Hab keine Angst, mein Mädchen - Sigrid Hunold-Reime - E-Book

Hab keine Angst, mein Mädchen E-Book

Sigrid Hunold-Reime

4,9

Beschreibung

Michelle kommt nicht über den Tod ihrer Schwester hinweg und überlässt nichts mehr dem Zufall. Sie plant ihr Leben bis hin zur Partnerwahl und der Geburt der zwei Kinder. Um sie zur Besinnung zu bringen, verzaubert sie die Freundin ihrer Mutter: Im Körper einer alten Frau wird sie zur Ruhe gezwungen. Aber der Zauber hat seine Tücken. Michelle landet in einem Pflegeheim für Demenzkranke. Dort lernt sie die 82-jährige Magdalene kennen. Die will den Mörder ihres Mannes stellen. Michelle flüchtet mit ihr …

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Sigrid Hunold-Reime

Hab keine Angst, mein Mädchen

Ausgewählt von Claudia Senghaas

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2013–Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von © 0mela–Fotolia.com und © vivjanna13–Fotolia.com

Wenn Du dein vergangenes Leben verstehen willst, sieh dir deine gegenwärtige Lage an.Wenn Du dein zukünftiges Leben verstehen willst, sieh dir dein gegenwärtiges Handeln an.

Chinesische Weisheit

Kapitel 1

Diese Geschichte ist fiktiv. Genau wie der Ort, an dem sie spielt. Was eigentlich gelogen ist. Die Wahrheit ist, diese Geschichte hat sich genauso abgespielt. Wenn man davon absieht, dass niemand in der Lage ist, das Erlebte wahrheitsgetreu wiederzugeben.

Im September 2011

Meine Mutter rief mich an einem Mittwochvormittag in der Praxis an. Sie weiß, wie sehr ich das hasse. Auch, dass meine Helferinnen die strikte Anweisung haben, private Gespräche von mir abzuschirmen. Das Wissen hält meine Mutter nicht davon ab, es weiter zu versuchen. Immer wieder. Wahrscheinlich in dem Bewusstsein, jeder Anruf wird dokumentiert, mir vorgelegt, und in mir nagt das schlechte Gewissen. Bis ich sie zurückrufe.

Ich rufe sie an. Einmal in der Woche am Sonntagvormittag. Und alles, was sie mir in der Zwischenzeit zu berichten hat, kann auf den Sonntag warten. Es sei denn, es geht um Leben und Tod.

Genau den Code musste sie benutzt haben. Zum ersten Mal, und deshalb hatte er auch funktioniert. Nele stellte sie zwischen zwei Patienten zu mir durch.

»Frau Dr. Meinberg, Ihre Mutter ist in der Leitung. Es ist dringend.« Neles Stimme klang eigenartig belegt und versetzte mich in Alarmbereitschaft. Unfall. Hausbrand. Krankenhaus. Meine Mutter ist selbst am Apparat, beruhigte ich mich. Sie lebt und ist ansprechbar. Unheilbare Krankheit, schoss es mir durch den Kopf. Sie hat gerade ein Karzinom diagnostiziert bekommen. Vor mein aufkommendes Mitgefühl schob sich die Angst um mein Leben und das meiner Kinder. Immerhin ist die Macht der Gene nicht zu unterschätzen.

»Hallo, Mama«, begrüßte ich sie mit heiserer Stimme.

»Michelle, das ist aber schön, dass ich dich sprechen kann«, sagte sie betont herzlich. Ihre Verkrampfung hinter der gespielten Leichtigkeit war nicht zu überhören.

»Was ist passiert? Bist du verletzt?«

Meine Mutter lachte. Dieses wohlklingende, kehlige Lachen, das meine Schwester Lena von ihr geerbt hatte.

»Nein, um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«

»Um wen dann? Ist etwas mit den Kindern?«

Während ich diese Frage stellte, erschien sie mir bereits als unsinnig. Hans würde niemals erst meine Mutter anrufen, wenn zu Hause etwas passiert wäre.

»Nein, Michelle, es geht allen gut. Du bist das Sorgenkind.«

Ich lauschte ihren Worten hinterher und begann langsam zu begreifen. Meine Mutter hatte sich das Telefonat erschlichen. Mit einer Lüge. Meine Sorge verwandelte sich schlagartig in Wut. Sie fühlte sich nach den Augenblicken der Verwirrung und Angst wie eine Befreiung an.

