Mitten ins Herz - Emma zur Nieden - E-Book

Mitten ins Herz E-Book

Emma zur Nieden

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Beschreibung

Almuth Bach wird von ihrer Chefin Annette genötigt, in den Osterferien nach Mallorca zu fliegen, um dort Kontakt zu Jugendlichen aufzunehmen. Almuth soll mit frischen Ideen für einen Jugendroman in den Verlag zurückkommen. Sie arbeitet dort als Lektorin, Illustratorin und manchmal auch als Autorin. Da sie zurückgezogen lebt, scheut sie persönliche Kontakte zu Jugendlichen, die Zielgruppe der Romane. Sie beschränkt sich auf Beobachtungen aus der Ferne. Als Almuth Bekanntschaft mit Familie Meinerzhagen macht, stellen sowohl die Zwillinge Maxi und Moritz als auch die Mutter Lena Almuths Leben gehörig auf den Kopf. Wird es Almuth gelingen, die Zwillinge dazu zu bringen, über Themen zu sprechen, die Jugendlichen am Herzen liegen. Welche Rolle spielt Lena, die im Rollstuhl sitzt und ihr Handicap mit Bravour meistert.

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Mitten ins Herz

von Emma zur Nieden

Mitten ins Herz

Liebesroman

von Emma zur Nieden

Impressum

Texte: © 2022 Emma zur Nieden

Umschlag:merciBuchcoverdesign: Sarah Buhr /www.covermanufaktur.de unter Verwendung Stockgrafiken von rassco; Microstocker.Pro; suns07butterfly / Shutterstock sowie Josephine Schönberg / Sternenflamme_Art

Verantwortlich für den Inhalt:

Emma zur Nieden

c/o autorenglück.de

Franz-Mehring-Str. 15

01237 Dresden

[email protected]

Meine Homepage - emmazurniedens Webseite!

Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Für Jacky

Vorbemerkungen

Zum ersten Mal verwende ich in einem meiner Liebesromane nach der Kapitelangabe ein Zitat. Die meisten davon sind imaginären Jugendbüchern entnommen, die die Lektorin und Romanautorin Almuth Bach verfasst hat – Protagonistin dieses Romans.

Zum zweiten schließe ich mich dem Asterisk an (*), um weibliche und männliche Singular- und Pluralformen ohne Überlänge zusammenzufassen.

Prolog

D

u wirst in der nächsten Woche nach Mallorca fliegen. Deine Tickets habe ich bereits gebucht“, sagte Dr. Annette Luhmann, Verlagsleiterin des kleinen Kinder- und Jugendbuchverlages BALUBA.

„Aber es sind Ferien.“ Almuth Bach, Autorin, Illustratorin und Lektorin eben jenes Verlages, war fassungslos. „Du weißt, dass ich es hasse, in den Ferien Urlaub zu machen.“

„Wer spricht denn von Urlaub?“

Almuth spürte Annettes eindringlichen Blick auf sich und rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her.

„Du verlegst deinen Arbeitsplatz für 14 Tage auf eine wunderschöne Finca in der Nähe von Luc Major. Das Städtchen liegt im inneren der Insel. Das kommt dir sicher entgegen. Mit allem, was das Herz begehrt: Ruhe, leckeres Essen, eine angenehme Unterkunft und einen Swimmingpool. Du schwimmst doch so gerne, oder?“

Almuth nickte. Sie bebte innerlich. Ruhe würde sie dort wohl kaum finden, denn in einer Woche begannen für exakt zwei Wochen die Osterferien. Es würde dort von Kindern nur so wimmeln. Sie bekam Schweißausbrüche, wenn sie sich diese Situation auch nur vorstellte. Aber es gab keine Einspruchsmöglichkeit mehr. Annette legte soeben zwei Tickets für den Hin- und Rückflug und die Informationen über die Finca vor sie hin.

„Warum ausgerechnet in den Ferien?“, fragte Almuth resigniert.

„Weil du mal deine Komfortzone verlassen sollst. Wir brauchen innovative Ideen und Themen am Puls der 12- bis 14-Jährigen. Dein letzter Jugendbuchroman verkaufte sich eher schleppend – freundlich ausgedrückt. Schau den Jugendlichen zu, rede mit ihnen, frag sie, was sie interessiert.“

Die Verlagsleiterin winkte sie mit den Händen aus ihrem Büro, den Telefonhörer für das nächste Gespräch schon in der Hand.

Almuth schlich mit hängenden Schultern aus dem Büro der Chefin. Sie wusste selbst, dass ihr letzter Jugendroman nicht wirklich gut gelaufen war. Annette hatte aber zu erwähnen vergessen, dass sie nebenher auch noch ein Bilderbuch illustriert und zwei Romane ihrer Kollegen lektoriert hatte. Beide liefen immer noch erfolgreich am Markt. Kein Wunder, dass Almuth kaum Zeit für ihren eigenen Roman geblieben war.

Ihr würde nichts anderes übrigbleiben, als sich auf Annettes Vorschlag einzulassen. Sie versuchte, das Positive in der Situation zu sehen. Wann hatte sie zuletzt die Gelegenheit gehabt, in der Sonne zu sitzen? Und sie würde auch noch zwei Wochen lang dafür bezahlt. Genau, Almuth, versuche einfach, das Beste daraus zu machen.

Kapitel 1

Wir haben doch gar keinen Einfluss auf unsere eigene Geschichte, unser eigenes Leben

Der Jainsager

A

lmuth lag vollständig bekleidet auf ihrem Liegestuhl im Schatten und schlief. Am frühen Morgen hatte sie ihre 1000 Meter im Swimmingpool absolviert. Nach einem üppigen Frühstück übermannte sie beim Überarbeiten eines Manuskripts der Schlaf. Der Jugendroman sollte Mitte des Jahres erscheinen. Höchste Zeit mit dem Lektorat fertig zu werden. Doch im Traum schwebte eine alkoholfreie Piña Colada vor ihrer Nase.

Die Geschäftigkeit zweier mit Wasser spielender Teenager, die um sie herum wuselten, bekam sie ebenso wenig mit wie deren Gekicher und Geschrei. Almuth schlief tief und fest.

Gerade als sie in ihrem Traum an dem Strohhalm des Cocktails ziehen wollte, ließ ein eiskalter Schwall Wasser sie aus ihrem Schlaf hochschrecken. Eine unsanfte Methode, geweckt zu werden. Durch ihr Zusammenzucken rollte sowohl ihr Stift als auch das gesamte Manuskript von ihrem Schoß. Nur wenige Seiten flogen in hohem Bogen mit dem Wind ein paar Meter weiter. Die anderen klebten durchnässt und schwer vom Wasser neben Almuths Liege auf dem Boden.

Oh, nein! Almuth hatte vor dem Ausdrucken vergessen, Seitenzahlen einzufügen. Der Füller traf mit dumpfem Knall auf dem Boden auf und rollte in Richtung des kleinen Pools. Das nicht auch noch. Ihr gut gehütetes Meisterstück wäre ruiniert, sobald es vollständig im Wasser lag.

