Grenzenloses Glück - Emma zur Nieden - E-Book

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Emma zur Nieden

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Beschreibung

Leah Stoltzfus führt in einer amischen Gemeinde in den USA den Haushalt ihres Bruders und seiner Familie. Sie erhält einen Brief aus Deutschland und erfährt, dass die vor vielen Jahren verstoßene Tante Wanda gestorben ist und ihr ein Erbe hinterlassen hat. Das Leben in der Gemeinde ist strengen Regeln und Hierarchien unterworfen. Ihr Bruder Sam lässt Leah nur deshalb nach Deutschland fliegen, weil er sich bei Leahs Rückkehr eine große Summe Geldes erhofft. Leah ist froh, sich in Ermangelung eines verfügbaren Hotelzimmers in dem Gästezimmer der Notarin Finn Dittmer aufhalten zu dürfen. Die Welt außerhalb ihrer Gemeinde ist laut und unübersichtlich. Außerdem wird sie ob ihrer Kleidung angestarrt. Nach Leahs Akklimatisierung zeigt Finn Dittmer ihr das zu erbende Anwesen, zu dem eine Pferdezucht gehört. Leah lebt eine Woche in Wandas Haus, während die Pferdewirtin Andrea ihr das Reiten beibringt. Nach wenigen Tagen ist Leah unter Andreas Aufsicht in der Lage, kleinere Ausritte zu unternehmen. Das gefällt ihr sehr. Vom Zeitpunkt der Verlesung des Testamentes an bleiben Leah sechs Wochen Zeit, in denen sie sich entscheiden muss, das Erbe anzunehmen oder nicht. Ihre Verwirrung wird immer größer, je mehr sie mit Finn über die beiden Optionen diskutiert. Finn respektiert Leah, der allmählich klar wird, dass Sam sie in seinem Haus nur ausbeutet. Das Durcheinander in Leahs Kopf steigert sich, als sich nicht mehr ignorieren lässt, dass sie Gefühle für Finn hegt. Das Ende der sechs Wochen rückt immer näher. Wie wird Leah sich entscheiden? Wird sie zu ihrer Liebe stehen und bei Finn bleiben? Oder wird sie sich den Traditionen beugen und mit dem Geld aus dem Erbe in die USA zurückkehren, wo Sam bereits die Hand aufhält?

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Emma zur Nieden

Grenzenloses Glück

Liebesroman

© Emma zur Nieden, 1. Auflage Mai 2020

Buchcoverdesign: Sarah Buhr / unter Verwendung von Bildmaterial von Konstanttin / shutterstock sowie Petra Eckerl / Adobe StockDruck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Für diejenigen, die bereit sind, etwas Neues zu wagen

Prolog

Nach langen Stunden unerquicklichen Wachseins und einem ausgiebigen Spaziergang zum See lag Leah endlich in ihrem Bett und schlief ein, sobald sie sich die Decke über den Kopf gezogen hatte. Nachdem sie sich noch einige Male von rechts nach links gewälzt hatte, blieb sie auf der rechten Seite zusammengerollt wie ein Embryo unbeweglich liegen. Ihr Atem ging ruhig und regelmäßig.

Leah durchstreift einen undurchdringlichen Wald, der zahlreiche Hindernisse bereit hält. Ihr Kleid ist nicht die richtige Ausrüstung für diesen unzugänglichen Dschungel. Es ist nach kurzer Zeit am unteren Saum zerrissen von den dornigen Pflanzen, von denen es im Wald nur so wimmelt. Die Dornen haben es sogar durch die Ärmel geschafft, die ebenfalls zerrissen sind und blutige Risse auf Leahs Haut hinterlassen, die sofort den Stoff am Ärmel des Kleides mit Blut durchtränken. Sogar an der Stirn hat sie sich einen Kratzer geholt, der einen blutigen Striemen vom linken Haaransatz hinunter bis zur rechten Augenbraue verursacht hat.

Als Leah stehen bleibt, um kurz ein wenig Luft zu schöpfen, hört sie jemanden im Dickicht. Das Geräusch von umknickenden Zweigen kommt immer näher. Ihr Herz klopft vor Angst. Jemand folgt ihr und schließt in jeder Sekunde näher zu ihr auf. Leah will weitergehen, um tiefer in den Wald hinein zu flüchten und sich zu verstecken. Doch in ihrer großen Furcht hat sie sich in einem Dornengestrüpp verheddert. Und je mehr sie daran zerrt, desto tiefer bohren sich die Dornen in ihr Kleid und lassen sie nicht mehr los. Leah will schreien, fürchtet aber, dadurch erst recht ihre Position zu verraten. Sie atmet stattdessen heftig ein und aus und wartet vergebens darauf, dass ihr Atem und sie selbst sich beruhigen.

„Leah!“ Es ist eine Frau, die sich durch das Unterholz kämpft. „Warum läufst du denn vor mir weg?“ Ihre sanfte Stimme jagt Leah eine Gänsehaut über den Körper.

Plötzlich steht eine Leah vollkommen unbekannte Person gegenüber. Sie ist seltsam gesichtslos. Zumindest kann Leah ihr Gesicht nicht richtig erkennen. Die Frau trägt die Uniform einer Försterin mit einem Gewehr über der Schulter.

„Ich laufe gar nicht weg, wie du siehst.“ Leah zeigt auf ihren Rock, mit dem sie in dem Gestrüpp gefangen ist.

„Warte. Ich helfe dir“, flüstert die Frau. Absurderweise beruhigt sich Leahs Atem schlagartig. Die Frau legt das Gewehr ab und befreit Leah von den Zweigen, die sie nicht haben gehen lassen wollen. Leah atmet tief aus, als sie sich wieder frei bewegen kann. Dankbar nickt sie der Unbekannten zu. Diese streicht zart über Leahs Arm und berührt vorsichtig ihre Wunden. Die nächste Gänsehaut schießt ihr dieses Mal über den Arm und breitet sich über den ganzen Körper aus.

„Lass uns zum Forsthaus gehen“, schlägt die Frau vor. „Dort werde ich dir neue Kleidung geben und deine Wunden versorgen. Komm!“

Die Frau nimmt wie selbstverständlich Leahs Hand in ihre und führt sie unbeschadet aus dem Dschungel heraus, dessen Undurchdringlichkeit sich wie durch ein Wunder in der Sekunde lichtet, in der sie Richtung des Forsthauses gehen.

Als Leahs Wunden versorgt sind und sie in einer Försteruniform am Tisch sitzt, kniet die Frau vor ihr und küsst sie sanft auf ihre Lippen. Schon wieder eine Gänsehaut. Die Lippen der anderen sind so vorsichtig und zart. Leah wollte so viel mehr von dieser anderen. Ihr Herz klopft wild, doch um nichts in der Welt, hätte sie etwas anderes gewollt, als diese warmen, zärtlichen Lippen auf ihren eigenen zu spüren, die ihren Herzschlag in die Höhe treiben.

