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Jürgen Körner erzählt die Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung von der Zeit des Europäischen Mittelalters bis zur Gegenwart aus einer psychologisch-psychoanalytischen Perspektive. Der einfache Mensch des Frühen Mittelalters ging aus heutiger Sicht herzlos mit seinen Tieren um. Er entwickelte erst im Hochmittelalter die sozialkognitiven Kompetenzen, sich in andere – Menschen und Tiere – hineinzuversetzen und die Welt auch aus deren Augen zu betrachten. Aber die Fähigkeit und Bereitschaft zum Mitgefühl, zur Empathie trat erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf. Das Mitleid wurde von da an zum Hauptmotiv für einen achtsamen Umgang mit Tieren. Die Tierliebe des modernen Menschen ist also eine Erfindung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Menschen verwenden Tiere auf vielfältige Weise, auch in der Tierliebe. Unsere Haustiere geben uns das Gefühl, ein liebenswerter Mensch zu sein, der keine Angst haben muss, verlassen zu werden. Der Tierhalter hat Macht über andere, ohne sich schuldig fühlen zu müssen für seine Motive, nicht einmal für seine Taten. Die meisten ethischen Begründungen für einen achtsamen Umgang mit Tieren stützen sich auf die Behauptung, dass Tiere uns in vielfacher Hinsicht ähnlich sind, weswegen wir ihnen die gleichen Rechte zuschreiben müssten wie uns selbst. Tiere aber sind anders. Sie leben in ihrer eigenen Welt, zu der wir in Wahrheit keinen Zutritt haben. Eine ästhetische Begründung der Tierliebe sollte gerade ihre faszinierende Andersartigkeit und Fremdheit und die Vielfalt ihrer Erscheinungen anerkennen. Wirklich altruistische Tierliebe meint nicht das Tier, wie es "für uns" auf der Welt ist, sondern wie es "für sich" lebt.
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Seitenzahl: 317
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Jürgen Körner
Gutes Tier – böser Mensch?
Psychologie der Mensch-Tier-Beziehung
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-647-99860-2
Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de
Umschlagabbildung: Matej Kastelic/shutterstock.com
© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen /Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim
INHALT
Vorwort
1Wie kommunizieren Menschen mit Tieren?
2Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung vom Mittelalter bis zur Neuzeit
Die Mensch-Tier-Beziehung im frühen Mittelalter
Die materielle und soziale Situation des Menschen
Wie gingen die Menschen miteinander und mit ihren Tieren um?
Die Mensch-Tier-Beziehung im frühen Mittelalter aus psychologischer Perspektive
Die Mensch-Tier-Beziehung im Hochmittelalter
Die materielle und soziale Situation der Menschen
Der Umgang mit Tieren, Tierstrafen und Tierprozesse
Die Mensch-Tier-Beziehung im hohen und späten Mittelalter aus psychologischer Perspektive
Die Mensch-Tier-Beziehung in der Neuzeit
Renaissance, Aufklärung, Romantik
Hetztheater, Tierkämpfe und der lange Weg in die Moderne
Die neuzeitliche Mensch-Tier-Beziehung aus psychologischer Perspektive
3Wie wir die Tiere verwenden
Menschen sind angewiesen auf den anderen
Unsere Beziehungen zu den Tieren
Wie und wozu verwenden wir die Tiere?
4Die Mensch-Tier-Differenz
Die Mensch-Tier-Differenz – vom Menschen aus betrachtet
Grenzen des Verstehens
Tiere sind anders
Die Mensch-Tier-Differenz – vom Tiere aus vermessen
Die »Intelligenz« der Bienen
Sinnesleistungen
Orientierungsleistungen der Wandertiere
Ein kurzer Blick zurück
5Warum sollen wir Tiere achten und lieben?
Metaphysische Konzepte
… weil sie Geschöpfe Gottes sind
… weil sie eine eigene Würde oder einen »inhärenten Wert« besitzen
»Empirische« Konzepte
… weil sie leiden können: Utilitarismus
… weil sie Subjekte sind, Wünsche hegen, Absichten verfolgen
Anthropozentrische Konzepte
… weil sie uns nützlich sind
… weil wir ein »natürliches« Mitleid empfinden
… weil wir es uns selbst schuldig sind: Tugendethik
6Versuch einer altruistischen Ethik der Mensch-Tier-Beziehung
Wie lässt sich eine Ethik der Mensch-Tier-Beziehung begründen?
Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung aus psychologischer Perspektive im Überblick
Die Licht- und Schattenseiten sozialkognitiver Kompetenzen
Die einseitige Verwendung des Tieres in der Tierliebe
Wie weit reicht unsere Tierliebe?
Wie wird eine altruistische (Tier-)Liebe möglich?
Was ist Altruismus?
Menschlicher Altruismus gegenüber Tieren – worauf gründen?
Eine ästhetisch begründete altruistische Mensch-Tier-Beziehung und das Konzept der Alterität
Literatur
VORWORT
Als ich vor mehr als zwanzig Jahren schon einmal ein Buch über die Mensch-Tier-Beziehung schrieb (Körner, 1996), bewegte mich die Frage, was einen halbwegs vernünftigen Menschen dazu bringen könnte, sich dem Diktat seiner Haustiere – damals waren es zwei schwer erziehbare Windhunde – zu unterwerfen und sich in der Freizeitgestaltung, der Wahl des Ferienortes und des Familienautos ganz nach ihnen zu richten. Die Tierliebe war mir schon damals ein Rätsel.
Die zahlreichen Tierfreunde um mich herum aber dachten und denken wohl anders: Für sie ist die Tierliebe eine natürliche menschliche Regung, über die nachzudenken sich kaum lohnt und deren Motive trotz der häufig bizarren Formen unseres Umgangs mit Tieren auch nicht in Zweifel gezogen werden sollten. Die Zahl dieser eingefleischten Tierliebhaber ist in den letzten Jahren stark gewachsen, und weltweit nehmen die Anhänger der Tierschutz- und Tierrechtsbewegungen sichtbar und hörbar zu. Immer mehr Menschen entscheiden sich heute aus Gründen des Tierschutzes auch für eine vegetarische oder vegane Ernährung.
Diese Bewegung wurde zunächst von den Intellektuellen der oberen Mittelschicht getragen, aber sie pflanzt sich fort, sodass heute auch die Lebensmitteldiscounter, die ja vor allem mit ihren niedrigen Preisen werben, immer größere Regalflächen für die teureren Bioprodukte und sogar veganes Soja-»Fleisch« und »Veggi-Schnitzel« bereitstellen.
