Schwestern des brennenden Himmels - Hanna Caspian - E-Book

Schwestern des brennenden Himmels E-Book

Hanna Caspian

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Beschreibung

Akribisch recherchiert – mit viel Gefühl erzählt: Der neue historische Roman von Bestseller-Autorin Hanna Caspian führt uns nach Potsdam unmittelbar nach Ende des 2. Weltkriegs. Nichts Geringeres als das Schicksal der Welt wird 1945, kurz nach Ende des 2. Weltkriegs, in Potsdam verhandelt. Während Churchill, Truman und Stalin auf Schloss Cecilienhof um Einigkeit ringen, riskiert ein junges Mitglied der britischen Delegation die Aufdeckung ihrer verdeckten Identität, die ihr Schutz und Überleben sichert: Ann Miller ist nicht, wer sie zu sein vorgibt, und sie muss unbedingt in die von den Russen besetzte Stadt gelangen. Dort hofft sie, ihre Cousine zu finden, an der sie einen bitteren Verrat begangen hat. Hilfe bekommt Ann ausgerechnet von Jackson Powers, einem amerikanischen Soldaten, der gute Gründe hat, alle Deutschen zu hassen. Auf keinen Fall darf Jackson herausfinden, wer Ann ist – erst recht nicht, als sie verbotene Gefühle für ihn entwickelt … Die Potsdamer Konferenz, ein gebrochenes Versprechen und eine unmögliche Liebe in einer zerstörten Welt: Hanna Caspians historischer Roman »Schwestern des brennenden Himmels« macht ein hochspannendes Stück deutscher und europäischer Geschichte am Schicksal einzelner Menschen erfahrbar. Von Hanna Caspian sind ebenfalls die historischen Sagas »Gut Greifenau« und »Schloss Liebenberg« erschienen.

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Seitenzahl: 522

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Hanna Caspian

Schwestern des brennenden Himmels

Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Akribisch recherchiert – mit viel Gefühl erzählt: Der neue historische Roman von Bestseller-Autorin Hanna Caspian führt uns nach Potsdam unmittelbar nach Ende des 2. Weltkriegs.

 

Nichts Geringeres als das Schicksal der Welt wird 1945, kurz nach Ende des 2. Weltkriegs, in Potsdam verhandelt. Während Churchill, Truman und Stalin auf Schloss Cecilienhof um Einigkeit ringen, riskiert ein junges Mitglied der britischen Delegation die Aufdeckung ihrer verdeckten Identität, die ihr Schutz und Überleben sichert: Ann Miller ist nicht, wer sie zu sein vorgibt, und sie muss unbedingt in die von den Russen besetzte Stadt gelangen. Dort hofft sie, ihre Cousine zu finden, an der sie einen bitteren Verrat begangen hat. Hilfe bekommt Ann ausgerechnet von Jackson Powers, einem amerikanischen Soldaten, der gute Gründe hat, alle Deutschen zu hassen. Auf keinen Fall darf Jackson herausfinden, wer Ann ist – erst recht nicht, als sie verbotene Gefühle für ihn entwickelt …

 

Die Potsdamer Konferenz, ein gebrochenes Versprechen und eine unmögliche Liebe in einer zerstörten Welt: Hanna Caspians historischer Roman »Schwestern des brennenden Himmels« macht ein hochspannendes Stück deutscher und europäischer Geschichte am Schicksal einzelner Menschen erfahrbar.

 

Von Hanna Caspian sind ebenfalls die historischen Sagas »Gut Greifenau« und »Schloss Liebenberg« erschienen.

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Figurenübersicht

Zitate

Prolog

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Teil 4

Nachwort

Figurenübersicht

Ann Miller – Mitglied des britischen Frauenkorps ATS

Karen Dean – ATS, Anns Kameradin

Jackson Powers – Fahrer der amerikanischen Konferenzteilnehmer

Joan Bright – Leiterin des ATS-Stabes

Mary Churchill – Tochter des britischen Premierministers

Winston Churchill – Premierminister Großbritanniens

Liesel Bankow – Deutsche aus Potsdam, ehemalige Flakhelferin

Leopold Bankow – Deutscher, Kulissenbauer bei der UFA

Charlotte Hufnagel – Deutsche aus Potsdam

Penny – ATS, Anns Zimmergenossin

Lavinia – ATS, Anns Zimmergenossin

Gillian Smith – ATS, Anns Kameradin

Olga – russische Soldatin

Igor – russischer Soldat

Da haben nun die drei größten Mächte der Erde fast sechs Jahre gebraucht, um die Nazis zu besiegen, und nun werfen sie der deutschen Bevölkerung, die antinazistisch war, vor, sie habe die Nazis geduldet! Deutschland ist das am längsten von den Nazis besetzte und unterdrückte Land gewesen, – nur so kann man die Situation einigermaßen richtig sehen. Sie sollen nur statistisch feststellen, wie viele Deutsche von den Nazis zugrunde gerichtet worden sind! Dann werden sie merken, was los war.

 

Erich Kästner, Tagebucheintrag vom 8. Mai 1945 im »Blauen Buch«

 

 

Niemals, sagt er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos.

 

Günter Grass, Im Krebsgang

Prolog

Februar 1944

Die Abgesandten des Teufels jagten über ihre Köpfe hinweg. Riesige, stählerne Hornissen, die über den Himmel von London schwärmten. Silberstreifen hinter Wolken, beleuchtet von Flakscheinwerfern.

Als Ann am frühen Abend ihren Dienst im Hyde Park antrat, ahnte sie schon, dass es eine dieser Nächte werden würde. Wenn es wolkig war, dann kamen sie – die Geschwader der Deutschen. Weil die Flugzeuge dann nicht so gut zu sehen waren. Spätestens, wenn sie am Stadtrand von London anfingen, ihren Feuerteppich zu knüpfen, wurde die Bevölkerung alarmiert. Abertausende strömten dann in die U-Bahn-Schächte.

Armeeangehörige und freiwillige Kämpferinnen aber standen oberirdisch in Habachtstellung und warteten auf das unheimliche Brummen, das die Maschinen ihrer Verwüstung voranschickten. Kämpferinnen wie Ann.

Die Flakartillerie war geladen. Ann schaute zu der anderen jungen Frau. Seit zwei Wochen erst arbeiteten sie gemeinsam an der Flak. Jetzt waren sie schon ein eingespieltes Team. Karen war schüchtern, aber präzise.

Ann stand wie festgefroren, ihren Blick nach oben gerichtet, angespannt wie ein Tiger vor dem Absprung. Noch bevor das Dröhnen zu hören war, sah man den Widerschein des Flammenmeeres, das die Deutschen auf ihrem Weg ins Herz von London entfachten. Der Himmel war übersät mit rotwangigen Wolkenhaufen. Feuerbälle flammten auf, Rauchsäulen stiegen empor. Einzelne Explosionen und Einschläge waren auszumachen. Das Inferno näherte sich ihnen.

Es war kalt. Eine leichte Schneedecke lag über dem Gras, aber Ann fror nicht. Adrenalin heizte ihre Gedanken und befeuerte ihre Nerven. In düsterer Erwartung dessen, was auf sie zukam. Der eine Moment, auf den sie warteten und den sie gleichzeitig fürchteten.

Einer ihrer Scheinwerfer fing eine Ju 88 ein, eine Junker. Dann noch eine. Immer mehr folgten. Es waren so viele, viel mehr, als sie Flakscheinwerfer hatten. Die Maschinen flogen stets in Schwärmen, wie Fische, die nur in der Gemeinschaft vor dem Hai sicher waren.

Geübt nahmen sie einen Flieger ins Visier. Karen berechnete das Ziel, stellte den Zeiger ein. Ann atmete ein letztes Mal tief durch. Stille. Bewegungslosigkeit. Sie zielte. Betete wie immer heimlich, es würde niemanden treffen, den sie kannte. Und schoss.

Ein Fauchen, ein roter Blitz – die metallische Rache war auf ihrem Weg. Sekunden, die sich wie Minuten dehnten. Die sich zu Stunden dehnen konnten, wenn sie selbst unter Beschuss standen. Jeden Moment konnte die Bombe eines Nachtjägers sie erwischen.

Ihr 40-mm-Geschoss schlug ein, hinten am Heck. Gerade noch so erwischt. Ein kleiner Feuerball erleuchtete den Rest des Rumpfes. Die Maschine fing an zu trudeln, flog aber weiter. Gut so. Besser, als dass sie über der Stadt abstürzte. Mit Glück musste sie außerhalb des dicht besiedelten Gebietes notlanden oder wenigstens direkt umkehren. Jede Bombe, die nicht abgeworfen wurde, konnte zwei oder zwölf Leben retten. Wer wusste das schon?

»Die linke der vier dort. Die Maschine im Spotlight«, sagte Karen. Die Männer hatten schon nachgeladen.

Kein Wort zu viel. Effiziente Sprache. Effizienz hieß, sie würden Leben retten. Effizienz hieß, einige Kinder würden keine Waisen. Effizienz hieß, eine Zehnjährige hatte die Chance, sechzig zu werden. Effizienz hatte viel mit Hoffnung zu tun. Und Hoffnung war die mächtigste Währung in diesen dunklen Tagen. Hoffnung und eine warme Suppe. Die Zukunft aber lag jenseits der Nacht.

Karen rechnete. Sie hatte den flinken Kopf. Ann hatte die ruhigen Hände. Sie kurbelte, nahm die ausgewählte Maschine ins Visier, folgte ihr mit dem Blick auf dem Weg über den Hyde Park. In direkter Nachbarschaft hatte ein anderes Flakgeschütz ein Flugzeug getroffen. Die Wolken unter der Maschine leuchteten gelborange. Flammende Bruchstücke trudelten Richtung Boden. Andere Artilleriebatterien schickten ihre Ladung hoch. In wenigen Minuten würde der Himmel brennen, genau wie die Stadt.

Sie arbeiteten konzentriert. Da hörten sie es. Das eine Geräusch – das Sirren des Todes. Karen und Ann warfen sich hinter die aufgestapelten Sandsäcke. Es war zu spät, um jetzt noch zu fliehen. Das Sirren wurde höher, dann zu einem bösartigen Zischen und verstummte schließlich. Die Stille vor der Explosion.