Almuth beobachtete aus den Augenwinkeln jemanden zum Pool hechten und den Füllfederhalter in letzter Sekunde vor dem sicheren Füllertod zu retten. Dieser jemand rannte auf ihren Liegestuhl zu, warf ihn Almuth in die Hände, murmelte etwas wie „´Tschuldigung“ und flitzte weiter den fliegenden Blättern hinterher. Es ging so schnell, dass ihr leises „Danke!“ herauskam, als der Schatten vermutlich längst über alle Berge war. Mit Sicherheit war er einer der Übeltäter gewesen.

Almuth verstaute den Füller in seinem Etui und merkte erst jetzt, dass nicht nur ihre Hände nass geworden waren. Ihre Kleidung triefte vor Nässe. Ihre neuen Pumps waren nicht mehr zu gebrauchen. Wozu trug sie Pumps und Alltagskleidung an einem Swimmingpool auf Mallorca?

Viel zu spät für eine spontane Handlung sprang sie mit einem spitzen Schrei von der Liege und rief voller Zorn: „Verdammt noch mal, könnt ihr nicht aufpassen? Was fällt euch eigentlich ein?“

Almuth beobachtete, wie inzwischen zwei Schatten die verstreuten Blätter ihres Manuskriptes einsammelten und sie mit einem Stein auf einem der Nachbartische beschwerten. Die nächste Windböe konnte den Blättern nichts mehr anhaben. Zumindest würden sie nicht wegfliegen. Anschließend verschwanden die beiden Schatten hinter der Ecke des Appartementhauses. Das mussten diese beiden lauten Gören gewesen sein, die schon um sie herumgeschlichen waren, als Almuth noch nicht im Land der Träume gewesen war. Gehörten die Kinder nicht zu der Frau im Rollstuhl? Bei allem Verständnis für ihre Situation durfte sie doch ihre Aufsichtspflicht nicht so verletzen, dass andere zu Schaden kamen.

Almuth erhob sich und trocknete sich notdürftig mit dem Handtuch auf der Liege ab. Den genauen Schaden, den das Wasser dem Manuskript zugefügt hatte, würde sie sich später ansehen. Zuerst musste sie ihre Wut auf die Abkömmlinge dieser Frau loswerden. Sie warf das Handtuch auf den Boden, als sie sich einigermaßen getrocknet fühlte, und marschierte im Stechschritt auf die Mutter der Übeltäter zu. Dabei verursachte das Geklacker der Pumps auf dem gefliesten Boden einen Höllenlärm.

Zumindest hatte die Mutter der ungezogenen Sprösslinge sich inzwischen von der Liege in den Rollstuhl begeben. Almuth baute sich vor ihr auf. Bevor sie etwas sagen konnte, kam die Mutter der Kinder ihr zuvor:

„Ich muss mich sehr für meinen Nachwuchs entschuldigen. Es tut mir wirklich leid, dass Sie so nass geworden sind.“

„Vielleicht hätten Sie vorher mal ein warnendes Wort an Ihre Kinder richten sollen!“, muffelte Almuth ungehalten.

„Da haben Sie vollkommen recht, aber ich war so vertieft in mein Buch, dass ich meine Umgebung gar nicht mehr wahrgenommen habe.“

Almuth lächelte hämisch. Ein vergeblicher Versuch, sie zu besänftigen.

„Das ist ja entzückend. Sie verletzen Ihre Aufsichtspflicht, obwohl Sie in der Nähe sind!“ Almuth konnte sich nicht beruhigen. Sie sprach laut und erregt. Das war doch wohl die Höhe. Wie konnte die Mutter dieser unkontrolliert handelnden Bälger sich in ein Buch vertiefen, während ihre Sprösslinge großen Unsinn verzapften?

„Finden Sie nicht, dass Sie ein wenig übertreiben!“, fügte die Mutter der Delinquenten für Almuth entschieden unpassend hinzu. „Soweit ich das überblicke, ist kein größerer Schaden entstanden, außer dass Sie nass geworden sind.“

„Wenn man davon absieht, dass ich einen höllischen Schreck bekommen habe. Ich hätte leicht einen Herzinfarkt bekommen können. Und diese Blätter …“ – Almuth wedelte mit einem Teil des zerfledderten und nassen Manuskripts in der Luft herum, den sie sich vorhin vom Tisch geschnappt hatte – „…gehören zu einem Manuskript, an dem ich derzeit arbeite. Sämtliche meiner Notizen und Korrekturen sind verwischt und unlesbar. Die Arbeit von mehreren Tagen war völlig umsonst.“

Almuth wurde soeben bewusst, dass der Schwall Wasser tatsächlich die Arbeit der letzten vierzehn Tage zunichtegemacht hatte. Sie konnte praktisch von vorn beginnen. Ein zweites „Verdammt!“ entfuhr ihr.

„Das tut mir wirklich furchtbar leid“, sagte die Rollstuhlfahrerin zerknirscht. „Aber warum nehmen Sie auch das komplette Manuskript mit an den Swimmingpool. Da kann es doch immer mal spritzen.“

„Sie machen es sich ja ziemlich einfach.“ Almuth stemmte ihre Hände in die Hüften, die Blätter noch immer in den Händen haltend. „Ich verlange Schadensersatz.“

„Was stellen Sie sich vor?“, fragte die Frau im Rollstuhl. „Dass ich Ihr Manuskript noch einmal lese und es korrigiere?“

„Um Himmels willen, das bloß nicht.“ Almuth reckte ihre Hände samt den durchnässten Blättern in die Höhe. „Ich erwarte eine Entschuldigung Ihrer Kinder. Und sie sollen sich eine angemessene Entschädigung überlegen.“

Almuth drehte auf dem Absatz um, hob das nasse Handtuch vor ihrer Liege vom Boden auf und warf es sich über die Schulter. Die sich bereits wellenden Manuskriptseiten klemmte sie unter den Arm und rauschte ab in Richtung ihres Appartements.

Dass der Mutter der Kinder der Mund vor Überraschung über diesen Abgang offenstand, konnte Almuth nicht mehr sehen.

Kapitel 2

Die Erwachsenen definieren Unfug definitiv anders als ich

Der Jainsager

L

ena trug den Namen ihrer Oma Magdalena, mochte die Abkürzung Lena jedoch lieber. Sogar ihre Eltern nannten sie so. Nach dem Abgang des begossenen Pudels, wie sie die erzürnte Dame in ihren Gedanken amüsiert nannte, hieve sie sich wieder auf die Liege und las weiter in der Novelle, die ihre Kinder derzeit in der Schule besprachen.

Lena hatte sich angewöhnt, die Deutschlektüren der Zwillinge mitzulesen, um mit ihnen darüber diskutieren zu können. Außerdem fand sie die Auswahl, die Maxi und Moritz´ Deutschlehrerin traf, äußerst gelungen – sehr zum Leidwesen ihrer Zwillinge. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als ihr die Szene in den Sinn kam, als die beiden die drei Exemplare der Novelle DerSchimmelreiter von Theodor Storm auf den Esszimmertisch knallten.

