Hochebene und hat dadurch ein milderes Klima.
Historisches und Wirtschaftliches
Diese klimatisch vorteilhafte Lage hat schon im Mittelalter dazu geführt, dass nicht nur die Bewohnerinnen und Bewohner von Sils, sondern vor allem jene des nahe gelegenen Bergells, das tief eingeschnitten ist und wenig Weidefläche bietet, zur Sömmerung des Viehs ins Fextal kamen. Mit der Zeit liessen sich einige Bergeller Familien dort nieder, wobei Aussagen über den Zeitpunkt der ersten Besiedlung aufgrund der fehlenden schriftlichen Quellen schwierig sind. Erstmals taucht der Name des Tals in einer bischöflichen Urkunde von 1303 auf. Darin ist von der «valle dicta Fedes» die Rede. Die Bezeichnung «Fedes» als Name des Tales hat dann im Laufe der Jahrhunderte noch einige Veränderungen erfahren – «Feitz» und «Feet» sind unter anderem dokumentiert –, bis etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts die heutige Namensform Fex entstanden ist. Der etymologische Kern ist dabei immer der gleiche: Er deutet, wie übrigens auch der Name des Nachbartals Fedoz, die anfängliche Dominanz des Schafs in der Viehhaltung an. Das eigentliche lateinisches Wort für Schaf ist zwar «ovis», aber im Dialekt der damaligen Bergeller Siedlerinnen und Siedler des Fextals heisst das Schaf «feda» (aus dem lateinischen «feta», das «Tier, das geworfen hat»). Das bedeutet aber nicht, dass im Fextal nur Schafe geweidet wurden, denn bereits in einer Verkaufsurkunde von 1381 werden ausdrücklich Kuhrechte erwähnt. Zu diesem Zeitpunkt bildeten die Einwohnerinnen und Einwohner vom Fex eine eigene Nachbarschaft und besassen gegenüber den anderen Nachbarschaften der heutigen Gemeinde Sils, Grevas Alvas, Baselgia und Maria, weitgehende Selbstständigkeit. Das beweist unter anderem die Tatsache, dass die Fexer Bevölkerung um 1500 den Bau einer eigenen Kirche im Weiler Crasta beschloss, obwohl nur wenige Jahre zuvor in Sils Maria die Kirche St. Michael erbaut worden war. Geschlossen allerdings traten die vier Nachbarschaften der Gemeinde Sils 1552 zum neuen Glauben über.
In seiner «Rætiæ Alpestris topographica descriptio» von 1573 berichtete Ulrich Campell von «wohlhabenden Siedlern in etwa dreissig Haushaltungen» im Fextal und lobte die dortigen «sehr ergiebigen Heuwiesen und für das Vieh üppigen Weiden».3 Die Viehwirtschaft blieb bis weit ins 20. Jahrhundert hinein der «lebenswichtigste Erwerb» der Fexer, wie noch in der «Postenorientierung» des Grenzwachtpostens Fex von 1957 gesagt wird. Dort steht aber auch: «Daneben ist die Fremdenindustrie eine wichtige Einnahmenquelle. Sils und das Fextal werden hauptsächlich im Sommer von den Fremden bevorzugt.»4
Das Fextal.
Grenzverlauf Fextal – Valmalenco.
Sils Maria mit Fextal, 1930er-Jahre.
Heuernte im Fextal, 1930er-Jahre.
Die «Fremdenindustrie» entwickelte sich in Sils ab den 1860er-Jahren, was nicht zuletzt dem berühmten Forstingenieur, Kartografen und Erstbesteiger des Piz Bernina (1850), Johann Fortunat Coaz (1822–1918), zu verdanken ist. 1851 veröffentlichte er eine erste ausführliche Beschreibung des bis dahin «den meisten […] nicht einmal dem Namen nach bekannte[n]» Fextals und seiner Schönheit. Er rühmte darin vor allem den blendend weissen Gleschter, der einem schon von Sils Baselgia entgegenleuchte, als einen der schönsten Bündens. Schon bald darauf fand das Fextal auch Eingang in Baedekers Reiseführer «Die Schweiz». In den 1870er-Jahren wurden im Tal die ersten Sommerrestaurants für die Ausflugsgäste aus St. Moritz und Sils eröffnet, einige stellten für Bergsteiger auch Betten zur Verfügung. Das Hotel Fex, das älteste im Tal, wurde um 1903 eröffnet, es folgte 1908 das Hotel Zur goldenen Sonne (heute «Sonne»).