Der Boden brüllte. Anns Körper wurde hochgeschleudert. Steine und aufgewirbelte Grasnarben umhüllten sie wie ein Grab in der Luft. Kein Oben, kein Unten. Erdkrumen in ihrem Mund. Schmerzen. Überall Schmerzen.

Sie fiel in Zeitlupe. Ihr linkes Bein knackte. Sie hörte es nicht. Ihr Körper spürte es. Der Schmerz, der in anderen Schmerzen unterging. Hüfte, Schulter, der Kopf – alles prallte nacheinander auf harten Untergrund. Sie rang nach Atem. Die Nacht erlosch.

Teil 1

Dienstag, 3. Juli 1945

Unter ihnen zogen die Trümmer des Tausendjährigen Reiches vorbei. Anns Herz klopfte so heftig, dass sie es am Hals spürte. Sie lauerte auf das Sirren hinter den Motorgeräuschen. Aber auch schon das Dröhnen der Motoren reichte, damit ihr der Atem stockte. Über viele Monate hinweg hatte sie Maschinen wie diese aus der Luft geholt. Und jetzt saß sie freiwillig in einem Flugzeug. Ihr Ziel: das Herz des Feindeslandes.

Das Motorengeräusch wurde tiefer. Der Co-Pilot forderte die jungen Frauen, die wie Reben an einem Traubenstock vor den kleinen Fenstern hingen, auf, sich zu setzen und anzuschnallen. Alle begaben sich auf ihre Plätze. Ann drängte sich an die Außenwand. Die Militärmaschine war nur behelfsmäßig mit Sitzplätzen ausgestattet.

Wie die anderen gehörte Ann zum ATS – dem Auxiliary Territorial Service, der Frauenabteilung des britischen Heeres. An ihren monströsen Flakbatterien hatten sie die deutschen Flugzeuge mit ihren Scheinwerfern verfolgt und ihre Position bestimmt. Die Männer hatten die Granaten geladen, sie hatten gezielt und abgefeuert. Zumindest hatte Ann das bis zu jener Nacht im vorletzten Winter gemacht.

Holprig landeten sie auf dem Flugfeld und rollten aus. Endlich blieb die Maschine mit einem Ruck stehen. Ann packte ihre Habseligkeiten. Ein aufgeregtes Tuscheln hob an. Für die meisten der jungen Frauen war diese Reise ein spannender Ausflug. Nur zwei von ihnen hatten jemals ausländischen Boden betreten. Und jetzt reisten sie in das Land, das sie in den vergangenen sechs Jahren zu hassen gelernt hatten.

Ann stieg als eine der Letzten die kurze Metallleiter hinab, die von einem britischen Soldaten festgehalten wurde. Unten sammelten sie sich vor einer etwa zehn Jahre älteren Frau in Uniform. Eilig ordnete Ann sich neben Karen in die Reihe ein. Als alle in Formation standen, setzte die Uniformierte eine wohlwollende Miene auf.

»Willkommen in Berlin. Ich sollte lieber sagen, in den Ruinen von Berlin. Denn viel haben unsere Jungs nicht mehr übrig gelassen von der Weltstadt. Vielleicht werden Sie Gelegenheit bekommen, die Innenstadt zu besuchen. Dann werden Sie sehen, dass auch wir Engländer sehr gründlich sein können.« Sie schenkte der Gruppe ein strahlendes Lächeln.

»Mein Name ist Miss Bright, Joan Bright. Ich bin vom Kriegsministerium und für die Vorbereitung der Konferenz zuständig, und damit für Sie alle. … Wir sind hier in Berlin-Gatow, einem der Flugplätze, von dem aus auch die Maschinen gestartet sind, die unsere Heimat zerstört haben.« Sie machte eine ausladende Geste.

Anns Blick lief über die Umgebung. Sie war nicht die Einzige. Alle schauten sich neugierig um. Ein kaputter Wachturm, große Einschlagtrichter in der Erde. Dunkle Teerflecken auf der Landebahn, wo vermutlich ihre britischen Kameraden schon etliche Bombenkrater ausgebessert hatten.

»Der Flugplatz Gatow war in den letzten Tagen des Krieges sehr umkämpft. Was Sie hier erahnen können, ist schon mal ein kleiner Vorgeschmack auf den Rest des Landes. Die Reichshauptstadt liegt wahrlich in Trümmern.« Sie betonte Reichshauptstadt voller Abscheu.

»Ich kann Ihnen gar nicht genug ans Herz legen, jederzeit vorsichtig zu sein. Trauen Sie niemandem. Nach wie vor gilt das Fraternisierungsverbot: Sie dürfen nicht privat mit Deutschen sprechen. Viel gefährlicher aber sind die Deutschen, die gar nicht mit einem sprechen wollen. Überall kann jemand lauern, der Hitlers letztem Befehl – Sieg oder Untergang – folgt. Ich denke, ich muss Ihnen nicht sagen, dass Sie keinesfalls alleine unterwegs sein dürfen.«

Einige der Frauen nickten. Miss Bright quittierte das wohlwollend. Ann begann zu ahnen, dass ihre Kontaktaufnahme schwieriger werden könnte als gedacht.

Zwei Mannschaftswagen kamen näher und fuhren eine große Kurve, bis sie ein paar Meter entfernt von der Gruppe stehen blieben. Die jungen Frauen griffen nach ihrem Gepäck und stellten sich bei den Wagen an. Ann und Karen standen in der Schlange am hinteren Wagen, als die Propeller des Flugzeuges wieder schneller wurden. Die schwere Maschine rollte vorwärts und drehte sich dabei in Startposition. Vermutlich würde sie zurück nach England fliegen und weitere ATS-Frauen, Ausrüstung, Verpflegung und sonstige Dinge holen, die man hier vor Ort brauchte.

Eine heftige Luftströmung erwischte Anns Barett. Es flog davon. Sie ließ ihr Gepäck stehen und rannte hinterher. Aber als wollte der Wind sie necken, blies er den leichten Stoff immer wieder fort von ihr. Sie rannte, stoppte, rannte weiter. Ein ums andere Mal wehte die Böe ihre Kopfbedeckung weiter, sobald sie sich danach bückte. Ann kam ins Schwitzen. Es musste urkomisch aussehen, was sie hier trieb.

Ein amerikanischer Jeep kam in ihre Richtung herangebraust und blieb abrupt zehn Meter vor Ann stehen. Der Soldat sprang heraus, lief ein paar Schritte und schnappte sich ihr Barett.

Mit einem verschmitzten Lächeln kam der Mann auf sie zu. »Ich nehme an, das gehört Ihnen.« Er reichte ihr das olivfarbene Stück. Jetzt grinste er strahlend.

»Danke sehr.« Himmel, war das peinlich. Bestimmt hatte er ihre lächerliche Verfolgungsjagd mit angesehen. Seine Miene wirkte aber kein bisschen abschätzig. Es sah eher so aus, als wäre er überrascht oder erfreut.

»Gerade erst angekommen?«

Ann schaute kurz zu den anderen Frauen, die alle in ihre Richtung starrten. »Ja, wir werden die Unterkünfte für die britischen Delegierten der Konferenz vorbereiten.«

Er nickte, als wüsste er genau, was sie meinte. »Unterkünfte klingt sehr schlicht. Ich habe sie schon gesehen. Es sind alles prächtige Villen. Schauen Sie sich gut um. In einigen der Häuser haben deutsche Filmstars gewohnt.«

»Ach, das wusste ich gar nicht.« Für einen Moment geriet Ann aus dem Konzept. Der Soldat hatte ein einnehmendes Wesen. Er war spontan und offen, wie so viele Amerikaner. Aber da war noch mehr. Sein Blick ruhte weiterhin erwartungsvoll auf ihr. Vielleicht hoffte er auf eine geistreiche Bemerkung. Aber Ann wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie schwitzte aus allen Poren, nicht nur, weil es so heiß war. Ach was, wischte sie einen plötzlich aufkommenden Gedanken weg. Für so was hatte sie nun wirklich keine Zeit. »Also … Danke noch mal.«

»Na dann. … Nachdem ich meine gute Tat für heute getan habe, muss ich zurück. Ich bin Fahrer beim amerikanischen Hauptquartier, aber auch für unsere Delegierten auf der Konferenz. … Corporal Jackson Powers.«

»Ann Miller. … Also herzlichen Dank, Corporal Powers.« Ann lächelte verlegen. Was für ein sympathischer Kerl.

»Dann laufen wir uns ja vielleicht noch mal über den Weg, während der Konferenz.«

»Ganz bestimmt sogar.« Powers tippte an seine Stirn und lief rückwärts mit einem Grinsen zu seinem Auto zurück.

Nur einmal erlaubte Ann sich zurückzuschauen. Der Amerikaner sprang in seinen offenen Jeep und fuhr wieder in Richtung des zerbombten Wachturmes.

Die jungen Frauen bedachten ihre Rückkehr in die Gruppe mit Getuschel und leisen Pfiffen. Eine von ihnen fragte scherzhaft in Richtung Miss Bright: »Gilt das Fraternisierungsverbot auch für die alliierten Streitkräfte?«

»Nur für die allzu gut aussehenden Soldaten«, sagte ihre Vorgesetzte mit schelmischer Miene. Doch mit einem warnenden Unterton setzte sie nach: »Machen Sie mir bloß keine Schande. Sie wissen doch alle, was wir über die GIs sagen.«

Eine Frau neben Ann ergriff das Wort. »Overpaid, oversexed, and over here!«

Die ganze Gruppe brach in schallendes Gelächter aus.

»Dann gehe ich davon aus, dass Sie sich hier genauso gesittet benehmen wie in Ihrer Heimat.« Es klang nicht vorwurfsvoll. Miss Bright schien sehr umgänglich zu sein. Trotzdem fixierte sie Ann mit einem kritischen Blick. Etwas, was sie nicht beabsichtigt hatte. Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, war das Letzte, das sie wollte.