„Nee, Mama, die ersten Sätze dieser Novelle sind grottenlangweilig“, maulten Maxi und Moritz durcheinander.

Sie sahen angefressen aus. Das war unüblich, denn sie verschlangen Bücher geradezu. Deshalb besaßen sie beide einen E-Book-Reader, mit dem sie sich ihren Lesestoff von der Webseite der Bibliothek herunterladen konnten.

Natürlich füllten Unmengen gedruckter Bücher die Regale, doch auf die Dauer hätte der Lesehunger ihrer beiden Sprösslinge ein Platzproblem hervorgerufen. Die Mischung aus Büchern aus der Bibliothek für den Reader und dem Kauf gedruckter Exemplare fügte sich besser in Lenas Finanzen und in die Regalwände der Kinderzimmer ein.

Lena liebte die Novelle Der Schimmelreiter jedenfalls und versuchte, sie ihren Teenagern schmackhaft zu machen.

Sie nahm die Novelle zur Hand und las weiter, als Maxi und Moritz lautstark um die Ecke geschossen kamen. Offensichtlich taten sie so, als wäre nicht das Geringste passiert. Sie überspielten ihr schlechtes Gewissen darüber, dass sie jemanden mit Wasser bespritzt hatten.

Na, immerhin haben sie ein schlechtes Gewissen.

„Hi Mum“, flöteten sie im Chor. „Wir haben Hunger.“

Lena sah auf die Uhr. „Es ist erst 11 Uhr.“

„Na und. Kinder im Wachstum ...“, begann Maxi.

„... brauchen viiieel Energie. Vitamine, ...“, ergänzte Moritz. Bevor er den Satz vollenden konnte, unterbrach seine Mutter ihn, indem sie eine Hand wie ein Haltezeichen hob und „Stopp!“ rief.

„Bevor ihr euch aus dem Obstbeutel bedienen dürft, müssen wir etwas besprechen.“

„Manno“, riefen beide gleichzeitig und stapften mit dem Fuß auf.

„Ihr wisst, was vorhin vorgefallen ist?“ Lena sah von der einen zu dem anderen.

„Nö, was soll denn sein?“ Moritz hielt ihrem Blick nicht stand und sah in den Himmel.

„Ich weiß, dass ihr genau wisst, was ich meine.“ Lena holte tief Luft. „Um eurem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge zu helfen: Ihr habt einer Dame ...“

„Dame“, stieß Maxi verächtlich aus, „dass ich nicht lache.“

„Darf ich ausreden, bitte.“ Lena schickte ihrer Tochter einen strengen Blick. „Wie gesagt, ihr habt jemanden mit Wasser bespritzt und euch dann klammheimlich davongeschlichen. Das ist nicht die feine Art, finde ich. Ich habe euch nicht zu Drückebergern erzogen.“

Maxi und Moritz senkten ihre Köpfe.

„Habt ihr nichts dazu zu sagen?“, fragte sie in einem scharfen Ton.

„Ähm“, Moritz räusperte sich. „Du meinst diese Frau, die vollständig bekleidet in antiquierten Klamotten im Liegestuhl gelegen hat?“

„Genau die meine ich“, antwortete Lena.

„Wir sind auf Mallorca. In der Sonne sind sicher 25 Grad. Dort in voller Montur zu sitzen ist so lächerlich wie ihre Pumps am Pool.“

„In welcher Kleidung sie in ihrem Liegestuhl sitzt, ist absolut ihre Sache. Es hat außerdem nichts mit dem zu tun, was ich gerade mit euch besprechen wollte.“

„Du hast recht. Wir wollten nur sichergehen, dass wir dieselbe meinen.“ Maxi verschränkte die Arme vor der Brust und schmollte.

Lena schluckte das „Es sind ja auch so viele Leute am Pool“ herunter.

„Okay“, sagte sie stattdessen. „Erzählt, was passiert ist.“

„Wir haben mit Wasser gespielt“, begann Maxi. „Und dann ist die Situation im Eifer des Gefechts ein wenig außer Kontrolle geraten. Wir haben die Frau einfach übersehen.“

„Es war ein Versehen“, bekräftigte Moritz.

„Davon gehe ich aus“, kommentierte Lena. „Ich habe euch ebenfalls nicht zu rücksichtslosen Rüpeln erzogen.“

Die Zwillinge schüttelten mit gesenkten Häuptern den Kopf.

„Wir haben ihren Füller gerettet und die Blätter eingesammelt,“ flüsterte Maxi.

„Was gedenkt ihr darüber hinaus zu tun?“

„Wir sollten uns bei ihr entschuldigen?“ Maxi sprach mit verzerrter Miene.

„Spricht etwas dagegen?“ Lena zog ihre Augenbrauen hoch.

„Sie mag uns nicht“, sagte Moritz.

„Woher wollt ihr das wissen? Nur weil sie wütend war, weil ihr sie mit Wasser bespritzt habt? Wenn ihr und das wichtige Manuskript, an dem ihr gearbeitet habt, ebenso mit Wasser bespritzt worden wärt, wärt ihr sowas von sauer gewesen.“

„Aus Versehen“, sagten Maxi und Moritz im Chor.

„Woher soll die Frau das wissen? Mir kommt es so vor, dass ihr sie nicht mögt. Ob Versehen oder nicht, ihr übernehmt Verantwortung für eure Taten. Davon gehe ich aus.“

Die Kinder nickten.

„Und ich gehe ebenfalls davon aus, dass ihr euch nicht nur entschuldigt, sondern euch auch etwas als Entschädigung ausdenkt. Schließlich ist die Frau nicht nur nass geworden. Sie hat sich außerdem ziemlich erschreckt. Außerdem muss sie Teile des Manuskripts noch einmal überarbeiten. Da finde ich es nur recht und billig, dass ihr euch noch etwas Spezielles ausdenkt.“

„Zum Beispiel?“, wollte Moritz wissen.

„Sie zum Essen einladen?“ Lenas rechte Augenbraue schnellte nach oben.

„Och nö, Mama“, stöhnte Maxi.

„Wenn euch nichts Überzeugenderes einfällt, ladet ihr sie zum Essen ein. Ihr bezahlt mit eurem Taschengeld.“

„Muss das sein?“, fragte Moritz und schien im Kopf seine Barschaften nachzuzählen.

Lena nickte.

„Wir ziehen uns zur Beratschlagung zurück.“ Moritz zog seine Schwester in Richtung des weitläufigen Geländes der Finca.

„Macht das“, rief Lena hinter ihnen her und lächelte so breit wie ein Honigkuchenpferd. Sie wusste, sie könnte nun einige Zeit ungestört in die Geschichte des Deichgrafen Hauke Haien eintauchen. Und sie war sich sicher, ihre Sprösslinge würden mit einer für sie zufriedenstellenden Lösung wiederkommen.

