Weg aus der Einsamkeit - Emma zur Nieden - E-Book

Weg aus der Einsamkeit E-Book

Emma zur Nieden

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Beschreibung

Der Liebesroman "Weg aus der Einsamkeit" handelt von Rose MacGadden, die zusammen mit ihrem Bruder die elterliche Whiskybrennerei in den schottischen Lowlands betreibt. Rose verkauft darüber hinaus die Produkte der Brennerei in ihrem kleinen Laden und führt Verkostungen durch. Mildred bittet sie, Sarah Stein einen Job zu geben. Sarah hat all ihre Ersparnisse verbraucht und benötigt diese Arbeit dringend. Obwohl Sarah an ihrem ersten Tag sehr ungeschickt ist, stellt sie sich im Laufe der Zeit als Roses beste Mitarbeiterin heraus. Die beiden Frauen begegnen immer wieder auf Roses Spaziergängen. Rose erkennt, dass Sarah eigentlich Malerin ist. Sarah hat ihre Staffelei und Leinwände dabei. Sie erfasst die Stimmung der Landschaft. Ihre Bilder sind magisch. Bei einer Aktion im Keller von Roses Laden kommen die beiden sich näher. Schließlich küssen sie sich. Sarah ergreift die Flucht. Von der Liebe will sie nichts mehr wissen. Nie wieder will sie von einer Frau verletzt werden, wie Regina sie verletzt hat. Als Rose Sarah einige Tage danach in ihrem Cottage besucht, um mit ihr über ihre eigenen Gefühle zu sprechen, verhält Sarah sich sehr abweisend. Der Grund dafür liegt in dem Umstand, dass sie sich gerade ihre Altlasten von der Seele malt. All ihre Schmerzen und Niederlagen finden sich auf den Leinwänden wieder. Rose weiß, dass Sarah eine Künstlerin ist. Sie sieht frische Farbflecke auf deren Malerhemd. Sie hat einfach einen schlechten Zeitpunkt erwischt. Sowohl Sarah als auch Rose haben beide ein schweres Schicksal zu verarbeiten. Was hält Rose davon, dass Sarah trockene Alkoholikerin ist? Finden die beiden zueinander?

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Emma zur Nieden

Weg aus der Einsamkeit

Liebesroman

Impressum

Veröffentlicht bei Epubli

Erste Auflage Dezember 2018

Lektorat: Ute Köhler

Cover: Sarah Buhr

Was du liebst, lass frei. Kommt es zurück, gehört es dir – für immer.

Konfuzius

Bekannte Malerin in Entzugsklinik – Sarah Steins Leben liegt in Scherben

Wie erst jetzt bekannt wurde, hielt sich die berühmte, vielfach mit Preisen ausgezeichnete Malerin Sarah Stein einige Wochen in einer Entzugsklinik auf. Über den Auslöser einer Alkohol- oder Drogensucht kann nur spekuliert werden. Ein persönlicher Absturz der Malerin könnte im Zusammenhang stehen mit der ehemaligen Lebensgefährtin der Künstlerin, die vor Kurzem mit Sohn und Ehemann in einem Londoner Auktionshaus gesehen wurde. Niemand weiß, wohin die Malerin sich derzeit zurückgezogen hat.

Super Revue

Sarah überflog den Artikel, den sie kurz vor der Entlassung aus der Klinik im Wartebereich ihrer Psychologin gefunden und herausgerissen hatte. Sie faltete das Papier sorgfältig zusammen und legte es in den kleinen Abfalleimer neben ihrem Sitzplatz. In ein paar Minuten hielt der Zug in Stirling. Hier würde sie umsteigen in den Trossachs Trundler Richtung Lochearnhead. Sie erhob sich und wuchtete ihren Koffer aus der Gepäckablage über den Sitzen.

Die Malzherstellung – Der Anfang von allem

1

Rose blies das Streichholz aus, mit dem sie den Kamin angezündet hatte. Mildred saß in der einen Ecke des Sofas, das direkt davorstand. Eine wohlige Wärme verbreitete sich im ganzen Raum und zauberte orangerote Flammen auf Mildreds Gesicht. Kerzenlicht flackerte an den Wänden und vervollständigte die heimelige Atmosphäre.

Rose setzte sich in die andere Sofaecke und reichte ihrer Freundin ein Glas feinsten Single Malt Whiskys, den sie für besondere Gelegenheiten bereithielt: ein fünfzehn Jahre alter MacGadden, den ihr Vater in seinen besten Zeiten entwickelt hatte. Das war Roses Lieblingswhisky … mild und dennoch mit Charakter. Ihr Vater hatte ihn just im richtigen Moment aus dem Eichenfass abgefüllt, damit es den Geschmack im Whisky nicht zu dominant und scharf werden ließ. Und ein Abend mit Mildred war eine besondere und viel zu seltene Gelegenheit, diesen edlen Tropfen zu genießen. Außerdem schätzte Mildred den Whisky ebenso sehr wie sie selbst.

Mildred hob das Whiskyglas in die Höhe gegen das Licht. „Er hat genau die richtige Farbe“, urteilte sie fachmännisch, senkte das Glas und schwenkte es sanft hin und her. Fast ehrfürchtig hielt sie es anschließend unter ihre Nase und atmete den Duft ein, bevor sie vorsichtig ihre Lippen damit benetzte. Sie schloss die Augen, als die samtene Flüssigkeit ihre Kehle hinunterrann.

Rose beobachtete sie lächelnd. In gleicher Weise wie Mildred nippte sie an dem goldbraunen Getränk – das Meisterstück ihres Vaters. Inzwischen führte sie mit ihrem Bruder Ian den Betrieb. Ihr Vater stand ihnen allerdings weiterhin mit Rat und Tat zur Seite. Von klein auf war sie vertraut mit den Aromen der Brauerei und den Feinheiten der Zutaten, die man benötigte, um einen hervorragenden Whisky zu kreieren. Ihr Bruder und sie hatten dem Sortiment bereits einige eigene Kreationen hinzugefügt, die die althergebrachten Whiskysorten fabelhaft ergänzten.

„Mildred“, begann Rose das Gespräch, nachdem sie den Schluck auf ihrer Zunge hatte zergehen lassen. „Ich muss ein ernstes Wörtchen mit dir reden!“

Mildred drehte überrascht den Kopf in ihre Richtung und schob die Augenbrauen nach oben, als könnte sie kein Wässerchen trüben. „Was hab ich getan?“

„Die Aushilfe, die du mir empfohlen hast, hat heute angefangen“, sagte Rose.

