Großstadt und dichterischer Enthusiasmus Baudelaire, Rilke, Sarraute - Elisabeth Schulze-Witzenrath - E-Book

Großstadt und dichterischer Enthusiasmus Baudelaire, Rilke, Sarraute E-Book

Elisabeth Schulze-Witzenrath

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Beschreibung

Als Gegenstand dichterischer Begeisterung wurden die Großstadt und das Erlebnis der Menschenmenge erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckt, als Charles Baudelaire ihnen seine "Tableaux parisiens" und die Prosagedichte des Spleen de Paris widmete. Ein halbes Jahrhundert später setzte sich Rainer Maria Rilke in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, die u.a. seine Pariser Erlebnisse festhalten, mit Baudelaires Bild der Großstadt und des Dichters auseinander und gab ihm die Form des "Leidens an der Stadt". An beide knüpft noch einmal Nathalie Sarraute an, deren Ich-Erzähler in Portrait d'un inconnu mit seiner Tropismensuche den Übergang zum 'nouveau roman' vollzieht.

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Elisabeth Schulze-Witzenrath

Großstadt und dichterischer Enthusiasmus

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-8233-0050-2

Inhalt

für JoachimVorbemerkungI. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadta) Ästhetische und anthropologische Voraussetzungenb) Baudelaires Vorstellung vom SchönenDie Entdeckung des ekstatischen Erlebnisses der Großstadt (‚Journaux intimes‘. ‚Les Foules‘)Ein Beispiel für künstlerischen Enthusiasmus in der Großstadt: ‚Le Peintre de la vie moderne‘Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Gedichten vor dem ‚Spleen de Paris‘‚Le Vin des chiffonniers‘Die ‚Crépuscule‘-Gedichte‚Paysage‘‚Fantômes parisiens‘‚Le Cygne‘f) „Tableaux parisiens“Die Erweiterung der poetischen Inspiration im ‚Spleen de Paris‘a) Die Wende zur Prosab) Ein neues Thema: „soubresauts de la conscience“c) „une prose poétique“4) ResümeeRilkes ‚Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‘ und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt1. Einleitung2. „sehen lernen“3. „entrer dans le personnage de chacun“4. „imagination active“5. Baudelaire und die Anerkennung des ‚argen Wirklichen‘6. Kindheit und Künstlertum7. Liebe8. Rilkes „Prosabuch“9. ResümeeDichterische Selbstfindung auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Nathalie Sarraute, ‚Portrait d’un inconnu‘1. EinleitungVorstufen: Die „femmes maltraitées“ und Baudelaires ‚Les Petites Vieilles‘3. Stadterlebnis und gestörte Inspirationa) ‚l’autre aspect‘ oder die Suche nach dem dichterischen Enthusiasmusb) Die Begegnung mit „elle“ und das Scheitern der Imagination4. Der Tropismus der Inspiration in der Stadt Baudelairesa) Besuch beim „spécialiste“, ‚Genesung‘ und ‚Rückkehr in die Kindheit‘Der Besuch im Museum und das unvollendete ‚Portrait d’un inconnu‘5. Von den „pierres“ und „pans de murs“ zu den Tropismen6. Stadterlebnis und entfesselte Inspirationa) Im Tropismenrauschb) Die Vater-Tochter-Szene7. Die Rückkehr des Dichters in die Normalität8. ResümeeIV. ZusammenfassungV. Bibliographie1. Baudelaire2. Rilke3. Sarraute

für Joachim

Vorbemerkung

Das vorliegende Buch geht von einem Problem der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts aus. Genauer gesagt von einem Problem der Lyrik, nämlich der Frage, welche Haltung die lyrische Dichtung in Zeiten der nachwirkenden Romantik und der Naturbegeisterung gegenüber dem neuen Phänomen des Lebens in der Großstadt einzunehmen habe. Diese Frage, die sich in ihrer Zuspitzung besonders in Frankreich mit seiner aufblühenden Metropole Paris stellte, ist ein Teil des großen Epochenumbruchs und der ästhetischen Wende des 19. Jahrhunderts. Sie hat ihre Antwort im Zuge der allgemeinen Klärung und Herausdifferenzierung des Selbstverständnisses der Kunst sowie der Auflösung und Angleichung der poetischen Genera gefunden.

Ende des 18. Jahrhunderts hatte, zunächst in England, die industrielle Revolution eingesetzt, die dank der Mechanisierung der Produktionsmittel den wirtschaftlichen Fortschritt beschleunigte und die Bevölkerung stark anwachsen ließ. Sie führte zu verdichteten Lebensräumen und zur Entstehung von Großstädten, der alsbald eine Verstädterung der Lebensformen folgte. Die erste europäische Großstadt internationalen Ansehens war London, das im 19. Jahrhundert bald von Paris überflügelt wurde, besonders seit dessen städtebaulicher Umgestaltung unter Napoleon III. durch den Präfekten Georges-Eugène Hauss­mann.

Schon im 18. Jahrhundert hatte der Journalist und Romancier Louis Sébastien Mercier in seinem Tableau de Paris (1781–1788) in mehr als 1000 Kapiteln seine Eindrücke aus dem Alltagsleben der Stadt Paris festgehalten. Im Rückgriff auf das Diderotsche Konzept des ‚tableau‘ als pathetischer Zusammenfassung eines ‚drame‘ wollte er die vielfältigen Sitten und Gebräuche der Stadt, ihre physische und moralische Physiognomie mit ihren Gegensätzen möglichst getreu aufzeichnen1. Nach diesem überaus erfolgreichen feuilletonistischen Beginn, dem bis in die Mitte des folgenden Jahrhunderts zahlreiche weitere tableaux-Sammlungen folgten, fand die Großstadt Paris bald auch Eingang in die schöne Literatur, allem voran in Balzacs Comédie humaine. Balzac hatte nach ersten Versuchen in unterschiedlichen Genera Anfang der 30er Jahre begonnen, Stadtnovellen und Stadtromane zu schreiben, in denen er die vorgefundenen Schemata des historischen, des Schauer- und Geheimnisromans und des ‚drame‘ in einer städtischen Umgebung ansiedelte. Paris wurde ihm zum zentralen Ort seiner ‚menschlichen Komödie‘, die die gegenwärtige Gesellschaft mit ihren natürlichen und sozialen Arten, ihrem „Mobiliar“ und ihren Gebrauchsgegenständen, ihren Tugenden und Lastern und den in ihr gelebten ‚drames‘ wiedergeben und so die in der Historie fehlende Geschichte der Sitten liefern sollte2.

In der Lyrik ließ ein Pendant von gleicher Bedeutung lange auf sich warten, obgleich die romantischen Lyriker durchaus am ‚Mythos Paris‘ und seiner poetischen Sprache mitwirkten, der sich nach 1830 über mehr als ein Jahrzehnt entwickelte3. Nach 1850 entdeckte Victor Hugo im Exil seine Liebe zu Paris, und die „poètes noctambules“, mit denen Baudelaire sympathisierte, besangen die kleinen Leute, die Handwerker und sozialen Randerscheinungen der Hauptstadt4. Aber erst Baudelaire ging das Thema grundsätzlich an, indem er die Frage nach dem spezifischen Schönen der modernen Großstadt stellte. Die ersten Überlegungen zum „héroїsme de la vie moderne“ und zur „modernité“ in seinen kunstkritischen Schriften stehen noch erkennbar unter dem Einfluss Balzacs. Doch der Lyriker Baudelaire besann sich bald auf die besondere Funktion der Dichtung und fand vom romantischen Konzept der Ekstase in der Natur (Mme de Staёl, Chateaubriand) über Poe zu einem lyrischen Enthusiasmus, der auch in der Großstadt wirken kann, weil er auf die inneren Phantasiebilder und auf den Menschen setzt. Das führte ihn in der Zweitauflage seiner Fleurs du mal (1861) zu der neuen Abteilung „Tableaux parisiens“ und in einem weiteren Schritt zum Spleen de Paris, einer Sammlung von Prosagedichten mit einer anpassungsfähigen ungebundenen Sprache, in der er bewusst auf den romanhaften „fil interminable d’une intrigue superflue“ verzichtete (À Arsène Houssaye). Damit hatte Baudelaire für die Großstadtdichtung einen Ausdruck gefunden, an dem fortan niemand mehr vorbeigehen konnte.

Dies widerfuhr ein halbes Jahrhundert später auch dem jungen Rilke, der nach ersten literarischen Versuchen mittellos und hoffnungsvoll aus der deutschen Provinz nach Paris kam, um dort seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Das Erlebnis der als feindlich empfundenen fremden Großstadt und die ästhetische Auseinandersetzung Baudelaires mit dieser Welt waren für ihn so tiefgreifende und widersprüchliche Erfahrungen, dass er sie in einem eigenen Werk, den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, verarbeitete. Sein Stellvertreter-Ich Malte, das darin um seinen dichterischen Weg ringt, und das Bild des Dichters, das Rilke mit dieser Figur zeichnet, folgen in einem bisher unerkannt gebliebenen Maße Baudelaires Vorstellungen vom „homme sensible moderne“. Zudem ist wohl auch bei Rilkes Entscheidung für ein „Prosabuch“, das mit Prosagedichten und erzählenden Stücken an der Grenze zwischen Lyrik und Roman angesiedelt ist, das Vorbild Baudelaires im Spiel gewesen.