Auf der anderen Seite wirken einflussreiche ökonomische Interessen auf eine Fortentwicklung der industriellen Nutztierhaltung ein und zielen darauf, die Nutztiere über selektive Züchtungen immer besser an eigentlich schwer erträgliche Haltungsbedingungen anzupassen. Wir müssen heute befürchten, dass genetisch manipulierte Nutztiere zukünftig so bedürfnislos sein werden, dass wir ihnen die schlimmsten Haltungsbedingungen zumuten können, womit sich dann die Frage nach der Artgerechtigkeit in der Tierhaltung erledigt haben könnte. Zyniker könnten schon jetzt darauf hinweisen, dass ein Masthähnchen, das nicht nach 36 Tagen geschlachtet wird, ja nur qualvoll weiterleben könne, weil es ihm gar nicht mehr möglich sei, mit seiner überdimensionierten Brust im Gleichgewicht zu bleiben.
Die Diskussion über den rechten Umgang mit den Tieren hat in der Öffentlichkeit an Bedeutung gewonnen, und die Auseinandersetzungen darüber sind schärfer geworden. Dabei haben sich auch aufseiten der Tierfreunde längst Fronten gebildet zwischen den traditionellen Tierschützern, die sich auf die Ziele des Artenschutzes beschränken und radikaleren Anhängern etwa der Tierrechtsbewegung, die jede Indienstnahme der Tiere für menschliche Interessen überhaupt ablehnen.
Aber es gibt bei allen Differenzen in der Reichweite und Radikalität der Forderungen doch auch Gemeinsamkeiten: Viele Tierfreunde lehnen es ab, grundlegende Unterschiede zwischen Menschen und Tieren anzuerkennen, sei es im Hinblick auf die Intelligenz, die moralische Urteilsfähigkeit, das Sprachvermögen, das Bewusstsein oder gar das Selbstbewusstsein. Viele Autoren vermenschlichen die Tiere, indem sie ihnen Attribute wie Würde oder Persönlichkeit zuschreiben, und fordern dann folgerichtig, dass wir den Tieren ähnliche Rechte wie den Menschen zuerkennen sollten.
Auch dann, wenn die Mensch-Tier-Differenz beim besten Willen nicht zu leugnen ist, etwa im Symbolisierungsvermögen oder in der Fähigkeit, kulturelle Errungenschaften über die Sprache weiterzugeben und fortzuentwickeln, sollten diese Unterschiede nicht als Überlegenheit des Menschen verstanden werden. Vertreter der Tierrechtsbewegung legen großen Wert auf die »Augenhöhe« von Tier und Mensch, und die radikaleren unter ihnen gehen noch einen großen Schritt weiter: Für sie steht fest, dass der Auftritt des Menschen in der Evolution nur Unglück über die Tiere und die Natur überhaupt brachte. Da wird eine tiefe Spaltung sichtbar: gutes Tier – böser Mensch.
Eine zweite, unter Tierschützern weitverbreitete Überzeugung behauptet, es sei eine »natürliche« Neigung des Menschen, achtsam und sogar empathisch mit Tieren umzugehen. Erst der moderne Mensch, so die Annahme, sei den Tieren entfremdet und habe deren rücksichtslose Ausbeutung möglich gemacht. Der mittelalterliche Mensch hingegen habe noch im friedlichen Einklang mit der Natur und den Tieren gelebt.
Diese Vorstellung, die wohl an das Paradies erinnern soll, ist falsch, wie noch zu zeigen sein wird. Die Wahrheit ist: Der einfache Mensch des europäischen Mittelalters (6. Jahrhundert bis Mitte des 15. Jahrhunderts) war vielleicht nur selten grausam, aber er ging aus heutiger Sicht herzlos mit seinen Nutztieren um (Heimtiere wie Papageien oder Schoßhunde gab es nur in höfischen Kreisen). Es fiel ihm nicht ein, Mitleid mit einem leidenden Tier zu empfinden, aber das war damals in der Beziehung der Menschen untereinander oder zu ihren Kindern auch nicht viel anders.
Die Tierliebe des modernen Menschen, wie sie uns allgegenwärtig ist, trat erst im 19. Jahrhundert, in der Zeit der deutschen Romantik auf. Erst dann nämlich wurden sich die Menschen ihrer Getrenntheit von den Tieren und überhaupt von der Natur schmerzlich bewusst, aber sie verstanden es, mithilfe ihrer erst kurz zuvor entwickelten kognitiven Fähigkeiten der Perspektivenübernahme und der Empathie, diese Distanz in der Phantasie zu überbrücken: Sie fühlten sich in die Tiere ein und empfanden Mitleid mit ihnen. Das war der Ursprung der Tierliebe, wie sie aktuell in der westlichen Zivilisation vorherrscht.
Die heute verbreitete Überzeugung von der »natürlichen« Tierliebe des Menschen und zum Teil auch die Ablehnung jeglicher Sonderstellung des Menschen gegenüber dem Tier, verbunden mit einer Idealisierung der Tiere, werden in der Regel nicht begründet. Sie sind auch nicht begründbar; es genügt ja, wenn sich die Menschen darauf verständigen, dass z. B. Säugetiere eine »Würde« besitzen oder Hunde »beseelt« sind. Ob diese Aussagen wahr oder falsch sind, lässt sich gar nicht klären, ebenso wenig wie die ethische Maxime, dass die »Würde des Menschen unantastbar« sei. Denn dieser Satz ist gar nicht empirisch gemeint; als Tatsachenbehauptung wäre er ganz unsinnig.
Aus einer psychologischen, insbesondere aus einer psychoanalytischen Perspektive ist es aber interessant zu untersuchen, welche bewussten und unbewussten Motive den neuzeitlichen Menschen bewogen haben, die Tiere derart zu idealisieren und sie mit menschlichen Eigenschaften auszustatten. Wie und wozu verwendet der Mensch seine Tiere heute? Was projiziert er in sie hinein, und welche seiner Bedürfnisse sollen sie ihm befriedigen? Lieben wir die Tiere vielleicht deswegen, weil sie »für uns« da zu sein haben? Das wäre eine wahrlich egozentrische Verwendung. Und ist das Mitleid mit Tieren wirklich eine angeborene Tugend?
Diese Fragen zielen nicht auf eine moralische Bewertung, auch wenn es ernüchternd sein mag, einzusehen, dass wir die Treue unseres Hundes vielleicht deswegen so lieben, weil wir selbst von den Menschen so enttäuscht sind, und dass wir seinen Gehorsam so schätzen, weil sonst niemand auf uns hören will. Wir brauchen uns auch nicht länger einzubilden, dass es dem Elefanten Spaß macht, im Zirkus auf einem kleinen Hocker zu sitzen oder dass der Gorilla im Zoo gerne bestaunt wird. Derartige Rationalisierungen aufzuklären, könnte helfen, die egozentrische Verwendung der Tiere zurückzunehmen.