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allerdings bremsten massive Erschütterungen die touristische Entwicklung auch im Fextal: der Erste Weltkrieg, gefolgt von der Spanischen Grippe, dann die Weltwirtschaftskrise ab 1929 und schliesslich der Zweite Weltkrieg. Gerade während dieser kritischen Phasen erstarkte, wie weiter unten ausgeführt wird, der Schmuggelverkehr im Tal, der dann gegen Ende der 1940er-Jahre immer mehr abnahm. Die touristische Wintersaison etablierte sich im Fextal, wie auch in Sils, erst ab den 1950er-Jahren.
Als zusätzliche Erwerbsmöglichkeit ist noch der Steinbruch «Cheva plattas da Fex»5 zuhinterst im Tal, oberhalb der Alp da Segl, zu erwähnen, in dem bis in die 1960er-Jahre hinein Platten aus Gneis (mineralhaltiger Glimmerschiefer) gewonnen wurden. Da dieser Steinbruch als Umschlagplatz für Schmuggelware sowie als Raststation auf den strapaziösen Schmuggelrouten zwischen Valmalenco und Fextal eine nicht unbedeutende Rolle spielt – Genaueres dazu im nächsten Kapitel –, sei hier dessen Geschichte kurz erzählt: Das Besondere an den Fexer Gneisplatten besteht darin, dass sie sich nur bei Minustemperaturen sehr fein (bis 15 mm) spalten lassen. Aufgrund der Gewichtseinsparung sind solche Platten ideal, um Dächer einzudecken. Ein früher Abbau im Gebiet der «Gianda» (Romanisch für «Geröllhalde») ist bereits für die Mitte des 19. Jahrhunderts belegt. Allerdings war es Gaudenzio Cabelli, ein nach Sils eingewanderter Dachdecker von Chiesa in Valmalenco, der 1909 zusammen mit zwei Landsleuten den Betrieb der Plattenproduktion im Fextal professionell organisierte. Die Arbeitssaison dauerte in der Regel von Ende November bis Mitte oder Ende März; später war es für das Spalten der Platten bereits zu warm. Es verwundert nicht, dass Cabelli und seine beiden Partner die Arbeiter für die «Cheva» in ihrer Heimat rekrutierten, denn die Malenker hatten eine jahrhundertelange Erfahrung in der Gewinnung und Bearbeitung von Platten aus dem einheimischen Serpentinschiefer. Die Arbeiter verbrachten vier lange Wintermonate in einer kargen Unterkunft beim Steinbruch. Nicht nur für die Betreiber der «Cheva» war diese eine Verdienstquelle, sondern auch für die Fexer Bauern: Wenn sie im Winter am frühen Morgen auf ihren Schlitten die Milch in die Silser Käserei brachten, transportierten sie auch die Steinplatten aus dem Tal. Noch im Winter 1948 hoben die Fexer Grenzwächter im Monatsrapport vom Februar hervor: «Für die einheimischen Bauern sind die Transporte der Fexersteinplatten ein wichtiger Nebenverdienst.»6 Die Bewohner des angrenzenden Valmalenco kamen jedoch nicht nur als Steinbrucharbeiter ins Fextal: Sie arbeiteten dort und in Sils auch im Bau- und Gastgewerbe, als Schreiner und, zum Teil, in der Landwirtschaft.
Das Hotel Fex. Postkarte von 1903/04.
Das Hotel Sonne Ende der 1940er-Jahre.
Ein Blick auf die andere Seite der Grenze: das Valmalenco
Die Auswanderung ins benachbarte Fextal, ins Oberengadin, aber auch in viel weiter entfernte Länder war für viele Bewohnerinnen und Bewohner des Valmalencos7 lange Zeit einer der wenigen Auswege aus der Armut. Denn dieses in den Rätischen Alpen gelegene Seitental des Veltlins, das in Sondrio (297 m ü. M.) beginnt und sich über etwa 15 Kilometer nach Norden auf den Piz Bernina (4048 m ü. M.) zu erstreckt, verlor bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts, nach dem Ende der Bündner Herrschaft über Veltlin und Valchiavenna, seine Bedeutung als kürzeste Transportroute vor allem für den Veltliner Wein, der jahrhundertelang über den Murettopass nach Graubünden gebracht worden war. Speziell die Habsburger, die nach dem Wiener Kongress die neuen Herrscher über die Provinz Sondrio wurden, erhöhten die Transitzollsätze für Wein aus dem Veltlin stark, was verheerende Folgen für das Valmalenco hatte, denn die Bündnerinnen und Bündner begannen nun, sich nach neuen, günstigeren Weinmärkten umzusehen, wie zum Beispiel dem französischen.8
Blick ins Valmalenco.