Der Name Nathalie Sarrautes, die zum französischen ‚nouveau roman‘ der Mitte des vergangenen Jahrhunderts gezählt wird, mag in der hier genannten Reihe zunächst erstaunen. Doch war es Sarrautes erster Roman Portrait d’un inconnu mit seinen wiederholten Anspielungen auf Baudelaire und auf Rilkes Malte Laurids Brigge, der mich auf die Spur des dichterischen Enthusiasmus in der Großstadt gebracht hat. Denn bald drängte sich die Vermutung auf, dass es sich hier nicht um punktuelle Nennungen oder zufällige Lesefrüchte handelte, sondern um den maßgeblichen ästhetischen Kontext, in dem das Erzähler-Ich des Romans die Suche nach seinem neuen Erzählgegenstand der Tropismen sieht und in den Sarraute selbst ihren Erstling einordnete. Tatsächlich stehen Sarrautes Anfänge als Schriftstellerin (Tropismes, 1938) der Lyrik nahe, da die Tropismen allgemein menschliche seelische Regungen sind, freilich nicht nur solche eines Ichs, sondern ebenso die eines Anderen, eines Gegenübers und die jeweiligen Reaktionen darauf. Das Prosagedicht war daher für Sarraute eine natürliche Form, die sie aber bald überschritt. Auch war die Großstadt mit ihrer Vielfalt an Menschen, die einen reichen Nährboden für Tropismen liefert, ein selbstverständlicher Lebensraum für sie. Baudelaire und Rilke wurden ihr da zum expliziten Leitbild, wo es um den Dichter, seine Inspiration und deren Auslösemechanismen ging. Unter ihrem Einfluss gelang es Sarraute, in Portrait d’un inconnu den poetischen ‚neuen Roman‘ zu schreiben, der eine „poésie capable de s’expliciter elle-même, [de] montrer elle-même quelle est sa situation“ (Michel Butor) ist.

Meiner ersten Lektüre von Portrait d’un inconnu sind im Laufe der Jahre weitere gefolgt, von denen jede die Gestalt des Werks ein Stück klarer hat werden lassen. Ähnlich ist es mit Baudelaires und Rilkes einschlägigen Werken und Positionen gegangen, die ebenfalls dem Verständnis nicht wenige Schwierigkeiten bereiteten, sowie mit dem bisweilen einseitigen Bild, das man sich von ihnen in der Forschung gemacht hat, etwa Walter Benjamins Vorstellung vom „Chock“-Erlebnis der Großstadt. Schließlich hat sich herausgestellt, dass eine eingehende chronologische Darstellung den Verlauf des so ermittelten poetischen ‚Staffellaufs‘ der drei Autoren und die damit verbundene Annäherung von Lyrik und Roman am besten wiedergeben würde.

I.Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses

1)Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt

a)Ästhetische und anthropologische Voraussetzungen

Paul Valéry hat in seinen Überlegungen zur „Situation de Baudelaire“ auf die Bedeutung hingewiesen, die die Beschäftigung mit Edgar Allan Poe für die dichterische Selbstfindung Baudelaires hatte. Poe, der im experimentierfreudigen Umfeld der Neuen Welt den dichterischen Prozess mit einer bis dahin ungewohnten Unvoreingenommenheit und Scharfsichtigkeit analysiert hatte, habe mit seinen Überlegungen zu Ziel und Methode moderner Dichtung Baudelaire aus der Seele gesprochen und ihm bei der Lösung des Problems geholfen, ein großer Dichter zu werden, ohne in die Spuren Lamartines, Hugos oder Mussets zu treten1.

Die Forschung hat Valérys Urteil über das Verhältnis Baudelaires zu Poe und die Geistesverwandtschaft beider Dichter bestätigt und im Einzelnen nachgezeichnet, wie der Jüngere das Werk des Älteren kennen gelernt hat. Seit November 1845 erschienen in Paris die ersten französischen Übersetzungen von Poes Erzählungen, die Baudelaire so tief beeindruckten, dass er zu sammeln begann, was er über ihren Autor in Erfahrung bringen konnte2, sowie Übersetzungen von ihnen anzufertigen. Zudem verfasste er mehrere Artikel, in denen er Poe dem französischen Publikum vorstellte, den ersten im Jahr 1852 (Edgar Allan Poe, sa vie et son ouvrage3). Nachdem er zwischen 1853 und 1855 die bei Redfield, New York, seit 1850 erschienenen Bände der Ausgabe von Poes Werken4 erworben hatte, überarbeitete er, auf die dort gefundenen neuen Informationen gestützt, den früheren Artikel und stellte die neue Fassung Edgar Poe, sa vie et ses œuvres seinen unter dem Titel Histoires extraordinaires bei Lévy 1856 erscheinenden Übersetzungen voran. Die dort angekündigte Fortsetzung über Poes „opinions philosophiques et littéraires“ folgte 1857 in den Notes Nouvelles sur Edgar Poe, der Einleitung zu weiteren Übersetzungen (Nouvelles Histoires extraordinaires)5. Neben einer gekürzten Fassung der Biographie Poes enthalten die Notes Nouvelles die Darlegung seiner politischen Überzeugungen und vor allem seiner Gedanken zur Literaturkritik, insbesondere der Vorstellungen vom Dichter und der Dichtung, wie sie seinem letzten Essay The Poetic Principle zu entnehmen sind.

Seine Darlegung der ästhetischen Überzeugungen Poes im vierten und letzten Teil der Notes Nouvelles beginnt Baudelaire mit einer Übersetzung der Definition des Dichters, des „genus irritabile vatum“, aus Poes Fifty Suggestions6. Danach ist ein Dichter das, was er ist, dank seines angeborenen „sens exquis du Beau“, der ihm rauschhafte Wonnegefühle („jouissances enivrantes“) beschere, und eines „sens également exquis de toute difformité et disproportion“, der ihn auf ein Unrecht und eine Ungerechtigkeit außergewöhnlich stark reagieren lasse. Die berühmte Reizbarkeit sei eine Folge seiner Wahrnehmung von Proportionen jeder Art, mithin des Schönen. Wer sie nicht besitze, sei kein Dichter7. Dann geht er auf Poes methodisches Vorgehen beim dichterischen Schaffensakt ein:

Non seulement il a dépensé des efforts considérables pour soumettre à sa volonté le démon fugitif des minutes heureuses, pour rappeler à son gré ces sensations exquises, ces appétitions spirituelles, ces états de santé poétique, si rares et si précieux qu’on pourrait vraiment les considérer comme des grâces extérieures à l’homme et comme des visitations; mais aussi il a soumis l’inspiration à la méthode, à l’analyse la plus sévère. […] Il affirmait que celui qui ne sait pas saisir l’intangible n’est pas poète; que celui-là seul est poète, qui est le maître de sa mémoire, le souverain des mots, le registre de ses propres sentiments toujours prêt à se laisser feuilleter. Tout pour le dénoûment! répète-t-il souvent. Un sonnet lui-même a besoin d’un plan, et la construction, l’armature pour ainsi dire, est la plus importante garantie de la vie mystérieuse des œuvres de l’esprit. (S. 331f.)

Planung, bewusste Konstruktion und die vollständige Beherrschung aller Mittel seien nach Poes Überzeugung für ein Kunstwerk unumgänglich, und so habe er selbst sie auch angewandt. Vor allem anderen bedarf es aber eines außergewöhnlichen Enthusiasmus beim Dichter. Dazu hat Poe sich eingehend in seinen Marginalia geäußert, wo er von den Fantasien („fancies“) spricht, die in Zeiten körperlichen und seelischen Wohlgefühls im Zustand zwischen Wachen und Träumen in ihm auftauchten und eine seelische Ekstase auslösten, die einen übernatürlichen und absolut neuen Charakter hatte:

There is, however, a class of fancies, of exquisite delicacy, which are not thoughts […] They seem to me rather psychal than intellectual. They arise in the soul (alas, how rarely!) only at its epochs of most intense tranquility – when the bodily and mental health are in perfection – and at those mere points of time where the confines of the waking world blend with those of the world of dreams. […]

These „fancies“ have in them a pleasurable ecstasy […] I regard the visions, even as they arise with an awe which, in some measure, moderates or tranquilizises the ecstasy – I so regard them, through a conviction […] that this ecstasy, in itself, is of a character supernal to the Human Nature – is a glimpse of the spirit’s outer world; and I arrive at this conclusion […] by a perception that the delight experienced has, as its element, but the absoluteness of novelty.8

Mit der Zeit sei es ihm gelungen, die Umstände zu kontrollieren und die „fancies“ willentlich herbeizuführen („now I can be sure […] of the supervention of the condition, and feel even the capacity of inducing or compelling it“) sowie ihre flüchtigen Momente im Gedächtnis zu verankern („and thus transfer the point itself into the realm of Memory“), wo er dann die empfangenen Eindrücke, wenn auch nur kurz, analysieren und in Worte fassen könne: „where, although for a very brief period, I can survey them with the eye of analysis“ (S. 90). Von diesen Aussagen zur Poeschen Inspirations-Methode hat Baudelaire in seiner Zusammenfassung ausgewählt, was ihn besonders ansprach und es mit Wendungen wiedergegeben, auf die er später immer wieder zurückgegriffen hat („minutes heureuses“, „sensations exquises“, „états de santé poétique, si rares et si précieux“).