***

Das Lachen verging ihnen auf der Fahrt. Es herrschte eine gespenstische Atmosphäre. Der Landstrich, den sie durchquerten, war fast menschenleer. Die wenigen Deutschen, die sie sahen, verschwanden eilig in Nebenstraßen oder ihren Häusern, sobald sie die Militärfahrzeuge erblickten.

Kurz darauf führte ihr Weg in einen lichten Wald hinein. Vögel zwitscherten friedlich. Durch die Bäume schimmerte die Havel. Man hätte meinen können, sie wären auf einem idyllischen Sommerausflug.

Bis auf ein paar Einschusslöcher in den Wänden der Häuser und eine angsterfüllte Atmosphäre deutete nichts auf den Krieg hin. Ann platzte fast vor Aufregung. Einerseits gab es da die schrecklichsten Befürchtungen, auf der anderen Seite eine fast greifbare Neugierde. Wie sah das Land jetzt nach den heftigen Gefechten und Bombardements aus? Wie all die anderen Frauen ließ sie ihren Blick begierig über die Landschaft schweifen.

Auf einer zerschossenen und halb ins Wasser gesunkenen Stahlbrücke stand ein einsamer deutscher Panzer. Ein ungewohnter Anblick für alle. Die deutschen Panzer hatten es nicht auf englischen Boden geschafft. Allerdings hatten die Bomber und die verhassten V1- und V2-Raketen mit ihren zerstörerischen Ladungen die britische Bevölkerung terrorisiert.

So viele Menschen hatten für diesen Wahnsinn mit ihrem Leben bezahlen müssen, dachte Ann. So viele Menschen, getötet von Deutschen. Sie wagte nicht, nach dem Zettel zu tasten, den sie sich unter den Büstenhalter geschoben hatte. Niemand durfte ihren so sorgfältig aufgezeichneten Straßenplan entdecken. Man würde sie sofort als Spionin verdächtigen. Gerade sie, mit ihrer Vergangenheit. Sie musste äußerst vorsichtig vorgehen.

Würde sie finden, wonach sie suchte? Potsdam lag so dicht bei Berlin. In ihrem Herzen trug Ann die Hoffnung, dass die Stadt nicht so zerstört war wie die Reichshauptstadt. Nein, keine Stadt konnte so zerstört sein wie Berlin. Die Vorstellung, dass alle, die sie suchte, tot sein könnten, ließ sie nicht zu.

Schon bald erreichten sie einen Kontrollpunkt. Drei bewaffnete russische Soldaten verlangten ihre Ausweise. Alle waren ausgewiesen höflich. Schließlich waren die Briten, die Amerikaner und die Russen nun eine verschworene Gemeinschaft.

Nach einer flüchtigen Kontrolle durften sie weiterfahren. Sie näherten sich ihrem Ziel. Alle Anzeichen von Zerstörung waren verschwunden. Potsdam lag südwestlich der Reichshauptstadt. Zufrieden stellte sie fest, dass die Randgebiete der Hauptstadt verschont geblieben waren. Links und rechts der Straße tauchten nun herrschaftliche Villen auf. Corporal Powers hatte sicher recht: Wer sonst sollte in solchen Häusern wohnen als Filmstars?

Der Wagen blieb vor einer großen, lindgrün gestrichenen Villa stehen, deren Fassade mit weißem Stuck verziert war. Ringstraße 40 – hier wurde das weibliche Dienstpersonal untergebracht. Voller Verwunderung über die luxuriöse Unterbringung stiegen die Frauen aus. Bevor sie die Villa betraten, reihten sie sich vorne auf dem Rasen auf. Ann stand hinter den anderen Uniformierten. Die zweite Reihe schien wie für sie gemacht, für ihr ganzes Leben.

»Wo sind die Bewohner der Villen? Wo sind die Deutschen?«, fragte eine ihrer Kameradinnen vorwitzig.

»Hier sind keine Deutschen mehr. Sind alle weg, geflohen oder ausquartiert. Hier haben viele Deutsche gewohnt, die in den nahe gelegenen UFA-Studios gearbeitet haben. Regisseure und Filmstars. Aber auch Bankiers und Nazigrößen«, erklärte Miss Bright und fuhr direkt fort: »Sie brauchen keine Angst zu haben. Die Häuser sind alle gründlich durchsucht worden nach Minen, Sprengfallen und Granaten mit Zeitzündern. Mehrere Male sogar. Also«, sie klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit der Frauen von den Luxusvillen wieder auf sich zu lenken. »An den Zimmertüren finden Sie die Bettenverteilung. Legen Sie Ihr Gepäck auf die Betten, machen Sie sich kurz frisch und kommen Sie hierher zurück. In fünfzehn Minuten fahren wir zum Essen. Danach werde ich Sie einweisen, was Ihre Aufgaben angeht.«

Miss Bright schaute wieder in die Gesichter der jungen Frauen und war sichtlich zufrieden. Schließlich klatschte sie nochmals in die Hände. »Worauf warten Sie, meine Damen? Sie haben fünfzehn Minuten.«

***

Das Essen war nahrhaft und reichlich. Alle waren schon beim Apfelkompott, als Miss Bright aufstand. Sie setzte ein ernstes Gesicht auf.

»Noch ein paar Worte der Vernunft. Wie ich schon sagte, sind alle Häuser bereits überprüft worden. Die Räumlichkeiten sind sicher. Trotzdem, sollte Ihnen irgendetwas merkwürdig vorkommen, dann seien Sie lieber einmal zu viel als einmal zu wenig vorsichtig. Gehen Sie jederzeit vom Allerschlimmsten aus. Wir befinden uns hier im Land der Monster.« Sie schaute den jungen Frauen eindringlich ins Gesicht.

Ann schluckte. Im Land der Monster!

»Räumen Sie bitte in der Küche alles weg, was auch nur im Entferntesten an Essen erinnert. Und in diesem Punkt kann ich gar nicht deutlich genug sein. Wenn ich sage, alles, dann meine ich alles. Jeden Brühwürfel, jeden Essigrest, jede verschlossene Packung Backpulver. Der Essig könnte Säure sein, das Backpulver Zyankali. Andernorts gab es schon geschlossene Konservendosen, die mit Gift präpariert waren.« Joan Bright schaute prüfend in die Runde, ob auch alle zuhörten. Dann fuhr sie fort. »Ihre Aufgabe ist es, die Häuser für die Mitglieder der Delegation vorzubereiten und während der Konferenz für einen reibungslosen Ablauf zu sorgen. Alles Notwendige kommt mit einem der nächsten Flüge an. Sie sorgen für Getränke, mal einen Tee oder Kaffee. Bitte nutzen Sie dafür keinesfalls das Wasser aus der Leitung. Es ist nicht gereinigt und könnte verseucht sein. … Kochen gehört nicht zu Ihren Aufgaben. Es gibt ein Haus, das als Offiziersmesse betrieben wird. Die höheren Ränge speisen dort, die anderen essen hier mit uns. Räumen Sie in den Unterkünften alles weg, was Ihnen als nicht dienlich oder zu privat erscheint. Kleinkram, Vasen und so weiter. Einige Delegationsteilnehmer werden in Zimmer ziehen müssen, die zuvor von fünfzehnjährigen BDM-Mädchen oder achtjährigen Hitleranhängern bewohnt worden sind. Achten Sie darauf, dass sie sich wohlfühlen können. Sie wissen, was ich meine. Keine Puderdöschen, keine kitschigen Spieluhren. Und keine Hitlerbilder. Wobei anscheinend sowieso alle Deutschen ihre Führerbilder vor dem Endsieg verbuddelt oder verbrannt haben.«

Endsieg klang äußerst sarkastisch.

»Ich möchte alles so gut organisiert haben, dass die Männer nicht mal merken, dass es organisiert ist. Die Delegierten werden hier nach und nach eintreffen. Unsere Delegation zählt ungefähr zweihundertsechzig Personen. Sie verteilt sich auf fünfzig Häuser, hier und nahe dem britischen Hauptquartier. Je nach Anzahl der Schlafplätze werden eine oder zwei von Ihnen jeweils für ein Haus zuständig sein. Wenn alles vorbereitet ist, wird es nur noch darum gehen, die alltäglichen Dinge zu organisieren. Fehlende Seife beschaffen, Handtücher wechseln, aufräumen oder auch mal Tee kochen. Wenn die Konferenz läuft, werden wir vermutlich die wenigste Arbeit haben. … Sie könnten angewiesen werden, Botengänge zu machen. Bitte bedenken Sie immer, dass es hier um äußerst vertrauliche Dinge geht. Jeder Außenstehende, so nett er auch scheint, könnte ein Spion sein. Oder ein Deserteur.«

Spione … Deserteure. Ann schluckte. Sie sollte besser sehr umsichtig vorgehen, um bloß keinen Verdacht auf sich zu lenken. Sie hatte die Anfeindungen lange genug ertragen müssen.

»Wenn Sie nun alle so weit sind, können wir los«, rief Miss Bright.

Geordnet stiegen sie in die Mannschaftswagen. Ihnen wurde gezeigt, wo das Depot war. Dort würden sie demnächst alles bekommen, was sie für die Häuser brauchten. Sie fuhren an einem Haus vorbei, in dem ein Military Store eingerichtet war. Hier konnten die Armeeangehörigen zusätzliche Dinge für den persönlichen Gebrauch und Souvenirs erstehen. Weiter ging es zur NAAFI-Kantine, wo man sich abends in den freien Stunden treffen konnte. Dann wurden die jungen Frauen nacheinander an ihren Villen abgesetzt.

Ann und Karen bekamen ein großes Stadtpalais am Ende der Straße zugeteilt. Zwei Häuser weiter fing der Bereich für die amerikanische Delegation an. Miss Bright ging mit ihnen zum Haus, schloss auf und reichte Ann den Schlüssel.

»Solange die Delegierten noch nicht da sind, sind Sie beide Hausherrinnen. Schließen Sie das Haus immer ab, wenn Sie es verlassen. Es gab schon Deutsche, die sich in ihre Villen geschlichen haben, um noch Persönliches abzuholen.«

»Hat man sie erwischt? Und was ist mit ihnen geschehen?«, fragte Karen.