Übersichtskarte des Valmalenco.
Steinbrucharbeiter aus dem Valmalenco, erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Was neben dem Transportwesen die Ökonomie im Valmalenco jahrhundertelang prägte, waren Land- und Viehwirtschaft, ferner die Forstwirtschaft und der Bergbau – ausser Lavez wurden auch Talk, Asbest und Serpentin gewonnen. Diese Erwerbsmöglichkeiten reichten längst nicht für die ganze Bevölkerung aus. Der Tourismus entwickelte sich nur sehr langsam. Zwar tauchten bereits in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die ersten englischen Bergsteiger im Valmalenco auf, für die dann einige Hotels gebaut wurden, so etwa 1905 das Grand Hotel Malenco in Chiesa. Aber der Erste Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise brachten den Fremdenverkehr zum Erliegen. Besonders negative Auswirkungen für das Tal hatte während des Zweiten Weltkriegs die deutsche Besetzung Norditaliens ab Herbst 1943. Die zeitweilig starke Präsenz des deutschen Militärs in der Gegend bedeutete für die Bevölkerung häufige Lebensmittelkonfiszierungen und Repressalien (siehe S. 335).
In Schwung kam der Tourismus, vor allem der Wintertourismus, erst ab 1960, mit dem Bau der Skiinfrastruktur. Er wurde bald zum wichtigsten Sektor in der Ökonomie des Tals. Weitere wirtschaftliche Impulse brachte zwischen 1957 und 1969 der Bau von Wasserkraftwerken sowie die Verarbeitung von grünem Serpentin und Asbest in jetzt grösseren, semi-industriellen Dimensionen.
Während des untersuchten Zeitraums war somit der Schmuggel für die Talbevölkerung eine der ganz wenigen Alternativen zur Auswanderung.
Geografie und Grenzbeschreibung
Von der Kleinsiedlung Vaüglia im vorderen Fextal gelangt man in knapp zweistündiger Wanderung zum Dorf Maloja, das bereits zum Bergell gehört, dem zweiten Schauplatz dieses Forschungsberichts.
Mit «Bergell» wird in der Regel nur der schweizerische Teil eines Tals bezeichnet, das sich über circa 32 Kilometer Länge erstreckt, von Maloja (1812 m ü. M.) bis Chiavenna (333 m ü. M.). Das Städtchen befindet sich bereits im italienischen Gebiet, in der Provinz Sondrio. Das Tal verläuft von Nordosten nach Südwesten entlang des Flusses Maira – im italienischen Teil heisst er Mera9 – und fällt von Maloja aus in drei Stufen ab: zunächst sehr steil bis auf die Ebene von Casaccia (1458 m ü. M.), die gleichzeitig den Zugang zum Septimerpass bildet, dann auf den Talgrund von Vicosoprano (1067 m ü. M.) und Stampa (994 m ü. M.).10 Unterhalb von Stampa befindet sich die natürliche Talenge Porta, die das schweizerische Bergell in die beiden Abschnitte Sopraporta und Sottoporta trennt und gleichzeitig auch als klimatische Scheidewand wirkt: Der obere Abschnitt ist noch alpin geprägt, während in Sottoporta bereits das insubrische11 Klima dominiert, wie es auch in den Regionen herrscht, die an die grossen oberitalienischen Seen angrenzen, also rund um den Gardasee, Lago d’Iseo, Lago Maggiore, Lago di Lugano und Comersee. Charakteristisch für das insubrische Klima sind einerseits die intensiven Niederschläge, vor allem im Sommer, andererseits aber auch die vielen Sonnentage und die für die alpine Lage insgesamt relativ milden und ausgeglichenen Temperaturen. In Sottoporta liegt einer der grössten heute noch gepflegten Edelkastanienhaine Europas, der Brentan. Zu Sopraporta gehören die Ortschaften Maloja, Casaccia, Vicosoprano, Stampa und Borgonovo, zu Sottoporta Promontogno, Bondo, Soglio und Castasegna. Im Unterschied zum Fextal ist das Bergell tief eingeschnitten zwischen den Bergeller Alpen im Süden und den Rätischen Alpen im Norden. Der Mangel an Bau- und Weideflächen führte bereits im Mittelalter dazu, dass die Bergellerinnen und Bergeller den Sommer mit dem Vieh auf den Engadiner Alpen verbrachten, unter anderem, wie gesagt, im Fextal.