1

„Leah“, flüsterte Lilian, Schwägerin der Angesprochenen, „du häsch a Brief aus Übersee.“ Lilian sah sich vorsichtig um und griff in die Tasche ihrer Schürze, um Leah den Umschlag auszuhändigen. Diese nahm den Brief rasch an sich, formte ein lautloses „Danke!“ mit dem Mund und versteckte ihn in ihrer Schürze. Sie eilte in ihr Zimmer, um das verbotene Gut in dem abschließbaren Kästchen sicher zu verstauen, das sich in der untersten Schublade der Kommode befand. Tief vergraben in einem Berg von Unterwäsche, damit niemand es finden konnte. Den Schlüssel trug Leah an der Kette um ihren Hals, vor dem menschlichen Auge verborgen.

Die Post zu öffnen oblag bei den Amischen eigentlich dem Familienoberhaupt. Lilian musste geahnt haben, dass der Brief etwas enorm Wichtiges enthielt. Deshalb hatte sie ihn Leah übergeben, ohne ihren Mann zu informieren geschweige denn, ihm den Brief vorzulegen. Leah lebte als unverheiratete Schwester im Haus des Bruders. Das war so üblich, denn auf sich allein gestellt war niemand in der amischen Gemeinde, sondern lebte in einer familiären Gemeinschaft. Wenn Leah eine eigene Familie gehabt hätte, hätte sie in ihrem eigenen Haus gewohnt.

Für die Kost und Logis, die ihr Bruder ihr gewährte, war Leah nahezu rund um die Uhr im Einsatz: Sie half im Haushalt, sah den Kindern bei den Schulaufgaben über die Schultern und arbeitete regelmäßig im Geschäft ihres Bruders. Ihr Bruder Sam hatte vor ein paar Jahren den Möbelladen von Lilians Eltern übernommen. Die Touristen kamen scharenweise nach Shipshewana, um sich mit den handwerklich kostbaren Kleinoden zu versorgen, die vor Ort hergestellt wurden. Ein besonders bequemer Schaukelstuhl aus Sams Schreinerei zum Beispiel war das beliebtestes Stück in der Auslage, das wegging wie die warmen Semmeln am Frühstückstisch, die Leah sonntags selber backte.

Sam fertigte Möbel aller Art an. Er hatte sich sogar auf die modernen Wünsche seiner Kunden eingestellt, obwohl er selbst ein mehr als konservativer Mensch war und darauf achtete, dass in seinem Haus alles nach den althergebrachten Regeln und Traditionen ablief. Dazu gehörte es, den Überblick über die Angelegenheiten im Haus zu haben. Deshalb setzte er sich jeden Abend nach der Arbeit in seinen selbst gefertigten Schaukelstuhl und nahm sämtliche Briefe in Augenschein, die Lilian in der Postsammelstelle abholte, die die Amischen eingerichtet hatten, damit so wenig Unbefugte wie möglich ihr Gelände betraten. Dennoch waren sich Leah und Lilian unausgesprochen einig darin, dass Sam nicht unbedingt alles wissen musste. Einen Brief aus Übersee, der an Leah gerichtet war, musste Sam nicht unbedingt zu Gesicht bekommen.

Leah hatte noch einige Vorbereitungen für das Mittagessen zu treffen, bevor die Familie sich zu Tisch setzen konnte, um die gemeinsame Mahlzeit einzunehmen. Danach würde Leah endlich das an sie gerichtete Schreiben lesen können. Ohnehin geisterte die Frage nach dem Inhalt des Briefes ständig in ihrem Kopf herum, dass sie sich beinah beim Gemüseschneiden mit dem Messer geschnitten hätte.

Nach dem Essen erledigte sie die anfallenden Arbeiten in besonderer Schnelligkeit – ließ dennoch Sorgfalt walten –, damit ihr in der Mittagspause genügend Zeit blieb, den Brief zu lesen, bevor sie mit dem Rad ins Geschäft fuhr, um die Spätschicht zu übernehmen.

Sie saß an dem kleinen Schreibtisch in ihrem Zimmer und betrachtete den Umschlag, der einen offiziellen Eindruck machte und in Hamburg abgestempelt war. War das nicht eine Stadt in Deutschland? Mit zitternden Händen öffnete Leah ihn.

Sehr geehrte Frau Stoltzfus,

ich möchte Ihnen mein aufrichtiges Beileid zum Tod Ihrer Tante Wanda Stoltzfus aussprechen.

Ihre Tante hat Ihnen ein nicht unbeträchtliches Vermögen hinterlassen. Daher bitte ich Sie, Kontakt mit mir aufzunehmen, um alles Weitere in die Wege zu leiten.

Mit freundlichen Grüßen

Josefine Dittmer

Notarin

Leah klopfte das Herz bis zum Hals, als sie das Blatt in ihren Schoß legte. Sie war erschüttert. Tante Wanda war tot. Ihre Lieblingstante. Leah schloss die Lider und ließ eine Szene vor ihrem inneren Auge entstehen. Tante Wanda hatte sie in ihren Armen gehalten und ihr einen Abschiedskuss auf die Wange gedrückt.

„Bitte geh nicht!“, hatte sie die Tante regelrecht angefleht. Die Tränen in den Augen hatten ihren Blick verschleiert.

„Ich kann nicht bleiben, Leah. Es tut mir leid.“ Wandas eigene Tränen jedenfalls hatten Zeugnis davon abgelegt, dass die Tante selbst sehr traurig über ihre Abreise gewesen sein musste. Weshalb fuhr sie dann überhaupt? Leah hatte damals die Welt nicht mehr verstanden. Und der Weggang ihrer einzigen Verbündeten hatte ihr für eine sehr lange Zeit den Boden unter den Füßen weggerissen. Das Leben ohne ihre Tante war nicht mehr dasselbe gewesen.

„Aber warum nicht? Hast du mich nicht mehr lieb?“ Leah erinnerte sich, dass sie herzzerreißend geweint hatte und die Tante gar nicht mehr hatte loslassen wollen. Sie hatte sie vermisst, bevor sie überhaupt losgefahren war.

Wanda hatte die Umarmung schließlich gelöst und Leah traurig angeschaut. „Das darfst du niemals denken, hörst du, Leah. Du bist wie die Tochter für mich, die ich nie hatte.“

Leah konnte sogar jetzt noch spüren, wie Wanda ihr damals liebevoll durchs Haar gestrichen hatte. Ein ebenso beschützende wie wehmütige Geste.