Miss Bright zog die Schultern hoch. »Keine Ahnung, was die Russen mit denen gemacht haben. Allerdings habe ich letzte Woche hinterm Haus noch eine Leiche treiben sehen.«

Leichen im Griebnitzsee? Ann wechselte einen unsicheren Blick mit ihrer Kameradin.

»Keine Angst, wir sehen uns jeden Tag. Bis die Delegierten eintreffen, werden Sie alles im Griff haben«, beruhigte ihre Vorgesetzte sie.

Die beiden nickten. So würde es vermutlich sein. Die ATS Girls waren geschult in Selbstständigkeit und Nervenstärke.

»Na dann, machen Sie es sich bequem in Ihrem Domizil.« Miss Bright stieß die massive Haustür auf. »Solange, bis es richtig losgeht, gehört alles Ihnen.« Sie lächelte verschmitzt.

Ann machte große Augen. Was für eine Eingangshalle! Als wäre sie im Buckingham-Palast. Nun, ganz so groß war es nicht, aber sehr nobel eingerichtet. Sie traten ein und drehten sich bewundernd im Kreis. Karen schoss eilig hinaus, wo Miss Bright gerade wieder zu den Mannschaftswagen zurücklief.

»Miss Bright!«, hörte Ann sie rufen. Sie schaute zur Haustür hinaus.

Joan Bright drehte sich um. »Ja?«

»Wissen Sie, wer hier gewohnt hat?«

»Nicht aus dem Kopf, aber sagen Sie mir heute Abend den Namen, der an der Haustür steht. Vielleicht kriege ich es raus.« Sie sprang in den Wagen und fuhr mit den anderen davon.

Karen kam zurück. Sie sah aufgeregt aus, so als würde man ein Kind in einen Spielzeugladen schicken. Ihre blauen Augen strahlten. »Ich kann es noch immer nicht glauben. Wir sind hier. Nach alledem …«

Alledem. Karen war wie durch ein Wunder kaum verletzt worden. Karen Dean kam ursprünglich aus Coventry, einer kleinen Stadt, die von deutschen Bomben in Schutt und Asche gelegt worden war. Jede Britin und jeder Brite kannte das Schicksal Coventrys. Und dass Churchill nach diesem barbarischen Überfall Befehl gegeben hatte, ebenfalls deutsche Städte zu bombardieren, ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Die Logik des Krieges.

Natürlich hatte Karen sich so schnell wie möglich zum ATS gemeldet. Nachdem sie verschüttet worden waren, hatte Karen, anders als Ann, weiter an der Flakartillerie gearbeitet. Bei ihr mussten nur ein paar Schrammen versorgt werden. Ann aber trug einen Beinbruch davon. Was allerdings entsetzlich qualvoll gewesen war, war die Ewigkeit, bis man sie ausgebuddelt hatte. Danach konnte Ann nicht mehr zurück in dieses Stahlgewitter.

»Immerhin. Unser Einsatz hat sich gelohnt. Wir haben die Ungeheuer besiegt«, sagte Karen bittersüß.

Ann konnte ihr den Hass nicht verdenken. Da war es wieder, dieses ungute Gefühl, dieser Klumpen im Magen. Was würde ihre Kameradin von ihr denken, wenn sie wüsste, wer sie wirklich war? Karen glaubte, dass Ann aus dem East End stammte. Einem Stadtteil Londons, der ebenfalls schlimm von The Blitz, den deutschen Bombenangriffen, verwüstet worden war. Viele der ATS Girls waren Ausgebombte, die es ihren Feinden mit gleicher Münze heimzahlen wollten. Anns Geschichte war wohldurchdacht.

»Sollen wir einen Rundgang durch das Haus machen?«, schlug Ann eilig vor.

»Gute Idee. Überlegen wir, was wir als Erstes erledigen.«

***

Gemeinsam mit Karen hatte sie alle Räume ihres Stadtpalais überprüft, eine Liste gemacht, wo überall etwas umzuräumen beziehungsweise wegzuräumen war. Karen hatte sich nicht getraut, auf dem Bechsteinflügel im großen Salon etwas zu spielen. Sie hatte davon gehört, dass in manchen Klavieren Sprengfallen versteckt waren. Und wenn man die falsche Taste anschlug, ging alles hoch. Ann hielt es ebenfalls für keine gute Idee, auch wenn das Klavier vermutlich schon untersucht worden war. An den Wänden gab es kahle Stellen. Bilder waren abgehängt worden. Man brauchte nicht lange zu rätseln, wen sie abgebildet hatten.

Die beiden beschäftigten sich zuerst mit der luxuriös ausgestatteten Küche und trugen wie angewiesen vorsichtig alles zusammen, was nur im Entferntesten essbar war. Für die anderen Zimmer hatten sie noch ein paar Tage Zeit. Es gab zwei Kinderzimmer, in denen sie viel würden wegräumen müssen.

Die meiste Zeit aber schauten sie sich einfach um. Alles war durchwühlt, die Möbel verschoben. Einige Dinge willentlich oder unwillentlich kaputt gemacht. Überall klafften Lücken, wobei sie sich nicht sicher sein konnten, ob die ehemaligen Bewohner die Dinge in aller Eile eingepackt oder die russischen Soldaten sich die luxuriösen Güter angeeignet hatten – Schuhe, Mäntel, Anzüge. Schmuck, Uhren, Porzellan.

Andere Ecken des herrschaftlichen Hauses sahen aus, als hätten die Bewohner es gerade erst verlassen. In den Schränken hingen Kleidungsstücke. Auf einem Nachttisch lag ein Roman mit Lesezeichen in der Mitte. Im Keller standen Schuhe neben der Schuhputzcreme aufgereiht. Niemand war mehr dazu gekommen, die Arbeit zu erledigen. Ein Leben, aufgeschlagen wie ein offenes Buch.

Oben im Dachgeschoss gab es drei Dienstbotenzimmer. Diese waren tatsächlich komplett geräumt worden. Karen hatte einen kaputten Kamm unter einer Kommode gefunden. Sonst lag hier nichts mehr herum.

In allen Schlafräumen waren die Betten noch bezogen, aber komplett zerwühlt. Das hatte wohl mit den gründlichen Durchsuchungen der Russen zu tun. Jede Ecke schien akribisch nach unangenehmen Überraschungen durchforstet worden zu sein. Trotzdem war den beiden Frauen nach ihrem ersten Rundgang mulmig zumute. Sie blieben in der Küche und arbeiteten dort, bis es Zeit war zu gehen.

Wie befohlen schloss Karen das Stadtpalais ab. Ann schaute kurz die Straße runter, Richtung amerikanische Delegation. Würde sie diesen charmanten Corporal wiedersehen? Ganz sicher sogar, hatte er gesagt. Er wusste wohl schon, wie es hier lief. Bestimmt würde er hilfreich für Ann sein können.

Am Abend herrschte in der lindgrünen Villa der ATS-Frauen reges Treiben. Ann jedoch ließ sich auf ihr Bett fallen, scheinbar müde. Jeweils zu viert schliefen sie in einem der unzähligen Zimmer, die meisten von ihnen auf Feldbetten, die man kurzerhand herbeigeschafft hatte. Nach dem Essen hatten sich die anderen Frauen zurechtgemacht. Das geräumige Wohnzimmer unten war zu einem Gemeinschaftsraum umfunktioniert worden, in dem sich nun alle sammelten und sich über die einzelnen Villen und ihre ehemaligen Bewohner austauschten. Als die anderen zur NAAFI-Kantine aufbrachen, um dort einen lustigen Abend zu verbringen, blieb Ann zurück. Normalerweise achtete sie immer penibel darauf, bei der Horde zu bleiben. Das zu machen, was alle taten. Immer mit dem Strom schwimmen, nicht auffallen, nicht herausstechen. Doch heute redete sie sich raus. Sie sei früh aufgestanden für die Anreise und müde.

Endlich war sie ganz alleine in der Villa. Sie holte ihren Rucksack hervor und ließ sich auf dem Bett nieder. Als könnte sie so die Vergangenheit beschwören, kramte Ann den Perlmuttknopf aus ihrer Tasche hervor. Sie ließ ihn durch die Finger gleiten, wie schon tausende Male zuvor. Der so schön schimmernde Knopf war das Symbol ihres großen Verrates, und ihres gebrochenen Herzens. Etwas, was sie sich nie verzeihen würde. Etwas, was sie unbedingt wiedergutmachen musste. Damals hatte es sich angefühlt, als hätte jemand ihr Leben angehalten. Doch jetzt war sie hoffnungsfroh und bangen Mutes. Mit etwas Glück würde sie schon ganz bald den abgeschnittenen Lebensfaden wieder zusammenknüpfen können … nach so vielen Jahren.

Als sie nun den Zettel aus ihrem Büstenhalter herauszog, war er verschwitzt und knitterig, aber die Schrift noch gut lesbar. Die Straßenzüge Potsdams – aufgezeichnet aus der Erinnerung. Zwei Stellen waren mit einem großen X gekennzeichnet. Ann hoffte, sich zurechtzufinden, sobald sie einige Gebäude wiedererkennen würde. Sicher konnte sie sich am Rathaus und dem Bahnhof orientieren.

Der Abend war lau. Sie brauchte nichts überzuziehen. Nur für den Fall setzte sie ihr Barett auf und nahm ihre olivfarbene Uniformjacke mit. Die Abzeichen darauf wiesen sie als britisches Besatzungsmitglied aus, mehr als ihr Rock und ihre Bluse es konnten.

Der nächste britische Kontrollposten war nicht weit entfernt. Ann ging zu einem Jeep, in dem zwei ältere Soldaten Karten spielten. Sie blieb neben der Beifahrertür stehen.

»Kann man hier ein wenig spazieren gehen?«

»Etwa alleine?«, fragte einer mit einem väterlichen Unterton, der eher warnend klang.

Ann nickte freundlich.