Dieses Buch wendet sich an Leser, für die es vielleicht selbstverständlich ist, Tiere achtsam zu behandeln, die auch nicht unbedingt nach weiteren Gründen suchen, warum man tierlieb sein sollte, die aber die Tierliebe mit einem gewissen Abstand als zeitgeschichtliches Phänomen betrachten wollen. Vielleicht ist ihnen die moralisierende Attitüde der radikalen Tierschützer ebenso suspekt, wie es die oft bizarren Auswüchse der Tierliebe sein können. Gerade in diesen Übertreibungen und der auf beiden Seiten ungehemmten Neigung, die Tiere zu vermenschlichen und zugleich für sich zu verwenden, erscheint ja wohl weniger eine »natürliche« Achtung vor dem Tier, sondern eher ein Zivilisationssymptom eines von der Natur entfremdeten Menschen.
Die Distanz zu den Tieren anzuerkennen und auch die Sonderstellung des Menschen wahrzunehmen, muss nun keineswegs zu einer herablassenden Haltung führen. Unsere Fähigkeiten zu moralischem Urteil und bewusst verantwortungsvollem Handeln erheben uns ja nicht über das Tier – zumal wir auf das mit diesen Fähigkeiten Erreichte nicht sehr stolz sein können –, sondern sie laden uns eine hohe Verantwortung auf. Die Tiere können in unserer Welt nur sehr begrenzt für sich sorgen, das ist unsere Aufgabe: Tierschutz ist Menschensache.
Immer verwenden wir die Tiere, auch in der Tierliebe. Aber es könnte ein Ziel sein, die Tiere so weit wie möglich aus der Verwendung für uns zu entlassen. Wir könnten aufhören, sie dafür zu lieben, dass sie für uns da sind, und versuchen, sie um ihrer selbst willen zu lieben und zu achten und sie in ihrer Formenvielfalt, ihren phantastischen Sinnes- und Orientierungsleistungen zu bewundern. Das wäre der Versuch einer nicht anthropozentrischen, altruistischen Begründung des achtungsvollen Umgangs mit Tieren. Die Maxime lautete dann also: Wir lieben die Tiere nicht deswegen, weil sie uns so ähnlich sind, sondern weil sie ganz anders sind und in einer ganz eigenen Welt leben. Und wir lieben sie auch nicht deshalb, weil sie für uns da sind, sondern geradezu, weil sie uns entzogen sind, für uns unzugänglich, aber in einer faszinierenden Vielgestaltigkeit und ästhetischen Schönheit. Wir müssen Tiere durchaus nicht vermenschlichen, um achtungsvoll mit ihnen umzugehen.
1WIE KOMMUNIZIEREN MENSCHEN MIT TIEREN?
Viele Menschen sind sich heute sicher, dass sie die Gefühle ihres Haustieres unmittelbar erfassen. Sie erkennen, so glauben sie, dass ihr Hund traurig ist oder Angst hat. Sie wissen, dass sein gesträubtes Nackenfell Aggressivität signalisiert, wie auch der Pferdebesitzer weiß, dass er besser Abstand hält, wenn das Pferd die Ohren anlegt. In allen diesen Fällen haben die Menschen »nur« gelernt, das Verhalten und insbesondere die Mimik der Tiere zu deuten, aber sie irren sich, wenn sie glauben, dass sie sich vom Affekt ihres Tiers unmittelbar »anstecken« lassen.
Affektansteckung ist unter Menschen wie auch zwischen Tieren eine angeborene Form der gefühlshaften Kommunikation. Säuglinge werden mit dieser Fähigkeit geboren, sie sind sogar besonders sensibel darin, Stimmungen ihrer Bezugspersonen zu erfassen. Schon wenige Stunden nach der Geburt imitieren sie spontan mimische Ausdrücke anderer Menschen. Zweifellos fördert die Affektansteckung eine frühe Bindung an die Bezugspersonen, wenn auch zunächst nur in dieser reflexhaften, unwillkürlichen Form. Säuglinge spiegeln in ihrer frühen Entwicklung die Affekte ihrer Beziehungspersonen, aber sie »haben« sie noch nicht in dem Sinne, wie ein vielleicht vierjähriges Kind denken kann: Ich weiß, dass ich mich jetzt freue und lächele.
Affektansteckung ist also ein angeborenes Resonanzphänomen. Ein bildhafter Vergleich: Wenn man einen Ton auf dem Klavier anschlägt, wird das daneben stehende Cello im gleichen Ton mitschwingen. Ganz analog können wir uns z. B. von der Traurigkeit eines anderen »anstecken« lassen. Derartige Ansteckungsphänomene lassen sich in Massenveranstaltungen, etwa im Fußballstadion beobachten.
Man kann in seiner Affektansteckung eigentlich nicht fehlgehen (auch das Cello neben dem Klavier kann sich nicht irren). Man kann allerdings versuchen, seine Bereitschaft zur Affektansteckung zu dämpfen. Nicht wenigen Menschen wird z. B. unbehaglich, wenn sie traurige Gefühle empfinden, und sie vermeiden es, sich von der Trauer eines anderen »anstecken« zu lassen. Das ist, wie wenn sie ihre Resonanzbereitschaft auf dieser »Frequenz Traurigkeit« dämpften, ähnlich wie man das Mitschwingen des Cellos dämpfen kann, indem man die Hand auf dessen Resonanzboden legt. Denn das ist die Voraussetzung für das Resonanzphänomen Affektansteckung: Dass ich mich vor dem Affekt, den ich beim anderen wahrnehme, selbst nicht fürchte und meine Resonanz nicht unbewusst verhindere.
Voraussetzung, sich vom Affekt eines anderen »anstecken« zu lassen, ist allerdings auch eine eigene hinreichende Affektdifferenzierung. Dazu muss das kleine Kind erlebt haben, dass seine nahen Bezugspersonen seine Affekte spiegeln und ihm helfen, die eigenen Affekte und die der anderen zunehmend differenziert wahrzunehmen. Eine Mutter etwa, die vielleicht aufgrund ihrer schweren Depression nicht fähig ist, die Affekte ihres Kindes zu beantworten und zu benennen, behindert die Affektdifferenzierung ihres Kindes nachhaltig.