„Ich habe dich sehr lieb, Leah. Ich muss die Gemeinde verlassen. Vielleicht fragst du deinen Bruder. Der weiß, was passiert ist. Er wird es dir erklären, wenn du alt genug bist, das Vorgefallene zu verstehen.“

Mit tränennassem Gesicht hatte Wanda Leahs Zimmer verlassen. Leah konnte die Kutsche wegfahren hören, die die Tante zum Bahnhof bringen würde. Damals hatte sie sich auf ihr Bett geworfen und stundenlang bitterlich über den Verlust geweint. Tante Wanda war die einzige in der Familie gewesen, die ihr Geborgenheit gegeben hatte. Die Tante hatte sie geliebt, und Leah hatte Wanda geliebt. Der Verlust dieses über alles geliebten Menschen hatte eine tiefe Wunde in Leah hinterlassen, die nie komplett verheilt war. Von dem Moment an hatte Leah sich allein gefühlt, obwohl immer Menschen um sie herum gewesen waren. Es war jedoch niemand dabei gewesen, der sie liebevoll in den Arm genommen, geschweige denn ihr eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen hätte. Niemand in ihrem Elternhaus hatte sie so geliebt wie Wanda. Fortan hatte Leah keine einzige Person mehr an sich herangelassen und einen Schutzwall um ihr Herz errichtet, der bislang nicht zum Einsturz gebracht worden war.

Leah lag zusammengerollt auf ihrem Bett. Die äußerst lebendige Erinnerung hatte sie zu Tränen gerührt. Sie würde also ihre Tante nie mehr wiedersehen. Was der Grund für diese überstürzte Abreise vor vielen Jahren gewesen war, hatte sie bislang noch nicht in Erfahrung bringen können. Ihr Bruder hatte sie angefahren und ihr zu verstehen gegeben, dass sie das alles nichts anginge, als sie zaghaft versucht hatte, die genaueren Umstände von Tante Wandas Weggang zu erfahren.

Als sie das letzte Mal nachgefragt hatte, hatte Sam sie dermaßen angeschrien und ihr gedroht, sie des Hauses zu verweisen, dass es wahrscheinlich Jahrzehnte dauern würde, bis sie sich erneut nachzufragen traute.

Ob sie nun endlich herausfinden würde, was damals vorgefallen war? Würde die Notarin darüber Bescheid wissen, wenn sie sie traf, um ihr Erbe anzutreten? Leah erschrak. Das Erbe anzutreten bedeutete, nach Europa zu fliegen. Das würde Sam ihr nie und nimmer erlauben. Aber wenn Tanta Wanda ihr eine große Summe Geld vererbt hatte, würde der Bruder diese als seinen Besitz erachten und Leah vielleicht gehen lassen.

Das Familienoberhaupt der Amischen regelte alle Angelegenheiten der Familie, auch die finanziellen. Leah besaß kein eigenes Geld. Wenn sie etwas benötigte, musste sie ihren Bruder darum bitten. Nein, sie musste ihn regelrecht anbetteln, ihr etwas Geld zu geben, weil er wie eine Hyäne über sein Geld wachte. Und wenn sie nur neue Unterwäsche brauchte, rutschte sie fast auf den Knien vor ihm herum. Die Habgier des Bruders würde es ihr ermöglichen, nach Deutschland zu reisen. Leah sah in die Ferne. Einmal herauskommen aus dieser Tretmühle. Das wäre schön, obwohl der Anlass ein trauriger war. Ein sehr trauriger. Leahs Herz klopfte bis zum Hals. Sie würde nach Europa fliegen. Eine vorsichtige Vorfreude machte sich in ihr breit.

Als Leahs Trauer etwas nachließ und die Tränen versiegt und getrocknet waren, wurde ihr bewusst, dass nun ein nahezu unmöglich zu lösendes Problem auf sie zukam. Wenn sie mit der Notarin Kontakt aufnehmen wollte, musste sie wohl oder übel ihren Bruder einweihen. Das einzige Telefon, das zur Verfügung stand, hing im Geschäft. In ihrem privaten Bereich verzichteten die Amischen auf derlei Dinge wie Elektrizität oder anderen Luxus. Ihre Art zu leben hatte sich kaum verändert, seit die ersten Amischen sich in Indiana niedergelassen hatten.

Leah würde das Telefon im Laden nicht benutzen können, ohne dass es auffiel. Ihr Bruder kontrollierte jedes Gespräch und ließ sich akribisch jeden einzelnen Posten auf der Telefonrechnung erklären. Ohne sein Wissen würde sie niemals nach Deutschland telefonieren können. Außerdem würde Leah ja nach Deutschland reisen müssen, um das Erbe entgegen zu nehmen. Wenn Sam es ihr erlauben sollte, konnte sie sich nur auf eine größere Summe Geldes als ihr einziges Argument berufen.

Am nächsten Abend erledigten Leah und ihre Schwägerin den Abwasch gemeinsam, was selten genug vorkam. Leah durchschaute die Absicht dahinter. Lilian wollte wissen, was in dem Brief stand, denn sonst hielt sie sich bei der Arbeit dezent zurück. Sam war unterwegs zur monatlich stattfindenden Gemeindeversammlung, so dass sie beide nichts zu befürchten hatten, wenn sie offen über den Brief redeten. Lilian trocknete den letzten Teller ab und stupste Leah in die Seite.

„Was war denn des für a geheimnisvoller Brief geschtern?“, wollte sie wissen.

Leah hatte die Frage bereits erwartet, weil sie die unermessliche Neugier der Schwägerin kannte. Aber Leah war darauf vorbereitet.

„Darüber möchte ich nichts sagen.“ Sie musste sich zuerst selbst darüber klar werden, was genau sie wollte, bevor sie Lilian und Sam von dem Brief und dessen Inhalt erzählte. Im Laufe des Tages war Leah klar geworden, dass sie ihren Bruder über die Existenz des Briefes in Kenntnis setzen musste. Ihn nicht einzubeziehen würde bedeuten, Heimlichkeiten zu haben. Heimlichkeiten gab es unter den Amischen einfach nicht. Ohne das Einverständnis des Bruders würde sie weder das Telefon im Laden benutzen noch die unvermeidliche Reise nach Europa antreten können. Und den Zorn des Bruders wollte sie sich auf keinen Fall einhandeln. Das Leben in Sams Haus war auch so schon schwer genug. Sie konnte sich ausrechnen, dass es mit ihrer inneren Ruhe vorbei wäre, wenn sie nicht von ihrem Erbe erzählte und stattdessen auf eigene Faust versuchte, eine Reise zu organisieren. Das konnte sie vergessen. Ohne ihren Bruder zu informieren würde sie sich nicht einen Millimeter vom Haus des Bruders wegbewegen können.

Sollte Leah tatsächlich nach Europa fliegen dürfen, würde das eine Menge Aufsehen erregen in der kleinen Gemeinde, in der sie lebte. Um die Schwägerin und deren Neugier etwas zu besänftigen, bot sie an, sie als erste über den Inhalt des Briefes und ihre Pläne zu informieren, sobald sie selber hundertprozentig sicher war, wie sie vorgehen wollte. Einstweilen gab Lilian sich zufrieden und flüsterte ihr zu, dass sie sie nicht verraten würde. Immerhin etwas.