Dann legt er dar, was Poe im Poetic Principle über die Dichtung und den zweifachen Irrglauben vom langen Gedicht und vom Nutzen der Dichtung sagt. Da ein Gedicht nach Poe nur in dem Maße von Wert ist, wie es die Seele erregt und erhebt – „un poème ne mérite son titre qu’autant qu’il excite, qu’il enlève l’âme“9, alle seelischen Erregungen aber notwendigerweise flüchtig und von kurzer Dauer sind10, ist der Länge eines Gedichts eine natürliche Grenze gesetzt. Damit hat das Epos als unpoetisch zu gelten, wenngleich es einer gewissen Länge bedarf, um beim Leser eine Erregung zu bewirken. Zugleich weist Poe entschieden die Vorstellung zurück, dass die Dichtung der Wahrheit oder der Moral dienen müsse. Ihr Gegenstand sei vielmehr das Schöne und nur ein um seiner selbst willen geschriebenes Gedicht sei schön, wie man aus eigener Erfahrung wissen könne – mit Baudelaires Worten:

La poésie, pour peu qu’on veuille descendre en soi-même, interroger son âme, rappeler ses souvenirs d’enthousiasme, n’a pas d’autre but qu’elle-même; elle ne peut pas en avoir d’autre, et aucun poème ne sera si grand, si noble, si véritablement digne du nom de poème, que celui qui aura été écrit uniquement pour le plaisir d’écrire un poème.11

Baudelaire negiert nicht die Möglichkeit, dass die Dichtung den Menschen letztlich besser machen könne, wohl aber, dass dies ihre Aufgabe sei. Ja, er stellt fest, dass ein Dichter, der solches anstrebt, seine poetische Kraft schwächt, so dass zu wetten stehe, dass sein Werk schlecht sei:

La poésie ne peut pas, sous peine de mort ou de défaillance, s’assimiler à la science ou à la morale; elle n’a pas la Vérité pour objet, elle n’a qu’elle-même.12

Laster und Ungerechtigkeit verstoßen jedoch gegen die universale Ordnung und Harmonie und verletzen so den Schönheitssinn des Dichters13. Dieser Sinn für das Schöne ist es, der den Menschen die universalen Zusammenhänge begreifen und die Erde als eine Entsprechung des Himmels verstehen lässt; er ist Beweis unserer Unsterblichkeit und ein Ausdruck unserer Sehnsucht nach den himmlischen Freuden:

C’est cet admirable, cet immortel instinct du Beau qui nous fait considérer la terre et ses spectacles comme un aperçu, comme une correspondance du Ciel. La soif insatiable de tout ce qui est au delà, et que révèle la vie, est la preuve la plus vivante de notre immortalité. C’est à la fois par la poésie et à travers la poésie, par et à travers la musique que l’âme entrevoit les splendeurs situées derrière le tombeau; et quand un poème exquis amène les larmes au bord des yeux, ces larmes ne sont pas la preuve d’un excès de jouissance, elles sont bien plutôt le témoignage d’une mélancholie irritée, d’une postulation des nerfs, d’une nature exilée dans l’imparfait et qui voudrait s’emparer immédiatement, sur cette terre même, d’un paradis révélé. (S. 334)

Baudelaire gibt die Worte Poes hier kaum verändert wieder:

An immortal instinct, deep within the spirit of man, is thus, plainly, a sense of the Beautiful. […] We have still a thirst unquenchable […] This thirst belongs to the immortality of Man. It is at once a consequence and an indication of his perennial existence. […] It is no mere appreciation of the Beauty before us – but a wild effort to reach the Beauty above. […] And thus when by Poetry – or when by Music, the most entrancing of the Poetic moods – we find ourselves melted into tears – we weep then – not […] through excess of pleasure, but through a certain, petulant, impatient sorrow at our inability to grasp now, wholly, here on earth, at once and for ever, those divine and rapturous joys, of which through the poem, or through the music, we attain to but brief and indeterminate glimpses.14

Das Ringen um einen wenn auch nur kurzen Blick auf die höhere Schönheit hat nach Poe der Welt alles das beschert, was als poetisch empfunden wird:

The struggle to apprehend the supernal Loveliness […] has given to the world all that which it (the world) has ever been enabled at once to understand and to feel as poetic. (S. 274)

und so stellt er schließlich fest, dass sich das Poetische stets in einer erhebenden Erregung der Seele manifestiere:

It has been my surpose to suggest that, while this [Poetic] Principle itself is, strictly and simply, the Human Aspiration for Supernal Beauty, the manifestation of the Principle is always found in an elevating excitement of the Soul […] (S. 290)

Auch diese Formulierung übernimmt Baudelaire fast wörtlich:

Ainsi le principe de la poésie est, strictement et simplement, l’aspiration humaine vers une beauté supérieure, et la manifestation de ce principe est dans un enthousiasme, une excitation de l’âme […].15

Die Wendung „une excitation de l’âme“ wird er zwei Jahre später noch durch das eindeutigere „un enlèvement de l’âme“16 ersetzen, wenn er den ganzen Passus im Artikel über Théophile Gautier wiederholt und ihn dabei als Selbstzitat ankündigt17. Valéry hat dieses „Poe-Plagiat“ Baudelaires im Sinne seiner Aneignungsthese als Beleg dafür verstanden, wie sehr sich die Positionen beider Autoren deckten18.

Baudelaire ist also mit Poe der Überzeugung, dass die Dichtung – und mit ihr die anderen Künste19 – dem Menschen ekstatische Momente bescheren können, die ihm einen Blick auf höheres Glück gewähren. Mit dem Zusatz der „erhe­benden“ seelischen Erregung („an elevating excitement of the Soul“) geht Poe dabei über die Feststellungen seiner angelsächsischen Vorgänger wie etwa Coleridges hinaus, der nur vom „(pleasurable) Excitement“ gesprochen hatte und davon, dass der Dichter die menschliche Seele ganz allgemein in Erregung versetze: „The poet […] brings the whole soul of man into activity […]“20. Baudelaire folgt dagegen Poes Ansicht vom Streben nach der „Supernal Beauty“, für dessen Verwirklichung in Dichtung und Kunst er seinerseits den Begriff „surnaturel“ bzw. „surnaturalisme“ bereithält.

Das „Poetic Sentiment“, wie Poe die ekstatische Erregung der Seele durch die Betrachtung der Schönheit genannt hat21, war für Baudelaire ein besonderer Fall des „état exceptionnel de l’esprit et des sens“, der zu seinen anthropologischen Grundüberzeugungen zählte. In den Journaux intimes charakterisiert er den außergewöhnlichen Zustand des Geistes und der Sinne mit knappen Worten:

Il y a des moments de l’existence où le temps et l’étendue sont plus profonds, et le sentiment de l’existence immensément augmenté.22

Im ersten Kapitel des Poème du hachisch findet sich seine ausführliche Beschreibung. Der „état exceptionnel“, heißt es dort, sei eine Erfahrung, die jedermann zugänglich und vertraut ist:

Il est des jours où l’homme s’éveille avec un génie jeune et vigoureux. Ses paupières à peine déchargées du sommeil qui les scellait, le monde extérieur s’offre à lui avec un relief puissant, une netteté de contours, une richesse de couleurs admirables. Le monde moral ouvre ses vastes perspectives, pleines de clartés nouvelles. L’homme gratifié de cette béatitude, malheureusement rare et passagère, se sent à la fois plus artiste et plus juste, plus noble, pour tout dire en un mot.23

In diesem Zustand zeigt sich die Welt dem Menschen in einem neuen und klareren Licht. Zur äußeren Vielfalt der Formen und Farben gesellen sich unbegrenzte innere Perspektiven und Einsichten. Die seelischen Kräfte sind im Gleichgewicht („toutes les forces s’équilibrent“), die Phantasie ist auf wunderbare Weise mächtig („l’imagination […] merveilleusement puissante“), sinnliche und geistige Wahrnehmung sind geschärft („une sensibilité exquise“, „[c]ette acuité de la pensée“)24. Alle Fähigkeiten sind gesteigert und der Mensch ist im schönsten Einklang mit sich selbst:

[…] cette condition anormale de l’esprit [est] comme […] un miroir magique où l’homme est invité à se voir en beau, c’est-à-dire tel qu’il devrait et pourrait être; une espèce d’excitation angélique, un rappel à l’ordre sous forme complimenteuse. (Ebd.)