Unter sozial lebenden Tieren ist Affektansteckung sehr verbreitet, man spricht in der Ethologie von »Stimmungsübertragung« und denkt z. B. an einen auffliegenden Vogelschwarm oder an ein Rudel von Wölfen, die sich gegenseitig in Jagdstimmung bringen. Affektansteckung dient also der Synchronisierung des Verhaltens von Rudeltieren.
Affektansteckung (Stimmungsübertragung) ist aber nur innerartlich wirksam. Eine Katze etwa lässt sich vom Jagdgebell eines Hundes nicht anstecken und auch nicht vom Quieken einer gefangenen Maus. Tiere können zwar lernen, die Affektausdrücke anderer Tierarten für sich auszuwerten. Zum Beispiel können die Warnrufe des Eichelhähers bei Rehen eine Fluchtbereitschaft auslösen. Und wenn unsere Katze sich dem Hund, der über seinem Fressnapf gebeugt stand, näherte, hörte sie sein leises Knurren und zog ihre (richtigen) Schlüsse daraus, obwohl in der Katzenwelt ja gar nicht geknurrt wird.
Vermutlich handelt es sich in diesen Fällen aber nicht um eine angeborene Reaktion, also auch nicht um Affektansteckung, sondern um Ergebnisse von individuellen Lernprozessen. Auch wir müssen erst lernen, dass Pferde dadurch drohen, dass sie ihre Ohren flach nach hinten anlegen, wir »wissen« es nicht intuitiv. Und das Pferd kann sich natürlich nicht vorstellen, dass wir seine Drohgebärde nicht verstehen.
Weil Affektansteckung nur innerartlich vorkommt, ist es auch nicht möglich, dass wir Menschen uns vom Affekt eines Tieres ohne Weiteres »anstecken« lassen. Zwar können wir uns einbilden, nachzufühlen, wie unserem Hund gerade zumute ist – nahezu jeder Hundebesitzer glaubt das –, aber das ist ein Irrtum. In Wahrheit fühlen wir nicht unmittelbar, was in Tieren vor sich geht.
Es gibt also keine »natürliche« Form der Stimmungsübertragung zwischen Tieren und Menschen. Aber Lerneffekte wie die vom Reh und dem Eichelhäher gibt es in der Mensch-Tier-Beziehung allemal: Haustiere, insbesondere Hunde und Katzen, lernen sehr rasch die Stimmungslage ihrer menschlichen Bezugspersonen für sich auszuwerten. In ihrer Aufmerksamkeit für kleinste Signale etwa der menschlichen Mimik sind sie uns vermutlich sogar turmhoch überlegen.
Dass Menschen sich vom Affektausdruck eines Tieres nicht anstecken lassen, kann man im Verhalten von kleinen Kindern erkennen. Sie lassen sich vom Zappeln eines Insekts, dessen Inneres sie inspizieren, nicht berühren. Deswegen müssen die Erwachsenen Kinder mit dem Spruch ermahnen: »Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz!«
Diese Ermahnung fordert das Kind auf, Einfühlungsvermögen, also Empathie zu entwickeln. Das wird dem Kind frühestens ab dem dritten Lebensjahr möglich sein, denn die Empathiefähigkeit setzt einige kognitive Kompetenzen voraus: Das Kind muss ein reflexives Ich-Bewusstsein entwickelt haben und es muss fähig sein, die Perspektive anderer Menschen zu übernehmen, sich z. B. also einzufühlen in die Traurigkeit eines anderen, auch wenn es selbst nicht traurig ist. Ob seine Einfühlung die Traurigkeit des anderen richtig abbildet, bleibt aber ungewiss, denn der Empathie liegt immer ein subjekthafter, egozentrischer Entwurf zugrunde. Genau genommen fragt sich nämlich das Kind nur: »Was würde ich fühlen anstelle des anderen?«
Unsere Versuche, uns in andere einzufühlen, haben wir längst nicht mehr nur auf Menschen begrenzt. Wir glauben, uns nicht nur in andere Menschen, sondern auch in Tiere (vielleicht sogar in Pflanzen) einfühlen zu können, und denken gar nicht daran, nachzuprüfen, ob wir mit unserem empathischen Entwurf die Innenwelt eines Tieres richtig erfassen. Das wäre erstens auch gar nicht nötig, denn, wie wir gesehen haben, bleiben wir in unserem Einfühlungsvermögen sowieso ganz bei uns, und zweitens wäre es wohl kaum möglich, denn wir wissen nun einmal nichts über das Innenleben der Tiere.
2GESCHICHTE DER MENSCH-TIER-BEZIEHUNG VOM MITTELALTER BIS ZUR NEUZEIT
Die Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung ist ein Thema der Historischen Anthropologie. Sie wird nur verständlich im Kontext der sozialen und kulturellen Entwicklung, vor dem Hintergrund der sich ändernden materiellen Lebensverhältnisse, in denen die Menschen lebten und die die Entfaltung des reflexiven und empathischen Subjektes im Laufe der vergangenen Jahrhunderte ermöglichten.
Die Tierliebe, wie wir sie heute kennen – mit unzähligen Heimtieren, Tierschutzvereinen und einem modernen Tierschutzgesetz –, wurzelt in geistigen Bewegungen des 19. Jahrhunderts. Aber es ist aufschlussreich, die Entwicklung der Mensch-Tier-Beziehungen bis ins Mittelalter zurückzuverfolgen und durch die Jahrhunderte zu rekonstruieren.
Ich beginne mit der Zeit des frühen Mittelalters in Mitteleuropa (6. bis Anfang des 11. Jahrhunderts). Die Quellen, die uns aus dieser Zeit zur Verfügung stehen, illustrieren vor allem, wie in höfischen Kreisen schon damals Tiere zum Zeitvertreib gehalten wurden: Papageien, Affen, und in größerer Zahl auch Greifvögel, Hunde und Pferde für die Jagd. Aber das Verhältnis der höfischen Damen und Herren zu diesen Tieren war absolut nicht gleichzusetzen mit dem Umgang des gemeinen Volkes mit seinen Nutztieren. Mehr als 90 % der Bevölkerung des 9. und 10. Jahrhunderts in Mitteleuropa lebten auf dem Land und von der Landwirtschaft (Schneider, 2006, S. 26), und deren Beziehung zu Tieren war völlig anders als in den höfischen Kreisen: Man lebte in großer räumlicher Nähe zueinander, und die Menschen gingen mit Tieren um, wie es ihnen nützlich erschien. Selbstverständlich wurden sie geschlachtet und gegessen, wenn sie alt genug waren. Aus heutiger Sicht war es ein achtloser, gleichgültiger Umgang mit den Tieren, aber wohl nur in wenigen Fällen ein sadistischer.