Eine gesichtslose Frau kommt unvermittelt auf sie zu. Eng anliegende Jeans und ein offenherziges Dekolleté erregen Leahs Aufmerksamkeit. Die Fremde steht dicht vor ihr. Leah kann ihren Atem auf ihrer Haut spüren. Die andere verbreitet einen leicht ledrigen Geruch, als trage sie einen Ledermantel oder etwas Ähnliches. Leah liebt diesen Duft. Aug in Aug steht sie der Frau gegenüber, die immer näher kommt, Leahs Hüften anfasst und sie zu sich zieht. Leah schließt die Augen. Sie spürt die fremden Lippen auf ihren, öffnet ihren Mund, lässt die andere Zunge ein. Leah spürt ihr Herz hart gegen ihren Brustkorb hämmern. Zaghaft kommt sie der Zunge entgegen, spielt mit ihr, neckt sie. Die andere zieht sich zurück, lockt Leah in ihren eigenen Mund. Die Zungen tanzen zuerst vorsichtig miteinander, bevor sie wilder werden. Leahs Herzschlag scheint zu explodieren. Ihr gefällt das ungestüme Spiel ihrer Zungen. Leah spürt warme Hände an ihrem Rücken. Trotz des Korsetts brennen die Finger der Fremden auf ihrer Haut. Der Reißverschluss ihres Kleides wird geöffnet, doch bevor die Fremde ihre Finger tatsächlich auf ihre brennende Haut legen kann, kreischt draußen ein Käuzchen.

Leah erwachte schweißgebadet. Sie setzte sich auf und reichte mit ihrer Hand hinunter zu ihrer Scham. Ihr Höschen war vollkommen durchnässt. Das war ihr zuletzt in ihrer Teenagerzeit passiert, als sie das letzte Mal denselben erregenden und geheimnisvollen Traum geträumt hatte. Warum schlich er sich so unvermittelt wieder in ihren Schlaf?

Leah stand auf und wusch sich an dem Waschbecken ihres Zimmers die Hände. Weil sie ohnehin nicht hätte schlafen können, machte sie einen Spaziergang. Leise öffnete sie die Tür, die ein wenig knarzte. Doch niemanden würde das stören. Ihre Familie wusste, dass sie hin und wieder nächtliche Spaziergänge unternahm. Die frische, aber klare Luft tat gut, und in der Dunkelheit konnte niemand sie erkennen, falls der unwahrscheinliche Fall eintrat, jemandem zu begegnen.

2

Leah war reichlich nervös, als sie am Tisch im Esszimmer Platz nahm. Sie hatte die Kinder ins Bett gebracht. Während sie Luke und Suzy die Gute-Nacht-Geschichte vorlas, hatte sie unwillkürlich an Tante Wanda denken müssen, die ihr die schönsten ausgedachten Geschichten erzählt hatte, an die Leah sich erinnern konnte. Sie hatte Bruder und Schwägerin gebeten, auf sie zu warten, weil sie etwas Wichtiges mit ihnen zu besprechen hatte. Man ging im Haus früh ins Bett. Die Nacht war um fünf Uhr morgens beendet. Da vor allem körperliche Arbeiten den Alltag beherrschten, brauchte jeder seinen Schlaf. Außerdem galt es, in den Wintermonaten Gas und Talg zu sparen. Leah rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum. Sie räusperte sich und nestelte an der Tasche ihrer Schürze, um den Brief auf den Tisch zu legen.

„Wo kommt denn der Brief plötzlich her?“ Sams Ton war vorwurfsvoll. Es war ihm anzuhören, dass er sauer war, weil er offensichtlich nichts von dieser Post wusste, die die Schwester erhalten hatte. Er war offensichtlich übergangen worden. Ein böser Blick traf seine Frau. Lilian senkte die Lider, sprach dennoch mit ihm: „Nicht so laut, Sam.“ Sie legte ihrem Mann die Hand auf den Arm. „Die Kinder schlafen schon.“

Bevor ihr Bruder weitere Vorwürfe machen konnte, erzählte Leah ihm, dass Tante Wanda gestorben war und ihr etwas vererbt hatte. Sie händigte Sam den Brief aus, damit er ihn lesen konnte. Ihr Bruder lief rot an, als er den Inhalt erfasst hatte. „Normalerweise erbt die männliche Linie alles.“

Ein stiller Vorwurf an die tote Tante. Leah vermutete, dass sie vielleicht wegen der streng vorgegebenen Strukturen der Amischen, die alle Macht für die Männer vorsah, vor vielen Jahren hatte gehen müssen.

„Es wird einen Grund geben, warum ich die Erbin bin“, sagte Leah. „Du hast mir nie erzählt, was damals vorgefallen ist, als Papa Wanda hinausgeworfen hat.“

Leah sah ihren Bruder erwartungsvoll an. Endlich wagte sie einmal die Frage laut auszusprechen, die sie seit Jahren beschäftigte. Sie wollte endlich wissen, was damals passiert war. Leah war sich darüber im Klaren, dass sie Sam mit Geld bestechen konnte. Außerdem konnte sie sich genau erinnern, dass ihr Vater sämtliche Entscheidungen, die in der Familie zu treffen waren, mit ihrem Bruder besprochen hatte, der schon als Mann galt, während Leah selbst einige Jahre jünger war und als Mädchen ohnehin nichts zu sagen hatte. Sam verschränkte seine Arme vor der Brust. Er würde ihr noch immer die Wahrheit verweigern, eisern darüber schweigen, warum ihr Vater Tante Wanda des Hauses verwiesen hatte. Umso entschlossener war Leah, ihren Plan in die Tat umzusetzen, nach Europa zu fliegen.

„Mich wundert es nicht, dass ich die Erbin bin“, stellte Leah selbstbewusst fest. Sie gab ihrem Bruder damit zu verstehen, dass sie eine Ahnung hatte, weswegen die Tante vor dreißig Jahren die Gemeinde hatte verlassen müssen. „Damit ich das Erbe antreten kann, muss ich mit der Notarin telefonieren.“

„Du erbst gar nichts.“ Erzürnt sah Sam sie an. Seine Augäpfel waren blutunterlaufen. Er hatte seine Arme gelöst, sich erhoben und mit der Faust auf den Tisch gehauen, auf dem er sich nun aufstützte und sich bedrohlich zu Leah herüberbeugte. Voller Hass sah er auf Leah hinab. Diese ließ sich von seiner Drohgebärde nicht einschüchtern. Einen solchen Hass hatte sie noch nie in seinen Augen gesehen. Galt er ihr oder Tante Wanda? Leah würde nicht zurückweichen, sondern entschlossen für das Geld kämpfen oder was auch immer sie erbte. Sie war nicht sicher, woher plötzlich ihre Kampfeslust kam.

„Du wirst das Erbe nicht ohne mich bekommen“, blieb Leah sachlich und hielt mutig dem Blick des Bruders stand. Ihre Entschlossenheit berief sich auf die Tatsache, dass in Deutschland andere Gesetze galten als bei den Amischen. Das wusste auch ihr Bruder, der sie einzuschüchtern versuchte mit seinem Affengehabe.