Genau eine Stunde später standen Maxi und Moritz vor Lenas Liegestuhl. Das Reclam-Heftchen lag zerlesen auf dem Boden. Sie hatte die Lektüre zu Ende gelesen und genoss mit geschlossenen Augen die wärmende Sonne auf ihrer Haut. Sie hörte Schritte und Getuschel und öffnete die Augen.

„Mama“, begann Moritz. „Wir haben uns etwas als Entschuldigung dafür überlegt, dass wir die Frau mit Wasser beworfen haben.“

„Na, dann schießt mal los“, ermunterte Lena die beiden.

„Wir werden die Frau morgen oder übermorgen Abend zum großen Tapas-Teller bei Marie und Pedro einladen.“ Maxi sprach mit fester Stimme.

„Und wir bezahlen ihren Teller und ihre Getränke von unserem Taschengeld“, fügte Moritz hinzu.

„Und natürlich entschuldigen wir uns zuerst bei ihr in aller Form“, beeilte sich Maxi noch hinzuzufügen.

Geht doch, dachte Lena und bemühte sich um eine ernste Miene. „Ich bin sehr stolz auf euch, dass ihr zu dieser Lösung gefunden habt.“ Sie sah Maxi und Moritz anerkennend an. „Stellt sich noch die Frage, wie die Frau davon erfährt, dass ihr sie zum Essen einladen wollt.“

„Wir dachten, wir warten darauf, dass sie morgen wieder auf ihrem Liegestuhl am Pool sitzt. Dann sprechen wir sie an und fragen sie, ob sie mit uns zusammen zu Abend essen möchte.“

„Seid ihr sicher, dass sie nach eurem ´Wasserversehen` noch einmal am Pool sitzt?“

Die Zwillinge schauten sich an. Auf diese Variante waren sie offensichtlich nicht vorbereitet.

„Was schlagt ihr vor?“

„Wir könnten sie beim Frühstück fragen?“ Maxi und Moritz sahen sich unsicher an.

„Sie möchte während des Frühstücks bestimmt nicht gestört werden“, gab Lena zu bedenken.

„Stimmt.“ Moritz überlegte einen Augenblick. „Wir sehen ja morgen früh, ob sie am Pool sitzt und wir sie ansprechen können. Und wenn nicht, überlegen wir neu“, schlug er vor.

„Ich wäre eher dafür, dass ihr sie noch heute ansprecht und euch entschuldigt. Die Frau war sehr erzürnt. Es wäre gut, ihr würdet die Wogen zeitnah glätten. Sie hat das Appartement neben unserem. Ihr könntet dort klopfen und die Sache heute noch aus der Welt schaffen.“

Die Zwillinge verzogen das Gesicht, fügten sich jedoch dem Vorschlag ihrer Mutter. Ohne weitere Diskussion schlugen sie die Richtung zum Appartement der Frau ein. Lena vermutete, dass sie an die Tür nebenan klopfen würden. Damit wäre diese unangenehme Angelegenheit hoffentlich aus der Welt geschafft.

Die Entschuldigung der Kinder auf morgen zu verschieben, hielt sie für keine gute Idee. Sie hatte der Vermeidungsstrategie der beiden, alles so weit wie möglich nach hinten zu verlegen, durchschaut und dem einen Riegel vorgeschoben.

Kapitel 3Faul sein ist mein zweiter Vorname. Die Schule lässt mir kaum Zeit dazuDer Jainsager

A

lmuth genoss die Aussicht vom Liegestuhl ihrer Terrasse aus auf das riesige Gelände der Finca. Und diese Ruhe. Das entfernte Iah eines Esels entlockte ihr ein kleines Lächeln.

Entfernt nahm sie das Klopfen an ihrer Tür wahr. Wer konnte das sein? Vielleicht ein feuchtfröhlicher Willkommensgruß der Geschäftsleitung? Almuth war gestern angekommen und hatte noch keinen solchen Gruß erhalten. In freudiger Erwartung öffnete sie die Tür. Als sie jedoch sah, wer davorstand, entglitten ihr die Gesichtszüge. Sie öffnete die Tür.

„Was macht ihr denn hier?“, fragte sie ungehalten.

„Wir wollten uns dafür entschuldigen, dass wir Sie heute Morgen so nass gespritzt haben“, machte der Junge den Anfang.

„Und als kleine Entschädigung für die Unannehmlichkeiten würden wir Sie gerne morgen Abend in das kleine Restaurant der Finca zum Abendessen einladen“, ergänzte das Mädchen.

„Wir hoffen, 19.30 Uhr ist Ihnen recht.“

Almuth sah mit offenem Mund erst das Mädchen, dann den Jungen an. Sie konnte nicht glauben, dass die beiden Störenfriede vom Pool sich formvollendet entschuldigten. Kurz nach dem Vorfall hätte Almuth die beiden am liebsten als Rotzlöffel bezeichnet. Und nun stellten sie sich als durchweg wohlerzogen dar. Almuth war sicher, die Rollstuhlfahrerin hatte ihre Finger im Spiel. Sie wollte nicht als Mutter dastehen, die Ungezogenheiten gelten ließ.

Nichtsdestotrotz traf Almuth dieser Besuch unvorbereitet, denn sie hätte niemals damit gerechnet, eine Entschuldigung und noch dazu eine Einladung zu erhalten. Sie betrachtete die beiden zum ersten Mal. Bisher war ihr entgangen, dass der Junge lange dunkelblonde Haare trug, die er zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, während das Mädchen raspelkurze rote Haare hatte.

Die Kinder warteten auf eine Antwort. Sie standen brav vor der Tür, begehrten keinen Einlass. Auf der einen Seite hatte Almuth überhaupt keine Lust, an einem Tisch mit Kindern ohne Manieren zu sitzen, die sie dem Teenageralter zuordnete; auf der anderen Seite zeigten diese beiden Exemplare ihrer Spezies plötzlich eine ganz ungeahnte Seite, die Almuth niemals vermutet und schon gar nicht erwartet hätte.

„Ich weiß gar nicht, ob ich die spanische Küche überhaupt mag.“ Almuth sah die beiden fragend an. Noch hatte sie sich nicht entschieden, ob sie die Einladung annehmen oder ablehnen sollte.

Das Mädchen und der Junge tauschten einen Blick, als wollten sie sagen, warum die Frau in Spanien Urlaub machte, wenn sie die Speisen gar nicht kannte.

„Das wäre doch eine gute Gelegenheit, die spanische Küche einmal kennenzulernen, nicht wahr?“, formulierte der junge Mann in tadellosem Deutsch und ausgesucht freundlich. Er schien sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.

„Und ich bin mir sicher, sie werden die Tapas lieben“, spezifizierte das Mädchen eines der Angebote. Von Tapas hatte Almuth zumindest schon gehört.

„Sie werden vegetarisch oder mit Fleisch serviert. Eigentlich ist für jeden etwas dabei“, präzisierte das Mädchen ihr Wissen über Tapas. „Ich selbst favorisiere die patatas bravas. Das sind knusprige Ofenkartoffeln mit der köstlichsten Knoblauchsauce, die es gibt.“

Die Schwester des Jungen schien sich ebenso gut in der deutschen Sprache auszukennen wie ihr Bruder.