»Lass sie. Sie wird nicht weit kommen …« Der andere Mann schaute von seinen Karten hoch. Er sprach nicht einmal mit ihr, sondern nur mit seinem Kameraden. Ann kannte diesen speziellen Tonfall noch von ihren Einsätzen an der Flak. Nicht alle Männer waren begeistert von Frauen in Uniform. Von Frauen, die mit einer Waffe umgehen konnten. Oder Frauen an schweren Geschützen.

Der väterliche Typ sprach sie an. »Er hat recht. Ein paar hundert Meter weiter ist eine russische Kontrolle. Es gibt drei Schutzgürtel der Russen um das Konferenzgebiet. Der da gehört zum ersten, zum inneren Schutzgürtel. Da hört Ihr Spaziergang dann auf.«

»Ich schau mal«, sagte Ann unbestimmt und verabschiedete sich. Sie lief über die breiten, von Ahorn, Platanen oder Linden gesäumten Wege der Villenkolonie. Die Vögel zwitscherten. Der Natur wurde eine ungewohnt idyllische Pause gegönnt. Trotzdem war Ann äußerst nervös. Das lag nicht nur an den verlassenen Häusern und den gespenstisch leeren Straßen. Die Bewohner waren vielleicht geflüchtet, aber die Villen verströmten weiterhin den Reichtum und die Macht derer, die hier gelebt hatten.

Als sie um eine Ecke kam, stand sie unvermittelt vor drei russischen Soldaten, die ebenfalls in einem Jeep saßen. Ein großer Stern prangte auf der Seite. Da das Verdeck des Wagens geschlossen war, bemerkten sie Ann nicht sofort.

Ann rückte ihre Kopfbedeckung zurecht und setzte ein Lächeln auf. Nach langen Jahren Krieg war sie an den Anblick von Bewaffneten gewöhnt. Trotzdem waren ihre Hände schweißnass, als sie stehen blieb.

»Hallo!«

Einer griff erschrocken nach seinem Maschinengewehr. Ihre Aufmerksamkeit galt der Richtung, aus der die Leute kamen, die hineinwollten, nicht denen, die hinauswollten.

»Guten Abend. … Ich möchte in die Stadt.«

Keiner sagte etwas. Die Soldaten schauten so skeptisch wie erwartungsvoll. Sie versprachen sich vermutlich etwas Abwechslung von ihrer öden Wache. Unauffällig taxierten sie einander.

»City of Potsdam?«, hakte Ann nach und wies in die Richtung, die sie vermutete.

»Njet. No. … No Potsdam.« Einer der Männer wies in die andere Richtung. »Potsdam … there.«

Okay, also da lang. »Okay? Potsdam?« Ann zeigte auf sich und dann in die anscheinend richtige Richtung.

»Passport … Order.«

Miss Bright hatte allen Frauen Delegationsausweise besorgt. Ann zeigte ihren Ausweis vor. Zusätzlich hob sie ihre Jacke und deutete auf ihre Abzeichen.

»ATS … Auxiliary Territorial Service.«

Die Männer nickten, aber es reichte offensichtlich nicht.

»Order … Paper!«, sagte einer der Soldaten und zog selbst etwas aus der Brusttasche. Er faltete einen Zettel auseinander. Ein Vordruck in kyrillischer Schrift, auf dem etwas handschriftlich eingetragen war. Ann vermochte es nicht zu entziffern. Aber sie konnte sich denken, was es war: ein Passierschein.

Der Mann bedeutete ihr, dass sie so etwas auch brauchte. Sie zuckte mit den Schultern, zeigte wieder den Ausweis, der bewies, dass sie zur britischen Delegation gehörte.

Die anderen zwei Soldaten schauten auf den dritten, doch der versuchte ein bedauerndes Lächeln und schüttelte seinen Kopf. Er sagte etwas auf Russisch, was nett klang, aber was sie wiederum nicht verstand.

Er wiederholte: »Potsdam«, hielt den Zettel hoch und wies in die richtige Richtung. Nun faltete er den Zettel zusammen und versteckte ihn unter der anderen Hand. »Potsdam … njet.«

Die Botschaft war klar. Ohne Passierschein käme sie hier nicht weiter.

Ann musste sich um ein unbefangenes Lächeln bemühen. »Okay.«

Einer der anderen ergriff das Wort. »Frau … Potsdam … dangerous.«

Dangerous – es war falsch betont, aber Ann wusste, was der Soldat ihr zu sagen versuchte. Es sei gefährlich, als Frau alleine dort hinzugehen.

Sie nickte zustimmend. »Okay. Bye-bye.« Sie legte ihre Jacke über den Arm und ging.

»Miss … NAAFI Canteen?«, rief einer ihr hinterher.

Na klar, das konnten sie tadellos aussprechen. »Ja, morgen. NAAFI-Kantine.«

No Potsdam. … Potsdam njet. … Dangerous. Ann lief zurück, Tränen in den Augen. Offensichtlich war es ziemlich naiv von ihr gewesen zu glauben, sie könne so einfach bei dem Haus vorbeispazieren, das sie in ihrem früheren Leben Tausende Male betreten hatte. Selbst ihr Delegationsausweis reichte nicht aus. Sie brauchte einen Passierschein! Und für einen Passierschein brauchte sie sicherlich einen Grund. Es würde wohl noch etwas dauern, bis sich die klaffende Wunde in ihrem Herzen schließen ließ. Aber auch nur, wenn Charlie überlebt hatte!

Mittwoch, 4. Juli 1945

Karen schaute Ann begeistert an. Ihre ganze Truppe würde jetzt zum Schloss Cecilienhof fahren. Beim Frühstück hatte Miss Bright sie damit überrascht. Wenn die Konferenz erst einmal angefangen hatte, durften Normalsterbliche wie sie dort nicht mehr hin. Deswegen durften sie sich heute das Gelände und das herrschaftliche Gebäude anschauen.

Das Schloss gehörte dem Erben des verstorbenen letzten deutschen Kaisers. Wilhelm II. hatte nach seiner Flucht ins niederländische Exil 1918 keinen deutschen Boden mehr betreten. Aber sein ältester Sohn, der Kronprinz, hatte mit der Kronprinzessin auf Schloss Cecilienhof gelebt, bis die Front zu nahe herangerückt war.

»Es ist fast so, als würde man Windsor Castle besuchen«, wisperte Karen aufgeregt. Schon stiegen sie gemeinsam in den bereitstehenden Militärtransporter.

Gestern Abend, als die jungen Frauen zurückgekommen waren, hatte Ann in ihrem Bett gelegen und so getan, als würde sie schlafen. Die anderen plapperten und kicherten leise. Offensichtlich hatten sie ein paar vergnügliche Stunden erlebt. Britische, aber auch amerikanische Soldaten waren dort gewesen.

Karen, die in ihrem Vier-Bett-Zimmer untergekommen war, hatte ihr heute Morgen erzählt, dass einer der Amerikaner nach Ann gefragt habe. Ihre Kameradin war sich sicher, dass es der Soldat vom Flughafen gewesen war.

»Du musst heute Abend mitkommen. Bestimmt ist er wieder da.« Karen war so aufgeregt, als hätte sie selbst eine Verabredung.

Ann sagte zu. Sie würde auf jeden Fall mitgehen. Jackson Powers war sehr sympathisch. Aber das sollte ihr egal sein. Herumkokettieren, flirten, sich verlieben – das hatte keinen Platz in ihrem Leben. Liebesglück war für die anderen gemacht, nicht für sie. Aber Powers war trotzdem wichtig. Er war Fahrer der amerikanischen Delegation und schon länger hier. Bestimmt wusste er, wie man nach Potsdam hineinkam. Oder wie man an einen Passierschein kam. Mit seiner Hilfe würde sie sicherlich einiges in Erfahrung bringen können.

Zu ihrem Bedauern fuhr der Militärwagen nicht etwa durch die Stadt, sondern nahm den Weg, den sie am Vortag gekommen waren. Sie überquerten eine hölzerne Notbrücke, neben der die gesprengte Eisenbrücke mit dem Panzer halb ins Wasser ragte. Ann saß gleich hinter dem Fahrer und tippte ihm auf die Schulter.

»Fahren wir durch Potsdam zurück?«

»Nein, da sind noch nicht überall die Trümmer weggeräumt. Und das hier ist ohnehin der kürzeste Weg.«

Die Trümmer. Ein eiskaltes Kribbeln lief Ann den Rücken runter. Mach dich nicht verrückt, versuchte sie, sich zu beruhigen. Allerdings hatte sie in der britischen Wochenschau erschreckende Bilder gesehen. Städte, die eher Steinbrüchen als Lebensraum für Menschen glichen. Berlin war ganz besonders betroffen. Das Ruhrgebiet, auch Hamburg und Dresden. Aber Potsdam? Ziemlich sicher hatte es auch hier einzelne Bombentreffer gegeben. Kaum eine Stadt war ganz verschont geblieben.

Schon steuerte der Fahrer den Wagen durch ein großes Tor in den Neuen Garten. Langsam fuhren sie über die schmalen Wege. Schloss Cecilienhof lag in einem riesigen Park, zu einer Seite begrenzt vom Heiligen See, wie Ann wusste. Im Park standen überall russische Soldaten. Sie rauchten, schwatzten, und ihr neugieriger Blick folgte den Wagen mit den Frauen.

Auf einmal kam das Schloss in Sicht. Sie sah die spitzen Giebel mit den Fachwerkmosaiken und die mit roten Schindeln gedeckten Dächer. Das Gebäude war unversehrt. Wenn das Schloss keinen Treffer abbekommen hatte, dann galt das bestimmt auch für angrenzende Stadtteile. Ann atmete unhörbar auf.

Die jungen Frauen hatten wohl alle etwas anderes erwartet, wie Ann aus ihren überraschten oder abfälligen Bemerkungen heraushörte. Schloss Cecilienhof war weitläufig, aber wie ein Schloss wirkte diese Anlage mit angedeuteten Wehrtürmen und Butzenscheiben nicht.

Der Wagen blieb vor dem Haupteingang stehen. Die ATS-Frauen sammelten sich vor den Fahrzeugen. Auch hier standen wieder überall bewaffnete Männer. Ein russischer Offizier wartete schon auf sie. Er begrüßte Miss Bright höflich, die alle zusammensammelte.