Unglücklicherweise ist dieser „paradiesische“25 Zustand selten und von kurzer Dauer26; auch lässt er sich, wie eine Gnade („comme une véritable grâce“), nicht vorhersehen und durch kein noch so wohl überlegtes Vorgehen erzwingen. Doch ist er den Menschen immer erstrebenswert erschienen, weil er sie, und sei es nur für kurze Zeit, aus ihrem „habitacle de fange“ und den „lourdes ténèbres de l’existence commune et journalière“ befreit. Daher haben sie seit jeher ihre Zuflucht zu allerlei Mitteln genommen, um ihn auf künstliche Weise zu erzeugen:

Cette acuité de la pensée, cet enthousiasme des sens et de l’esprit, ont dû, en tout temps, apparaîre à l’homme comme le premier des biens […]; c’est pourquoi, ne considérant que la volupté immédiate, il a, sans s’inquiéter de violer les lois de sa constitution, cherché dans la science physique, dans la pharmaceutique, dans les plus grosses liqueurs, dans les parfums les plus subtils, sous tous les climats et dans tous les temps, les moyens de fuir, ne fût-ce que pour quelques heures, son habitacle de fange et […] ‚d’emporter le paradis d’un seul coup‘. Hélas! les vices de l’homme, si pleins d’horreur qu’on les suppose, contiennent la preuve […] de son goût de l’infini; seulement, c’est un goût qui se trompe souvent de route. (Ebd.)

Damit bekunden sie nach seiner Überzeugung noch in ihren Lastern ihren „goût de l’infini“. „Le Goût de l’infini“ lautet denn auch der Titel dieses ersten Kapitels des Poème du hachisch, dessen Menschenbild zutiefst von der christlichen Vorstellung des Sündenfalls geprägt ist.

Baudelaire hat den „état exceptionnel“ wiederholt beschrieben und unterschiedlich benannt27. Außer den Wirkungen des Zustandes hat ihn vor allem interessiert, wodurch er ausgelöst wird. So hat er in den Paradis artificiels, den durch Wein, Haschisch oder Opium zu erlangenden „Künstlichen Paradiesen“28, ausführlich erörtert, wie die Glückseligkeit ‚aus der Apotheke‘ zu erlangen ist. Dabei hat er immer wieder Parallelen zwischen den durch Drogen bewirkten Rauschzuständen und dem ekstatischen Zustand des Dichters gezogen, denn als Dichter ging es ihm „letztlich […] um die Ergründung der äußersten Möglichkeiten eines ‚poetischen‘ Zustands“29. Daher hat man das Poème du hachisch als einen Kommentar zur dichterischen Erfahrung der Fleurs du mal lesen können30 und im „état exceptionnel“ geradezu das Herzstück der Baudelaireschen Poetik gesehen31.

In der neueren Literaturwissenschaft wird ein dem Baudelaireschen „état exceptionnel“ verwandtes Phänomen unter dem Begriff ‚Epiphanie‘ diskutiert. Dieser Begriff geht in seiner modernen Bedeutung auf James Joyce zurück, der die alte religiöse Bedeutung von ‚Epiphanie‘ als In-Erscheinung-Treten eines Gottes psychologisch und literarisch umgedeutet hat in dem Sinne, dass in gewissen Momenten die Dinge in ihrer Wesenheit erscheinen und zu erfassen sind und dass ein Autor dies zu vermitteln habe32. Als wesentliche Kriterien einer Epiphanie gelten die sinnenhafte Wahrnehmung eines alltäglichen Gegenstands oder einer alltäglichen Situation, Plötzlichkeit und Kürze der Empfindung sowie die erhellende Einsicht in eine unbekannte Wirklichkeit33. Seit der Romantik ist die Epiphanie ein Programmpunkt der Lyrik und im modernen Roman ist sie eine Konstante geworden34. Der romantische Ursprung der literarischen Epiphanie legt Verbindungslinien zu Baudelaire nahe, auch wenn die Hochgestimmtheit und das ekstatische Hochgefühl bei diesem ausgeprägter (und näher am religiösen Erleben) sind und er ausdrücklich den schöpferischen Enthusiasmus einbezieht.

In der theologischen und der künstlerischen Anthropologie waren Epiphanie und Ausnahmezustand bis in die Romantik als Enthusiasmus, als Ergriffensein vom Gott oder vom Göttlichen bekannt. Mit der Umschreibung „enthousiasme“35 schließt Baudelaire Poes „elevating excitement“ an diese ästhetische Diskussion an. In Frankreich hatte etwa Mme de Staël die Überzeugung geäußert, dass Dichtung und Kunst in der Lage seien, den flüchtigen Enthusiasmus im Menschen sowohl zu entwickeln wie auch zu bewahren:

On accuse l’enthousiasme d’être passager; l’existence serait trop heureuse si l’on pouvait retenir des émotions si belles; mais c’est parce qu’elles se dissipent aisément qu’il faut s’occuper de les conserver. La poésie et les beaux-arts servent à développer dans l’homme ce bonheur d’illustre origine qui relève les cœurs abattus, et met à la place de l’inquiète satiété de la vie le sentiment habituel de l’harmonie divine dont nous et la nature faisons partie.36

Vor allem die Lyrik kann den paradiesischen Zustand herstellen und ihm die gewünschte Dauer verleihen:

La poésie lyrique […] donne de la durée à ce moment sublime pendant lequel l’homme s’élève au-dessus des peines et des plaisirs de la vie.37

Denn der Lyriker versteht es, die tiefsten Empfindungen der Seele freizusetzen – „de dégager le sentiment prisonnier au fond de l’âme“38 – und sie durch Sprache auszudrücken. Die Bilder, die er zum poetischen Ausdruck oder „emblème“ dieser Empfindungen braucht, findet er in bestimmten Naturansichten, die von den Modernen dank ihrer „religion spiritualiste“ als erhaben empfunden werden:

Les modernes ne peuvent se passer d’une certaine profondeur d’idées dont une religion spiritualiste leur a donné l’habitude; et si cependant cette profondeur n’était point revêtue d’images, ce ne serait pas de la poésie: il faut donc que la nature grandisse aux yeux de l’homme pour qu’il puisse s’en servir comme de l’emblème de ses pensées. Les bosquets, les fleurs et les ruisseaux suffisaient aux poètes du paganisme; la solitude des forêts, l’Océan sans bornes, le ciel étoilé peuvent à peine exprimer l’éternel et l’infini dont l’âme des chrétiens est remplie.39

Mme de Staël befindet sich hier im Einklang mit Chateaubriand, der im Génie du Christianisme festgestellt hatte, dass die enthusiastische Naturerfahrung eine spezifisch christliche Errungenschaft sei:

Il y a dans l’homme un instinct qui le met en rapport avec les scènes de la nature. Eh! qui n’a pas passé des heures entières, assis sur le rivage d’un fleuve, à voir s’écouler les ondes! Qui ne s’est plu, au bord de la mer, à regarder blanchir l’écueil éloigné! Il faut plaindre les anciens, qui n’avaient trouvé dans l’Océan que le palais de Neptune et la grotte de Protée; il était dur de ne voir que les aventures des Tritons et des Néréides dans cette immensité des mers, qui semble nous donner une mesure confuse de la grandeur de notre âme, dans cette immensité qui fait naître en nous un vague désir de quitter la vie, pour embrasser la nature et nous confondre avec son Auteur.40

An seinem Beispiel lassen sich die typischen Züge eines ekstatischen Naturerlebnisses gewinnen: es geht von einer konkreten Landschaft („le rivage d’un fleuve“, „[le] bord de la mer“) aus, die von der Phantasie des Betrachters ins Unendliche („immensité“) erweitert wird und diesem eine „konfuse“ Selbsterfahrung („une mesure confuse de la grandeur de notre âme“) vermittelt, die in ein religiöses Vereinigungserlebnis bzw. eine Hoffnung auf ein solches mündet („un vague désir de quitter la vie, pour embrasser la nature et nous confondre avec son Auteur“)41. Chateaubriand hat auch die Naturschauspiele genannt, die für solche Erlebnisse in Frage kommen. Das eine ist der Anblick der „déserts de l’Océan“ unter einem nächtlichen Sternenhimmel, der den Menschen die Unendlichkeit des Universums und die Allmacht Gottes erfahren lässt; das andere ist eine „perspective terrestre“, die vom Mond beschienene Savannen- und Waldlandschaft der Neuen Welt, in der die Seele in die Weite der Wälder eintaucht („l’âme se plaît à s’enfoncer dans un océan de forêts“) und in der Einsamkeit Gott begegnet („à méditer au bord des lacs et des fleuves, et pour ainsi dire, à se trouver seule devant Dieu“)42.