Das Mittelalter wird rückblickend zuweilen verklärt, so als lebten Mensch und Tier damals noch im Einklang miteinander. Das sind Rückprojektionen in eine vermeintlich idyllische Zeit, die es so nie gab. In ihnen erscheint der Traum des entfremdeten Menschen von heute, der sich so sehr wünscht, einträchtig mit der Natur leben zu können, vielleicht sogar die Idee verfolgt, dass es der guten Natur sehr viel besser ginge, wenn es den bösen Menschen gar nicht gäbe.
Die Mensch-Tier-Beziehung hat sich seit der Zeit des Frühen Mittelalters sehr gewandelt. Es sind vielleicht nur vierzig Generationen, die uns heute von jener Epoche trennen, aber in dieser Zeit ist sehr viel geschehen. Davon handelt das nun folgende Kapitel: Wie sich im hohen Mittelalter (1000 bis 1250) im Zuge der »agrarischen Revolution« die materiellen und sozialen Lebensverhältnisse radikal verbesserten, wie sich die Anfänge des modernen, reflexiven Subjektes entwickelten, und wie sich damit auch das Verhältnis zum Tier wandelte; welchen Einfluss das Christentum nahm, und wie sich das Mensch-Tier-Verhältnis in der Renaissance, in der Zeit der Aufklärung und in der deutschen Romantik abermals veränderte.
Wir werden also die Entwicklungsschritte nachvollziehen, welche die Menschen Mitteleuropas vom frühen Mittelalter bis zur Neuzeit in ihren Beziehungen untereinander und zu den Tieren durchwandert haben. Wir werden sehen, dass die sozialkognitiven Kompetenzen, die für uns heute selbstverständlich sind, dem frühmittelalterlichen Menschen nur in geringem Maße zur Verfügung standen: Die Fähigkeit und Bereitschaft, sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen, seine Welt mit seinen Augen, aus seiner Perspektive zu betrachten. Es fällt uns schwer, uns diesen frühen Entwicklungsstand vorzustellen, denn dazu müssten wir unsere eigenen sozialkognitiven und empathischen Kompetenzen für einen Augenblick rückgängig machen und unsere soziale Welt so betrachten, als besäßen wir noch nicht die hoch entwickelten Fähigkeiten des modernen zivilisierten Menschen. Es fällt uns schwer, uns vorzustellen, wie es ist, ein noch wenig empathischer Mensch zu sein, der weder das Interesse noch die Fähigkeit hat, sich in andere Menschen einzufühlen. Heute tun wir das unablässig – wir können ja kaum anders.
Die Kompetenzen zur Reflexivität, Empathie und Perspektivenübernahme sind ja nicht Fertigkeiten – wie z. B. die mathematische Kompetenz zur Lösung einer Dreisatzrechnung –, hinter die man gleichsam zurückgehen könnte. Man kann sich also vielleicht vorstellen, vor einer Dreisatzaufgabe zu sitzen und nicht (mehr) zu wissen, wie man sie löst. Aber wir können uns nicht in einen Menschen hineinversetzen, der noch nicht verstanden hat, dass andere aus eigenen, inneren Beweggründen handeln und eine gemeinsame Situation ganz anders bewerten als man selbst.
Wenn vierjährige Kinder erst einmal gelernt haben, die Perspektive eines anderen einzunehmen und zu verstehen, dass Menschen nach ganz eigenen, subjekthaften Beweggründen handeln, wenden sie diese Kompetenzen so selbstverständlich an wie das Laufen, das sie erst kurz zuvor erlernt haben. Ich glaube nicht, dass wir fähig sein könnten, die Welt wie ein einjähriges Kind zu betrachten, das noch nicht weiß, dass andere eine gemeinsame Situation ganz anders deuten als es selbst. Ebenso wenig sind wir in der Lage, uns vorzustellen, wie der frühmittelalterliche Mensch mit noch geringen kognitiven Kompetenzen seine Welt erlebte.
Ein weiteres Hindernis, das wir nennen müssen, wenn wir über das Mensch-Tier-Verhältnis früherer Epochen nachdenken, gründet in den Werturteilen, die wir mit Feststellungen wie »noch nicht empathisch« fast unvermeidlich verknüpfen. Wenn wir aus unserer Sicht eines modernen mitteleuropäischen Menschen annehmen, dass der Mensch des frühen Mittelalters bestimmte sozialkognitive Kompetenzen (Perspektivenübernahme, Empathie) noch wenig entwickelt hatte, dass er wenig Mitgefühl mit seinen Kindern empfand und aus heutiger Sicht oft grausam mit Tieren umging, rufen wir sehr häufig empörten Widerspruch hervor.
Wir, die wir es gewohnt sind, uns immer wieder einzufühlen in unsere Mitmenschen und uns sogar einbilden, wir könnten uns in ein Tier einfühlen, können und wollen uns nicht vorstellen, wie es ist, einen Menschen oder ein Tier leiden zu sehen, ohne Mitgefühl zu empfinden. Und wir sind heute ratlos und fühlen uns abgestoßen, wenn wir Menschen begegnen, die Tiere scheinbar ohne eine Gefühlsregung quälen können. Regelmäßig handelt es sich dann ja auch – nach heutigen Maßstäben – um gravierende psychische Fehlentwicklungen, die uns sehr fremd sind. Oder es sind Menschen mit sadistischen Motiven, die Lust empfinden, wenn das Tier (oder auch ein Mensch) leidet; sie wollen das Tier leiden sehen. Aber wir wollen mit denen nichts zu tun haben.
Deswegen klingen Beschreibungen wie »der mittelalterliche Mensch ging mitleidslos mit Tieren um« für uns unvermeidlich wie die Zuschreibung eines moralisch bedenklichen Defizits. Heute stoßen derartige Diagnosen – ob begründet oder nicht – gegen die Regeln der »Political Correctness«. Diese schreiben uns vor, dass wir Minderheiten, Randgruppen oder überhaupt »den anderen« keine »Defizite« zuschreiben dürfen, um sie nicht zu diskriminieren oder gar zu pathologisieren, sondern wir sollen vielmehr ihre Fähigkeiten in den Vordergrund unserer Betrachtungen stellen.