Die riesige Anlage bestand aus mehreren Vierkanthöfen. Es gab drei Innenhöfe, erklärte ihnen der russische Offizier. Dass die einzelnen Gebäudeteile alle nicht besonders hoch oder massiv waren, sahen die Frauen selbst.

Karen lehnte sich zu Ann rüber: »Ein kaiserliches Schloss hatte ich mir etwas herrschaftlicher vorgestellt.«

»Hier hat nur der Sohn des Kaisers gewohnt.«

»So? Ach so? … Woher weißt du das?«, fragte Karen verwundert.

»Das hat der Fahrer mir vorhin gesagt«, antwortete Ann ausweichend. Verdammt, sie sollte besser aufpassen, was sie sagte.

»Bleiben Sie bitte immer dicht beisammen«, rief Miss Bright ihnen zu. Dann ging es los.

In Zweierreihen schritten sie durch den großen Torbogen zum Haupteingang. In der Mitte des Innenhofes war ein flammend rotes Geranienfeld in Form eines russischen Sternes gepflanzt worden. Sinnbild dafür, wer hier jetzt Hausherr war. Potsdam war russisch besetzte Zone und Stalin somit der Gastgeber der Konferenz. Obwohl es hieß, es sei Churchill gewesen, der auf die Konferenz gedrängt habe.

»Generalissimus Stalin heißt Sie herzlich willkommen«, sagte der russische Offizier, der vorne mit Miss Bright die Spitze bildete, in gestelztem Englisch.

Überall sah man nur russische Uniformen. Soldaten, die geschäftig herumliefen. Andere, die einfach nur die Umgebung im Auge behielten, als rechneten sie jederzeit mit einem Angriff. Selbst die Geranien wurden bewacht.

Miss Bright lobte die gelungene Gartenkunst. Der Offizier machte ein stolzes Gesicht. Dann betraten sie das Gebäude. Beeindruckt liefen sie durch holzvertäfelte Gänge. Alles war luxuriös eingerichtet. In einem Flur waren mehrere Gemälde, vermutlich die kaiserliche Ahnengalerie, abgehangen worden und warteten an die Wand gelehnt darauf, abgeholt zu werden. Die Frauen gingen ehrfurchtgebietend daran vorbei. Eine ließ ihre Hand über einen Rahmen laufen.

»Jetzt hab ich was berührt, was dem deutschen Kaiser gehörte«, witzelte sie.

Ein paar Meter weiter bog ein russischer Soldat um eine Ecke und lief fast in ihre Gruppe hinein. Er stockte, überrascht und etwas hilflos. Entschuldigte sich stammelnd auf Russisch. Dann presste er sich aufrecht an die Wand und ließ sie vorbei.

Einige der Frauen kicherten. Miss Bright klatschte mahnend in ihre Hände. Sie wollte sich wohl nicht vor dem Offizier blamieren. Sie liefen weiter. Die Ausmaße, die dieses Gebäude hatte, waren imposant. Stumm und andächtig gingen sie voran, bis sie in einen großen und sehr hohen Raum kamen.

Joan Bright wartete, bis alle eingetreten waren. »Das war die Wohnhalle des Kronprinzen. Das Herzstück des Schlosses.«

Ann schaute sich neugierig um. Die Wandvertäfelung aus dunklem Holz reichte bis über ihre Köpfe. Oben an der hohen Decke verliefen Dutzende Balken. Drei Türen führten hinaus. An einem Ende des länglichen Raumes befand sich ein Treppenaufgang aus kunstvoll geschnitztem Eichenholz. Er führte hoch zu einer Galerie. An der gegenüberliegenden Seite war ein Erker in die Wand eingelassen, der aus bestimmt sechzig oder siebzig kleinen Fensterscheiben bestand. Die riesige Fensterfront gab den Blick auf den Heiligen See frei. Links neben dem Erker war eine Kaminecke, die sehr gemütlich wirkte.

»Hier wird die Konferenz stattfinden. In den nächsten Tagen wird noch ein großer runder Tisch aufgestellt, eine Spezialanfertigung. … Prägen Sie sich den Anblick gut ein. Die Berliner Konferenz – obwohl sie in Potsdam stattfindet, heißt das Treffen offiziell so – wird Weltgeschichte schreiben … vermute ich zumindest.« Miss Bright wedelte mit den Händen in Richtung Tür. »Lassen Sie uns weitergehen.«

Sie lief voran, zu einer der drei Türen hinaus. Es ging eine Treppe hoch, dann kamen sie in einen Raum, der die Bibliothek des Hauses beherbergte.

»In der Zeit der Konferenz wird unsere Delegation hier residieren. Hier werden unser Premierminister und seine Begleiter arbeiten oder sich zurückziehen können. Insgesamt hat jede Delegation zwölf Räume zur Verfügung. Falls Sie jemals angewiesen werden, Unterlagen zu bringen, dann am besten hierher. Sie können sich vorstellen, dass Sie nicht einfach unten am Konferenzraum klopfen dürfen.«

Alle lachten. Nein, das würde sich keine der Frauen trauen.

»Allerdings glaube ich das kaum. Eher werden Sie nur bis zum Haupteingang kommen, wenn überhaupt.« Sie senkte ihre Stimme. »Aber eins möchte ich noch erwähnen: Sollten Sie doch jemals mit einem solchen Auftrag losgeschickt werden, geben Sie die Unterlagen nie jemand Fremdem. Kein russischer Bote, und sei er noch so freundlich, bekommt etwas in die Hände. Niemals! Nur Mitglieder unserer Delegation. Aber das versteht sich ja von selbst.«

Miss Bright verließ die Bibliothek, und die anderen folgten ihr. Sie schauten sich noch das ehemalige Arbeitszimmer des Kronprinzen an, in dem Präsident Truman mit seinen Beratern untergebracht sein würde. Zum Schluss ging es in den Weißen Salon des Schlosses, der Stalin vorbehalten war. Hier standen in allen Ecken Wachen.

»Warum stehen die hier?«, flüsterte Karen.

»Ich vermute, sie wollen verhindern, dass wir hier ruckzuck eine Abhöranlage einbauen«, witzelte Ann leise.

Ihre Kameradin kicherte. Es ging wieder hinaus in einen der Innenhöfe.

»Natürlich ist das Schloss von Kopf bis Fuß auf Minen überprüft worden. Hier kann man bedenkenlos überall hingehen.« Miss Bright führte die Gruppe noch durch die anderen zwei Innenhöfe, dann liefen sie zurück, wieder Richtung Haupteingang.

Eine brünette Frau, die sich gestern als Gillian Smith vorgestellt hatte, kam zu ihnen herüber. »Du meine Güte. Wenn wir hier die Betten beziehen müssten, wären wir ja einen ganzen Tag beschäftigt.«

Ann und Karen lachten auf, als Penny, die dritte Zimmergenossin, sie anstupste. »Sieh mal, da.«

Draußen war ein amerikanischer Jeep vorgefahren.

»Ist das nicht dein Freund vom Flughafen?«

»Er ist wohl kaum mein Freund.« Trotz ihrer Worte spürte Ann, wie ihr das Rot in die Wangen schoss.

»Aber er ist der, der gestern nach dir gefragt hat.«

Doch der GI brachte nur schnell etwas hinein und nahm keine Notiz von der Gruppe. Heute Abend werde ich dich hoffentlich wiedersehen, Corporal Jackson Powers, dachte Ann. Sie würde ihm schöne Augen machen, auch wenn sie darin nicht besonders geübt war.

***

Die jungen Frauen waren aufgekratzt. Nach dem Abendessen waren alle auf ihre Zimmer gegangen, um sich frisch zu machen. In kleinen Gruppen machten sie sich nun auf den Weg zur NAAFI-Kantine.

Sie waren so aufgeregt, als würden sie in einen der exklusiven Londoner Clubs gehen, die Ann noch nie betreten hatte. Sie waren teuer, und ein solches Vorhaben wäre schon daran gescheitert, dass Ann nicht einmal ein Kleid besaß, das elegant genug für einen solchen Ausflug gewesen wäre. Aber hier war die Kleiderordnung egal. In Uniform sah man nicht, wer arm und wer reich geboren worden war.

Ann war eine der Letzten vor dem Spiegel gewesen. Karen hatte ihre langen Haare vorne in einer Ponyrolle hochgesteckt. Ann trug Seitenscheitel. Auch waren ihre Haare nur schulterlang. Mit einem geliehenen Lockenstab hatte sie die Seiten in Wellen gelegt und sah nun ein bisschen aus wie die junge Rita Hayworth. Ihre grasgrünen Augen funkelten vor Aufregung.

Zu Anns Gruppe gehörten die Mädchen aus ihrem Zimmer – Karen, Lavinia und Penny. Auch Gillian Smith und noch eine Rothaarige waren dabei. Ann trat hinter den anderen in die NAAFI-Kantine. Zwei Dutzend britischer Soldaten saßen an Tischen oder standen an der Ausgabetheke. Dazwischen konnte Ann einige amerikanische Uniformen erkennen. Vier Russen hielten sich etwas abseits. An einigen Tischen wurde Karten gespielt. Im Raum hing der Duft von Zigarettenrauch. Ein Grammophon spielte Jazzmusik.

Die Frauen wurden mit großem Hallo begrüßt. Als hätten die Männer nur auf ihr Eintreffen gewartet. Ann ließ ihren Blick unbemerkt über die Gesichter gleiten. Jackson Powers war nicht unter ihnen.

Karen hakte sich bei ihr unter. »Komm, wir holen uns was zu trinken.« Sie traute sich wohl nicht alleine nach vorne.

Ann ging mit zur Theke, und die Soldaten machten ihnen Platz.

»Willkommen. Wir warten schon die ganze Zeit auf die Ack Ack Girls«, sagte einer der Amerikaner. Es war freundlich gemeint.

Ack Ack Girls – das waren sie, die Flakkämpferinnen. Benannt nach den Geräuschen ihrer Gefechtsstellung.