„Ach ja?“ Mildred schwenkte das Glas in der Hand.

„Tu nicht so unschuldig, das weißt du ganz genau. Und sie hat nicht nur zwei linke Hände.“ Rose rief sich eine Szene in Erinnerung, die sich am Morgen in ihrem kleinen Whisky ´n All-Laden in der Stadt abgespielt hatte. Die Neue, Sarah, hatte zuerst beinah einen Karton ihres besten Whiskys, der für den Versand nach Übersee vorgesehen war, fallen gelassen. Allein Roses Reaktionsschnelligkeit war es zu verdanken gewesen, dass sie den Karton samt Flaschen in letzter Sekunde vor dem sicheren Auslaufen auf dem Fliesenboden gerettet hatte.

Danach – Rose dachte, es wäre eine gute Idee, Sarah lieber erst einmal in der Küche den Tee zubereiten zu lassen – war Sarah gestolpert und hatte das Tablett mit sämtlichen neuen, ziemlich teuren Whiskyprobiergläsern zerdeppert. Und zum krönenden Abschluss hatte sie wohl nicht richtig zugehört und statt zehn Teelöffeln Teeblätter zwanzig genommen und ein völlig ungenießbares Getränk hergestellt, das direkt in den Ausguss gewandert war.

Rose reichte Tee zwischen den Verkostungen der einzelnen Whiskysorten, die sie in ihrem Laden durchführte. Sie bildete sich ein, dass sich dadurch die verschiedenen Aromen neutralisieren ließen und man einen neuen Whisky unvoreingenommen probieren konnte, als hätte man nicht bereits drei oder vier unterschiedliche Sorten probiert. Auf diese Weise jedenfalls hatte sich der Verkauf all ihrer Produkte gesteigert. Der Tee musste von morgens bis abends frisch aufgebrüht werden, damit die Kunden stets davon nehmen konnten. Es schien sich herumgesprochen zu haben, dass Rose in ihrem Geschäft kleine Köstlichkeiten aus der Gegend bereithielt, die sie ebenfalls zum Probieren und zum Kauf anbot.

Die Szene am Morgen mit Sarah hatte durchaus etwas Groteskes, Absurdes, vielleicht sogar Bizarres gehabt.

Rose musste grinsen, als sie Mildred schließlich die Einzelheiten schilderte. Mittlerweile konnte sie darüber lachen, aber als es passierte, fühlte es sich wie eine Katastrophe an. Einmal hatte sie sogar kurz vor einer Explosion gestanden, eine Gefühlsregung, die sehr selten bei ihr vorkam. Sie erzählte äußerst amüsiert, als könnte sie letztendlich über sämtliche Missgeschicke ihrer neuen Mitarbeiterin hinwegsehen.

Mildred jedenfalls musste sich während Roses Erzählung mehrmals vor Lachen schütteln und sich die Tränen aus den Augen reiben. Immerhin war Rose durch den zeitlichen Abstand in der Lage, selbst darüber zu schmunzeln.

„Desgleichen hat sie zwei linke Füße und zwei linke Ohren“, schloss Rose ihren Bericht. Ihr standen inzwischen ebenfalls vor Lachen Tränen in den Augen.

Mildred konnte mit dem Amüsement gar nicht mehr aufhören, denn natürlich hatte Rose die Geschichte sehr ausführlich dargestellt, genüsslich jedes Detail ausgeschmückt und an der ein oder anderen Stelle maßlos übertrieben.

Mitten in ihr Lachen hinein fragte Mildred besorgt: „Du hast sie doch nicht gleich wieder rausgeworfen?“

„Sie wollte von allein gehen.“ Rose war ernst geworden, nachdem sie sich die Tränen aus den Augen gewischt hatte. Mit etwas Distanz – das musste sie eingestehen – waren die Episoden wirklich lustige Geschichten. „Aber ich habe ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass du dich sehr für sie eingesetzt hast und ich erwarte, dass sie morgen pünktlich ihren Dienst aufnimmt.“

„Glaubst du, das macht sie?“ Mildred runzelte die Stirn und wurde nachdenklich.

Offensichtlich kannte sie Sarah und sorgte sich, ob sie sich nach dem so misslungenen ersten Tag ein zweites Mal in den Laden trauen würde. „Ich weiß es nicht.“ Rose zuckte mit den Schultern. „Ich war sehr streng und bestimmend.“

„Ja, das kannst du sein.“ Mildred lächelte. „Danke, dass du sie überhaupt genommen hast, so ganz ohne Referenzen.“ Sie beugte sich zu ihr hinüber und legte kurz ihre Hand auf Roses Arm.

„Und außerdem eine Deutsche.“ Rose nippte erneut an ihrem Whisky. „Und von Whisky hat sie sicher nicht die geringste Ahnung.“ Sie seufzte, weil sie wusste, dass Sarah sie eine Menge Arbeit und Nerven kosten würde, und sie erklärte: „Ich hatte bisher keine Gelegenheit, mit ihr über unseren Whisky zu sprechen. All die kleinen Begebenheiten haben mich davon abgehalten.“ Sie grinste, als würden die Szenen vom Morgen vor ihr wie in einem Film ablaufen. Es hatte etwas von Mr. Bean. Roses Grinsen wurde breiter.

„Hast du was gegen Deutsche?“ Mildred hob überrascht die Augenbrauen. Einen rassistischen Zug hätte sie ihrer Freundin augenscheinlich nicht zugetraut.

„Natürlich nicht!“, wehrte Rose vehement ab. „Aber wenn ich sie tatsächlich vorne im Laden einsetzen will, muss ich sicher sein, dass sie sich auf die Bestellungen in der ihr fremden Sprache konzentriert, wenn sie sich schon die Zahlen zehn und zwanzig nicht merkt.“ Bei der Erinnerung an den ersten Schluck des ungenießbaren Tees verzog Rose vor Ekel das Gesicht, bevor sie sich vor Unbehagen schüttelte.

Dieser Anblick brachte Mildred zum Lachen. „Ich finde, sie spricht ganz gut Englisch!“, urteilte sie, denn sie kannte Sarah immerhin schon einige Monate.

„Sprechen ja, aber verstehen?“, zweifelte Rose. „Und Schottisch ist ja ein anderes Kaliber als Oxford-Englisch, das offensichtlich in deutschen Schulen gelehrt wird!“

„Du hast Kunden aus aller Welt in deinem Laden“, gab Mildred zu bedenken. „Und Deutsche rennen dir die Bude ein.“

„Da hast du natürlich recht“, stimmte Rose zu. „In dem Fall wird sie bei der Beratung sicher ein echter Gewinn sein, wenn ich ihr erst einmal alles erklärt habe und sie nicht den halben Laden zu demolieren droht.“ Sie runzelte die Stirn, bevor sie einschränkte: „Wenn sie alles richtig verstanden hat und es einigermaßen korrekt an die Kunden weitergeben kann.“

„Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie dumm ist“, versuchte Mildred, Rose zu besänftigen.