»Mama, sag bitte, dass das nicht wahr ist. Du hast mich jetzt nicht einfach aus purer Langeweile angerufen?« Ich schrie sie hemmungslos an.

»Natürlich rufe ich dich nicht aus Langeweile an«, antwortete sie so sanft, dass ich am liebsten den Hörer heftig hingeballert hätte, damit der Knall in ihrem Ohr schmerzte. Ich hielt mich zurück. Aber nur, weil ich ihr noch ein paar Takte sagen wollte. Meine erwachsene Hälfte war sich bewusst, dieser Energieeinsatz war vergebene Liebesmühe. Genauso gut konnte ich einen Monolog gegen die Wand führen. Meine Mutter war nicht zu kränken. Das war eine ihrer Eigenarten, die mich wahnsinnig machte. Sie wurde nie wirklich wütend und ließ sich auf kein anständiges Streitgespräch ein.

»Mama! Hast du überhaupt den Ansatz einer Ahnung, wie konzentriert ich hier arbeiten muss? Stell dir vor, hier kommen kranke Menschen zu mir. Einer nach dem anderen, und jeder will mit einer Diagnose wieder nach Hause gehen. Wohlgemerkt mit der richtigen! Das ist Schwerstarbeit. Ich kann zwischendurch nicht einfach mal eine nette Plauderei über das Wetter führen. Meine Kinder und Hans halten sich an die Regelung. Du bist noch nicht senil. Also bitte, ich kann das auch von dir verlangen. Es muss um Leben und Tod gehen, wenn du mich während der Arbeit anrufst.«

»Aber es geht um mehr als Leben und Tod. Michelle, es geht um dich. Bitte, wir müssen uns heute Nachmittag treffen. Es tut mir leid, dass ich dich während der Dienstzeit anrufe, aber zu Hause gehst du nicht ans Telefon. Sag jetzt nicht, du hast heute keine Zeit. Diese Entschuldigung hat bei dir einen Rapunzelzopf.«

»Aber ich habe keine Zeit. Der freie Mittwochnachmittag ist randvoll mit Terminen.«

»Ach, Michelle, warum überfrachtest du deine Tage dermaßen? Du rennst regelrecht durch dein Leben. Vergiss nicht, in einem ICE erkennt man die Landschaftsbilder nur noch verschwommen.«

Ich stöhnte gequält auf. »Der Spruch von dir hat auch einen Bart, Mama. Fehlt nur noch dein Lieblingsvergleich mit dem Bummelzug. Mit dem kann ich noch fahren, wenn ich alt bin.«

»Mach‹ da keine Späße darüber. Genau um das Thema geht es.«

»Also, Mama, ich weiß nicht, was du so vorhast, aber ich muss jetzt arbeiten! Das Wartezimmer ist randvoll.«

»Wie traurig.«

Ich verzichtete auf eine Antwort. Aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund legte ich nicht auf, sondern hörte mir weiter ihre Litanei an.

»Warum lässt du dir nicht mehr Luft zwischen den Terminen. Das würde dir und auch deinen Patienten guttun.«

Ich zog tief die Luft ein und dachte: aber nicht meinem Portemonnaie.

Auch so eine von Mamas Lebensphilosophien, die mir gehörig auf die Nerven gingen: Eile mit Weile. Sollte sie ihre hochgepriesene Langsamkeit leben. Bitte sehr. Ich war nun einmal anders als sie. Ich arbeitete schneller und strukturierter. Und ich arbeitete gern. Ich nahm auch die Errungenschaften der Pharmaindustrie in Anspruch, ohne ihnen so was wie Schwarze Magie anzudichten. Meine Mutter war der Ansicht, die meisten Psychopharmaka wären überflüssig. Es gäbe andere Lösungen. Die Menschen wären einfach nur einsam. Rosarotes Denken und Früchte ihrer Gebetskreisbesuche und Faseleien ihrer buddhistisch angehauchten Yogatanten. Aber vor allem ihrer verhuschten Freundin Lilly. Wenn ich in jedes Patientengespräch Herzblut investieren würde, ginge ich bald den Bach runter. Nicht nur finanziell. Meine Mutter hatte noch nichts von einer professionellen Sachebene und gesunder Abgrenzung gehört. Der Beweis dafür war ihr Anruf.