„Tante Wanda hat mir etwas nach deutschem Recht vererbt. Da laufen die Dinge anders als bei uns in Indiana“, hielt Leah ihrem Bruder mit fester Stimme entgegen.

Sam muffelte etwas Unverständliches. „Gut, dann rufst du morgen vom Laden aus an. Ich stehe daneben und höre ebenfalls, was die Notarin zu sagen hat“, befahl er.

Leah atmete lang aus. Ihr fiel ein Stein vom Herzen, dass ihr Bruder das Telefongespräch nicht nur erlaubte, sondern es sogar selbst vorgeschlagen hatte. Es war offensichtlich, dass er auf das Erbe spekulierte. In der Amisch-Gemeinde erbten Frauen unter normalen Umständen keinen Cent. Leah wusste, sie würde ihrem Bruder alles abgeben müssen, was Tante Wanda ihr vererbt hatte. Sie fragte sich, was die Tante im Sinn gehabt hatte, als sie das Testament geschrieben und sie als Erbin eingesetzt hatte. Die Tante hatte genau gewusst, dass Sam alles an sich reißen würde, wenn Leah ihr Erbe antrat. Oder verbarg sich eine geheime Botschaft hinter der Erbschaft? Je länger Leah darüber nachdachte, desto mehr Fragen taten sich auf.

Ihr Bruder baute sich vor Leah auf wie ein Gorillamännchen, das sein Territorium verteidigen wollte. Tante Wanda hatte ihr mal ein Bilderbuch geschenkt, das sich mit dem Leben von Gorillas befasste. Ihr Bruder wollte ihr wahrscheinlich verdeutlichen, dass alles, was Leah erben würde, ohnehin ihm allein gehörte.

„Um das Erbe anzunehmen, musst du sicher nach Europa fliegen. Ich komme mit“, bestimmte er.

Das fehlte gerade noch. „Ich fahre allein“, teilte Leah mit großem Nachdruck in der Stimme mit. „Sonst gibt es kein Erbe.“

Sam schien zu überlegen, bevor er einlenkte. „Also gut“, ließ er verlauten. „Aber du zahlst die Kosten für den Flug und alle weiteren Auslagen auf Heller und Pfennig zurück.“ Er drehte sich um und folgte seiner Frau, die bei den ersten Anzeichen von Streit das Schlafzimmer aufgesucht hatte. Bevor er die Tür schloss, schaute er noch einmal zurück und sagte: „Das Erbe wird nicht angetastet, nur dass wir uns da richtig verstehen. Du stotterst den Flug von deinem Verdienst in meinem Laden ab.“

Ohne Leah die Möglichkeit einer Antwort zu geben, darauf hinzuweisen, dass sie keinen müden Cent für ihre Arbeit bekam und ihn zu fragen, von welchem Lohn sie ihm das Geld dann zurückzahlen sollte, verschwand er im Schlafzimmer.

Leah war den Tränen nahe. Es war so ungerecht, dass sie etwas erbte, aber nicht über das Erbe verfügen können sollte – zumindest, wenn sie der amischen Gemeinde weiterhin treu bliebe. Ein Gedanke blitzte in ihrem Kopf auf, der so schnell wieder verschwunden war. dass Leah ihn nicht zu fassen bekam. Entschlossenen Schrittes machte sie sich auf den Weg in ihr eigenes Schlafzimmer.

In der Nacht träumte Leah von Tante Wanda. Die Tante hatte Leah auf einen Ausflug mitgenommen. Leahs Vater war ganz gegen seine Gewohnheit so großzügig gewesen, seiner Schwester zu erlauben, die Kutsche zu benutzen, um nach Shipshewana zu fahren – eine einmalige Ausnahme, wie er besonders betont hatte. Der Ort war zwar gut zu Fuß zu erreichen, aber Wanda wollte Leah eine Freude machen und ihr etwas Besonderes bieten. Die Kutsche wurde normalerweise angespannt, um beim Kirchgang mit dem Araber anzugeben.

In Shipshewana besuchten Tante Wanda und Leah den Flohmarkt, der ein reichhaltiges Angebot feilbot. Leah staunte und bekam immer größere Augen je länger sie von Stand zu Stand schlenderten. Als Krönung des Tages spendierte Tante Wanda ihr einen Eisbecher in der Einkaufsmeile. Zum Abschluss machten sie mit der Kutsche noch einen kleinen Umweg, bevor sie den Weg nach Hause einschlugen. Leah durfte die Zügel halten. Sie war selig. Wenn sie mit ihrer Tante allein war, fühlte sich das Leben ganz anders an als mit ihrer Familie. Vollkommen zwanglos und ohne ein schlechtes Gewissen.

Als Leah am nächsten Morgen erwachte, wurde ihr plötzlich bewusst, dass Zeit mit ihrer Tante zu verbringen bedeutet hatte, nicht bevormundet zu werden. Wanda hatte sie wie eine gleichberechtigte Person behandelt, obwohl sie doch nur die kleine Nichte war, die in der Rangliste der Familie ganz unten stand, noch hinter Diver, dem Hund der Familie. Wanda hatte Leah ernst genommen und ihr geholfen, wenn sie einmal ein Problem in der Schule hatte oder sich nicht mit den Nachbarsjungen verstand. Und sie hatte ihr beigestanden, wenn der Vater sie wegen etwas ausschimpfte, das sie nicht verschuldet hatte. Manchmal war ihm sogar die Hand ausgerutscht. Wanda hatte sie in solchen Fällen stets mit in ihr Zimmer genommen, sie umarmt und sie getröstet. Leah seufzte. Tante Wandas Nähe hatte sie immer als tröstend empfunden.

Das Schönste war, wenn Tante Wanda sie in die Arme genommen und Leah sich an sie geschmiegt hatte. Bei ihr hatte sie sich geliebt und als Person angenommen gefühlt. Wenn ihre Eltern in der Nähe waren, hatte sie immer das Gefühl gehabt, überhaupt nicht existent zu sein. Sie hatte sich immer gewünscht, Tante Wanda wäre ihre Mutter. Eine Träne stahl sich aus ihren Augen, als Leah sich daran erinnerte, wie warm sie sich bei Wanda umhüllt gefühlt hatte. Nur bei ihr war sie vollkommen gut aufgehoben gewesen. Tante Wanda hatte sie stets spüren lassen, wie sehr sie Leah liebte. Mit ihr hatte sie sich rundum wohl gefühlt.

Als Tante Wanda Hals über Kopf abgereist war, war für Leah die Welt zusammengebrochen. Tagelang hatte sie sich in ihr Zimmer verkrochen und auf ihrem Bett geweint. Sie war acht Jahre alt gewesen, als Wanda weggegangen war. Niemand hatte ihr je erklärt, was vorgefallen war. Es musste etwas passiert sein, dass der Familie nicht mehr erlaubte, Wanda bei sich zu haben. Dessen war sich Leah im Laufe der Jahre immer sicherer geworden. Was das aber gewesen sein mochte, darüber schwieg die Familie beharrlich. Vielleicht würde Leah es endlich von der Notarin in Deutschland erfahren. Das würde auch erklären, warum ihr Bruder so schroff gewesen war, als er vom Tod der Tante und dem Testament gehört hatte. Trauer hatte Leah in seinem Blick nicht gesehen. Höchstens Verachtung.