Ein zweiter wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Tälern besteht darin, dass das Fextal erst am Talabschluss an Italien grenzt, während die Landesgrenze im Bergell einen sehr weiten Bogen um das Tal bildet. Dieser beginnt im Nordosten und folgt der östlichen Bergeller Alpenkette zunächst in südlicher, dann in westlicher Richtung. Dabei streift er die Spitzen mehrerer Dreitausender12 sowie einige hochalpine Passübergänge,13 um dann am Übergang Bocchetta della Teg(g)iola14 dem Casnag(g)ina-Bach folgend zum Grenzort Castasegna abzufallen. Auf den Karten variieren die Schreibweisen der letztgenannten Namen. Von hier verläuft die Grenzlinie auf der rechten Talseite aufsteigend dem Bach Lovero entlang, zum Pizz Gallagiun (3107 m ü. M.) und weiter Richtung Averstal und Valle di Lei. Zwischen Monte Forno und Bocchetta della Tegiola fällt die Landesgrenze, wie im Fextal, mit der Wasserscheide zusammen. Die Frage, warum die Grenze gerade bei der Bocchetta della Tegiola diesen natürlichen Verlauf unterbricht, die Richtung abrupt ändert, den beiden unbedeutenden Zuflüssen zur Maira folgt und dadurch das Tal als geografische Einheit durchschneidet, hat bis heute keine eindeutige Antwort15 gefunden.
Bei den Grenzverläufen zwischen Fextal und Bergell auf der einen und der italienischen Provinz Sondrio auf der anderen Seite handelt es sich fast ausschliesslich um grüne, das heisst unbefestigte und nicht markierte, in der freien Natur verlaufende Grenzen.16 Aber während die Übergänge aus dem Fextal aufgrund ihres hochalpinen Charakters nur für den Fussverkehr zugänglich sind – deshalb erfolgten die Warentransporte mit Tieren und Wagen über Maloja, Val Forno, Val Muretto und Murettopass –, gehört die Strasse durch das Bergell, die die Comersee-Region über den Septimer- und den Malojapass mit dem Norden verbindet, spätestens seit der Römerzeit zu den wichtigsten Wegverbindungen der Zentralalpen. Die Grenze bei Castasegna ist eine der stabilsten und langlebigsten in Europa; deren Funktion und Bedeutung hat sich allerdings im Laufe der Jahrhunderte je nach politischer Konstellation stark verändert. Im Folgenden wird deshalb ihre Geschichte seit dem Mittelalter kurz skizziert.
Übersichtskarte des Bergells.
Grenzverlauf entlang der Bäche Casnagina und Lovero.
Blick von Maloja Kulm ins Bergell, erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Historisches und Wirtschaftliches
Ausdrücklich genannt ist die Grenze des «Gewässers des Lùer» und der «Casnasgìnä» seit 960, als Kaiser Otto I., Nachkomme Ludwigs des Deutschen, dem Bischof Hartbert von Chur, der bereits die kirchliche Macht über das obere Bergell innehatte, auch die gerichtlichen Hoheitsrechte und gräflichen Vollmachten über das Tal mit seinen bedeutenden Pässen übertrug. Das Gebiet südwestlich der beiden Bäche gehörte indessen zum Bistum Como, so dass die Grenze hier gleichzeitig zwei weltliche wie geistliche politische Einflusssphären voneinander schied.
Im Spätmittelalter emanzipierte sich das obere Bergell, wie auch das Oberengadin, nach und nach von der weltlichen Macht des Bischofs von Chur: 1367 schloss es sich dem Gotteshausbund an, der 1524 mit dem Oberen oder Grauen Bund und dem Zehngerichtebund zusammen den Freistaat der Drei Bünde bildete.