„Das hört sich recht vielversprechend an“, sagte Almuth. „Ich würde mir gerne überlegen, ob ich die Einladung annehme. Ich sage im Laufe des morgigen Tages Bescheid, ob ich komme. Hört sich das für euch akzeptabel an?“

Almuth beklatschte innerlich diesen Schachzug der Bedenkzeit. So könnte sie den Termin noch in letzter Sekunde absagen.

Die Teenager sanken in sich zusammen. Sie hatten sich wohl ein wenig mehr Enthusiasmus ob ihrer Einladung erhofft.

„Das ist alles sehr neu für mich.“ Almuth wunderte sich über sich selbst. Sie war diesen fremden Kindern gegenüber keinerlei Rechenschaft verpflichtet. Dennoch sprach sie nun in einem freundlichen Ton mit ihnen.

Die Freundlichkeit der Kinder forderte ihre eigene gute Kinderstube heraus. Normalerweise wäre sie mit ihnen viel härter ins Gericht gegangen, denn immerhin hatten sie Almuth heute Morgen vollkommen durchnässt zurückgelassen und sich aus dem Staub gemacht. Doch sie spürte, dass sie dieser unerwarteten Nettigkeit nicht mit Schroffheit entgegentreten sollte. Das hätte sie vollends lächerlich erscheinen lassen. Natürlich hatte sie am Morgen bemerkt, dass sie gänzlich unpassend gekleidet war mit der langen Bluse und der Bundfaltenhose. Üblicherweise erschien sie derart gekleidet auf der Arbeit. Und schließlich war das hier ja ihre Arbeit. Morgen würde sie sich besser auf die Situation einstellen und ihren Badeanzug tragen.

Es wäre eine große Herausforderung für Almuth, eine Einladung wildfremder Menschen anzunehmen. Deshalb brauchte sie unbedingt eine Nacht, um darüber zu schlafen und zu spüren, wie sie sich morgen mit einer solch unbekannten Situation fühlte und ob sie bereit war, sich auf etwas vollkommen Neues einzulassen. Dieses Szenario barg bereits im Vorhinein einige Möglichkeiten, sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Andererseits sollte sie vielleicht endlich einmal nach langen Jahren der Zurückgezogenheit aus ihrem Schneckenhaus heraustreten in das richtige Leben.

Wie Almuth nicht anders erwartet hatte, verabschiedeten sich die Teenager so artig, wie sie sich die ganze Zeit über verhalten hatten. In Hochstimmung schloss sie die Tür. In diesem Moment hätte sie noch nicht mit Sicherheit sagen können, ob sie sich morgen mit der kleinen Familie zum Essen in dem Restaurant der Finca treffen würde. Aber die Chancen standen gut, dass sie den köstlichen Gerüchen folgen würde, die das Haus umschmeichelten, das oberhalb des Geländes thronte und die verlockenden Düfte bis zu ihr auf die Terrasse herüberwehte.

Du solltest wirklich mal über deinen Schatten springen, Almuth, sagte sie sich, als sie bei der abendlichen Toilette in den Spiegel sah.

Kapitel 4Ein Tag ohne Tapas und Gitarren ist ein verlorener TagSprichwort aus Sevilla

A

m nächsten Abend betrat Almuth pünktlich um 19.30 Uhr das Lokal oberhalb des Finca-Geländes. Die Familie saß bereits an einem Tisch für sechs Personen. Sie winkten. Entgegen ihrem ursprünglichen mulmigen Gefühl breitete sich ein warmes Wohlbefinden im Magen aus.

„Guten Abend!“ Almuth trat an den Tisch.

Der Junge stand auf und rückte einen freien Stuhl vom Tisch, damit Almuth sich setzen konnte. Die Strickjacke nahm er ihr ab und legte sie über den freien Stuhl. Formvollendet.

„Ich bin Moritz“, sagte er. „Bitte nehmen Sie Platz.“

Almuth setzte sich. „Danke, Moritz. Ich heiße Almuth.“

„Maxi“, meldete sich das Mädchen, das neben seinem Bruder saß. „Ich bin seine Zwillingsschwester, bestimmt 15 Minuten älter als er.“ Maxi zeigte mit dem Daumen auf ihren Bruder.

Almuth nickte und formte lautlos ihren Namen. Die Rollstuhlfahrerin saß neben ihr auf einem Stuhl. Der Rolli stand zusammengeklappt unter dem Fenster. Er sah gar nicht aus wie die Rollstühle, die Almuth kannte. Ziemlich schnittig sogar. Rotes Modell. Almuth schätzte sie auf Anfang 40, also etwas jünger als sie selbst.

Almuth nickte der Mutter zu. „Ich bin Almuth.“

„Schön, dass du gekommen bist. Ich heiße Lena.“

Almuth schluckte, als Lena ihr die Hand reichte und ihre einen Moment zu lang festhielt. Sie sah mit ihren leuchtenden blauen Augen mitten in ihr Braun, das eine solche Intimität nicht erwartet hatte. Almuths Herz legte einen Zwischenspurt ein und beruhigte sich erst langsam wieder. Eine völlig unangemessene Reaktion ihres Körpers, fand Almuth.

Natürlich provozierte die Vorstellung mit dem Vornamen das Du. Doch einerlei. Almuth hatte nicht vor, die Familie außer in den nächsten Ferientagen wiederzusehen. Da fiel es nicht ins Gewicht, ob sie geduzt oder gesiezt wurde. Für einen einzigen Abend würde sie sich auf ein solches Arrangement einlassen.

„Wir haben uns erlaubt, schonmal die Getränke zu bestellen“, sagte Lena. „Ich hoffe, es ist für dich in Ordnung. Für Liebhaberinnen eines kräftigen Rotweins ist der Shiraz immer meine erste Wahl.“

Almuth nickte. Ein Schluck Alkohol wäre vielleicht gar nicht so schlecht, wenn sie nicht ganz so steif erscheinen wollte, wie sie sich gerade fühlte. Sie hasste unbekannte Situationen wie die Pest. Den Umgang mit ihr unbekannten Personen noch mehr.

Kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende gedacht, stand eine kleine Karaffe besagten Shiraz` vor ihr. Der Chef selbst schenkte ein und wünschte ein „Salud!“

Almuth erhob ihr Glas und prostete ihm zu. Sie lächelte und schwenkte dann ihr Glas in Lenas Richtung.

Almuth hatte die Karte bereits im Internet studiert und sich für zwei Tapas entschieden: patatas bravas mit Aioli sowie eine Portion Lammspießchen. Das sollte reichen. Abends aß sie allenfalls noch eine Schnitte Brot mit Käse. Für eine große Mahlzeit war es ja auch schon viel zu spät.