Seit sie aufgestanden war, war Leah so aufgeregt gewesen wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Selbst während der Abschlussprüfungen in der Schule nicht. Mit zitternder Hand wählte sie nun die Nummer, die am unteren Rand des Briefbogens abgedruckt war. Sam stand neben ihr und raunte ihr zu, jeden verdammten Dollar zurückzuverlangen, den sie bei dem Gespräch verplemperte. Das wusste Leah ja bereits. Er sollte sie gefälligst in Ruhe das Gespräch führen lassen.

„Notariat Dittmer. Schneider, guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“

Leah räusperte sich. „Guten Tag. Hier spricht Leah Stoltzfus aus Indiana. Ich möchte gern Frau Josefine Dittmer sprechen.“ Den Text hatte Leah stundenlang vor dem Spiegel eingeübt. Sie sprach in ihrem besten Hochdeutsch, damit man sie in Deutschland verstehen konnte. Durch die Worte „Ich verbinde“ nahm sie befriedigt zur Kenntnis, dass ihr Deutsch offensichtlich den Anforderungen genügte.

„Dittmer am Apparat. Frau Stoltzfus, ich freue mich, von Ihnen zu hören. Augenscheinlich hat mein Schreiben Sie erreicht.“ Eine dunkle Stimme drang durch den Hörer und jagte Leah eine Gänsehaut über den Rücken. Diese Stimme klang viel jünger, als sie bei dem Namen erwartet hatte. Alle Frauen, die in ihrer amischen Gemeinde Josefine hießen, waren über siebzig. Sie grinste in sich hinein. Vorurteile waren eigentlich nicht ihre Art. Leah räusperte sich, sonst hätte ihre Stimme versagt, denn die Aufregung hatte sich inzwischen vervielfacht.

„Sie schreiben, dass Tanta Wanda gestorben ist und dass ich etwas erbe“, kam sie gleich zum Punkt.

„Ja, das stimmt. Ich möchte Ihnen mein Beileid nun persönlich aussprechen.“ Es gefiel Leah, dass die Notarin ein persönliches Wort an Leah als Wandas Nichte richtete.

„Danke“, flüsterte Leah. Sie schluckte ihre Tränen herunter. Sie würde sich in Sams Gegenwart nicht die Blöße geben und einen Heulkrampf bekommen. Außerdem hatte sie mit Frau Dittmer zu klären, wie es nun weitergehen sollte.

Als hätte die Notarin Leahs Gedanken gelesen, kam sie ohne weitere Worte zu verlieren zum Wesentlichen. „Ich möchte Ihnen keine Auskünfte über das Telefon geben. Nur so viel: Sie können ein erhebliches Erbe entgegennehmen. Alles Weitere besprechen wir am besten vor Ort in Hamburg. Ist es Ihnen möglich, nach Deutschland zu reisen?“

Sam entriss seiner Schwester den Hörer. „Wir brauchen Geld für den Flug, sonst kann Leah nicht kommen.“ Er schrie, als könnte man ihn sonst nicht bis Europa hören. Augenscheinlich hatte er es sich anders überlegt und wollte Leah das Geld für den Flug nicht vorstrecken. Doch Leah war sich sicher, er würde selbst die geringsten Auslagen zurückverlangen, wenn sie nur erst mit dem Erbe zurück in Indiana war. Und dass er so gut Hochdeutsch sprach wie sie selbst, überraschte sie sehr.

„Ich bin nicht befugt, mit jemandem außer Frau Leah Stoltzfus zu sprechen.“

Leah hörte mit Genugtuung die geschäftsmäßige Stimme der Notarin, die Sam gleich in seine Schranken wies und es ablehnte, auch nur ein Wort mit ihm als Unbefugtem zu wechseln. Die Frau ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Die Notarin war Leah zweifellos schon jetzt sympathisch, obwohl sie sie gerade mal drei Minuten kannte, wenn man überhaupt von kennen sprechen konnte. Mit ihr selbst hatte Frau Dittmer viel sanfter geredet als mit Sam. Wahrscheinlich hatte sie seine Habgier bereits durch das Telefon gespürt. Wütend überreichte Sam den Hörer zurück an Leah und versprühte Gift mit seinem Blick in ihre Richtung.

„Frau Dittmer? Ich bin wieder am Apparat“, informierte sie die Notarin.

„Ich schicke Ihnen ein Flugticket per Eilboten zu. Gibt es einen speziellen Termin, für den ich den Flug buchen soll?“, kam die Notarin zur Sache.

„Nein. Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht fliegen könnte.“ Leah konnte die Aufregung in ihrer Stimme nicht verbergen. Sie würde die Gemeinde verlassen. Sie würde nach Europa fliegen. Sie würde die Welt kennen lernen.

„Gut, dann buche ich für nächste Woche einen Flug.“ Frau Dittmer schien sich etwas zu notieren. Leah hörte einen Stift über Papier fahren. „Ich habe bereits recherchiert, dass der Flughafen in South Bend der nächste von Shipshewana aus ist. Das sind etwas über vierzig Meilen. Die anderen beiden sind weiter entfernt.“

Frau Dittmer legte eine Pause ein. Vielleicht wollte sie Leah Zeit geben, diese Informationen aufzunehmen. Leah hatte keinen blassen Schimmer, wo South Bend war, geschweige denn, wie sie über vierzig Meilen bewältigen sollte. Sie war noch nie weiter als bis zur Shopping-Meile in Shipshewana gekommen.

Als hätte die Notarin wiederum ihre Gedanken gelesen, fragte sie: „Können Sie irgendwie dorthin gelangen?“ Leah war ratlos. Sie sah fragend zu ihrem Bruder, der den Hörer übernahm.

„Hören Sie, Miss“, schrie er hinein. In Leahs Gedanken hielt die Angesprochene das Telefon weit von ihrem Ohr weg, um es vor diesem Gebrüll zu schützen. Sie unterdrückte ein Grinsen. „Ein Freund von mir hat Auto fahren gelernt. Wir könnten im nächsten Ort einen Wagen mieten, aber das kostet.“

Frau Dittmer schien zu überlegen. Leah konnte ihren Vorschlag hören. „Geben Sie mir Ihre Kontonummer. Ich überweise Ihnen die erforderliche Summe, und Sie können die Reise Ihrer Schwester in die Wege leiten.“ Als die Leitung still blieb, schob sie nach: „Haben Sie verstanden?“ Sam muffelte ein „Ja“ in den Hörer und gab seine Kontoverbindung durch.

„Geben Sie mir Leah bitte noch einmal.“ Die Notarin ließ keinen Zweifel daran, dass ihre eigentliche Gesprächspartnerin Leah war. Gehorsam übergab Sam seiner Schwester den Hörer.