Wirtschaftlich unterhielten die Bewohnerinnen und Bewohner des Bergells auf beiden Seiten der Grenze schon sehr früh rege Beziehungen. Chiavenna bildete den Knotenpunkt, an dem sich die Handelswege über den Splügen, den Maloja- und den Septimerpass trafen. Die wichtigsten Verdienstquellen stellten für die Talbevölkerung Handel und Transportgewerbe dar. Daneben spielten im Bergell wie im Valchiavenna die Vieh-, Forst- sowie Landwirtschaft (Kastanien, Getreide, im Valchiavenna auch Wein) eine bedeutende Rolle. Zudem hatten der Abbau und die Bearbeitung von Lavezstein grosse Bedeutung, vor allem in Piuro und Chiavenna. Allerdings reichten diese Erwerbsmöglichkeiten längst nicht für die ganze Bevölkerung, so dass zahlreiche Bergellerinnen und Bergeller bereits Ende des 13. Jahrhunderts ihr Glück in Venedig, später in vielen europäischen Ländern und sogar in Übersee suchten.
Bündner Herrschaft über Valchiavenna
Der Beginn der Herrschaft der Drei Bünde über das Veltlin, Bormio und das Valchiavenna ab 1512 veränderte auch den Status der Grenze bei Castasegna: Sie trennte nun nicht mehr unterschiedliche landesherrliche Macht- und Einflussbereiche voneinander, sondern wurde zu einer verwaltungstechnischen, juristischen Demarkationslinie zwischen Herrschenden und Untertanen.
Die Verbindungen zwischen der Bevölkerung des Bergells und jener des Valchiavenna intensivierten sich in dieser Zeit unter anderem auch dadurch, dass sich einflussreiche Bergeller Familien, allen voran die Familie von Salis, in Chiavenna (aber auch in Piuro) niederliessen, um dort politische Ämter wahrzunehmen und dabei ihren Handelsgeschäften nachzugehen. Zudem wählten Bergeller aus dem Mittelstand, Handwerker und Händler Chiavenna als attraktiven Wohn- und Arbeitsort. Die Bündner gewährten auch den Untertanen im Handel eine relativ grosse Autonomie und betrieben ausserdem eine liberale Zollpolitik im Warenaustausch mit dem Ausland, mit nur geringen Zollgebühren. So zeitigte die Herrschaft der Drei Bünde für die untersuchte Region in wirtschaftlicher Hinsicht zunächst positive Folgen.
Urkunde zur Schenkung des Bergells an den Churer Bischof, ausgestellt im Jahr 960 durch Kaiser Otto I.
Der Freistaat der Drei Bünde mit den Untertanengebieten, 1620.
Konfessionelle und sprachliche Entwicklung während der Bündner Herrschaft
Auch in Glaubensangelegenheiten fielen in jene Zeit Entscheidungen, die öffnend wirkten und eine grenzüberschreitende Dynamik auslösten. Im Januar 1557 hatte ein Bundestagsabschied17 eine grundsätzliche Gleichstellung der katholischen und evangelischen Konfession für das ganze Gebiet der Drei Bünde unter Einbezug der Untertanengebiete postuliert. Bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts hatten aus ganz Italien evangelische Glaubensflüchtlinge im Veltlin, im Valchiavenna und in den Drei Bünden Schutz gefunden und dort die neuen Ideen verbreitet.18 Im Bergell setzte sich die Reformation im Laufe der 1530er- und 1540er-Jahre durch, zusammen mit der italienischen Sprache, die bereits 154619 zur Amtssprache wurde und es bis heute geblieben ist. Parallel entwickelte sich als Umgangssprache das «Bargaiot», ein Dialekt, der sowohl lombardische als auch rätoromanische Einflüsse in sich aufgenommen hat. Die gemeinsame Schrift- und die sehr ähnliche Umgangssprache stellen bis heute wichtige Brücken für den soziokulturellen Austausch zwischen der Bergeller Bevölkerung und den italienischen Nachbarn dar.20
Nach dem «Veltliner Mord», der Ermordung von rund 600 Protestanten im Veltlin im Sommer 1620,21 wurde in den Untertanengebieten das Zusammenleben von Katholiken und Reformierten äusserst schwierig. Die Bündner Herrscher mussten akzeptieren, dass im Veltlin, im Valchiavenna und in Bormio nur Katholiken leben durften. Eine Ausnahme bildeten die reformierten Bündner Amtsträger, solange sie im Amt waren, und die Besitzer von Immobilien, die sich aber nur drei Monate pro Jahr dort aufhalten durften. So änderte die Bergeller Grenze einmal mehr ihre Bedeutung und wurde zu einer konfessionellen Trennlinie zwischen dem reformierten Norden und dem katholischen Süden. Zeitgleich gilt dies auch für die Grenze zwischen Fextal und Valmalenco.