„Eine gute Wahl“, sagte Lena. Offensichtlich hatte Almuth laut gesprochen. „Die Lammspießchen sind das Beste, was Pedro auf der Karte an Fleischgerichten zu bieten hat. Und die patatas bravas sind ein Rausch.“

Almuth beobachtete, wie Lena die Augen schloss, während sie Daumen und Zeigefinger zum Mund führte und voneinander löste. Dabei entstand ein Schmatzgeräusch. Die Kinder kicherten. Für Almuth sah die Frau mit dem zum Zopf gebundenen brünetten Haarschopf neben ihr ziemlich sexy aus. Wo kommt jetzt dieser Gedanke her?

Pedro trat erneut an den Tisch und nahm die Bestellung auf. Als er in der Küche verschwand, horchte Almuth auf, weil sie mitbekam, dass die Kinder sich über ein neues Jugendbuch unterhielten: Wenn du auf Droge bist von Bach und Wagner. Almuth hatte den Roman zusammen mit der bekannten Jugendbuchautorin Inka Wagner geschrieben. Bevor sie Frau Wagner kennenlernte, hatte sie geglaubt, es mit einem Highlight in ihrer Karriere beim Verlag zu tun zu haben.

„Wie gefällt euch der Roman?“, mischte Almuth sich ein. Es handelte sich um ein Buch aus der neuen Reihe ihres Verlags für Jugendliche. Es sollten Themen behandelt werden, die 12- bis 15-Jährigen auf den Nägeln brannten.

„Ich finde, ein Buch über Drogen zu schreiben ist grundsätzlich gut“, antwortete Moritz.

„Aber die Formulierungen sind zu wenig zielgerichtet“, ergänzte Maxi. „Jugendliche in unserem Alter müssen mit der Nase auf Dinge gestoßen werden. Doch in dem Text wird nur um den heißen Brei herumgeredet. Die verheerenden Auswirkungen des Drogenkonsums werden nicht explizit genannt, allenfalls angedeutet. Es wird keine drastische Szene geschildert, was tatsächlich passieren kann, wenn man fixt.“

„Und Partydrogen werden komplett ausgespart. Da hätten wir beide mehr draus gemacht, was Maxi?“ Moritz blinzelte seiner Schwester zu.

„Auf jeden Fall.“ Die beiden klatschten sich ab.

Der herannahende Pedro, der bestimmt vier Teller auf seinen Armen balancierte, unterbrach die Unterhaltung. Er verteilte die Tapas über die ganze zur Verfügung stehende Fläche der Tischplatte.

„Kennst du das Buch etwa auch?“, wollte Maxi wissen und bediente sich aus all den Schälchen mit Tapas, die sie auf ihren Teller häufte. So unauffällig wie möglich, brachte Almuth ihr Bratkartoffelschälchen in Sicherheit.

„Ja.“ Almuth nickte. „Es ist ein Produkt aus dem Verlag, in dem ich arbeite.“

„Echt, du arbeitest bei BALUBA?“, Maxis Stimme zitterte regelrecht, als die Almuth mit aufgerissenen Augen regelrecht anstarrte. „Ich wollte immer schonmal jemanden aus einem Verlag kennen lernen. Was machst du da?“

„Woher kennst du unseren Verlag?“

„Ich habe den Roman ´Der Jainsager´ bestimmt dreimal gelesen. Als wir klein waren, hat Mama uns oft aus dem Bilderbuch ´Der Frosch und die Prinzessin´ vorgelesen. Ich konnte es auswendig. Und ich habe alle dort abgebildeten Zeichnungen nachgemalt.“

Almuth tat sich die Bratkartoffeln und einen der Lammspieße auf. Sie spießte eine Kartoffel mit der Gabel auf und tunkte sie in die Knoblauchsauce.

„Mein Favorit unter den Bilderbüchern damals war dieses Buch. Ich habe Märchen geliebt, vor allem `Der Froschkönig´ von den Gebrüdern Grimm. Darauf bezieht sich das Bilderbuch ja. Und die Zeichnungen liebe ich bis heute. Du bist die Autorin, oder?“

Almuth nickte. Sie war sprachlos darüber, ein Mädchen zu treffen, das ihr Bilderbuch so mochte und gleichzeitig erriet, dass sie, Almuth, die Autorin war. Sie hielt einen Moment inne, legte die Gabel mit der Kartoffel auf den Teller, und starrte Maxi sprachlos an, bis sie sich an ihre Manieren erinnerte und so unschuldig wie möglich mit dem Essen begann.

„Würdest du mir das Buch irgendwann signieren? Ich werde es für immer behalten.“

Almuth rieb sich die Augen, gerührt über Maxis Enthusiasmus. „Natürlich signiere ich es dir.“ Auch wenn dieses Versprechen bedeutete, den Kontakt zur Familie Meinerzhagen etwas länger aufrecht zu erhalten als geplant.

„Um deine Frage von vorhin zu beantworten: Ich bin Lektorin, manchmal Romanautorin und auf jeden Fall Illustratorin“, zählte Almuth auf. „Die Ente sucht einen Erpel war das erfolgreichste Bilderbuch aus meiner Feder.“

Almuth setzte sich aufrecht hin und zitierte mit veränderter Stimme aus dem Bilderbuch: „´Willst du der Vater meiner Kinder sein?´, fragte die Ente und watschelte vor Aufregung auf der Stelle. `Warum?`, fragte der junge Erpel, der sich mit hübschen Entchen noch nicht so auskannte. `Weil das der Lauf der Dinge in der Welt ist´, antwortete die Ente und watschelte davon. Sie musste sich nicht einmal umsehen, um zu wissen, dass der junge Erpel ihr interessiert folgte.“

„Wisst ihr noch, wie wir das Bilderbuch rauf und runter gelesen haben?“, fragte Lena an die Zwillinge gerichtet. Falls sie überrascht war, die Autorin der Lieblingsbilderbücher ihrer Kinder kennen zu lernen, ließ sie es sich nicht anmerken.

„Und du hast uns erklärt, wo die Kinder herkommen“, erinnerte sich Moritz.

„Und ich habe zuerst geglaubt, ich bin aus einem Ei geschlüpft“, sagte Maxi.

„In gewisser Weise stimmt das ja auch.“ Almuth zwinkerte Maxi zu.

„Welche Jugendromane hast du geschrieben?“, wollte Maxi wissen. „Und waren sie erfolgreich?“

Lena wollte einhaken, um Maxis Neugierde etwas zu bremsen. Doch Almuth bedeutete ihr mit einem Blick, dass das völlig in Ordnung wäre. Sie musste sich zwingen, sich von Lenas tiefbraunem Blick zu lösen. Sie hatte nicht nur wunderschöne braune Augen, sondern war überhaupt eine attraktive Frau. Almuth wandte sich an Maxi.

„Der Roman Der Jainsager war mit Abstand das Jugendbuch, das am besten verkauft wurde. Wenn du auf Droge bist zusammen mit Kai Wagner zu schreiben war eine Idee der Verlagsleitung.“

Almuth senkte den Kopf, um die Lammstückchen vom Spieß zu schieben.

„Wow, du schreibst zusammen mit einer bekannten Autorin?“ Maxi sah bewundernd zu Almuth auf.