„Leah? Sind Sie da?“

„Ja“, antwortete Leah mit dünner Stimme.

„Ich sende Ihnen so bald wie möglich ein Ticket zu. Ihrem Bruder überweise ich Geld, damit Sie zum Flughafen fahren können. Ich nehme Sie am Flughafen in Hamburg in Empfang. Ich freue mich auf Ihren Besuch.“

„Vielen Dank und auf Wiedersehen.“ Den Gruß der Gesprächspartnerin konnte Leah nicht mehr hören. Ihr Bruder hatte ihr den Hörer förmlich aus der Hand gerissen und ihn auf die Gabel geknallt. „War schon teuer genug.“

„Du bekommst alles zurück.“ Leah drehte sich um und verließ das Geschäft. Aufgeregt radelte sie zum Haus ihres Bruders zurück, um sich in ihrem Zimmer einzuschließen und sich ihr Gespräch mit der sympathischen Frau Dittmer noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.

3

Der Tag hatte bereits turbulent begonnen. In Hektik war der Wagen mit den drei Insassen letztendlich knapp vor dem Abflug in South Bend angekommen. Es hatte nicht alles so reibungslos funktioniert, wie Sam es angekündigt hatte. Er und sein Freund hatten Leah mit dem vom Nachbarn geliehenen Trolley – sie hatte nur das Nötigste für höchstens eine Woche eingepackt – mehr schlecht als recht vor dem Terminal abgeliefert. Der Freund konnte entgegen aller Beteuerungen überhaupt nicht Auto fahren, und falls er es mal gekonnt hatte, hatte er es inzwischen verlernt. Es war ein Wunder gewesen, dass niemand sie angehalten und die Papiere des Fahrers verlangt hatte. Leah vermutete, dass er überhaupt keinen Führerschein besaß. Sam und er waren lediglich darauf erpicht gewesen, die horrende Summe, die Frau Dittmer überwiesen hatte, unter sich aufzuteilen. Leah hatte einen Blick auf Sams Kontoauszug werfen können, die er stets auf dem Schreibtisch im Geschäft liegen ließ, bevor er sie in einen Ordner sortierte.

Letztlich war es nur dem Zufall zu verdanken gewesen, dass Leah den Flug noch erreicht und die Fahrt dorthin überlebt hatte. Ihr Bruder hatte den kleinen Koffer aus dem Kofferraum gehoben und vor ihr abgesetzt. Mit einem Grummeln, das man mit viel Wohlwollen als einen Gruß hätte interpretieren können, war er gleich wieder zu seinem Freund ins Auto gestiegen, um nach Hause zurückzufahren. Im Geiste dankte sie ihm für den schönen Flug, den er ihr nicht gewünscht hatte. Als nächstes stand Leah in der ihr riesig vorkommenden Schalterhalle und sah sich um. Sie erblickte den Check-In-Schalter und steuerte samt Trolley darauf zu. Ihr Herz klopfte. In einer solchen Situation vollkommen allein an einem ihr unbekannten Ort war sie noch nie gewesen. Leah reihte sich in die Warteschlange vor dem einzigen Schalter des Provinzflughafens ein.

Das Theater, das ihr Bruder gemacht hatte, als sie bei Ewans & Son in Shipshewana einen Koffer kaufen wollte, kam ihr in Erinnerung. Er hatte sich aufgeführt wie Rumpelstilzchen – dieses Märchen hatte Tante Wanda ihr nicht nur vorgelesen, sondern auch Rumpelstilzchens Tanz um das Feuer aufgeführt, was Leah stets zum Lachen gebracht hatte – das sich diebisch auf seine Beute freute.

„Einen eigenen Koffer?“ Sam hatte einen Fuß in den Boden gerammt. Sein Gesicht war zu einer Fratze verzerrt gewesen. „Für eine einzige Reise.“ Er hatte ihr einen Vogel gezeigt. „Du hast sie doch nicht alle.“ Als Sam Leah bereits den Rücken zugekehrt hatte, rief er über die Schulter: „Ich gehe zu Paul und leihe einen Koffer. Der ist sicher wie neu. Paul ist ein einziges Mal in seinem Leben geflogen. Sein Trolley dürfte nahezu unbenutzt sein.“

Leah wusste noch, dass sie mit den Schultern gezuckt und gedacht hatte, Sam hätte recht: Sie würde ihn nur ein einziges Mal brauchen. Damals konnte sie noch nicht wissen, wie sehr sie damit den Nagel auf den Kopf getroffen hatte – wenn auch anders als gedacht.

Als Leah an der Reihe war einzuchecken, lächelte die Dame am Schalter sie an und war ausgesucht freundlich zu ihr, die sich in ihrem Aussehen deutlich von den anderen Passagieren unterschied. Die Freundlichkeit dieser Frau war Leah mehr als willkommen nach all den aufdringlich starrenden Blicken. Leah überreichte ihr die zwei Flugtickets, die die Notarin ihr per Expresspost geschickt hatte.

In Chicago musste Leah umsteigen. Zum Glück würde sie nicht auch noch das Gepäck suchen und neu einchecken müssen, wie die Dame am Schalter ihr erklärt hatte. Es wurde direkt zu dem Flugzeug transportiert, das sie nach Europa bringen würde. Hamburg. Leah wusste überhaupt nicht, wo in Deutschland sich diese Stadt befand, aber ihre geografischen Kenntnisse beschränkten sich ohnehin auf die kleine Welt, in der sie lebte. Dass sie in wenigen Stunden im Flugzeug nach Europa sitzen würde und sie in die große weite Welt unterwegs wäre, konnte sie noch immer kaum glauben. Es war jedenfalls mehr als aufregend.

Als ihr Flug aufgerufen wurde und sie den anderen Passagieren folgte, die ebenfalls nach Chicago wollten, wurde ihr doch etwas mulmig. Sie war noch nie geflogen. Und die Maschine, die nur über das Rollfeld zu erreichen war, sah winzig und nicht gerade vertrauenerweckend aus. Würde sie es überhaupt aushalten können, in einem so kleinen Flugzeug eng mit anderen Menschen zusammenzusitzen? Es war keine Zeit, sich weitere Gedanken darüber zu machen. Sie fühlte sich wie in einem Wasserstrudel, weil die übrigen Passagiere zum Eingang des Flugzeugs drängten.