Ekstatische Naturerlebnisse sind in der französischen Literatur seit Rousseaus Rêveries du promeneur solitaire bekannt43. Rousseau hat in seiner „Septième Promenade“ beschrieben, wie er sich in der erzwungenen Einsamkeit beim Herborisieren in die Betrachtung der „trois règnes“ der Natur versenkt und mit einer „délicieuse ivresse“ in der Unendlichkeit dieses „beau sistême“ verloren habe:

Plus un contemplateur a l’âme sensible plus il se livre aux extases qu’excite en lui cet accord. Une rêverie douce et profonde s’empare alors de ses sens, et il se perd avec une délicieuse ivresse dans l’immensité de ce beau sistême avec lequel il se sent identifié. Alors tous les objets particuliers lui échappent; il ne voit et ne sent rien que dans le tout.44

In solchen Momenten fühlt sich der Betrachter mit dem ganzen Universum eins, und das Ich und alles Einzelne gehen im Ganzen auf. In der „Cinquième Promenade“ berichtet Rousseau von einem weiteren vollkommenen Glückszustand auf dem Bieler See. In einem Boot treibend oder am Ufer sitzend tauchte ihn die gleichförmige Bewegung des Wassers in „mille rêveries confuses mais délicieuses“ und ließ ihn das pure Gefühl seiner Existenz genießen:

[…] le bruit des vagues et l’agitation de l’eau […] suffisoient pour me faire sentir avec plaisir mon existence, sans prendre la peine de penser.45

Diese Empfindung des ‚sentiment de l’existence‘ lässt den Betroffenen wie Gott sich selbst genügen:

[…] tant que cet état dure on se suffit à soi-même comme Dieu. (S. 1047)

Für solche Ekstasen bedarf es nach Rousseaus Überzeugung der persönlichen Disposition einer „âme sensible“ und der Hilfe der umgebenden Dinge durch eine maßvolle Bewegung zwischen Erregtheit und absoluter Ruhe. Ist die äußere Ruhe zu groß, muss die Phantasie zu Hilfe kommen und durch leichte und angenehme Gedanken innere Bewegung schaffen46. „Rêveries“ dieser Art sind nach seiner Überzeugung nicht nur in der Natur, sondern überall möglich, auch unter den widrigsten Bedingungen:

[…] j’ai souvent pensé qu’à la Bastille et même dans un cachot où nul objet n’eut frappé ma vue, j’aurois encor pu rêver agreablement. (S. 1048)

Wie man sieht, bieten die Rêveries du promeneur solitaire demjenigen, der an ekstatischen Zuständen interessiert ist, ein reichhaltiges Anschauungsmaterial, von dem die Romantik direkt und indirekt reichlich Gebrauch gemacht hat.

Für Baudelaire gehört die „rêverie“ vor der Natur lange Zeit zu den mächtigsten Stimuli ekstatischen Erlebens, wie mehrere Gedichte der Fleurs du mal bezeugen. Das bekannteste ist das Sonett Correspondances (Les Fleurs du malIV), das Grundgedanken seiner poetischen Theorie enthält und viele Deutungen erfahren hat47. Es handelt von der allgemeinen Symbolhaltigkeit der Natur, in welcher der Mensch sich in einem Wald von vertrauten Symbolen bewegt und dunkle Worte hören kann und wo „[l]es parfums, les couleurs et les sons se répondent“ (V. 8). Diese Beziehungen der Dinge untereinander werden am Beispiel der Düfte beschrieben:

      Il est des parfums frais comme des chairs d’enfants,

      Doux comme les hautbois, verts comme les prairies,

      – Et d’autres, corrompus, riches et triomphants,

 

      Ayant l’expansion des choses infinies,

      Comme l’ambre, le musc, le benjoin et l’encens,

      Qui chantent les transports de l’esprit et des sens.

                                (V. 9–14)

Die im letzten Vers genannten „Verzückungen des Geistes und der Sinne“ sind erkennbar ekstatische Zustände, die durch die Synästhesien von Düften, Farben und Tönen hervorgerufen bzw. ausgedrückt werden. Der Gedichttitel spricht jedoch nicht von „synesthésies“, sondern von „correspondances“ und verwendet damit einen Begriff, der zusammen mit „analogies“ eine zentrale Rolle in Baudelaires ästhetischer Theorie spielt48. Die von dem Illuministen Emanuel Swedenborg und dem Sozialphilosophen Charles Fourier stammenden Begriffe benennen die Beziehungen zwischen den Dingen, auf denen die universale Harmonie und Einheit der Schöpfung beruht, die der Mensch im ekstatischen Zustand erfährt. Bei seiner Beschreibung des fortgeschrittenen Stadiums des Haschischrausches, wenn es zur „unio mystica“ mit allem Seienden kommt, verweist Baudelaire auf diese Lehre und ihre Begründer:

Cependant se développe cet état mystérieux et temporaire de l’esprit, où la profondeur de la vie, hérissée de ses problèmes multiples, se révèle tout entière dans le spectacle, si naturel et si trivial qu’il soit, qu’on a sous les yeux – où le premier objet venu devient symbole parlant. Fourier et Swedenborg, l’un avec ses analogies, l’autre avec ses correspondances, se sont incarné dans le végétal et l’animal qui tombent sous votre regard, et au lieu d’enseigner par la voix, ils vous indoctrinent par la forme et par la couleur.49

Swedenborg und Fourier, die er hier nicht ohne gewisse Ironie poetisch ins Bild setzt, haben sich mittels ihrer Begriffe Korrespondenz und Analogie in die Tier- und Pflanzenwelt inkarniert und sprechen statt mit menschlicher Stimme durch Form und Farbe. Denn alles in der natürlichen wie geistigen Welt ist bedeutungsvoll und verweisend: „tout, forme, mouvement, nombre, couleur, parfum, dans le spirituel comme dans le naturel, est significatif, réciproque, converse, correspondant. […]tout est hiéroglyphique“50, und es ist Aufgabe des Dichters, diese geheimen Übereinstimmungen des Universums zu entziffern. Daher sind Analogien und Korrespondenzen Grundmuster künstlerischen, insbesondere poetischen Denkens und Schaffens51 und jeder gute Dichter nimmt seine Bilder aus dem unerschöpflichen Fundus der „universalen Analogie“:

Chez les excellents poètes, il n’y a pas de métaphore, de comparaison ou d’épithète qui ne soit d’une adaptation mathématiquement exacte dans la circonstance actuelle, parce que ces comparaisons, ces métaphores et ces épithètes sont puisées dans l’inépuisable fonds de l’universelle analogie, et qu’elles ne peuvent être puisées ailleurs.52

Einen besonderen Fall von Analogien und Korrespondenzen stellt das im Zusammenhang mit ihnen erwähnte „symbole parlant“ dar, zu dem ein beliebiger Gegenstand – „le premier objet venu“ – werden kann, den das Individuum im ekstatischen Zustand vor Augen hat und der ihm die „profondeur de la vie, hérissée de ses problèmes multiples“ offenbart. Diese Beobachtung zur Symbolbildung war Baudelaire so wichtig, dass er sie in seinen privaten Aufzeichnungen noch einmal allgemeingültiger formuliert hat:

Dans certains états de l’âme presque surnaturels, la profondeur de la vie se révèle tout entière dans le spectacle, si ordinaire qu’il soit, qu’on a sous les yeux. Il en devient le symbole.53

Die „états de l’âme presque surnaturels“, von denen hier die Rede ist, sind künstlerische, um nicht zu sagen dichterische „états exceptionnels“54. Die „profondeur de la vie“, die sich dem Dichter in diesem Zustand in einem alltäglichen Schauspiel offenbart, ist die Summe der vielfältigen Analogien und Korrespondenzen, die er in seinem universalen Einheits- und Harmonieerlebnis wahrnimmt, und das Symbol, in dem er das Erlebnis festhält, hat die Aufgabe, als „symbole parlant“ auf eben diese universalen Beziehungen zu verweisen55.

In dem 1862 entstandenen Prosagedicht Le Confiteor de l’artiste (Spleen de ParisIII) hat Baudelaire die Naturekstase noch einmal zu seinem Gegenstand gemacht und sie dabei problematisiert.

Le Confiteor de l’artiste

Que les fins de journées d’automne sont pénétrantes! Ah! pénétrantes jusqu’à la douleur! car il est de certaines sensations délicieuses dont le vague n’exclut pas l’intensité; et il n’est pas de pointe plus acérée que celle de l’Infini.

Grand délice que celui de noyer son regard dans l’immensité du ciel et de la mer! Solitude, silence, incomparable chasteté de l’azur! une petite voile frissonnante à l’horizon, et qui par sa petitesse et son isolement imite mon irrémédiable existence, mélodie monotone de la houle, toutes ces choses pensent par moi, ou je pense par elles (car dans la grandeur de la rêverie, le moi se perd vite!); elles pensent, dis-je, mais musicalement et pittoresquement, sans arguties, sans syllogismes, sans déductions.56

Die vorgestellte Situation ist eine „perspective marine“, ein Herbstabend am Meer, der beim Ich den Ausnahmezustand auslöst und es mit einem unbestimmten Glücksgefühl („certaines sensations délicieuses“) erfüllt. In der Weite des Himmels und der Unendlichkeit des Meeres „ertrinkt“ sein Blick. Ein kleines Segel am Horizont spiegelt ihm die Winzigkeit und Verlorenheit der eigenen Existenz inmitten der erahnten Unendlichkeit. Einsamkeit und Stille, das tiefe Blau des Himmels und das monotone Rauschen des Meeres versetzen es in eine „rêverie“, in der es eins wird mit den Dingen, „durch sie denkt“ und die Dinge „durch es denken“. Soweit zeigt das Gedicht die bekannten Phänomene einer Ekstase von der Steigerung der Sinneswahrnehmung über die Vorstellung der Unendlichkeit bis zur Identifikation und dem Einswerden mit den wahrgenommenen Dingen, wie es im Poème du hachisch beschrieben wird:

