Grenzschutz - André Kieserling - E-Book

Grenzschutz E-Book

André Kieserling

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Beschreibung

Ein Interview von Armin Nassehi und André Kieserling über die Lüge im außermoralischen Sinne. Die zwei Soziologen diskutieren über die Definition von Lüge, zitieren bekannte Philosophen wie Augustinus, Nietzsche und Kant, gehen der semantischen Karriere des Lügenbegriffs auf den Grund und sprechen darüber, welche Funktion die Lüge haben kann.

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Seitenzahl: 22

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Lauter Lügen

 

Inhalt

André Kieserling | Grenzschutz. Über die Lüge im außermoralischen Sinne – ein Gespräch

Anhang

Der Autor

Impressum

André KieserlingGrenzschutzÜber die Lüge im außermoralischen Sinne – ein Gespräch

Nassehi: Wir wollen über die Lüge reden. Beginnen wir mit der Begriffsgeschichte, hängt die Latte recht hoch. Schon bei Augustinus gibt es die strikte Forderung, dass man auf gar keinen Fall lügen darf und auf jeden Fall die Wahrheit zu sagen habe, Thomas von Aquin spricht ganz ähnlich, bei Kant gibt es auch einen Rigorismus, wobei er Wahrheit und Wahrhaftigkeit allzu identisch setzt. Die Argumentationsstruktur bei Augustinus ist fast eine wie bei Habermas, die eigentliche Funktion der Sprache sei, dass wir uns die Wahrheit sagen, authentisch sein können, woraus sich ein Postulat für einen lügenfreien Sprachgebrauch ableiten lasse. Nietzsche markiert wie so oft einen Paradigmenwechsel. Für ihn hat jeder klare Begriff schon eine bestimmte Form von Unschärfe, sodass zwischen Wahrheit und Lüge nicht eindeutig unterschieden werden könne. Meine erste Frage: Setzt die Rede von der Lüge nicht schon einen sehr starken Begriff von Wahrheit voraus?

Kieserling: Nietzsches Text Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne stellt ja seine Erkenntnistheorie über die Notwendigkeit von Fiktionen vor. »Außermoralisch« heißt also, dass er zwischen der Alltagsfrage, ob jemand auch in schwierigen Lagen aufrichtig ist und dafür Achtung verdient, und den im engeren Sinne wahrheitsbezogenen oderepistemologischen Fragen unterscheiden kann – und dass nur diese zweite Gruppe von Fragen ihn an dieser Stelle überhaupt interessiert. Vielleicht sollten wir in diesem Sinne, so wie es bei dir auch schon anklingt, zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit unterscheiden. In der wissenschaftlichen Wahrheitssuche haben wir es in der Regel mit Irrtümern zu tun, die nicht persönlich zurechenbar sind, und mit Lügen nur dann, wenn jemand plagiiert oder fälscht. Erst dieses Mogeln mit dem Wahrheitssymbol wird dann auch durch Achtungsentzug sanktioniert. Der starke Wahrheitsbegriff, von dem du sprichst, wäre demnach ein Thema, das vor allem in die Erkenntnistheorie gehört, und als Gegenbegriff zu Lüge käme demnach Wahrhaftigkeit in Betracht.

Nassehi: Bezogen auf Wahrheitsfragen im wissenschaftlichen Sinne ist das richtig, aber der performative, also praxisrelevante Gehalt dessen, was im Alltag »Lüge« heißt, ist schon an einem starken Wahrheitsbegriff oder einer starken Wahrheitserwartung orientiert, oder nicht?

Kieserling: Mir fällt zunächst einmal auf, wie locker und leichtgängig im Alltag und vor allem in den Massenmedien von Lüge gesprochen wird. Als Beispiel nenne ich nur die Ergebnisse einer kleinen Amazon-Testanfrage: Die Öko-Lüge; Die Cholesterin-Lüge; Die Patchwork-Lüge. Das sind aktuelle Titel von Sachbüchern, geschrieben fürs breite Publikum. Die Frage ist nur, wer diesen Sprachgebrauch ernst nimmt? Tun die Autoren es? Tun es die Leser? Oder wissen nicht vielmehr beide