„Da hatte ich heute Morgen aber einen etwas anderen Eindruck.“ Rose war sehr nachdenklich geworden. Ihre Zweifel an den Kompetenzen ihrer neuen Mitarbeiterin waren ihr sicherlich anzusehen. Sie wäre allenfalls überzeugt von den Qualitäten ihrer neuen Mitarbeiterin, wenn sie in den nächsten Tagen eine tadellose Leistung zeigen würde. Aber vielleicht sollte Rose ihr tatsächlich eine zweite Chance geben. Wenn Mildred sich für jemanden dermaßen ins Zeug legte, musste etwas Besonderes hinter dieser Person stecken. Und möglicherweise gelänge es Rose, diese verborgenen Qualitäten zutage zu fördern.

„Ich danke dir jedenfalls, weil du es eine Weile mit ihr versuchen willst!“ Mildred erhob ihr Glas, um mit Rose anzustoßen. „Es liegt mir viel daran. Sie ist so ein netter Mensch und die Zuverlässigkeit in Person. Das wirst du schon sehen, wenn du sie erst einmal richtig kennengelernt hast. Sie hat über lange Zeit hinweg sehr zurückgezogen gelebt. Ich kann mir vorstellen, dass all die Missgeschicke allenfalls ihrer Aufgeregtheit zuzuschreiben waren.“

2

Rose war dabei, den Transporter auszuladen. Tom hatte sie versetzt. Er hatte eigentlich die Kartons mit den kleinen Probierfläschchen schleppen und in die Regale einräumen sollen, die ihr Bruder gestern in der Destillerie bis weit in die Nacht hinein abgefüllt und verladen hatte. Ihr war nichts anderes übrig geblieben, als selbst mit dem kleinen Transporter zu ihrem Geschäft zu fahren.

Die Kisten waren verdammt schwer. Und die meisten davon mussten in den Keller getragen werden, weil höchstens der Inhalt von vier oder fünf Kartons in den Laden passte, ohne dass er unaufgeräumt wirkte und die Kisten eine Lagerhallenatmosphäre erzeugten. Rose benötigte jedoch unbedingt den großen Vorrat, weil die Touristen ihr diese kleinen Flaschen förmlich aus der Hand rissen. Mit den Flaschen im Lager konnte Rose die Bestände auf den Tischchen im Laden schnell auffüllen. Die Probierfläschchen waren neben den erlesenen Whiskysorten in Flaschen im Normalformat ihr lukrativstes Geschäft. Oft nahmen die Touristen mehrere Sorten ihres edlen Destillats mit. Das kam sie günstiger, als je eine große Flasche zu kaufen.

„Morgen!“, hörte sie eine Person, die sich von hinten näherte. Zum Glück hatte Rose gerade keinen Karton in der Hand, sonst hätte sie sich maßlos erschreckt und ihn vielleicht fallen lassen. Sie drehte sich um und erkannte Sarah, die tollpatschige Aushilfe, die gestern bei ihr angefangen hatte. Na prima. Das war genau die Hilfe, die sie gebrauchen konnte. Rose rollte im Geiste ihre Augen und sah bereits die komplette Ladung der kleinen Whiskyflaschen die Straßen von Aberfoyle hinunterrinnen und die Luft auf Tage mit dem Aroma ihrer erlesensten Whiskysorten schwängern, statt in ihren Kartons im Keller zu lagern und auf den Verkauf zu warten.

„Morgen!“, antwortete Rose verhalten.

„Kann ich beim Tragen helfen?“, kam die zaghafte Frage von der Neuen.

Sie war viel zu früh dran. Das Bloß nicht! schluckte Rose hinunter und antwortete stattdessen wagemutig: „Sicher!“

Sarah schnappte sich zwei Kartons auf einmal, die sogar heil im Keller ankamen, obwohl Rose das Schlimmste befürchtet hatte. Im Keller musste Sarah ihren dicken Mantel ausgezogen und zusammen mit ihrer Tasche in ihrem Spind verstaut haben, weil sie ohne Mantel und Tasche die Kellertreppe nach oben hastete und zwei neue Kartons nach unten beförderte. Rose selbst trug immer nur einen, weil sie ihr zwei einfach zu schwer und zu sperrig waren. Sie wunderte sich ein wenig darüber, dass ihre Aushilfe offensichtlich über Bärenkräfte verfügte, obwohl deren schlanke Gestalt eine solche Stärke gar nicht vermuten ließ.

Mit Sarahs Hilfe dauerte die Ausladeaktion nicht so lange, wie Rose zuvor befürchtet hatte. Außerdem fühlte sie sich längst nicht so ausgelaugt, als wenn sie die Ladeaktion allein hätte durchführen müssen. Bis ihr Geschäft öffnete, war genügend Zeit. Das hatte sie Sarah zu verdanken. Zum Dank lud Rose sie auf einen Tee ein. Wenigstens konnte die Neue schwere Sachen tragen, ohne dass etwas zu Bruch ging.

„Es tut mir leid, dass gestern so viel schiefgelaufen ist“, entschuldigte sich Sarah. „So etwas ist mir noch nie passiert. Auch zwei linke Hände habe ich normalerweise nicht.“ Sie zeigte ihre Hände vor und zuckte mit den Schultern. Vorsichtig schaute Sarah zu Rose herüber. „Ich war gestern ausgesprochen nervös, nur so kann ich mir meine extreme, temporäre Tollpatschigkeit erklären. Ich könnte verstehen, wenn Sie …“

„Wir versuchen es erst einmal miteinander! Das hatte ich gestern ja bereits gesagt, und ich habe meine Meinung nicht geändert“, unterbrach Rose in einem Befehlston, der keinen Widerspruch zuließ. Und beim Ausladen hatte Sarah sich ja tatsächlich als ganz brauchbar und hilfreich erwiesen. Nein, als ausgesprochen brauchbar und hilfreich.