Kaum hatte Leah die Maschine betreten, saß sie auch schon auf einem Platz am Fenster. Zum Glück setzte sich eine Frau neben sie. Leah mochte es nicht, wenn Männer ihr zu nahe kamen. Bei einer Frau würde sie es tolerieren, wenn diese aus dem Fenster schauen und sich über sie beugen wollte, um einen Blick auf die Erde oder den Himmel zu werfen. Aber nichts dergleichen geschah. Die Frau blieb auf ihrem Platz sitzen, las ein Buch und schien sich für die Außenwelt überhaupt nicht zu interessieren. Erleichtert atmete Leah auf. Überrascht stellte sie während des Fluges fest, wie klein doch die Welt von oben aussah. Bis vorhin war sie noch in ihrem kleinen Kosmos verhaftet gewesen, und nun entdeckte sie „die Welt da draußen“, wie ihr Bürgermeister zu sagen pflegte, wenn er bei einem Richtfest die Gemeinschaft lobte, die allein mit ihrer Arbeitskraft und dem Material Holz ein Haus bauen konnten. Weil Leah die Aussicht aus dem Fenster so spannend fand, verging die Zeit im wahrsten Sinne des Wortes im Fluge, und schon stand Leah im Ankunftsbereich des Chicagoer Flughafens. Er hatte sogar einen Namen: O´Hare International Airport.

Das Umsteigen in Chicago klappte nicht so problemlos, wie Leah es sich gewünscht hatte. Sie kam sich vollkommen verloren vor in der überdimensionalen Ankunftshalle und wusste zuerst nicht, wohin sie gehen sollte, um ihren Anschlussflug zu erreichen. Zudem bemerkte sie die neugierigen Blicke der Menschen, die ihr begegneten. Natürlich wusste sie, dass sie komplett anders gekleidet war als der Rest der Menschheit. Durch die Arbeit im Laden ihres Bruders hatte sie gelernt, dass die meisten Menschen, die als Touristen nach Shipshewana kamen, ganz andere Kleidung bevorzugten als die Amischen. Aber in ihrem Heimatort starrten die Leute sie nicht so an wie hier. Im Gegenteil erntete sie im Laden bewundernde Blicke, wenn sie den Kunden auf Nachfrage erzählte, dass sie ihre Kleider selber nähte. Vermutlich erwarteten die Besucher einer amischen Gemeinde sogar, dass die Einheimischen traditionell gekleidet waren. An einem modernen Flughafen allerdings schien sie nicht nur vollkommen unpassend auszusehen, sie kam sich auch so vor, als passte sie überhaupt nicht in diese ihr so fremde Welt, die viel zu laut und viel zu bunt auf sie einprasselte, dass Leah sich so manches Mal die Ohren zu hielt und die Augen schloss.

Sorgfältig hatte Leah für die Reise ihr schönstes Ausgehkleid gewählt. Es war hellblau und bestand aus etwas wärmerem Stoff, und weil der ausklingende Winter recht kühl war, spendete das Kleid genügend Wärme. Darüber trug sie ihren dunkelblauen, sehr einfachen Wintermantel, den sie nun geöffnet hatte. Dadurch wurde die weiße Schürze sichtbar.

Leah hatte den Eindruck, die Leute glotzten geradezu auf ihre schwarze Haube, die sie am Hals zugebunden hatte, so dass die Schleifen adrett auf ihrem Dekolleté lagen. Als sie sich umsah, entdeckte sie kaum jemanden mit einer Kopfbedeckung. Ab und zu begegneten ihr Menschen mit einem Hut oder einer Baseballmütze auf dem Kopf.

Als Leah zufällig an einem Informationsschalter vorbeikam, fragte sie nach dem Weg zum Flug nach Hamburg. Das Englisch kam ihr akzentfrei über die Lippen. Sie hatte es in der Schule gelernt und perfektionierte es im Umgang mit den Kunden. Die Dame am Schalter lächelte sie freundlich an. Leah sollte ihr die Bordkarte zeigen. Einen Moment kam Panik in ihr auf. Dann erinnerte sie sich daran, die Karte, die sie beim Einchecken erhalten hatte, in ihren selbst genähten Beutel gesteckt zu haben. Kurzes Suchen, und da war sie. Glück gehabt.

Die Dame beugte sich über die Theke, nahm die Karte in die Hand und erklärte ihr die Zeichen, die sich darauf befanden. Außerdem erfuhr Leah, dass sie das Papier beim Einsteigen in das Flugzeug nach Hamburg brauchen würde. Das hatte ihr niemand gesagt. Sie hatte die Karte nur deshalb aufbewahrt, weil Leah sie sich im Flugzeug noch einmal genauer hatte ansehen wollen. Die Dame erklärte Leah, wann sie sich wo einfinden musste und woran sie diese Informationen auf dem Boarding-Pass erkennen konnte. Die Frau an der Info erklärte ihr alles bis ins letzte Detail und war dabei ausdauernd freundlich und geduldig. Dabei erfuhr Leah, dass Frau Dittmer für den langen Flug einen Sitzplatz in der Business Class gebucht hatte und auf welchem Platz sie sitzen würde – auf dem kurzen Flug nach Chicago hatte es freie Sitzplatzwahl gegeben. An der Information erfuhr Leah nun, dass sie mehr Platz in ihrem Sitz haben würde. Dass sie mit American Airlines fliegen würde, hatte sie schon selber herausgefunden. Schließlich stand es dick und fett oben auf der Bordkarte. Und dass es sich dabei wohl um eine Fluggesellschaft handelte, lag auf der Hand.

Nachdem Leah die nötigen Informationen erhalten hatte, begab sie sich umgehend zu dem Flugsteig, von dem aus ihr Flug losgehen sollte. Als sie an der richtigen Stelle saß, fiel alle Anspannung von ihr ab. Sie musste nur noch warten, bis ihr Flug aufgerufen wurde. Sie atmete tief durch. Ihr Magen knurrte und zeigte ihr an, dass sie seit heute Früh noch nichts gegessen hatte.

Leah kramte in ihrem Leinenbeutel und förderte eine Metallbox mit einem Stapel Butterbroten und einem Apfel zutage. Lilian war so geistesgegenwärtig gewesen, ihr etwas zu essen für die lange Reise einzupacken. Leah selbst war viel zu aufgeregt gewesen, an etwas so Profanes wie die Befriedigung ihres Hungers zu denken. Dankbar schickte sie ein Lächeln gen Himmel zu Lilian und biss genussvoll in ihr Brot. Es schmeckte köstlich. Leah hatte erst gestern noch sechs Brote gebacken, damit ihre Familie die Zeit ohne sie nicht auf die leckere Köstlichkeit verzichten musste. Ein frisches Brot war einfach etwas besonders Schmackhaftes.

Die Zeit wurde Leah gar nicht lang, weil es so viel zu sehen gab. Mehrmals hatten sich Menschen in dem Vorraum des Flugsteiges eingefunden, die zu anderen Destinationen unterwegs waren. Auf der Informationstafel tauchten Orte wie Amsterdam, Kiew oder Marseille auf, die Leah vollkommen unbekannt waren. Insgeheim nahm sie sich vor, sich einen besseren Überblick über die Städte und Länder dieser Erde zu verschaffen. Dank der Dame an der Information wusste Leah, wie sie sich zu verhalten hatte, wenn ihr Flug aufgerufen wurde. Nach bestimmt drei Stunden reihte sie sich in die Schlange vor dem Abflugschalter ein. Auf nach Hamburg.