Almuth senkte errötend den Kopf.

„Na ja, es sollte der Beginn einer fantastischen Kooperation zwischen Frau Wagner und dem BALUBA-Verlag werden. Letztendlich wechselte sie zu einem anderen Verlag, weil sie die Strukturen bei uns zu unflexibel fand. Vielleicht habt ihr ja festgestellt, dass das Buch einige – nennen wir es Ungereimtheiten – enthält. Der Teil, den Frau Wagner geschrieben hat, konnte nur schwer lektoriert werden. Sie bestand auf jedem einzelnen Wort – passend oder nicht. Sie selbst stellte sich als erstaunlich unflexibel heraus. Wir sind froh, dass sie nicht bei uns geblieben ist. Mit ihr hätte ich meine Freude am Lektorieren verloren. Der Titel war allenfalls semi-erfolgreich. Und ihr habt ja sofort den Finger auf die Schwachstellen gelegt.“

Almuth sah auf. Die anderen drei am Tisch saßen ihr mit offenem Mund gegenüber. In der Sekunde ging ihr auf, dass sie aus dem Nähkästchen geplaudert hatte. Was war in sie gefahren, solch brisante Details völlig Fremden gegenüber auszuplaudern? Unverzeihlich. Ein Grund für eine Abmahnung.

Lena schien die Auswirkungen des Fauxpas´ als Erste zu begreifen. „Und über solch interne Informationen werden wir kein Sterbenswörtchen nach außen dringen lassen“, schärfte sie ihren Zwillingen ein und bedachte sie mit einem extra strengen Blick. „Haben wir uns verstanden?“

Maxi und Moritz nickten mit inzwischen geschlossenem Mund.

„Wir haben schon wieder vergessen, was du uns gesagt hast, oder Moritz?“

„Worum ging es nochmal?“

Almuth beobachtete mit wachsender Faszination, wie die beiden ihr gegenüber die Reißverschluss-Geste in Zeitlupe zelebrierten: Parallel führten sie eine Hand zum Mund. Maxi die rechte, Moritz die linke. Die Hände fuhren an den Lippen entlang aufeinander zu. Am Ende verschlossen sie den Reißverschluss und warfen den imaginären Schlüssel hinter sich. Wer von beiden das klirrende Geräusch zweier auf Fliesen auftreffenden Schlüssel nachahmte, war für Almuth nicht zu erkennen. Sie lächelte stoisch, obwohl sich hinter der Fassade eine alles mit sich reißende Welle eines Lachkrampfes anbahnte.

„Ich danke für euer Verständnis.“ Sie schickte einen dankbaren Blick zu Lena.

Innerlich schüttelte sie noch immer den Kopf über ihre eigene Unachtsamkeit. Plötzlich rutschte sie mit dem Stuhl ein Stück nach hinten, weil sich der unterdrückte Lachkrampf nun doch noch Bahn brach. Sie klopfte sich auf die Schenkel, wippte mit dem Oberkörper vor und zurück, versuchte, mit dem Lachen aufzuhören, ohne Erfolg.

Wäre sie in der Lage gewesen, die anderen zu beobachten, hätte sie zunächst in verdutzte Gesichter gesehen. Doch Almuths Lachen steckte zu sehr an. Die anderen stimmten mit ein und lachten ebenfalls voller Inbrunst.

Als Almuths Lachkrampf abebbte, hatte sie Tränen in den Augen. Auch die anderen beruhigten sich wieder. Es gab niemanden am Tisch, der sich nicht durch die Augen fuhr, um die Tränen wegzuwischen.

„Es tut mir so leid, dass ich euch alle mitgerissen habe.“ Almuth sah zerknirscht von einem zum anderen.

„Du entschuldigst dich jetzt aber nicht, weil du uns zum Lachen animiert hast, oder?“, fragte Lena.

„I ... irgendwie schon.“

„Das musst du nicht. Lachen ist gesund und sozusagen unser zweiter Vorname, stimmt´s?“

Almuth konnte aus den Augenwinkeln erkennen, dass Lena ihre Kinder ansah.

„Yep“, antworteten sie im Chor.

„Nach eurer kleinen Showeinlage mit der Reißverschluss-Geste konnte ich mich nicht mehr halten vor Lachen. Dieses leise Geräusch von zwei auf dem Boden hopsenden Schlüsseln hörte sich so echt an“, erklärte Almuth den Grund für ihren Ausbruch.

„Das waren wir nicht.“ Heftig schüttelten die Zwillinge ihre Köpfe.

Jetzt war es Almuth, die die beiden mit offenem Mund anstarrte. Langsam drehte sich der Kopf in Richtung ihrer Nachbarin.

Lena saß aufrecht auf dem Stuhl mit einem Pokerface im Gesicht.

„Sag nicht, du machst solche Geräusche?“, fragte Almuth ungläubig.

„Sie kann noch viel mehr, zum Beispiel die Dunstabzugshaube nachmachen ...“

„Oder die Toi ...“

„Dabei haben meine Frau und ich uns kennen gelernt. Ich habe das Klirren und das Geräusch einer sich auf den Boden drehenden Münze nachgeahmt genau in dem Moment, als eine Studentin am Fenster der Mensa einige Münzen aus ihrer Tasche verlor. Als die Geldstücke längst am Boden lagen, ahmte ich das Geräusch weiter nach. Du kannst dir vorstellen, Almuth, dass wir uns ähnlich kaputtgelacht haben wie wir vorhin. Das war der Beginn einer großen Liebe.“

Almuth nickte. Wo war Lenas Frau? Waren die beiden getrennt? Fragen, die Almuth sich verkniff. Am Ende hinterließen die Antworten darauf einen schalen Geschmack. Und sie wollte einen angenehmen Abend in Erinnerung behalten. Das war er schließlich auch.

Kapitel 5Manchmal bin ich so einsam, dass ich mich am liebsten in meinem Zimmer verkriecheDer Jainsager

A

ls Almuth nach dem Essen in Marias und Pedros Restaurant die Tür ihres Appartements hinter sich schloss, seufzte sie erleichtert auf. Sie hatte den Abend mit ihr wildfremden Menschen einigermaßen zufriedenstellend hinter sich gebracht. Und wenn sie ehrlich zu sich selber war, hatte sie ihn sogar genossen. Dieser Abend hätte alles in allem nicht besser laufen können. Das Beste daran war, dass Almuth sich nicht blamiert hatte. Nein, das Allerbeste war der durch und durch gehende braune Blick von Lena. Da Almuth neben ihr gesessen hatte, gab es nur selten die Gelegenheit, in diese wunderschönen Augen schauen, während Lena hin und wieder ihre Hand streifte. Zumindest hatte Almuth den Eindruck gehabt, Lena hätte diese Berührungen beabsichtigt. Sie waren Almuth in den Leib gefahren, hatten ihr den ein oder anderen angenehmen Schauer über den Rücken gejagt.