3

Leicht war die Einarbeitungszeit mit Sarah nicht. Rose brauchte viel Geduld mit ihr, weil sie die vielen Whiskysorten zunächst nicht auseinanderhalten konnte. Oft verwechselte sie den Blended mit dem Single Malt Whisky. Und sie weigerte sich beharrlich, die Whiskys einmal zu kosten, damit die Unterscheidung leichter fiele. Zumindest war Sarah nach einiger Zeit so weit, dass Rose sie abends den Laden allein absperren lassen konnte, wenn sie anderen Verpflichtungen in der Brennerei nachgehen musste. An manchen Tagen war nachmittags ohnehin kaum etwas los. Da konnte Rose Sarah durchaus den Laden schmeißen lassen, ohne befürchten zu müssen, am nächsten Tag ein heilloses Durcheinander beseitigen zu müssen. Und bis auf Sarahs Ungeschicklichkeiten am ersten Tag war danach nichts mehr zu Bruch gegangen. Den Tee bereitete sie inzwischen perfekt zu. Rose musste zugeben, dass er sogar besser schmeckte, als wenn sie selbst ihn anrichtete, denn Sarah fügte ab und an irgendein frisches Kraut hinzu, das sie aus dem Garten ihres Hauses mitbrachte. Das Cottage, in dem sie wohnte, verfügte über einen großen Garten, mit dessen Hilfe sich Sarah zum großen Teil selbst versorgte, wie sie Rose erzählt hatte. Insgeheim bewunderte sie Sarah sogar für den offensichtlich grünen Daumen. Die Bepflanzung im Garten ihres eigenen Cottages war nur deshalb so ansehnlich, weil sie ein Gartenbauunternehmen beschäftigte.

Sarah hatte vielleicht zu Beginn der Arbeit zwei linke Hände gehabt, von denen danach jedoch keine Rede mehr sein konnte. Und ihr Kopf funktionierte einwandfrei. Sie konnte nicht nur gut rechnen, sondern dachte mit. Einmal hatte Sarah mitbekommen, dass Tom sich krankgemeldet hatte – Rose hatte ihn zähneknirschend wieder in den Kreis der Mitarbeiter aufgenommen, nachdem sie ihn zuerst gefeuert hatte, weil er mehrmals nicht zum Dienst erschienen war. Sofort hatte Sarah angeboten, mit dem Kleintransporter die Whiskylieferungen in der Gegend auszufahren. Mit einem Stirnrunzeln hatte Rose ihr die Aufgabe übertragen, weil sie niemanden sonst dafür hätte entbehren können.

Das schien eine Tätigkeit zu sein, die Sarah richtig Spaß machte. Nicht nur, dass kein einziger Karton beim Ausliefern zu Schaden gekommen war, sie erwies sich als ausgezeichnete Meisterin im Small Talk. Das hatte Rose ihr gar nicht zugetraut. Die Kneipenwirte, die Sarah beliefern sollte, waren außerordentlich erfreut, denn Tom galt als maulfaul und war stets auf dem Sprung, wenn er die Lieferung ausgeladen hatte.

Rose war nahezu euphorisch gewesen, als einige der Wirte am nächsten Tag angerufen hatten, um erstens weitere Kartons Whisky zu ordern, zweitens darauf zu bestehen, dass Sarah die Lieferung übernahm, und drittens die Lieferantin über den grünen Klee hinweg zu loben. Solch eine Geschicklichkeit im Umgang mit den eher als schwierig zu bezeichnenden Wirtsleuten der Umgebung hätte Rose Sarah unter keinen Umständen zugetraut. Ihre Bewunderung für Sarah wuchs weiter. Sie selbst hätte Derartiges in einer fremden Sprache niemals fertiggebracht. Ein Verkaufstalent schien sie ebenfalls zu besitzen. Der Umsatz der Auslieferungen war rasant gestiegen, seit Sarah diesen Dienst übernommen hatte.

„Was haben Sie mit den Gastwirten gemacht?“, hatte Rose eines Abends gefragt.

„Was meinen Sie?“, hatte Sarah arglos entgegnet.

„Die Jungs sind ganz scharf auf unseren Whisky und sie wollen, dass Sie die Auslieferung übernehmen.“

Auf Sarahs Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, das ihre Züge gleich viel lebendiger wirken ließ. Ihr gefiel augenscheinlich das Lob. Sie hätte längst eins verdient, schalt Rose sich selbst.

„Ich war nett zu ihnen“, beantwortete Sarah Roses Frage. „Und es hat mir großen Spaß gemacht, ein wenig mit ihnen herumzualbern.“

Rose wunderte sich darüber, dass Sarah mit den unzugänglichen schottischen Schankwirten herumalberte. Dass ihre Mitarbeiterin offensichtlich in der Lage war, eine offenherzige Freundlichkeit an den Tag zu legen, hätte Rose niemals zu hoffen gewagt. Rose hätte Sarah eher als zurückhaltend bis scheu eingeschätzt. Und sie alberte mit den Pubbesitzern herum? Fast hätte Rose vor Unglauben den Kopf geschüttelt. Aber die Verkaufszahlen sprachen für sich. Daran gab es nichts zu rütteln.

In ihrer täglichen Zusammenarbeit hielt die neue Mitarbeiterin sich sehr zurück mit dem Sprechen. Das hatte Mildred Rose von vornherein auf den Weg gegeben, dass Sarah nicht gerade redete wie ein Buch. Aber mit den Wirten aus der Gegend schien sie gut zurechtzukommen. Sie galten als besonders schwierig im Umgang mit Fremden, weil sie die Zähne nicht auseinanderbekamen, doch wahrscheinlich lagen sie mit Sarah auf derselben Wellenlänge und kamen deshalb so gut mit ihr aus, vermutete Rose. Ihr sollte es recht sein. Sie klopfte sich selbst auf die Schulter, weil sie Sarah nach ihrem ersten Tag in ihrem Laden eine zweite Chance gegeben hatte. Rose gab sich einen imaginären Klaps auf den Hinterkopf und fuhr mit der Abrechnung fort.

Bei einer weiteren Verladeaktion mit einer Lieferung gerade ausgereifter Whiskysorten räumte Sarah den Keller gleich so geschickt um, dass viel mehr Lagerraum entstand. Das sparte Rose eine Lieferung im Monat und damit Zeit, Arbeit und viel Mühe. Die neue Aushilfskraft entwickelte sich ganz allmählich zu einem Glücksfall für Rose. Dass sie so etwas nach dem unglücklichen Beginn mit ihrer neuen Kraft sagen würde, hätte sie nie und nimmer zu hoffen gewagt.