Auf ihre Arbeit war Ann besonders stolz gewesen, am Anfang. Es war ihre Möglichkeit, Patriotismus zu beweisen. Dann kamen die ersten Nächte mit Angriffen. Gebäude, die nur wenige Meter weiter mit lautem Getöse zusammenstürzten. Mauersplitter, die einem um die Ohren flogen. Aufgerissene Erde, die einem ins Gesicht regnete. Vom Stolz blieb nur noch Schrecken. Der Schrecken legte sich mit der Zeit, ging über in Angst, dann in Sorge und schließlich in Routine. Manche Nacht hatte sie nicht mehr gelebt, nur funktioniert. Dann der Abend, an dem sie verschüttet worden war. Ann würde ihn nie vergessen. Er war in ihre Eingeweide eingebrannt. Um dieses Erlebnis zu überdecken, würde sie verdammt viel Glück zusammenkratzen müssen.

Die Männer stellten sich kurz vor. Ein Amerikaner, Daniel Davids, bestand darauf, ihnen einen Drink zu spendieren. Ann ließ sich zu einer Limonade überreden. Karen entschied sich direkt für ein Bier.

»Was treibt ihr so den ganzen Tag?«, fragte Davids. Seine dunklen Haare glänzten von der Pomade, mit der er sie nach hinten gekämmt hatte.

Wollten sie wirklich erzählen, dass aus den tapferen Ack Ack Girls nun bessere Haushälterinnen geworden waren? Nein. Und genauso sah es wohl auch Karen.

»Wir haben heute den Konferenzraum besichtigt. Und das Schloss«, sagte Karen stolz.

»Ah, die Konferenz. Mal sehen, was euer Premierminister unserem Präsidenten erklärt. Churchill soll recht weitschweifig sein in seinen Reden.«

Alle lachten auf.

»Ja, dafür ist er bekannt. Wenn er militärisch unterliegt, dann kann er einen immer noch totquatschen«, entgegnete einer der Briten. Er hatte sich als Alan Foster vorgestellt und holte nun eine Packung Zigaretten hervor, um den Frauen eine anzubieten. Karen lehnte ab, genau wie Ann.

»Euer Churchill wird verdammt lange reden müssen, um Truman zu überzeugen. Er hat nur ein Ziel: Unsere Kameraden aus dem Pazifik abzuziehen. Der Krieg in Asien dauert schon zu lang. Und zusammen mit dem Krieg in Europa sind viel zu viele Söhne Amerikas gefallen. Er würde alles tun, um das Sterben amerikanischer Soldaten zu beenden.«

»Wird es darum gehen auf der Konferenz? Ich dachte, es geht darum, die Besatzung Deutschlands zu regeln«, fragte Ann nach.

»Das ist doch im Wesentlichen schon in Teheran und Jalta geregelt worden. Deutschland und Berlin werden in vier Besatzungszonen aufgeteilt«, erklärte Davids weiter.

»Wieso vier Besatzungszonen?«, fragte Karen nach.

»Das wurde so in Jalta beschlossen«, erklärte Davids. »Frankreich wird vierte Besatzungsmacht und am Alliierten Kontrollrat beteiligt.«

»Wieso sind die Franzosen dann nicht hier?«, wollte Karen wissen.

Der Amerikaner zuckte mit den Schultern. »Das würde die Verhandlungen sicher verkomplizieren.«

»Und die Deutschen? Was wollen die?«, fragte Ann nach.

»Die haben nichts mehr zu wollen.« Entschlossen stieß Foster Rauch aus seinem Mund.

Ann schluckte heftig. »Aber ich dachte … Gemäß der Atlantik-Charta von 1941 muss die betroffene Bevölkerung wenigstens angehört werden. Hat Churchill das nicht so mit Roosevelt vereinbart?«

Davids lachte dröhnend, als hätte sie etwas Dummes gesagt. »Na, bei diesen Barbaren machen wir aber mal eine Ausnahme. Was die wollen, haben wir doch in den letzten sechs Jahren gesehen.«

»Blut und Boden … das haben sie jetzt davon«, sagte ein dritter Soldat verächtlich.

»Genau. Darüber sind sich die Großen Drei sicher einig: Deutschland muss geächtet werden. Jeder bekommt sein Territorium. Das Land wird entmilitarisiert, die Nazis bestraft.«

Karen schaltete sich wieder ein. »Ich hab gelesen, dass sie sich über nichts einig sind. Churchill soll gesagt haben, dass Stalin die britische Freundschaft mehr fürchte als die Feindschaft. Hört sich für mich nicht so an, als würden sie schnell übereinkommen.«

»Stalin hat große Angst, dass der westliche Lebensstil auf seine Leute abfärbt. All die Armbanduhren und die Idee von Freiheit.« Davids Blick lief zu den Russen, die in einer Ecke standen. Sie wirkten etwas verloren, als wäre ihnen diese Welt nicht ganz geheuer. Ihr Anblick schien dem Amerikaner recht zu geben.

»Sein schöner Kommunismus wäre bald dahin. Da liegen Sie richtig. Onkel Joe will eher keine Gemeinsamkeiten.« Davids griente breit bei seinen Worten.

»Onkel Joe?«, fragte Ann nach.

»Stalins Spitzname«, erklärte Foster und sprach direkt weiter. »Über die wesentlichen Punkte herrscht Einigung: Die Beute ist erlegt. Der Kadaver wird verteilt.«

Ann griff sich erschrocken an den Hals. »Was soll das bedeuten? Deutschland wird auf die verschiedenen Siegermächte aufgeteilt?«

»Vielleicht. Die Sowjets haben auf der Konferenz von Teheran ja schon Königsberg und Teile von Ostpreußen geschenkt bekommen und einen großen Teil des Staatsgebietes von Polen. Polens Grenzen rücken weiter nach Westen, damit die Russen ihre eigenen Grenzen ausdehnen können. Und wenn die so viel kriegen, wollen wir auch unseren Anteil.« Foster unterstrich seine Worte mit heftigen Bewegungen der Bierflasche.

»Genau, ihr Briten bekommt die Rheinprovinzen. Und wir nehmen uns dann Süddeutschland als die neuen Südstaaten von Amerika. Dienstbare und gehorsame Sklaven. Ich werde es Truman gelegentlich vorschlagen.« Davids lachte dröhnend.

Ann war schockiert. »Truman … Redet der nicht von Völkerverständigung, Menschenwürde und Demokratie?«

Der GI zuckte mit den Achseln. »Die Hunnen haben es sich redlich verdient, versklavt zu werden. Ich freu mich schon darauf, denen mal richtig eins aufs Maul zu geben. Damit sind sie noch gut bedient. Eigentlich müsste man sie alle erschießen – jeden einzelnen dieser verdammten Barbaren!« Plötzlich war da ein dunkler Schatten auf seinem Gesicht, der nur mit einem großen Schluck Bier wegzuspülen war.

Ein anderer Amerikaner schaltete sich ein. »Mal sehen, was Truman darüber denkt. Bisher weiß man noch nicht, was man von dem neuen Präsidenten halten soll. Er ist ein unbeschriebenes Blatt.«

»Und Churchill muss erst noch die Unterhauswahlen gewinnen.« Foster machte ein zerknirschtes Gesicht. »Morgen geht es los. Aber auch wenn Churchill vielen Leuten zu überheblich ist: In Zeiten wie diesen kann ich mir nicht vorstellen, dass die Mehrheit für dieses Fliegengewicht Attlee stimmen wird. Die Bulldogge Churchill hat schließlich für uns den Krieg gewonnen.«

Anns Blick lief von einem zum anderen. So hatte sie sich die Konferenz nicht vorgestellt. Klar war, dass die Staatsmänner zusammentrafen, um ihren Sieg über Hitler-Deutschland zu feiern und die Regeln und Umstände der Besatzung des Landes zu regeln. Und wie man mit den Schuldigen weiter verfuhr. Aber tatsächlich hatte sie sich noch keine weitergehenden Gedanken darüber gemacht, was genau auf der Konferenz besprochen werden sollte. Natürlich würde es um das Schicksal des besiegten Deutschen Reiches gehen. Natürlich würden die Verantwortlichen in der Bevölkerung zur Rechenschaft gezogen werden. Aber die Mutmaßungen der Soldaten gingen weit darüber hinaus. Es klang fast so, als wollte man Deutschland zerschlagen. Als wäre jeder einzelne Deutsche für alles gleichermaßen verantwortlich. Und als wäre das Land nur ein Spielball auf einem sehr viel größeren Spielplatz.

Ihr Schicksal lag in den Händen der drei mächtigen Staatsmänner, wurde Ann plötzlich siedend heiß klar. Der Ausgang der Konferenz würde ihre persönliche Zukunft maßgeblich bestimmen, und auch die ihrer Eltern und ihrer Verwandten.

Vielleicht war es ihr irritierter Blick, der Foster plötzlich umschwenken ließ. »Genug der hohen Politik.« Er hob sein Glas. »Also sind wir uns einig, dass wir ein spannendes Pokerspiel vor uns haben. Die Drei Großen entscheiden ja doch jedes Mal, wenn sie sich treffen, anders über eine Grenzziehung. Niemand weiß, wie es dieses Mal ausgehen wird.«

Alle hoben ihre Gläser. Ann zögerte, tat es dann aber den anderen nach. Nur nicht auffallen.

Die Tür der Kantine ging auf, und plötzlich sah sie ihn, neben drei anderen GIs. Endlich, er war gekommen.

Powers strebte Richtung Theke, da entdeckte er sie. Er änderte sofort seinen Kurs und kam direkt auf sie zu. Sie lächelte ihn erleichtert an.

»Ann Miller!«, begrüßte er sie freudig. »Ich habe Sie gestern Abend vermisst.«

»Ich war … müde. Ich hatte eine weite Anreise und bin sehr früh aufgestanden.«

»Umso glücklicher bin ich, Sie heute hier zu sehen.« Er machte dem Soldaten hinter der Theke ein Zeichen. Man kannte ihn hier wohl schon.

Das schien ja leichter zu laufen, als Ann gedacht hatte. »Seit wann sind Sie hier?«, fragte sie interessiert.