Ich vermute, dass die verbreitete Auffassung von der »Eintracht« und der »Verbundenheit« des mittelalterlichen Menschen mit der Natur und die Redeweise von seiner »Nähe« zur Tierwelt darin gründen, dass wir uns scheuen, den Menschen von damals Eigenschaften zuzuschreiben, die aus heutiger Sicht negativ bewertet werden. Als würde unsere Behauptung, der frühmittelalterliche Mensch habe zwar in großer räumlicher Nähe zum Tier gelebt, aber er sei nicht empathisch gewesen, den Menschen von damals pathologisieren, uns selbst aber die Aura des gelungenen Fortschritts umhängen.
Dabei haben wir doch gar keinen Grund, so besonders stolz zu sein auf den Besitz unserer sozialkognitiven Fähigkeiten wie Empathie und Perspektivenübernahme. Denn gerade diese Fähigkeiten brachten auch Unglück ins menschliche Leben. Perspektivenübernahme nämlich befähigt uns nicht nur, uns in die innere Situation eines anderen hineinzuversetzen, um seine Interessen zu berücksichtigen (das ist eine Voraussetzung für soziale Handlungsfähigkeit überhaupt), sondern sie ermöglicht uns auch, den anderen zu täuschen, auszutricksen, ihn für unsere Interessen auszunutzen. Weil wir wissen, wie der andere soziale Situationen bewertet, welche Motive ihn leiten und wie er auf unsere Handlungen reagieren wird, können wir ihn manipulieren, solange er es nicht bemerkt oder sich nicht wehren kann.
Wir sollten uns also angesichts unserer mühsam erworbenen kognitiven Kompetenzen nicht allzu überlegen fühlen. Mit ihnen erwarben wir nicht nur die Fähigkeit zu sozial bezogenem Handeln, sondern auch zu erfolgreich dissozialem Verhalten.
DIE MENSCH-TIER-BEZIEHUNG IM FRÜHEN MITTELALTER
Die materielle und soziale Situation des Menschen
Noch im 10. Jahrhundert war Mitteleuropa sehr dünn besiedelt. Schätzungen zufolge (Mensching, 1992, S. 130) lebten in dem Raum des heutigen Deutschlands und Skandinaviens nur vier Millionen Menschen (um die Mitte des 14. Jahrhunderts aber schon 11,5 Millionen). Wahrscheinlich waren um diese Zeit nur 3 % der Fläche Mitteleuropas landwirtschaftlich genutzt (Schneider, 2006, S. 34). Denn Mitteleuropa war bis ins 11. Jahrhundert hinein von dichtem, fast undurchdringlichem Wald bedeckt. »Nicht Gemarkungsgrenzen, sondern Wälder trennten die Menschen voneinander« (Schubert, 2002, S. 38). Tacitus beschrieb in seiner »Germania« um 100 die düsteren, dichten Wälder und die schaurigen Moore, das waren Betrachtungen, die sehr viel später in der deutschen Romantik mit Begeisterung aufgenommen wurden.
Die Besiedelung war sehr dünn, im 10. Jahrhundert waren weniger als 3 % des Territoriums überhaupt bewohnt oder genutzt. Rodungen waren äußerst mühsam, oft wurden kleine Ackerflächen nur dadurch geschaffen, dass um abgebrannte oder abgesägte Bäume herum Getreide, vor allem der anspruchslose Hafer, aber auch Roggen, Dinkel und Gerste gesät wurde.
Der Ertrag der Landwirtschaft war sehr gering, zum einen, weil wenig Ackerfläche zur Verfügung stand, und zum anderen wegen der im Vergleich zu heute noch sehr primitiven Anbaumethoden. Die Schätzungen der damaligen Ertragsquote, also des Verhältnisses von Aussaat und Ernte schwanken zwischen 1:2 und 1:3, d. h., auf ein gesätes Getreidekorn kamen zwei, maximal drei geerntete Körner (Schneider, 2006, S. 34). Selbst unter günstigen Bedingungen wurde also maximal das Dreifache der Saatmenge erzielt (Schubert, 2002, S. 43), und von diesen dreien musst eines für die Aussaat des nächsten Jahres aufbewahrt werden. Zum Vergleich: Die Ertragsquote beträgt in Mitteleuropa heute durchschnittlich 1:25 bis 1:30!
Diese magere Ernte wurde weiter dezimiert durch Pflanzenkrankheiten, Schimmel- und Pilzbefall, Fäulnis und Mäusefraß. Trotzdem war Getreide das hauptsächliche Nahrungsmittel im gesamten Mittelalter.
Die riesigen Waldflächen, mit denen das Land bedeckt war, bestanden fast ausschließlich aus Laubwald, es waren vor allem Buchen, aber auch Eichen, deren Lebensdauer ja höher war, außerdem waren sie widerstandsfähiger bei Feuer. In den ausgedehnten Feuchtgebieten gab es Ulmen, Eschen und Ahorn. Der Wald lieferte Gerbrinde von Eichen, Bast für die Seilerei, Weidenruten zum Flechten von Zäunen, Körben, Häuserwänden, Harz zur Pechherstellung und als Klebemittel, ferner Kerzenwachs und Met (Honigwein) sowie Tinte aus Eichengalläpfeln. Im Wald lebten Bienen, ihr Honig war bis zum 15. Jahrhundert einziger Süßstoff. Die Imker (»Zeidler«, »Bütener« oder »Beutner«) lebten im Wald, unterstanden einem Zeidelmeister und mussten in der Regel der Herrschaft alljährlich ein »Honiggeld« entrichten.
Der Wald war für die Fleischproduktion sehr wichtig, zum einen wegen des Niederwildes, das die Landbevölkerung fangen durfte – die Jagd auf Hochwild war dem Adel vorbehalten –, zum anderen aber auch als Weide für Schweine und Ziegen, die zum Fressen in den Wald getrieben und von Kindern beaufsichtigt wurden. Die zuweilen vorgetragene Behauptung, dass sich die mitteleuropäischen Menschen des frühen Mittelalters vegetarisch ernährt hätten, ist also nicht richtig. Sie aßen sogar sehr gern Fleisch und sie aßen es reichlich: »Die frühmittelalterlichen Menschen (aßen) zumindest in guten Jahren auch im Vergleich zu heute außerordentlich große Mengen Fleisch« (Hirschfelder, 2005, S. 99). Neben Schweinen wurden Hühner gehalten, auch zur Eierproduktion.
Aufgrund der sehr dünnen Besiedelung und der riesigen Wälder konnte also relativ viel Fleisch gegessen werden: »People, rich and poor, looked at large and small game, fish, small birds« (Salisbury, 2011, S. 43). Ausgrabungen haben eine »diversity of meat« im frühen Mittelalter festgestellt (S. 43). Allerdings nahm der Fleischanteil in der Ernährung mit zunehmender Rodung der Wälder und Nutzung der Flächen für den Ackerbau bei rasch steigender Bevölkerungszahl ab. Aber auch dann »stand Fleisch im Zentrum der Ernährung« (Hirschfelder, 2005, S. 99).