Rose beobachtete Sarah, als sie den Lieferwagen für eine Lieferrunde umräumte. Der Wagen wurde aus den Beständen des Lagers in der Brennerei direkt beladen. Sarah hatte die Tour in einer anderen Reihenfolge geplant als Tom, deshalb sortierte sie die bereits geladenen Kartons um. Auf Nachfrage erklärte Sarah, dass einer der Wirte sie gebeten hatte, etwas später zu kommen. Sie hatte für ihn die Tour geändert. Das war sicher ein Grund dafür, warum die Wirte sie so mochten.

Rose war begeistert, dass Sarah mittlerweile zu einer wichtigen Kraft für ihr Geschäft avanciert war, denn manchmal musste Rose sie den ganzen Tag im Laden allein lassen, weil ihre Anwesenheit in der Destillerie erforderlich war. Sarah bewältigte die Aufgaben inzwischen mit Gelassenheit und Geschäftssinn. Bei der Abrechnung war Rose stets äußerst zufrieden mit der Summe und vor allem mit Sarah.

Außerdem beobachtete Rose, dass Sarah sich zwar sehr zurückhaltend im Umgang mit anderen Menschen verhielt, man sich aber vollkommen auf sie verlassen konnte. Und die Whiskysorten der eigenen Brennerei kannte sie inzwischen auswendig. Darüber hinaus erklärte sie anschaulich deren Geschmacksrichtungen. „Der Whisky zergeht auf der Zunge wie ein aufgehendes Rosenblatt!“, hatte Rose Sarah einmal einen recht jungen Single Malt beschreiben hören. Sie selbst hätte den Whisky nicht treffender charakterisieren können, hatte sie während ihrer Beobachtung gedacht. Rose war entzückt gewesen, weil Sarahs blumige Sprache exakt das Gefühl auf der Zunge und im Mund beschrieb, dass die Whiskys der MacGadden-Brennerei hervorriefen. Die Kunden rissen ihr daraufhin den Whisky förmlich aus der Hand.

Sarah konnte außerdem die Herstellungsarten wunderbar erklären. Sie wusste, welcher Whisky wie lange in welchem Eichenfass gelagert gewesen war und welche Sorte eher in einem Metallfass lagern musste, um seine Aromen zu entfalten. Allein – sie hatte bislang keinen einzigen Tropfen des Whiskys probiert. Weder bei den Verkostungen, die Rose regelmäßig im Laden für die Touristen anbot, noch bei den mittäglichen Zusammenkünften. Rose war sich nicht sicher, ob es eine gute Werbung war, wenn ihre beste Mitarbeiterin gar keinen Whisky zu sich nahm. Aber sie konnte Sarah natürlich nicht zum Probieren zwingen. Woher sie allerdings das Gefühl eines Whiskys auf der Zunge und im Mund beschreiben konnte, war zunächst ein Geheimnis für Rose. Vielleicht lüftete sie es bald. Irgendwann.

„Sei doch froh“, hatte Mildred gemeint. „Besser als James, der dir den ganzen Laden leer gesoffen hat.“ Drastisch, aber wahr, hatte Rose ihr in Gedanken zugestimmt und nicht weiter nachgefragt. Ob Mildred etwas über Sarahs Abstinenz wusste?

4

Rose bekam eines Abends ein Gespräch mit, das Sarah mit Harriet führte. Harriet, eine Studentin, die stundenweise bei ihr arbeitete, war so etwas wie der Sonnenschein in ihrem Laden. Sie war jung, sah toll aus und lockte vor allem die jungen Männer ins Geschäft. Eines Tages schien sie sehr aufgewühlt. Sie hatte wohl geweint. Was genau Sarah ihr erzählte, konnte Rose nicht verstehen, aber dass sie dabei sehr einfühlsam vorging, war nicht zu übersehen. Sie schaffte es, Harriets Tränen zum Versiegen zu bringen. Das war offensichtlich. Und sie munterte Harriet auf, sodass sie schon bald ein Lächeln auf den Lippen trug.

Mittlerweile konnte Rose sich die Arbeit ohne Sarah gar nicht mehr vorstellen. Sie erledigte nicht nur zuverlässig sämtliche ihr übertragenen Aufgaben, sondern kümmerte sich darüber hinaus um die Sorgen der Belegschaft, wenn die Situation es erforderte. Sollte Sarah je Roses Laden verlassen, entstünde eine große Lücke. Rose war sich sicher, dass diese nicht so leicht zu füllen wäre.

Mit ihrer Größe und den schönen blauen Augen, würde Sarah zwar weder Miss World geschweige denn Miss Aberfoyle werden, aber sie hatte etwas an sich, das Rose faszinierte. Nicht von Anfang an, aber je länger sie Sarah kannte, desto mehr gefiel sie ihr. Einerseits war sie geheimnisvoll – Rose wusste nichts über sie außer dem Wenigen, was Sarah ihr bis dahin preisgegeben hatte. Andererseits umgab ihre beste Mitarbeiterin eine tiefe Traurigkeit, die sie durch ihre Unnahbarkeit zu verdecken versuchte. Es war Rose, als umgäbe Sarah dieselbe Traurigkeit, die sie selbst zuweilen erfasste. Es musste ihr etwas zutiefst Verletzendes widerfahren sein, war Rose sich sicher. Etwas Ähnliches wie ihr selbst vielleicht. Rose seufzte, bevor sie sich erneut ihrer Arbeit widmete, um nicht in eine düstere Stimmung abzugleiten.

Zu Beginn ihres Kennenlernens hatte Sarah verhärmt auf Rose gewirkt … fast wie eine Magersüchtige. Aber seit sie bei Rose arbeitete, beteiligte sie sich an den regelmäßigen gemeinsamen Mahlzeiten und hatte an Gewicht zugelegt. Stand ihr ausgezeichnet, bemerkte Rose eines Mittags, als sie Sarah verstohlen beobachtete. Die Hose lag eng am Po an und schlackerte nicht mehr darum herum. Rose erschrak über ihre unangemessenen Gedanken. Sarah war ihre Angestellte, schalt sie sich und versuchte, ihren Puls in normale Bahnen zu lenken.

Dass Sarah anfangs in den Kellerräumen für Ordnung gesorgt hatte, war ihr daher ganz recht gewesen, weil sie nicht wusste, wie ihre Kunden auf eine extrem dünne Bedienung reagieren würden, die den Anschein machte, als habe sie Essstörungen. Aber das Thema hatte sich mittlerweile erledigt, und von der mutmaßlichen Magersucht war nichts mehr zu sehen.

Erneut warf Rose einen Blick auf Sarahs frauliche Kurven, die ihr äußerst anziehend erschienen.