Ende der Bündner Herrschaft und Napoleon
Das Jahr 1797 markiert mit dem Ende der Herrschaft der Drei Bünde über die Untertanengebiete einen weiteren Wendepunkt in der Geschichte der Bergeller Grenze: Die Veltliner und die Bewohner des Valchiavenna vertrieben mit Hilfe Napoleons die Bündner, konfiszierten deren Besitztümer und liessen sich der Cisalpinischen Republik eingliedern. Vom «Befreier» Napoleon hatten sich die ehemaligen Untertanen die Anerkennung ihrer Autonomie erhofft. Was sie erlebten, war das Gegenteil: eine zentralistische Regierung, die gleich Landesgrenzen zog und diese streng kontrollieren liess. Diese Grenzen unterbrachen plötzlich Wege, die jahrhundertelang frei benutzt worden waren, sie verhinderten soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die in der Geschichte und Kultur dieser Gebiete tief verwurzelt waren. Die neuen, von der napoleonischen Regierung eingeführten Grenz- und Zollgesetze blieben den Menschen aus diesen Gegenden völlig unverständlich. Warum war der seit jeher kostenlose Transport von Waren, auch selbstproduzierten wie Käse oder Wein, plötzlich nicht mehr erlaubt? Vor allem die neu eingeführte teure Steuer auf das staatlich monopolisierte Salz wurde von Menschen, die hauptsächlich Viehwirtschaft betrieben und viel Salz für die Konservierung des Fleisches brauchten, als Schikane erlebt. Sie setzte den traditionellen freien Tauschgeschäften von Veltliner Wein gegen Salz aus Hall (Österreich) ein Ende. Die restriktive Steuerpolitik war die Ursache für die Entstehung des Schmuggels an den Bündner Südgrenzen um 1800. Das in dieser Arbeit untersuchte Phänomen hat also weit zurückreichende Wurzeln.
Die Habsburger und das Königreich Italien
Nach Napoleons Sturz hätten die Grossmächte am Wiener Kongress im Jahr 1815 das Veltlin, das Valchiavenna und Bormio als autonomen Kanton oder als Teil des neuen Kantons Graubünden der Eidgenossenschaft angliedern wollen. Aber die Bündner wollten die ehemaligen Untertanen nicht als Gleichberechtigte akzeptieren. So wurde die Provinz Sondrio schliesslich dem neuen Königreich Lombardo-Venetien angeschlossen, das Teil des Kaisertums Österreich wurde. Die strenge Zollpolitik der Cisalpinischen Republik wurde sowohl von den Habsburgern als auch vom 1861 proklamierten Königreich Italien weitergeführt, dem von Anfang an auch Veltlin und Valchiavenna angehörten.
Die Regierung des Königreichs erhob gleich nach ihrer Formierung hohe Steuern auf beliebte Konsumgüter wie Tabak, Schokolade und Zucker, was im 19. Jahrhundert dem Schmuggel zusätzlichen Auftrieb gab.
Die Cisalpinische Republik, gegründet im Jahr 1797.
Napoleonisches Zollgesetz von 1805.
Um den illegalen Warenverkehr über die Grenze zu bekämpfen, haben die zentralistischen Regierungen Italiens von Anfang an grosse wirtschaftliche und personelle Ressourcen eingesetzt – jedoch mit sehr geringem Erfolg, da die erwähnten zollpolitischen und sozioökonomischen Ursachen des Phänomens nicht berücksichtigt wurden. Diese gründeten vor allem in der Armut der Bergbevölkerung in den Grenzgebieten, für die der freie Warenaustausch mit den Nachbarn zuvor eine wichtige Verdienstquelle gewesen war. Die repressive Politik des Staates erwies sich sogar als kontraproduktiv, da sie die Feindseligkeit der Bevölkerung gegenüber den Behörden noch nährte und gleichzeitig den Zusammenhalt innerhalb der Dorfgemeinschaft stärkte. Dabei wurde Schmuggel, mehr oder weniger bewusst, auch zu einer Form der Rebellion gegen die ferne, als fremd empfundene Staatsmacht.