Man vermutet einen großen Fischreichtum bis ins 18. Jahrhundert hinein. Es gab Lachse, Aale, Barsche, Forellen, Schmerlen und Flusskrebse. Fisch war sehr wichtig als Eiweißlieferant, denn das Getreide enthielt nur wenig Eiweiß. Bäche und Flüsse waren natürlich noch nicht reguliert, und die Binnenseen dehnten sich viel weiter aus als heute. Erst ab dem 13. Jahrhundert entwickelte sich eine Teichwirtschaft, auch mit Karpfenzüchtungen, aber die »lagen in den Händen der adeligen Ökonomie« (Schubert, 2002, S. 84). Die Auflehnung gegen dieses adelige Monopol, das »wilde« Fischen, markierte später den Beginn der Bauernkriege.
In der geschlossenen Hauswirtschaft jener Zeit lebten die Menschen buchstäblich von der Hand in den Mund. Was sie zum Leben brauchten, produzierten sie großenteils selbst, und in vielen Fällen ging ein Teil ihrer Ernte an den weltlichen oder kirchlichen Grundherren. Es gab kaum einen Überschuss, den sie hätten »ansparen« können, und es war schwierig genug, ausreichend Vorräte und Futter für die Tiere zu sammeln, um den Winter zu überstehen oder schlechte Ernten ausgleichen zu können. In wirtschaftlich erfolgreichen Jahren konnten sie »Erzeugnisse der eigenen Stallhaltung und Viehzucht, von frischem und getrocknetem Obst, Käse und Milch, von Waldfrüchten und kleineren handwerklichen Arbeiten« (Cherubini, 1996, S. 140) tauschen. Selten aber gelang es ihnen, einen Überschuss an Grundnahrungsmitteln zu erzielen, den sie hätten verkaufen können. Daher war auch nur wenig Geld in Umlauf. Und ihre Kleidung? »Wool, furs and skin made up most of the clothing in the middle ages« (Salisbury, 2011, S. 148).
Auch wenn es erwiesen ist, dass sich die Menschen des frühen Mittelalters gern von Fleisch ernährten, darf man sich nicht täuschen: Ihre Ernährungssituation war von einem »steten Mangel« gekennzeichnet (Hirschfelder, 2005, S. 104). Sie konnten nur wenige Vorräte anlegen, Krankheiten und Parasiten bedrohten ihre Tiere, sodass dann oft doch nur der Getreidebrei als Standardmahlzeit übrig blieb.
Bäuerliche Familien bestanden in der Mehrzahl der Fälle aus »Kern- und erweiterten Kernfamilien, also aus den Eltern, ein, zwei oder drei Kindern sowie der Großmutter und/oder dem Großvater« (Cherubini, 1996, S. 134 f.). Die ältere Auffassung, dass sich die Kernfamilie nur allmählich aus der Großfamilie mit mehreren Generationen entwickelte, »hat sich […] heute weitgehend als ein Mythos erwiesen« (Althoff, Goetz u. Schubert, 1998, S. 125). Die bäuerliche Familie bewohnte ein Haus; darin gründet das Wort »Bauer«, das nichts mit anbauen etc. zu tun hat, sondern »Behältnis, Kammer, Hütte« (Schneider, 2006, S. 29) bezeichnet (daher auch Vogelbauer). Mit der Bezeichnung »Bauer« wurde der fundamentale Unterschied zu der »sehr viel älteren Nomadenexistenz des Hirten festgehalten« (S. 29).
Wenn sich mehrere Familien eine »Hufe« teilten, so hatten sie doch jeweils einen eigenen Herd, also ein eigenes Haus, das freilich nicht in Zimmer unterteilt war: »Man aß, schlief, ruhte, liebte, gebar und starb in einem einzigen Raum« (Schneider, 2006, S. 43).
Die Hälfte aller Menschen starb vor Erreichen des 18. Lebensjahres. Dies drückt das arithmetische Mittel der Lebenserwartung auf täuschende 25 bis dreißig Jahre. Wer aber das 18. Lebensjahr erreicht hatte, wurde durchschnittlich fünfzig Jahre alt, und es gab auch noch ältere Menschen (Schneider, 2006, S. 99). Kinderarbeit begann mit sechs Jahren und sie war sehr verbreitet. Die Märchen von Zwergen im Bergwerk täuschen uns: Gemeint waren Kinder! Schubert (2002): Mit dem siebten Lebensjahr, den zweiten Zähnen, ist die Kinderzeit vorbei, Kinder müssen Schweine und Gänse hüten (S. 223). Kinderspielzeug wurde erst nach 1500 formenreicher. Kinder zu schlagen, war Erziehungspflicht, trotz gewichtiger Gegenreden, wie z. B. von Walther von der Vogelweide (S. 224).
Die Menschen des frühen Mittelalters »besaßen ein ausgeprägtes Familienbewusstsein« (Althoff et al., 1998, S. 126). Es herrschte eine strenge patriarchalische Ordnung: Der Mann besaß die »Munt« (von »manus«, die Hand, heute noch im »Vormund« und in der »Mündigkeit« enthalten), hatte Verfügungsrecht über alle Angehörigen des Hauses und haftete für sie. Er besaß das »männliche Privileg zur körperlichen Züchtigung«, die förmlich vorgeschrieben war (Schneider, 2006, S. 42). Die Frau galt im Mittelalter als ein menschliches Wesen minderen Wertes (S. 93).
Eine Liebesheirat war durchaus nicht die Regel, die Ehe sollte im günstigen Falle die Liebe stiften und nicht umgekehrt (Schneider, S. 95). Neben der Muntehe, die dem Ehemann die patriarchalischen Rechte eines Vaters übertrug, gab es – vor allem in Adelskreisen – die Friedelehe (eine Friedel war eine Freundin oder eine Geliebte), ferner eine Konkubinatsehe ohne Trauung, aber doch vollzogen vor Zeugen. Frauen durften dergleichen nicht. »Eine freie Frau, die sich mit einem Knecht einließ, riskierte ihr Leben« (S. 96).