Schluss damit, mahnte sich Rose. Schließlich war sie längst noch nicht über Karen hinweg, außerdem dürfte Sarah einige Jahre älter sein als sie selbst. Doch ihre innere Stimme der Vernunft verstummte und machte anderen Gedanken Platz: Na und, was hatte Liebe mit Alter zu tun? – Was hieß überhaupt Liebe? Von Liebe war sie mehr als meilenweit entfernt, musste aber zugeben, dass sie sehr angetan von Sarah war.

5

Mit einer dicken Jacke bekleidet saß Sarah auf dem Bänkchen vor ihrem Cottage. Die Vorboten des Frühlings brachten zwar kalte Luft, aber sie war klar und frisch. Sarah atmete tief ein und aus. Heute war ein sehr anstrengender Arbeitstag gewesen. Rose und sie hatten Regale eingeräumt. Und weil das Befestigungssystem sehr zu wünschen übrig gelassen hatte, hatte Sarah dafür sorgen müssen, dass die Regale nicht umfielen und die vielen Kartons mit kostbaren Whiskyflaschen in flüssiger Form durch den Keller rannen. Sie hatte die lockeren Schrauben mit dem Akkuschrauber festgedreht. Sarah schloss die Augen und lächelte, als die Szene im Keller vor ihrem inneren Auge auftauchte. Sie und Rose waren sich nah gekommen. Sehr nah.

Sarah schüttelte den Gedanken ab und dachte daran, dass sie ausgesprochen skeptisch gewesen war, als Mildred ihr vor ein paar Monaten vorgeschlagen hatte, bei Rose im Geschäft zu arbeiten. Ausgerechnet in einem Geschäft voller alkoholischer Getränke … Außerdem war es ewig her, dass sie sich arbeitstechnisch hatte unterordnen müssen. Während ihres Studiums hatte sie sich den Unterhalt in einem Eissalon verdient. Das waren harte Zeiten gewesen. Ständig hatte die Chefin herumgemeckert, meistens grundlos. Sarah hatte sich vorgenommen, sofort zu kündigen, wenn ihre jetzige Vorgesetzte solche Anwandlungen haben würde, einerlei, ob sie deshalb kein Geld mehr verdienen würde. Das Gefühl, vor allen anderen bloßgestellt zu werden, wollte sie nie wieder erleben.

Aber es war alles anders gekommen. Rose war trotz Sarahs Anfangsschwierigkeiten ausgesprochen freundlich und umgänglich gewesen. Obwohl Sarah anfangs lediglich die Arbeit angenommen hatte, weil ihr Bankkonto tiefrote Zahlen geschrieben hatte, hatte sie mit zunehmender Dauer mehr Freude daran. Die Kolleginnen waren vergnügt und immer für einen Spaß zu haben wie übrigens die Chefin selbst. Und die schaffte es, die Anweisungen so zu geben, dass man sich nie herumkommandiert fühlte.

Auch heute nicht. Eigentlich war sie es gewesen, die die Anweisungen gegeben hatte, denn Rose mochte zwar eine gute Geschäftsfrau sein, aber was ihr handwerkliches Geschick anging, schien sie zwei linke Hände zu haben. Ohnehin war es ihr unerklärlich, wieso Rose bei der Innenausstattung des Kellers nicht Profis gefragt hatte, wie man die Regale so an den Wänden sicherte, dass man nicht ständig Angst haben musste, dass sie umkippten. Das Bild, das sich Sarah bei genauerem Hinsehen geboten hatte, war hanebüchen gewesen. Sämtliche Schrauben, mit denen die Regale an der Wand befestigt waren, hatten sich gelockert. Ein Wunder, dass Rose der Whisky nicht schon längst um die Ohren geflogen war.

Ein Lächeln zauberte sich auf Sarahs Gesicht, als sie sich daran erinnerte, wie sie Rose während der Befestigungsarbeiten dauernd unwillkürlich hatte berühren müssen, damit die Regale nicht wie Dominosteine umfielen. Hitze war in ihr aufgestiegen, als sie Roses ganzen Körper gespürt hatte, während sie an ihr vorbei gegriffen hatte, um eines der Regale am Umfallen zu hindern. Sie schob die Erinnerung erneut beiseite, denn Beziehungen waren für sie keine Option mehr, seit Regina sie verlassen hatte.

Sie wollte lieber daran denken, wie sehr ihr die Arbeit bei Rose im Geschäft gefiel, und sie mochte Rose. Als Sarah merkte, dass ihr Herzschlag davonzueilen drohte, mahnte sie sich erneut, dass ihr Rose bloß als Chefin sympathisch war. Die Frau war einfach nett. Alles andere schlug sie sich besser aus dem Kopf. Ein für alle Mal. … Wenn das so einfach wäre.

Sarah schloss für eine Sekunde die Augen und versuchte, auf andere Gedanken zu kommen. Sie genoss es zum ersten Mal seit Langem, auf dem Bänkchen zu sitzen und die Landschaft auf sich wirken zu lassen. Zwar hatte sie in dem Dreivierteljahr, in dem sie sich in Lochearnhead niedergelassen hatte, regelmäßige Spaziergänge unternommen, aber dabei war es nie um die Schönheit der Umgebung gegangen, sondern lediglich darum, ihre körperliche Fitness nicht zu verlieren. Die Bewegung rund um den Loch Earn konnte ganz schön anstrengend sein. Ein anderer Effekt dieser schweißtreibenden Wanderungen war, dass die Erinnerungen an Regina mit jedem Schritt mehr verblassten.

In dem Moment, in dem sie vor ihrem Cottage saß und die frische Luft einatmete, beschloss sie, am nächsten Tag zum See zu spazieren und ihren Skizzenblock mitzunehmen. Diese Idee erschreckte sie, hatte sie doch seit bestimmt drei Jahren keinen Stift oder Pinsel mehr in der Hand gehabt. Ohnehin war sie davon ausgegangen, nie wieder malen zu können. Die kleinen Aquarelle, die sie ab und an bei Mildred verkaufte, waren nicht mit den Werken zu vergleichen, die sie damals auf die Leinwand gebracht hatte. Die Benutzung von Aquarellfarbe hatte für sie nichts mit Kunst zu tun. Plötzlich packte sie eine unerklärliche Lust, den Pinsel neuerlich über die Leinwand tanzen zu lassen. Vielleicht war ihre Fähigkeit, ein Motiv auf dem Papier festzuhalten, nicht vollends in der Versenkung verschwunden. Sarah hoffte es inständig. Allein der Gedanke an den glatten Holzpinsel in ihrer Hand ließ ihre Finger vor lauter Freude kribbeln, an einer Skizze zu arbeiten, sich nur auf diesen Vorgang zu konzentrieren. Damals war ihr Kopf in solchen Augenblicken stets frei von anderen Dingen gewesen. Es hatte sich angefühlt wie Meditation.