Dass diese sanften Gesten sie ein ums andere Mal aus dem Konzept gebracht hatten, versuchte sie zu überspielen. Nicht immer war es ihr gelungen, Lenas Berührungen aus dem Weg zu gehen. Ihr Herz klopfte immer noch bei der Vorstellung daran.

Trotz ihres ersten Eindrucks von rücksichtslosen Rotzlöffeln am gestrigen Vormittag hatte sie es den ganzen Abend mit ausgesprochen wohlerzogenen Teenagern zu tun – die Zwillinge hatten sie lächelnd darauf hingewiesen, dass sie „so alt“ nun doch noch nicht wären. Sie wären erst zwölf, sagten die beiden ihr mit Bedauern, wie Almuth schien.

Einmal abgesehen von der einen Situation, in der Moritz mit vollem Mund gesprochen hatte. Sie hatte sich ein Lächeln verkneifen müssen. Der Junge hatte so witzig ausgesehen. Almuth konnte Lena verstehen, die sich zwar zu beherrschen versuchte, doch dem Charme des Jungen nicht entkam und laut aufgelacht hatte.

Nicht nur weil sie auf den Rollstuhl angewiesen war, hatte Almuth ihr diesen erziehungstechnischen Fauxpas sofort verziehen, auch wegen ihres intensiven braunen Blicks, den sie viel zu oft an diesem Abend auf sich gespürt hatte.

Entgegen ihren Befürchtungen war der Abend kurzweilig gewesen. Streckenweise sogar sehr lustig. Vergnüglich. Almuth hatte gelacht wie schon lange nicht mehr. Sie war froh, ihren anfänglichen Unmut überwunden zu haben und zum Essen gegangen zu sein.

Noch am Nachmittag hatte Almuth hin und her überlegt, das Essen abzusagen, weil sie es wie stets vorziehen würde, den Abend allein mit einem guten Buch zu verbringen oder mit ihrer Arbeit. Nur weil Maxi und Moritz sie so nett eingeladen hatten, war sie schließlich über ihren eigenen Schatten gesprungen und hatte die Einladung angenommen. Natürlich auch, weil Almuth sie als eine kleine Entschädigung für die Unannehmlichkeiten von gestern Morgen betrachtete.

Bislang hatte Almuth nichts von spanischem Essen gehalten, ohne etwas darüber zu wissen. Doch die von ihr bestellten Tapas waren ausgesprochen aromatisch und erstaunlich lecker gewesen. Grundsätzlich hatte das Leben Almuth gelehrt, eher zurückhaltend zu sein, wenn es darum ging, etwas Neues auszuprobieren oder sich auf etwas Neues einzulassen. Deshalb hatte sie kein einziges Mal das kleine spanische Restaurant betreten, das einen Katzensprung weit von ihrer Wohnung zu Hause entfernt lag. Selbst die köstlichen Düfte, die sie beim Vorbeigehen erschnuppert hatte, hatten sie nicht hineinlocken können. Sie nahm sich fest vor, irgendwann einmal dort einzukehren.

Auf Marias Speisekarte hatte sie Paella mit Huhn entdeckt – ein Gericht, bei dem ihr schon beim Lesen das Wasser im Mund zusammengelaufen war. Eine Paella würde sie gern einmal essen. Aber die Kinder hatten sehr überzeugend den Wohlgeschmack der Tapas herausgestellt. Und sie war nicht enttäuscht worden. Eine Vorspeisenkleinigkeit war leckerer als die andere gewesen. Am Ende hatte sie sicher vier der kleinen Schüsselchen vertilgt, statt ursprünglich zwei. Nach diesem leckeren Mahl würde sie es später schon reizen, einmal eine Paella zu bestellen.

Fast hätte Almuth sich dazu hinreißen lassen, eine Gegeneinladung auszusprechen, als es die Verabschiedungsszenerie geradezu anbot. Zum Glück waren ihr die entscheidenden Worte nicht über die Lippen gekommen. Denn sich ein zweites Mal mit der Familie in dem Restaurant zu treffen, wäre ihr bereits zu intim vorgekommen. Ohnehin würde sie Maxi noch einmal begegnen, weil sie ihr Versprechen einzuhalten gedachte, eines ihrer Bücher zu signieren.

Almuth sollte zusehen, dass dies ihr letztes Aufeinandertreffen wäre, denn ihr stand weder der Sinn nach neuen Bekanntschaften geschweige denn nach einer Freundschaft. Einerlei ob das eine oder das andere, beides zog Verpflichtungen nach sich, die sie nicht eingehen wollte. Seit Franzis Tod hatte sie niemanden mehr näher an sich herangelassen. Sie lebte zufrieden mit diesem Arrangement und hatte nicht vor, das zu ändern.

Almuth lebte zurückgezogen – auch auf dieser Dienstreise. Sie hatte überhaupt keine Lust, aus ihrem Schneckenhaus wegen Menschen herauszukommen, denen sie wahrscheinlich nie wieder begegnen würde. Obwohl sie einen unterhaltsamen Abend mit der kleinen Familie gehabt hatte, erschien es Almuth einfacher, sich weiterhin auf ihrer Zurückgezogenheit auszuruhen. Ein zweites Treffen im Restaurant hätte womöglich ein drittes und ein viertes nach sich gezogen. Für Almuth grenzte das fast an ein Eindringen in ihre Privatsphäre. Sie fühlte sich noch nicht bereit für Kontakte zu Menschen außerhalb ihres eigenen Kosmos´. Eine nähere Bekanntschaft zu diesen Leuten hätte große Veränderungen in ihr Leben gebracht – sie hätten ihr ganzes Leben durcheinandergebracht. Nein, das wäre keine überlegenswerte Option!

Möglicherweise aber würde sie vielleicht doch eine Gegeneinladung aussprechen – nur, um niemandem etwas schuldig zu sein. Nicht, dass sie deswegen am Ende ein schlechtes Gewissen einholte. Doch sollte sie derartige Treffen nicht zur Gewohnheit werden lassen. Sie hatte einfach viel zu viele Enttäuschungen im Laufe ihres Lebens erlebt, wenn sie von einer vermeintlichen Freundin nur ausgenutzt worden war, die sich schließlich sang- und klanglos aus Almuths Leben davongeschlichen hatte, um nie wieder etwas von sich hören zu lassen. So etwas würde ihr nicht noch einmal passieren.

Aus dem tiefen Loch wieder hervorzukriechen, das durch die Leere und Einsamkeit von Franzis Tod entstanden war, hatte sie mehrere Jahre ihres Lebens gekostet.

Es war allemal besser, ihr Leben allein zu verbringen, als in regelmäßigen Abständen verletzt zu werden. Und eigentlich war ja auch eine Gegeneinladung gar nicht notwendig. Dass Almuth mit diesem Entschluss Annettes Vorgabe torpedierte, Bekanntschaften mit Jugendlichen zu schließen und damit ihrer Arbeit im Verlag neuen Wind einzuhauchen, kam ihr tief in der Nacht ins Bewusstsein.

Almuth hatte bei Pedro eine Flasche des Shiraz´ gekauft, den Lena und sie am Abend getrunken hatten.