»In ganz Europa war die bäuerliche Gemeinschaft einem weltlichen oder kirchlichen Herrn unterstellt« (Cherubini, 1996, S. 140). Das Land war in drei große Flächen unterteilt: Die eine bebaute der Patron mit Knechten und Tagelöhnern, oft wurden auch Bauern zu Arbeiten verpflichtet, zu denen sie auch ihre Zugtiere mitzubringen hatten. Der zweite Teil wurde an bäuerliche Familien mit Erbrecht gegeben, und der dritte bestand aus Wäldern und unbebautem Land. Zwar nutzten die Bauern Fischfang und Jagd für ihre Ernährung, aber die Grundherren schränkten die Verfügung über die Natur zunehmend ein. Sie besaßen oft Monopole, z. B. für die gewerbliche Nutzung der Wasserkraft, über den Backofen in der Siedlung und die Dorfschenke. Sie übten die Rechtsprechung in der niederen Gerichtsbarkeit aus, verhängten allerdings auch drakonische Strafen bis hin zur Todesstrafe.
Wie gingen die Menschen miteinander und mit ihren Tieren um?
Es gibt kaum Zeugnisse darüber, was die einfachen Menschen des frühen Mittelalters dachten, was sie empfanden (Cherubini, 1996, S. 151). Unser Wissen über diese Zeit ist leider sehr beschränkt. Man hielt es im Mittelalter nicht für angebracht, das Leben einfacher Menschen zu schildern und aufzuschreiben, ganz abgesehen davon, dass nur wenige Menschen lesen und schreiben konnten – nicht einmal alle Kleriker und auch nicht alle Adligen konnten dies – und Schreibpapier überaus kostbar war. Niemand gab sich die Mühe, für die Nachwelt aufzuschreiben, wie ein einfacher Bauer sich selbst verstand, wie er seine Geschichte interpretierte oder seine Zukunft plante. Es schrieb niemand auf, weil es auch niemanden interessiert hätte. Wenn überhaupt Biografien niedergeschrieben wurden, dann eher idealtypische Beschreibungen, z. B., wie es ist (besser noch: wie es sein sollte), ein frommer Mönch oder ein mutiger Ritter zu sein.
Außerdem: Der Bauer »Hans« des 10. Jahrhunderts hätte diese Überlegungen über sich selbst auch nicht angestellt, sie lagen ihm gar nicht nahe, weil er noch nicht jene reflexive Persönlichkeit ausgebildet hatte, die über sich nachdenkt und ihr Leben individuell gestaltet. Es fehlte ihm noch jenes »Selbst«, auf das sich der moderne Mensch fortlaufend bezieht, das ihm die Maßstäbe liefert zur Deutung seiner Geschichte und zur autonomen moralischen Beurteilung seiner Handlungen –, und darin manchmal übertreibt, wenn er seine Biografie so gestaltet, als gelte es, sein Selbst wie einen roten Teppich durchs Leben vor sich her auszurollen.
So war und ist die Nachwelt gezwungen, ein subjektives Bild vom frühmittelalterlichen Menschen zu entwerfen. Sie nutzte diese freie Projektionsfläche zu sehr unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Ausdeutungen. Zahlreich sind die idealisierenden Darstellungen, die den frühmittelalterlichen Menschen als noch nicht entfremdet und im Einklang mit der Natur sehen wollten.
Diese romantisierenden Beschreibungen deuten wohl auf die Zivilisationsverdrossenheit des modernen Menschen und seine Entfremdung von der Natur hin. Andererseits: Wenn wir soziale Verhältnisse heute als »mittelalterlich« beschreiben, meinen wir oft dumpfe Menschen, die roh und gefühllos miteinander umgehen. Und das könnte der Realität etwa des 10. Jahrhunderts durchaus nahe kommen, angesichts eines bäuerlichen Lebens, das unter überaus harten Bedingungen, schwerer Arbeit, materiellen Notlagen und Krankheiten zu bestehen war.
Es mag also sein, dass die oft satirischen Beschreibungen, welche den Schmutz, die Rohheit und einen »tierhaften Zug im Wesen der Bauern« (Cherubini, 1996, S. 152) hervorheben, ein zu negatives Bild entwerfen, aber doch nicht ganz falsch sind. Zwar wendet sich auch Schubert (2002) gegen das Vorurteil vom grausamen Mittelalter (S. 273), beschreibt aber doch die gut dokumentierten, aus heutiger Sicht sadistischen Veranstaltungen der Volksbelustigung noch des späteren Mittelalters: Blinde kämpften noch im 14. und 15. Jahrhundert unter dem Gejohle der Zuschauer mit Knüppeln (oder auch Messern) um einen Preis, z. B. ein Schwein, gegeneinander, oder man veranstaltete »Dirnenwettkämpfe«, bei denen Prostituierte in Wettläufen gegeneinander antraten und versuchten, sich mit Schlägen und Tritten aus dem Rennen zu werfen (Meyer, 2000a, S. 330 f.).
Über die Beziehung des mittelalterlichen Menschen zu seinen Kindern ist in der Literatur intensiv gestritten worden. Ariès (1978) und DeMause (2000) haben sehr viel Material zusammengetragen, das die Vermutung von einem »herzlosen«, also recht gleichgültigen Umgang mit Kindern nahelegt. Noch Montaigne (1533–1592), der große Renaissancedenker, sprach von seinen Kindern im Rückblick als »Äffchen«, von denen er zwei oder drei im Säuglingsalter verloren habe, ohne dies »verdrießlich« gefunden zu haben. Diese Auffassung vom lieblosen Umgang mit Kindern blieb zwar nicht unwidersprochen (Dinzelbacher, 2003), aber die Beschreibungen eines liebevollen Umgangs mit Kindern beziehen sich doch überwiegend auf höfische Kreise, die vielfach spätere Erlebens- und soziale Umgangsformen schon vorwegnahmen. Allerdings ist die Quellenlage über den Umgang Kindern in Bauersfamilien auch sehr viel dürftiger.
Wie ging der frühmittelalterliche Mensch mit Tieren um? Sehr häufig wird die »Nähe« (oder gar die »Verbundenheit«) des mittelalterlichen Menschen zum Tiere beschrieben. Aber was ist mit dieser Nähe gemeint? Richtig ist: Sie ist zunächst räumlich zu verstehen, denn der Mensch war ständig von Tieren umgeben. Die Lebensräume von Mensch und (Nutz-)Tier waren noch nicht streng getrennt. Trotzdem aber stand der Mensch den Tieren nicht nahe, wie wir uns ihnen heute nahe fühlen können, indem wir uns vorstellen, was das Tier fühlt, ob es sich freut, ob es Angst empfindet oder leidet. Diese Art der Nähe, die unser Einfühlungsvermögen voraussetzt, kannte der Mensch des frühen Mittelalters gewiss noch nicht.