Auf politischer Ebene waren bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts Verbindungen zwischen dem Bündnerischen Bergell und dem Valchiavenna gewachsen, und zwar dank der Unterstützung, die republikanisch gesinnte Revolutionäre in ihrem Freiheitskampf gegen die Habsburger durch den nördlichen Nachbarn erfuhren. So konnten zum Beispiel die Widerstandstruppen des Revolutionärs Francesco Dolzino aus Chiavenna, als sie 1848 von den Österreichern verfolgt wurden, im Bergell Zuflucht finden.
Der Faschismus in Italien
Schwieriger wurden solche grenzüberschreitenden Beziehungen während der faschistischen Ära, die mit Benito Mussolinis Vereidigung zum Ministerpräsidenten am 29. Oktober 1922 begann. Die Schweiz achtete streng auf ihre Neutralität und betrieb eine restriktive Grenzpolitik, während auf der anderen Seite das faschistische Regime mit aller Kraft zu verhindern versuchte, dass die italienische Grenzbevölkerung Kontakte mit exilierten Antifaschisten oder mit demokratisch gesinnten Schweizern hatte. Einen Reisepass zu bekommen, wurde für Italienerinnen und Italiener sehr schwierig, auch gegen den Schmuggel ging man mit aller Härte vor. Viel höhere Geld- und Gefängnisstrafen wurden bestimmt. Ab den 1920er-Jahren wurde die italienische Staatsgrenze von drei verschiedenen militärisch organisierten Diensten kontrolliert: Guardia di Finanza, Milizia confinaria22 und Carabinieri. Ein Grund dafür war, dass die «Spalloni», wie die Schmuggler im italienischen Jargon genannt wurden,23 nicht nur Waren aller Art aus der Schweiz nach Italien brachten, sondern auch in Italien politisch Verfolgten zur Flucht in die Schweiz verhalfen. Entsprechend wurden die Strafen für die Fliehenden und deren Helferinnen und Helfer immer härter. 1926 legitimierte ein neu verabschiedetes Gesetz zum Schutz der «öffentlichen Sicherheit» den «Gebrauch von Waffen, um den illegalen Verkehr über die nicht autorisierten Grenzübergänge zu verhindern».24
Aber all diese repressiven Mittel konnten den Schmuggel nicht eindämmen, geschweige denn besiegen. Zu gross war die Not der italienischen Bergbevölkerung in den Grenzgebieten. Wenn man bedenkt, was der italienische Staat an Gefängnis- und Prozesskosten für jedes geschmuggelte Kilogramm Zucker, Kaffee oder Tabak ausgab, ohne dabei spürbare Verhaltensänderungen zu bewirken, mutet das Ganze grotesk an. Die Massnahmen dienten wohl vor allem dazu, dass Mussolinis Regime nach aussen stolz verkünden konnte, jede Form von Kriminalität und «deviantem Verhalten»25 hart zu bekämpfen.
Die Ansprüche der faschistischen Irredentismus-Politik, der zufolge Mussolini die italienischsprachigen Grenzregionen (unter Einschluss der romanischsprachigen) als «terre irredente», als «unerlöste Gebiete» betrachtete, die es der italienischen Mutternation einzugliedern galt, belastete das Verhältnis der Bergellerinnen und Bergeller zum Nachbarland: Sie fühlten sich von den Gebietsansprüchen der neuen Machthaber Italiens bedroht und wandten sich verstärkt nach Norden.
Dass die Entwicklung Italiens zu einer aussenpolitisch zunehmend aggressiv agierenden faschistischen Diktatur bei der Bergeller Bevölkerung nicht nur Ängste geschürt, sondern vereinzelt auch deren aktiven, grenzüberschreitenden Widerstand provoziert hat, beweist ein spezieller, nicht wirtschaftlich, sondern politisch motivierter Schmuggelfall, der bis nach Rom, bis ins italienische Innenministerium Wellen schlug und es deshalb wert ist, dargestellt zu werden, auch wenn er ausserhalb des in der vorliegenden Arbeit untersuchten Zeitraums liegt.
Exkurs I: Der Fall des Gaudenzio Giovanoli