Il arrive quelquefois que la personnalité disparaît et que l’objectivité, qui est le propre des poètes panthéistes, se développe en vous si anormalement, que la contemplation des objets extérieurs vous fait oublier votre propre existence, et que vous vous confondez bientôt avec eux. Votre œil se fixe sur un arbre harmonieux courbé par le vent; dans quelques secondes, ce qui ne serait dans le cerveau d’un poète qu’une comparai­son fort naturelle deviendra dans le vôtre une réalité. Vous prêtez d’abord à l’arbre vos passions, votre désir ou votre mélancolie; ses gémissements et ses oscillations deviennent les vôtres, et bientôt vous êtes l’arbre. De même, l’oiseau qui plane au fond de l’azur représente d’abord l’immortelle envie de planer au-dessus des choses humaines; mais déjà vous êtes l’oiseau lui-même. Je vous suppose assis et fumant. Votre attention se reposera un peu trop longtemps sur les nuages bleuâtres qui s’exhalent de votre pipe. L’idée d’une évaporation, lente, successive, éternelle, s’emparera de votre esprit, et vous appliquerez bientôt cette idée à vos propres pensées, à votre matière pensante. Par une équivoque singulière, par une espèce de transposition ou de quiproquo intellectuel, vous vous sentirez vous évaporant, et vous attribuerez à votre pipe (dans laquelle vous vous sentez accroupi et ramassé comme le tabac) l’é­trange faculté de vous fumer.57

Bei einem poetischen Gemüt führt dieser Zustand in der Regel zur Symbolbildung. In Le Confiteor de l’artiste könnte das Segel am Horizont zum Symbol werden, in dem das dichterische Ich den flüchtigen Moment seiner „unio mystica“ mit dem Geschauten festhält. Obwohl die Schiffsmetapher ein bekanntes Bild des Menschen- und besonders des Dichterlebens ist, ist die Symbolbildung hier aber gestört, da es bei der reinen „représentation“ des Ichs und seiner Befindlichkeit durch das Segel bleibt („qui par sa petitesse et son isolement imite mon irrémédiable existence“58). Das Ich spricht im Weiteren sogar von einer unerträglichen Intensität des Erlebnisses:

Toutefois, ces pensées, qu’elles sortent de moi ou s’élancent des choses, deviennent bientôt trop intenses. L’énergie dans la volupté crée un malaise et une souffrance positive. Mes nerfs trop tendus ne donnent plus que des vibrations criardes et douloureuses.

Et maintenant la profondeur du ciel me consterne; sa limpidité m’exaspère. L’insensibilité de la mer, l’immuabilité du spectacle, me révoltent … Ah! faut-il éternellement souffrir, ou fuir éternellement le beau? Nature, enchanteresse sans pitié, rivale toujours victorieuse, laisse-moi! Cesse de tenter mes désirs et mon orgueil! L’étude du beau est un duel où l’artiste crie de frayeur avant d’être vaincu.

Seine übergroße Lust schlägt in Unwohlsein und Leiden um und seine Nerven vibrieren schmerzlich. Die Tiefe und Klarheit des Himmels bestürzen und erschrecken es, die „insensibilité de la mer“ und die „immuabilité du spectacle“ bringen es auf und bewirken, dass es ein Ende herbeiwünscht („Nature, […] laisse-moi! Cesse de tenter mes désirs et mon orgueil!“). Damit entlädt sich die eingangs festgestellte Spannung („il n’est pas de pointe plus acérée que celle de l’Infini“) und die Meditation wird abgebrochen, ohne dass es zu einer umfassenden, das Erlebnis als Ganzes einschließenden poetischen Symbolbildung kommt.

Der Blick auf die Geschichte der neueren poetischen Naturerfahrung zeigt, dass ekstatische Naturerlebnisse problematisch verlaufen können und bei Baudelaire tun sie es besonders oft59. Das ist die Folge einer nicht mehr fraglosen Bewunderung der Natur und des Naturschönen, die er mit namhaften Zeitgenossen teilt60. Das Scheitern der dichterischen Ekstase in Le Confiteor de l’artiste ist dennoch nicht leicht zu verstehen. Denn die Intensität der Wahrnehmung und Empfindungen ist ja an sich ein Charakteristikum des gesuchten Ausnahmezustands, und das künstlerische Genie vermag sie nach Baudelaires Überzeugung auch auszuhalten. Selbst das Erschrecken über die „profondeur“ und „limpidité“ des Himmels muss einer Ekstase nicht im Wege stehen, gehört es doch zum Erlebnis des Erhabenen61. Erst die „insensibilité“ des Meeres, und die „immuabilité“ des Schauspiels, die das romantische Erlebnis einer gleichgestimmten Natur verhindern, lösen denn auch die „Revolte“ des Ichs aus, das sich darauf die Frage nach seinem Verhältnis zum Schönen stellt: „Ah! faut-il éternellement souffrir, ou fuir éternellement le beau?“, was hier selbstverständlich das Naturschöne meint. An Stelle einer direkten Antwort wendet das Ich sich an die Natur und weist die von ihr ausgehende „Versuchung“ zurück: „Nature, enchanteresse sans pitié, rivale toujours victorieuse, laisse-moi! Cesse de tenter mes désirs et mon orgueil!“ Versuchung und Zurückweisung einer Versuchung sind aber religiös konnotierte Handlungen, die in diesem Gedicht in eine weitere religiöse, genauer eine liturgische Handlung eingebaut sind, auf die der Titel Le Confiteor de l’artiste anspielt.

In der katholischen Liturgie ist das Confiteor das reinigende Schuldbekenntnis, das der Priester zu Beginn der Messfeier an den Stufen des Altars ablegt62. Baudelaire liebt es, in seinen Gedichten religiöse Redeformen aufzugreifen, etwa den Hymnus als Lob- und Preisgesang des Künstlers auf die Gottheit in Hymne à la Beauté oder die Offenbarungsrede der Gottheit selbst in La Beauté (Fleurs du malXXI bzw. XVII). Mit dem Titel Le Confiteor de l’artiste präsentiert er sein Prosagedicht als eine Variante des liturgischen Schuldbekenntnisses, was zwangsläufig die Frage nach der Schuld aufwirft, die sein dichterisches Ich bekennen soll. Ist es das Scheitern der Ekstase oder das Scheitern des künstlerischen Ausdrucks derselben, ist es ein Sich-Verlieren an die „Formlosigkeit“ des Naturschönen oder, im Gegenteil, dessen nur ästhetische Würdigung, wie man angenommen hat63? Die Antwort, die der Text auf die Frage gibt, kann nur lauten, dass es die Versuchung durch die unbewegte, mitleidlose Natur und ihr verführerisches Schönes ist64. Demnach wäre der Dienst am Naturschönen die Verfehlung, von der das Ich sich durch sein Schuldbekenntnis reinigen will. Der Dienst am Schönen selbst stünde außer Frage, da das Ich, der Vorgabe des liturgischen Confiteor folgend, seine weitere Bereitschaft zu diesem bekundet65. Tatsächlich ist das wahre Schöne für Baudelaire, wie man weiß, das artifizielle Schöne, das vom Menschen gemacht und gedacht ist66, wozu noch das menschliche Schöne kommt. Das wird im Gedicht zwar nicht explizit gesagt, ist aber seiner Stellung zu entnehmen. Denn wie man von den Fleurs du mal und ihrer „architecture secrète“ weiß, hat Baudelaire seine Gedichte sehr bewusst angeordnet67. Le Confiteor de l’artiste am Anfang des Spleen de Paris68, der vom Großstadtschönen handelt, ist daher eine feierliche Absage an das Naturschöne und eine Einstimmung des Lesers auf die bevorstehende Feier des menschlichen Schönen in der Großstadt. Diesen programmatischen Wechsel bestätigt der Blick auf den Schönheitsbegriff Baudelaires.

b)Baudelaires Vorstellung vom Schönen

Im Peintre de la vie moderne hat Baudelaire eine viel zitierte Definition des Schönen gegeben1. Seiner „théorie rationnelle et historique du beau“ zufolge hat das Schöne einen unveränderlichen ewigen und einen vergänglichen, von den Umständen abhängigen zeitgemäßen Teil. Ohne den zeitgemäßen Teil wäre der ewige Teil dem Menschen nicht zugänglich:

Le beau est fait d’un élément éternel, invariable, dont la quantité est excessivement difficile à déterminer, et d’un élément relatif, circonstantiel, qui sera, si l’on veut, tour à tour ou tout ensemble, l’époque, la mode, la morale, la passion. Sans ce second élément, qui est comme l’enveloppe amusante, titillante, apéritive, du divin gâteau, le premier élément serait indigestible, inappréciable, non adapté et non approprié à la nature humaine. (S. 685)

Der veränderliche Teil des Schönen ist die „modernité“:

La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l’art, dont l’autre moitié est l’éternel et l’immuable.2

Die „modernité“ zu entdecken ist mühsam, aber notwendig, wenn eine Epoche zu ihrer eigenen Kunst finden will:

[…] pour que toute modernité soit digne de devenir antiquité, il faut que la beauté mystérieuse que la vie humaine y met involontairement en ait été extraite.3