»In Berlin?«, fragte er zurück und nahm gleichzeitig ein Bier in Empfang. »Seit Ende Mai.«

»Gehören Sie auch zur Delegation der Konferenz?«

»Nein, ich bin beim amerikanischen Hauptquartier angesiedelt, in Berlin-Dahlem. Ich bin Fahrer. Ich muss ständig von hier nach dort fahren. Leute bringen, Unterlagen, Verpflegung. Nach Berlin rein, und jetzt auch zur Konferenz. Oder eben zum Flughafen. Ich habe Wasser geholt für die Konferenzteilnehmer.«

Ihr Puls wurde schneller. Er war genau der Richtige, um ihr zu helfen. Allerdings sollte sie nicht zu offensichtlich zeigen, worum es ihr wirklich ging. »Wasser?«

»Ja, Unmengen von Wasser. Bekommen Sie denn kein Frischwasser?«

»Vermutlich. Darum muss ich mich nicht kümmern.« Das klang doch zu unbedarft. »Danke noch mal für die Rettung meines Baretts.«

»Gern geschehen.« Er lächelte spitzbübisch. »Haben Sie sich schon eingelebt?«

»Ein wenig. Wir haben heute herausgefunden, dass wir eine der Gästevillen der UFA-Studios betreuen. Gut möglich, dass dort auch Marlene Dietrich gewohnt hat. Also früher mal, bevor sie nach Amerika gegangen ist.«

»Marlene Dietrich? Wow. Das ehemalige Anwesen von Zarah Leander liegt in Berlin-Dahlem, nicht weit von unserem Hauptquartier. Wenn Sie Lust haben, können wir dort mal vorbeifahren.«

Powers fackelte wohl nicht lang. Normalerweise ließ Ann sich nicht so schnell von forschen Amerikanern einwickeln. Aber jetzt kam ihr das gerade sehr gelegen. »Gerne. Ich weiß aber noch nicht, wie ich Zeit haben werde.«

»Oh, da machen Sie sich mal keine Gedanken. Das geht ziemlich schnell, dass man plötzlich etwas zu tun hat oder sich den ganzen Tag langweilt. Das trifft uns hier alle. Noch ist es ziemlich chaotisch. Irgendwann wird es schon klappen.«

»Können Sie hier herumfahren, wie Sie wollen?«

»Ja, schon.«

»Auch nach Potsdam rein?«

Sie setzten sich auf zwei Hocker, die gerade frei wurden. »Klar, wenn ich dort etwas zu erledigen habe. Normalerweise machen die Russen kaum Schwierigkeiten. Aber es ist nicht so wie bei uns. Zwischen den Briten und uns Amerikanern gibt es keine wirklichen Kontrollpunkte.«

»Ich würde gerne mal nach Potsdam reinfahren.«

»Da ist ziemlich viel kaputt. Was wollen Sie sich ansehen? Sanssouci? Schloss Babelsberg?«

Ziemlich viel kaputt – wie viel genau, musste Ann dringend in Erfahrung bringen. Sie nickte unbestimmt und trank ihre Limonade aus. Sofort winkte Powers den Kellner heran.

»Was wollen Sie trinken? Ein Bier?«

»Lieber noch eine Limonade.«

»Eine Coke?«

»Ja, wieso nicht.« Ann lächelte ihn an. Jackson Powers wirkte wie ein typischer Amerikaner. Er hatte ein breites, gewinnendes Lächeln mit einem geradezu naiven Sonnyboy-Charme. Blaugraue Augen, die zu seinem aschblonden Haar passten und abenteuerlustig lächelten. Und er war an ihr interessiert. Wenn sie es geschickt anstellte, ließe sich das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.

»Kann man auch so nach Potsdam rein?«

»Was meinen Sie mit auch so?«

»Zu Fuß.«

Powers erstarrte für einen Moment. Seine Augenbrauen zogen sich merkwürdig drohend zusammen. »Allein? … Besser nicht. Das sollten Sie nicht tun.«

»Ist es etwa verboten?«

»Bitte, versprechen Sie mir, dass Sie nicht alleine in die Stadt gehen. … Wirklich!« Er hatte sie fest am Oberarm gepackt. Als er es merkte, ließ er sofort los und murmelte eine Entschuldigung.

»Was gibt es dort, was so gefährlich ist?«

Er schien sich um eine klare Antwort drücken zu wollen. »Ich bringe Sie gerne. Ich zeige Ihnen, was Sie wollen. Aber bitte gehen Sie nicht allein. Das müssen Sie mir versprechen!«

Dann war es kein Gerücht: Es gab sie also wirklich, die versprengten Werwolf-Truppen, die umherzogen? Männer und Jungs des Volkssturmes, die Hitlers letzten Befehl befolgten? Lieber sterben als verlieren. »Sind sie denn immer noch …«

Plötzlich stand Karen hinter ihr und legte verschwörerisch den Arm um sie. »Ann, kommst du mit schwimmen? Davids kennt einen tollen Havelstrand. Wenn das Wetter gut ist, könnten wir zusammen dort hinfahren.«

»Schwimmen?« Wie passte das zusammen? Der eine Soldat erzählte ihr, dass es zu gefährlich sei, alleine nach Potsdam zu gehen. Und der andere wollte dort schwimmen gehen?

Als Ann nicht sofort antwortete, setzte Karen nach. »Komm doch mit. Allein möchte ich nicht … Du weißt schon.«

»Ich habe doch gar keinen Badeanzug dabei.«

Powers rutschte ein paar Zentimeter auf dem Hocker nach vorne. »Das lassen Sie mal meine Sorge sein. Fragen Sie, ob Sie morgen freibekommen. Dann fahren wir nach Berlin rein, und ich finde ein Geschäft, in dem Sie ein Badekostüm kaufen können.«

Berlin, das wäre sicherlich spannend. Aber sie war nicht hier zum Sightseeing. Ann musste Charlie finden. Und Charlie lebte in Potsdam, oder hatte zumindest dort gelebt. Lass dir schnell etwas einfallen. »Berlin, dauert das nicht zu lange?«

»Schon. Wir könnten auch schauen, ob wir hier etwas finden. Ich lass mir einen Grund einfallen, warum wir in die Stadt reinmüssen.«

»Wo hier so viele UFA-Stars gewohnt haben, wird man in Potsdam doch sicher ein paar schöne Geschäfte finden.«

»Oder zumindest die Ruinen der Geschäfte«, schaltete sich ein weiterer Amerikaner ein.

Potsdam in Ruinen? Ann hoffte inständig, dass sie ihn falsch verstanden hatte. Oder dass er übertrieb. »Ist denn so viel kaputt? Ich dachte, nur Berlin sei so zerstört.«

»Große Teile von Berlin. Auch in den Außenbezirken, wo in den letzten Kriegstagen der Häuserkampf getobt hat. Dann wieder gibt es Fleckchen, da sieht man nicht ein einziges Einschussloch an den Mauern.«

»Und wie ist es hier? Ich meine, die Villenkolonie hat ja überhaupt nichts abbekommen«, hakte Ann nach.

Powers stand auf, vielleicht einfach nur, weil er den anderen Amerikaner um einige Zentimeter überragte. Anscheinend wollte er nicht im letzten Moment einen Ausflug mit ihr an seinen Kameraden verlieren.

»Ich sag Ihnen was: Ich hole Sie und Ihre Freundin morgen Nachmittag ab, und wir fahren nach Potsdam rein. Mal sehen, ob wir ein paar Badeanzüge finden, die Zarah Leander und Marlene Dietrich den hiesigen Damen übrig gelassen haben.« Mit einem Mal war seine Miene wieder durch und durch strahlend.

Ann erwiderte sein Lächeln aufrichtig. Sie würde nach Potsdam reinfahren, in die Innenstadt. Schon morgen. Das war großartig. Plötzlich überwältigte sie die Sehnsucht nach Charlie, die das grausame Schicksal ihr so schmerzhaft entrissen hatte.

»Abgemacht. Morgen.« Sie bekam ihre Coke und trank genüsslich einen Schluck.

»Und, Ann, bitte nennen Sie mich Jackson.« Pures Gewinnerlächeln.

Donnerstag, 5. Juli 1945

Karen schloss das Stadtpalais ab. Heute Morgen beim Frühstück hatten sie Miss Bright gefragt, ob Ann und sie mit dem Amerikaner nach Potsdam reinfahren dürften. Ihre Vorgesetzte hatte nichts dagegen, hatte sie aber nochmals ermahnt zusammenzubleiben.

Jackson Powers holte sie direkt vor ihrem großen Haus ab. Er hielt ihnen die Türen des Jeeps auf, sprang lässig auf den Fahrersitz und brauste los. Sie fuhren parallel zu den Eisenbahnschienen, bis sie zu dem Kontrollpunkt kamen, an dem Ann bereits gescheitert war.

Powers holte einen Ausweis und einen Zettel aus seiner Brusttasche. Beides gab er den drei russischen Soldaten, die dort standen. Ann fragte sich für einen Moment, ob diese das überhaupt lesen konnten. So wenig wie Ann oder Jackson Powers kyrillisch lesen konnten, so wenig konnten die Russen doch vermutlich ihre Schrift lesen. Ob sie nun einfach auf die Schrift starrten oder sie wirklich entziffern konnten – zufrieden reichten sie die Papiere an Powers zurück und machten den Weg frei.

Jackson fuhr ohne große Eile. Sein langsames Tempo war wohl eher möglichen Gefahren geschuldet, als dass er sie alles in Ruhe anschauen lassen wollte. Ann betrachtete stumm die Umgebung. Linker Hand waren die Bahngleise, rechts wurden die Villen kleiner. Die Häuser standen immer enger, und bald waren die ersten zerbombten Gebäude zu sehen. Der Hauptbahnhof selbst war stark getroffen.

Zum ersten Mal erblickte sie wirklich deutsche Bevölkerung auf der Straße. Einige Kinder winkten verschämt. Sie wirkten verwahrlost in ihren schmutzigen, abgerissenen Klamotten. Etliche trugen nicht mal Schuhe.