Am Sonntag erwachte Sarah besonders früh. Sie hielt es im Bett nicht mehr aus, musste ihren Plan vom Vortag gleich in die Tat umsetzen. Sie musste wissen, ob das Skizzieren leicht von der Hand ging oder ob es einige Übung erfordern würde. Ihr kam der Spruch einer Dozentin der Akademie in den Sinn: „Malen verlernt man nicht. Es ist wie Radfahren. Das bekommt man ebenso hin, wenn man eine Weile nicht gefahren ist. Und so wird es mit dem Malen auch sein. Ab jetzt werden Sie es nicht mehr los.“ Während des Studiums war Sarah dieser Satz wie eine Offenbarung erschienen. Als sie mit dem Malen abschloss – das dachte sie jedenfalls nach dem Desaster mit Regina – war er ihr wie ein Fluch vorgekommen. Die inneren Bilder, die beim Skizzieren und Malen vor der Leinwand an ihr vorüberliefen, hatten sie lange Zeit nicht losgelassen und sie in Angst und Schrecken versetzt. Sie hatte nie wieder malen wollen, nie wieder einen Pinsel halten wollen, nie wieder Farben zum Leuchten bringen wollen, weil es ihrer desolaten Situation nicht angemessen erschienen war. Seit Regina sie verlassen hatte, war es ihr nicht mehr möglich gewesen, sich auf eine Leinwand oder ein Skizzenblatt zu konzentrieren.

Jetzt hoffte Sarah inständig, dass diese Phase vorbei war, denn alles in ihr brannte danach, den Pinsel zu schwingen. Sie wollte die Landschaften in ihrer eigenen Interpretation nicht nur skizzieren, sondern sie anschließend auf die Leinwand bannen und sie darauf lebendig werden lassen. Sarah selbst wollte sich wieder lebendig fühlen. Ihr Puls raste. Würde ihr all das gelingen? Wollte sie nicht zu viel auf einmal?

Sarah trat samt Skizzenblock und Stiften in die Sonne. Sie atmete tief ein. Herrlich, diese klare Morgenluft. Der Atem strömte durch ihren Körper und ließ ihn wacher werden. Mit großen Erwartungen ging sie hinunter zum See zu einer Stelle, die in der Morgendämmerung eine großartige Stimmung verbreitete. Dort würde sie mit den ersten Skizzen beginnen.

Sarah hatte den ganzen Tag am See verbracht, hatte Licht und Schatten an verschiedenen Plätzen am See skizziert. Als sie nach ihrer Rückkehr die Skizzen auf dem Esstisch nacheinander betrachtete, war sie mit dem Ergebnis mehr als zufrieden. Frau Professor Schön hatte recht gehabt: Man verlernte das Malen nicht. Diese Zeichnungen waren besser als alles, was sie bisher zustande gebracht hatte. Schon die Skizzen wirkten lebendiger als alles, was sie je in ihrem Leben geschaffen hatte.

Morgen würde sie damit beginnen, die besten Motive auf der Leinwand umzusetzen. Die Vorfreude ließ wiederum ihre Finger bis in die Arme hinauf vibrieren. Sie stieg auf den Dachboden, um die versteckte Kiste mit den Farben hervorzuholen. Wo war eigentlich die Staffelei abgeblieben?

6

Rose hatte Mildred für einen Montagabend zum Grillen eingeladen. Das Restaurant der Freundin war montags ebenso geschlossen wie ihr eigener Laden. Deshalb bot es sich an, einen gemütlichen Abend miteinander zu verbringen. Die beiden hatten am Nachmittag in der Küche gewirbelt und Marinaden und Soßen für das Fleisch hergestellt. Sie hatten die Erfahrung gemacht, dass die eigenen Soßen wesentlich besser schmeckten als alles Gekaufte. Außerdem hatte man den Überblick über die Zutaten.

Rose hatte bereits den Grill angeworfen. Mit einer dicken Jacke stand sie davor und begutachtete die Grillkohle, damit sie den Zeitpunkt für das Auflegen des Fleisches nicht verpasste. Die Temperaturen hatten angezogen, obwohl der Frühling schon seine Fühler ausgestreckt hatte. Aber die beiden waren erfahrene Grillerinnen, einerlei, was das Thermometer anzeigte. Mildred deckte inzwischen den Gartentisch. Sie hatte zwei neue Salate kreiert. Rose wollte nun testen, ob Mildred sie auf ihren Speiseplan im Restaurant setzen konnte.

Rose lächelte. Auf diese Weise war sie des Öfteren zu wunderbaren, teilweise allerdings gewöhnungsbedürftigen Kreationen gekommen. Leckere vegetarische Aufläufe waren genauso dabei wie eine interessante Zubereitung von Rehfleisch. Rose verzog in der Erinnerung das Gesicht. Dieses Gericht hatte es definitiv nicht auf die Speisekarte bei Mildred geschafft. Dennoch verdienten die meisten Mahlzeiten ein großes Lob.

Die Kohle loderte noch, obwohl sie das Fleisch längst gegessen hatten. Rose und Mildred saßen fest in ihre Jacken eingepackt auf den Gartenstühlen und hatten ein Glas Whisky vor sich. Ein krönender Abschluss für ein sternewürdiges Menü.

Rose hatte die Augen geschlossen, als der relative junge Whisky, den sie gemeinsam mit ihrem Bruder kreiert hatte, die Kehle hinunterrann. Der war ihnen richtig gut gelungen. Wenn er weitere fünf oder sechs Jahre reifte, würde es ein Spitzenwhisky sein. Sie öffnete die Augen. „Sag mal“, begann sie. „Weißt du, warum Sarah in der letzten Zeit so gut drauf ist?“

„Das ist mir auch schon aufgefallen“, stimmte Mildred zu. „Sie war letzte Woche Samstag in meinem Restaurant, hat gescherzt und war ausgelassen. So fröhlich kenne ich sie gar nicht.“ Mildred sah Rose in die Augen. „Steht ihr ausgezeichnet, finde ich.“

Rose nickte und spürte eine leichte Röte in ihre Wangen aufsteigen. „Ich wollte mich ja nicht beschweren. Es kam mir nur außergewöhnlich vor. Und ich dachte, du kennst vielleicht die Ursache für die Ausgelassenheit.“