Die Vorstellung eines zeitgemäßen ‚modernen‘ Schönen hat Baudelaire schon im Salon de 1846 vertreten. In dessen Schlusskapitel, das den Titel „De l’héroïsme de la vie moderne“ trägt, nennt er den vergänglichen Teil des Schönen die „beauté particulière“, die aus den jeweiligen „passions“ einer Epoche resultiere, und folgert: „comme nous avons nos passions particulières, nous avons notre beauté.“4 Als Beispiele für dieses Schöne der eigenen Zeit führt er dann Lebensformen und -gewohnheiten der Großstadt an wie den „suicide moderne“, das uniformierende und melancholische „habit noir“ der Gegenwart sowie generell „[l]e spectacle de la vie élégante et des milliers d’existences flottantes qui circulent dans les souterrains d’une grande ville, – criminels et filles entretenues […]“; im Besonderen hebt er den „Heroismus“ eines willensstarken Politikers und eines ebensolchen Mörders hervor5. Kurz, das Pariser Leben sei voller poetischer und wunderbarer Gegenstände, die freilich nicht erkannt würden:

La vie parisienne est féconde en sujets poétiques et merveilleux. Le merveilleux nous enveloppe et nous abreuve comme l’atmosphère; mais nous ne le voyons pas.6

Wenngleich dieses Urteil des Kunstkritikers Baudelaire primär für die im Salon von 1846 ausgestellte Malerei gilt, wirft es doch zugleich ein Licht auf die Überlegungen und Fragen, die den Dichter Baudelaire beschäftigten: Was ist in der Großstadt schön und darstellenswert? Welche sind die „passions nouvelles“ ihrer Menschen, welche ist die ihnen gemäße „beauté particulière“? Und welche sind die in der Großstadt möglichen „sujets privés“, die „bien autrement héroïques“ sind als die in der Malerei bis dahin bevorzugten „sujets publics et officiels“7? Seine Antwort, die sich in den ebenso provokativ wie ironisch vorge­brachten Beispielen8 abzeichnet, ist, dass das „Schöne“ in der Großstadt ein primär menschliches Schönes ist und dass es abseits jeder traditionellen Vorstellung in den vielfältigen Formen großstädtischen Lebens gesucht werden muss. Die Formel für diesen Befund lautet:

Il y a donc une beauté et un héroïsme moderne!

Ein knappes Jahrzehnt später geht Baudelaire das Problem des Schönen von einer anderen Seite an. Im Einleitungskapitel seines Berichts über die Pariser Weltkunstausstellung 1855 weist er darauf hin, dass das Schöne kosmopolitisch, vielfältig und vielgestaltig sei wie das Leben („multiforme et versicolore [et] se meut dans les spirales infinies de la vie“9). Wenn es sich in ein einheitliches System von Regeln fassen ließe, wie etwa der von Winckelmann begründete Neoklassizismus, so wäre es längst aus der Welt verschwunden, weil alle Ideen und Empfindungen in einer endlosen Gleichförmigkeit aufgehen würden und die Verschiedenartigkeit dahin wäre. Tatsächlich gebe es aber in allen Kunstäußerungen immer etwas Neues, das sich den Schulregeln entziehe. Diese Vielfalt („variété“) von Typen und Empfindungen verursache Staunen, das eines der großen Vergnügen sei, die Kunst und Literatur bereiten:

Tout le monde conçoit sans peine que, si les hommes chargés d’exprimer le beau se conformaient aux règles des professeurs-jurés, le beau lui-même disparaîtrait de la terre, puisque tous les types, toutes les idées, toutes les sensations se confondraient dans une vaste unité, monotone et impersonnelle, immense comme l’ennui et le néant. La variété, condition sine qua non de la vie, serait effacée de la vie. Tant il est vrai qu’il y a dans les productions multiples de l’art quelque chose de toujours nouveau qui échappera éternellement à la règle et aux analyses de l’école! L’étonnement, qui est une des grandes jouissances causées par l’art et la littérature, tient à cette variété même des types et des sensations. (S. 578)

Dann geht er noch einen Schritt weiter und erklärt, das Schöne sei immer auch „bizarr“:

J’irai encore plus loin, n’en déplaise aux sophistes trop fiers qui ont pris leur science dans les livres […]. Le beau est toujours bizarre. Je ne veux pas dire qu’il soit volontairement, froidement bizarre, car dans ce cas il serait un monstre sorti des rails de la vie. Je dis qu’il contient toujours un peu de bizarrerie, de bizarrerie naïve, non voulue, inconsciente, et que c’est cette bizarrerie qui le fait être particulièrement le Beau. (Ebd.)

Die „bizarrerie“ dürfe freilich nur gering sein und dazu „naïve, non voulue“, weil Regelmäßigkeit und Symmetrie Grundbedürfnisse des menschlichen Geistes seien10. Eine Feststellung, die dies verstehen hilft, findet sich in FuséesVIII:

Ce qui n’est pas légèrement difforme a l’air insensible; – d’où il suit que l’irrégularité, c’est-à-dire l’inattendu, la surprise, l’étonnement sont une partie essentielle et la caractéristique de la beauté. (S. 656)

Demnach zieht das, was nicht „légèrement difforme“ ist, also nicht leicht von der Norm abweicht, keine Aufmerksamkeit auf sich und wird nicht wahrgenommen – „(in)sensible“ ist hier Synonym von „(non) perceptible“. Um wahrgenommen zu werden muss das Schöne eine „irrégularité“ oder „bizarrerie“ oder, wie es an anderer Stelle unter Hinweis auf Poe heißt, eine „étrangeté“ aufweisen.

[…] ses […] compositions étranges qui semblent avoir été créées pour nous démontrer que l’étrangeté est une des parties intégrantes du beau.11

Poe hatte diesen Gedanken in der – von Baudelaire übersetzten – Erzählung Ligeia geäußert:

There is no exquisite beauty […] without some strangeness in the proportion.12

Mit dem aus seiner „strangeness“ oder „novelty“ resultierenden Überraschungselement („l’inattendu, la surprise“) bewirkt das Schöne Staunen („l’étonnement“), das Baudelaire daher zu einem weiteren wesentlichen Bestandteil erklärt: „une partie essentielle et la caractéristique de la beauté“. Im Salon de 1859 stellt er folgerichtig fest: „le Beau est toujours étonnant“13, und in der Exposition universelle 1855 gibt er den Künstlern den Rat:

Toute la question, si vous voulez que je vous confère le titre d’artiste ou d’amateur des beaux-arts, est donc de savoir par quels procédés vous voulez créer ou sentir l’étonnement. (S. 578)

Der Begriff des ‚Staunens‘ („étonnement“) hat in der europäischen Ideengeschichte eine lange Tradition14, die mit der philosophischen Erkenntnislehre beginnt, in der das Staunen Antrieb der Erkenntnis war und durch diese überwunden werden musste – so Aristoteles – oder – so Platon – in der erkennenden Schau der Ideen eine Steigerung erfuhr. Bei den antiken Rhetorikern interessierte Staunen als wirkungsästhetische Größe der Publikumspsyche. In der Neuzeit ist der Begriff durch die dem nachchristlichen Rhetor Kassios Longinos zugeschriebene anonyme Schrift Peri hypsus poetologisch fruchtbar geworden, die nach ihrer Wiederentdeckung in der Renaissance in der Übersetzung durch Boileau die ästhetische Diskussion im 17. und 18. Jh. mitgeprägt hat. Vom Pseudo-Longinos wird dem Menschen ein natürliches Streben nach dem Ungewöhnlichen, dem Großen und Schönen zugeschrieben (35, 2ff.) und diesem werden als Wirkung das Staunen (ékplexis) und die Ekstase (ékstasis) zugeordnet (1, 4). Edmund Burke hat in seiner Schrift A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful von 1757 die Wirkung des Erhabenen („sublime“) als „delightful horror“ beschrieben, als eine Mischung aus Faszination und Schrecken, die Kant wenig später mit den menschlichen Erkenntnisvermögen der Sinne einerseits und des reinen Denkens andererseits erklärt hat. Im 19. Jahrhundert hat diese Diskussion an Bedeutung verloren, doch ist ihr Echo in Baudelaires Überlegungen zur künstlerischen Ekstase und zum ästhetischen Staunen unüberhörbar. In jüngster Zeit hat man Baudelaires Verwendung des Begriffs ‚Staunen‘ als Bestandteil einer „Poetik des Stupors“ zu deuten versucht und mit dem psychiatrischen Diskurs des 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht15. Auch wenn Baudelaire zweifellos die einschlägigen medizinischen Diskussionen seiner Zeit kannte, ist ‚Staunen‘ für ihn aber zuallererst ein ästhetischer Begriff mit positiver Bedeutung. Staunen und staunen machen sind, wie es kurz vor der zitierten Stelle heißt, ein legitimes Bedürfnis des Menschen, weil sie einen Glückszustand („bonheur“) schaffen, wie er, wiederum unter Bezugnahme auf Poe, erklärt:

Le désir d’étonner et d’être étonné est très légitime. It is a happiness to wonder, „c’est un bonheur d’être étonné“; mais aussi, it is a happiness to dream, „c’est un bonheur de rêver“.16

Neben dem Staunen wird hier auch das „Träumen“ („rêver“) als glücklicher Zustand17 bezeichnet. Dass die „rêverie“ für Baudelaire eine ästhetische Qualität hat, geht aus einer Bemerkung in der Exposition universelle 1855 hervor, sein Urteil über Bilder werde davon bestimmt, wie viele Vorstellungen und „Träumereien“ sie in ihm auslösten:

Il m’arrivera souvent d’apprécier un tableau uniquement par la somme d’idées ou de rêveries qu’il apportera dans mon esprit. (S. 579)

Die „rêverie“ ist daher auch ein wesentlicher Bestandteil seines persönlichen Schönheitsbegriffs, den er um dieselbe Zeit in einer Notiz der Journaux intimes festgehalten hat.

J’ai trouvé la définition du Beau, – de mon Beau. C’est quelque chose d’ardent et de triste, quelque chose d’un peu vague, laissant carrière à la conjecture. Je vais, si l’on veut, appliquer mes idées à un objet, par exemple, le plus intéressant dans la société, à un visage de femme. Une tête séduisante et belle, une tête de femme, veux-je dire, c’est une tête qui fait rêver à la fois, – mais d’une manière confuse, – de volupté et de tristesse; qui comporte une idée de mélancolie, de lassitude, même de satiété, – soit une idée contraire, c’est-à-dire une ardeur, un désir de vivre, associé avec une amertume refluante, comme venant de privation ou de désespérance. Le mystère, le regret sont aussi des caractères du Beau.

Une belle tête d’homme n’a pas besoin de comporter, excepté peut-être aux yeux d’une femme, – aux yeux d’un homme bien entendu – cette idée de volupté, qui dans un visage d’une femme est une provocation d’autant plus attirante que le visage est généralement plus mélancolique. Mais cette tête contiendra aussi quelque chose d’ardent et de triste, – des besoins spirituels, des ambitions ténébreusement refoulées, – l’idée d’une puissance grondante, et sans emploi, – quelquefois l’idée d’une insensibilité vengeresse, […] quelquefois aussi, – et c’est l’un des caractères de beauté les plus intéressants, – le mystère, et enfin (pour que j’aie le courage d’avouer jusqu’à quel point je me sens moderne en esthétique), le Malheur. – Je ne prétends pas que la Joie ne puisse pas s’associer avec la Beauté, mais je dis que la Joie en est un des ornements les plus vulgaires; – tandis que la Mélancolie en est pour ainsi dire l’illustre compagne, à ce point que je ne conçois guère […] un type de Beauté où il n’y ait du Malheur.18

Die Notiz nennt drei Merkmale, über die der Tagebuchschreiber sich nach langem Suchen – zumindest suggeriert dies seine Formulierung – klar geworden ist. Die beiden ersten sind im weiten Sinne moralische Eigenschaften („quelque chose d’ardent et de triste“) eines menschlichen Schönen, das dritte ist eine wirkungsbezogene Eigenschaft („quelque chose d’un peu vague, laissant carrière à la conjecture“). Was sie konkret bedeuten, wird an Beispielen demonstriert, wobei zwischen weiblicher und männlicher Schönheit unterschieden wird. Dem weiblichen Schönen in Form einer „tête séduisante et belle […] de femme“ ordnet Baudelaire „volupté“ und „tristesse“ zu. Für die „tristesse“ stehen „mélancolie“, „lassitude“ und „satiété“, für die „volupté“ die Eigenschaften „ardeur“ und „désir de vivre“, die freilich durch eine „amertume refluante, comme venant de privation ou de désespérance“ gebrochen sein müssen. Es ist ein Frauenideal, dem er so wiederholt Ausdruck verliehen hat19. Für die männliche Schönheit verlangt er ebenfalls eine „belle tête d’homme“, die glühende und zugleich gebrochene Leidenschaft20 ausdrücke, in diesem Fall ein Streben nach Höherem sowie finster unterdrückten Ehrgeiz („des besoins spirituels, des ambitions ténébreusement refoulées“), was die Vorstellung einer ziellos grollenden, bisweilen auch rachsüchtigen Macht hervorrufe („l’idée d’une puissance grondante, et sans emploi, – quelquefois l’idée d’une insensibilité vengeresse“). Auch hier paart sich die „tristesse“ mit Melancholie, die er ausdrücklich der „Joie“ („un des ornements les plus vulgaires [du Beau]“) vorzieht und die bis zum Unglück gehen kann, das, wie er betont – „pour que j’aie le courage d’avouer jusqu’à quel point je me sens moderne en esthétique“ –, ein notwendiger Bestandteil des modernen Schönen sei: „à ce point que je ne conçois guère […] un type de Beauté où il n’y ait du Malheur“. Die vollkommene Verkörperung dieses männlichen Schönheitsideals stellt für ihn Miltons Satan dar:

Appuyé sur, – d’autres diraient: obsédé par – ces idées, on conçoit qu’il me serait difficile de ne pas conclure que le plus parfait type de Beauté virile est Satan – à la manière de Milton.21

Damit bekennt Baudelaire sich zum dämonischen Idealbild der schwarzen Romantik, in dem zu den allgemein romantischen Zügen der Melancholie und des „malheur“ noch die Schattenseite des Menschen, seine „part infernale“, tritt22. Das sind die Taten, deren das Individuum sich nur mit Schaudern erinnert, die aber zur Komplexität und Vollständigkeit der Person gehören, weil sie zum „concert, agréable ou douloureux, mais logique et sans dissonances“ derselben beitragen23. Die Darstellung dieses „luziferischen“ Teils des Menschen ist für ihn ein Kennzeichen der modernen Kunst mit ihrer ständig zunehmenden „tendance essentiellement démoniaque“.24

Die vielleicht wichtigste, weil zukunftsweisende Eigenschaft des Schönen ist jedoch das Vage oder Unvollständige, das Raum für die „Vermutung“ lässt: „quelque chose d’un peu vague, laissant carrière à la conjecture“.

Une tête séduisante et belle, une tête de femme, veux-je dire, c’est une tête qui fait rêver à la fois, – mais d’une manière confuse, – de volupté et de tristesse; qui comporte une idée de mélancolie, de lassitude, même de satiété, – soit une idée contraire, c’est-à-dire une ardeur, un désir de vivre, associé avec une amertume refluante, comme venant de privation ou de désespérance. Le mystère, le regret sont aussi des caractères du Beau.

Une belle tête d’homme […] contiendra aussi quelque chose d’ardent et de triste, […] l’idée d’une puissance grondante, et sans emploi, – quelquefois l’idée d’une insensibilité vengeresse, […] quelquefois aussi, […] le mystère […].

Von den Ausdrücken „conjecture“, „faire rêver“, „idées“, „mystère“, mit denen diese Eigenschaft umschrieben wird, bezeichnet das fünfmal wiederkehrende Wort „idées“ die Vorstellungen, die ein schöner Gegenstand beim Betrachter auszulösen vermag. Wie das vor sich geht, hat Baudelaire am Beispiel des Meeres beschrieben, dessen Anblick noch in der Begrenzung die beglückende Vorstellung sowohl von Unendlichkeit wie von Bewegung und damit von denkbar höchster Schönheit erweckt:

Pourquoi le spectacle de la mer est-il si infiniment et si éternellement agréable? – Parce que la mer offre à la fois l’idée de l’immensité et du mouvement. Six ou sept lieues représentent pour l’homme le rayon de l’infini. Voilà un infini diminutif. Qu’importe s’il suffit à suggérer l’idée de l’infini total? Douze ou quatorze lieues (sur le diamètre), douze ou quatorze de liquide en mouvement suffisent pour donner la plus haute idée de beauté qui soit offerte à l’homme sur son habitacle transitoire.25

Das „infini diminutif“ des Meeres wie auch das in der Definition des Schönen genannte „Geheimnis“, das „un des caractères de beauté les plus intéressants“ sei, fordern in besonderem Maße die Tätigkeit der Phantasie heraus, die am Ende der 1850er Jahre zum zentralen Begriff von Baudelaires ästhetischem Denken wird.

Nach Margaret Gilman hat Baudelaire im Begriff der „imagination“ die Synthese aller ästhetischen Vorstellungen gefunden, an denen ihm gelegen war26. Gilman zeichnet nach, wie dieser Begriff seine früheren ästhetischen Vorstellungen ablöst und unter dem Einfluss von Delacroix und Poe zunehmend an Bedeutung und Klarheit gewinnt bis zur vollen Entfaltung im Salon de 1859, den sie deshalb einen „Essay on the Imagination“ nennt. Dort sind die Kapitel III und IV der „imagination“ gewidmet, in denen diese als „reine des facultés“ gepriesen wird, die dem Menschen helfe, sich auf vielfältige Weise die Welt zu erobern: Sie gleiche die Schwächen seiner anderen Fähigkeiten aus, die sie dank ihrer divinatorischen Kraft ersetzen könne. Sie habe ihn die sittliche Bedeutung von Farbe, Umriss, Klang und Düften gelehrt und am Anfang der Welt die Analogie und die Metapher erfunden, welche die geheimen Beziehungen zwischen den Dingen offenbaren. Sie erschaffe Neues, indem sie die Wirklichkeit zerlege und sie nach Regeln ordne, die aus der Tiefe der Seele stammen:

Mystérieuse faculté que cette reine des facultés! Elle touche à toutes les autres; elle les excite, elle les envoie au combat. Elle leur ressemble quelquefois au point de se confondre avec elles, et cependant elle est toujours bien elle-même […]