„Tja.“ Mildred nahm einen Schluck ihres Whiskys. „Das wirst du schon selber herausfinden müssen.“ Sie zwinkerte Rose zu. Die wandte ihren Blick ab. „Aber sag mal,“ Mildred machte eine bedeutungsvolle Pause, „kannst du mir erklären, woher deine ausdauernd gute Laune kommt? Du machst Scherze, bist nicht pikiert, wenn ich dich auf den Arm nehme. Vor allem läufst du permanent mit einem Lächeln im Gesicht herum. So ausgelassen warst du lange nicht. Steht dir besser als diese Ernsthaftigkeit der letzten Jahre.“

Rose wandte den Kopf zur Seite, weil die Röte sich nun sogar auf ihrem Hals ausgebreitet hatte. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, als wollte sie sagen, das entspräche nicht der Wahrheit. Insgeheim hätte sie zugeben müssen, dass dem tatsächlich so war. Seit Karens Tod hatte sie ihre Unbeschwertheit verloren. Seit Sarah in ihr Leben – ähm – in ihren Laden getreten war, hatte mit Rose eine Veränderung stattgefunden. Über diese wollte sie allerdings gerade jetzt nicht nachdenken und sprechen schon gleich überhaupt nicht. Sie wusste, Mildred würde nicht lockerlassen, wenn sie einmal Lunte gerochen hatte. Mildred durfte unter keinen Umständen auf dumme Gedanken kommen. Sie musste dringend abgelenkt werden.

Deshalb schenkte Rose Mildred rasch ein zweites Glas Whisky ein und hoffte dadurch auf einen Themenwechsel. „Das ist Ians und meine Whiskykreation, als wir Dads Geschäft übernommen haben. Erinnerst du dich?“ Sie bat inständig, das neue Thema möge sie ablenken.

Mildred nickte und schwenkte die goldene Flüssigkeit in ihrem Glas hin und her. „Der hat richtig Charakter bekommen. Ein paar Jahre Reifung, und er wird besser schmecken als der beste Whisky deines Vaters.“

Mit stolzgeschwellter Brust setzte sich Rose in ihrem Gartenstuhl auf. Das war nicht ein Lob irgendeiner Person. Vor ihr saß die beste Whiskykennerin, die Rose jemals kennengelernt hatte.

Das Maischen oder Aller Anfang ist kompliziert

7

Sarah saß an einem ihrer Lieblingsplätze an einem der zahllosen Seen, die die schottischen Lowlands überzogen. Einer der Gründe, aus denen sie sich in diesen abgelegenen Landstrich zurückgezogen hatte, war die atemberaubende Schönheit der Landschaft. Das Spiel von Licht und Schatten beeindruckte sie sehr. Ein anderer Grund war die Einsamkeit. Selten begegnete sie einer Menschenseele. Das war genau das, was sie wollte: In der Abgeschiedenheit zu sich selbst finden, ohne von jemandem gestört zu werden. Sie beobachtete das Licht-und-Schatten-Spiel, das nahezu jede Sekunde eine andere Nuance offenbarte. Sie liebte dieses unvorhersehbare Spiel von Hell und Dunkel, das der Landschaft eine besondere Form der Melancholie verlieh und ebenso viel Kraft wie Lebensfreude vermittelte. All ihre Sorgen und Ängste traten in den Hintergrund, wenn Sarah die Intensität der Natur spürte.

An einem dieser Lochs saß sie oft nach einem langen Spaziergang. Vor ein paar Wochen hatte sie einfach nur dort gesessen und beobachtet. Manchmal hatte sie lediglich ihre Aquarellutensilien dabei, um ein paar schnelle Aquarelle aufs Papier zu bringen. Mildred hatte ihr immer einige davon abgenommen, denn in ihrem Wohnzimmerrestaurant hatte sie ein kleines Eckchen für künstlerische Kleinode aus der Gegend reserviert. Und Sarah durfte dort ebenfalls ihre Bildchen ausstellen. Verkauft wurden die kleinen Werke außerdem, was ihrer mittlerweile mehr als leeren Geldbörse bisher zugutegekommen war. Es gab Zeiten, da rissen die Touristen Mildred die lokalen Kunstwerke geradezu aus den Händen, sodass Sarah mit dem Malen kaum nachkam. Sarah war Mildred sehr dankbar für diese Möglichkeit. In letzter Zeit aber hatte sie immer öfter ihren Skizzenblock dabei, um erste Entwürfe anzufertigen, die ihr später als Vorlage für eines ihrer Ölbilder dienen sollten.

Sie lächelte. Die Zeit der kleinen, jedoch nicht sonderlich herausfordernden Aquarelle war endgültig vorbei, weil sie auf deren Verkauf nicht mehr angewiesen war. Die Stelle in Rose MacGaddens Geschäft brachte ihr genug Geld ein, um bequem davon leben zu können. Zum Glück waren damit auch die kargen Zeiten zu Ende, sinnierte Sarah. Sie hatte das Gefühl, das Leben kehrte allmählich zu ihr zurück. Seit sie bei Rose arbeitete, ging es ihr nicht nur finanziell wesentlich besser. Auch ihre Stimmung hatte sich gehoben. Rose war eine tolle Chefin. Sarah mochte die Arbeit in ihrem Laden.

Dass Sarah ihre Skizzen in Bilder umsetzte, war eine unerwartete und erstaunliche Veränderung, seit Sarah in dem Whisky-Shop arbeitete. Es würde einige Zeit brauchen, bis sie mit ihrer Arbeit an dem Punkt angelangt war, an dem sie damals mit dem Malen aufgehört hatte, aber sie war auf einem guten Weg. Die Lust auf ihre wahre Kunst kam allmählich zurück, und Sarah konnte deutlich spüren, dass sich auch in ihrem Inneren etwas Grundlegendes veränderte. Ihre Schwermut wurde von Tag zu Tag weniger.

Lange Zeit war es ihr nicht möglich gewesen, den Pinsel auf der Leinwand zu schwingen – nach allem, was passiert war. Sie kam in Schottland nicht nur körperlich zu Kräften, sondern ihre Seele erholte sich ebenfalls.

Sarah atmete tief die wunderbare Luft der schottischen Lowlands ein. Sie war froh, am Leben zu sein und sich spüren zu können, das Leben in sich spüren zu können. Ein unvergleichliches Gefühl. Ihre ersten Ölbilder waren zwar noch nicht perfekt, aber es deutete sich bereits an, dass sie anders malte als vor dem Desaster. Etwas Neues war in den Gemälden. Sarah hatte den Eindruck, ihre Kunst war reifer geworden.