»Mama, es reicht. Ich lege jetzt auf.«

»Nein, Michelle, das tust du nicht!« Ihre Stimme klang ungewohnt scharf. »Erst versprichst du, heute Nachmittag zu mir an den See zu kommen. Wir müssen uns treffen. Ich werde für längere Zeit verreisen. Vorher muss ich dich sprechen.«

»Wie – verreisen?« Meine Mutter war ein absoluter Reisemuffel und fühlte sich an ihrem See wohl. Sie behauptete mit Inbrunst, um sich zu finden, brauche man nicht weit wegzufahren. Woher kam der plötzliche Sinneswandel?

»Wo willst du denn hin? Etwa ans Ende der Welt, wo es kein Telefon mehr gibt?«

Meine Mutter atmete hörbar durch.

»Ja, Michelle, so ungefähr. Aber das kann ich dir nicht erklären. Wir werden uns auf jeden Fall eine längere Zeit nicht sehen und auch nicht sprechen können. Deshalb muss ich vorher«, sie zögerte, »sozusagen meine Hinterlassenschaft regeln.«

Zum Glück war ich allein im Zimmer. Mein Unterkiefer rutschte nach unten und gab mir unter Garantie ein dümmliches Aussehen. Eine unschöne Angewohntheit, die ich mir seit meiner Pubertät abzutrainieren versuchte.

»Du meinst das ernst«, wiederholte ich stumpf.

»Ja, todernst. Wir sehen uns um 17 Uhr hier bei mir am See.«

Damit beendete sie das Gespräch, und nicht ich.

Ich starrte auf den Hörer. Hinterlassenschaft regeln. Das hörte sich wie aus einem anderen Jahrhundert an. Leider fühlte es sich für mich nicht so weit entfernt an, und das wusste meine Mutter. Sie war durchaus wohlhabend, und ich konnte mich einmal auf ein nettes Sümmchen freuen. Und jetzt war meine Mutter auf irgendeinem Trip. Hatte sie doch eine latente Demenz entwickelt? Es waren mir bislang keine Anzeichen aufgefallen. Selbst ihr Kurzzeitgedächtnis schien intakt zu sein. Allerdings hatten wir uns lange nicht gesehen, nur miteinander telefoniert. Was hatte meine Mutter vor? Mit Sicherheit steckte ihre durchgeknallte Lilly dahinter.

Das Telefon klingelte. Ich schreckte zusammen. Nele.

»Frau Dr. Meinberg. Ist alles in Ordnung?« Ihre Stimme klang weich und mitfühlend. Ganz und gar nicht, dachte ich und sagte: »Ja, ja, danke, Nele. Wer ist der Nächste?«

»Herr Boll.«

Wenigstens ein Lichtblick. Ein netter Schizophrener. Er kam in regelmäßigen Abständen. Das letzte Mal hatte er sich Sorgen gemacht, weil die Amseln sich im Garten zusammenrotteten und feindselig auf sein Schlafzimmerfenster starrten. Er vertraute mir und brauchte lediglich die Bestätigung, dass die Beobachtung nur seiner Fantasie entsprang, und manchmal eine Medikamentenerhöhung. Wie gut. So aufgewühlt, wie ich gerade war, hätte mir ein Neupatient, der seine Kindheitstraumen aufarbeiten wollte, gerade noch gefehlt.

Interview: männlich, 56 Jahre

Zum Wort ›alt‹ fallen mir Falten, Rückenschmerzen, Vergesslichkeit, Genießen, Zeitlassen, Whiskey, mit meinem Opa Kirschen pflücken und Brausepulver ein.

Ich mag an alten Menschen nicht, wenn sie, obwohl sie Zeit haben, sich vordrängeln. Ungeduldig und humorlos sind. Wenn sie unreflektiert und egoistisch nur noch sich selbst sehen können. Ihre Verbitterung an Menschen in ihrer Umgebung auslassen.

Mir imponiert an alten Menschen, wenn sie ruhig und gelassen das Treiben des Lebens betrachten können. Die hohe Kunst beherrschen, jungen Leuten nicht anmerken zu lassen, was sie wissen. Sie nicht ständig bremsen oder warnen. Als Junge versucht man halt, an den Elektrozaun zu pinkeln. Die Warnung vor einem kleinen Stromschlag hält nicht davon ab, das auszuprobieren. Man muss es selbst gespürt, einmal den Mut gehabt haben. Ich mag alte Menschen, die den jungen nicht das Gefühl geben, dass es schon alles einmal gegeben hat. Sonst verdirbt man ihnen den Spaß.

Wenn ich ganz plötzlich mein Heim verlassen müsste, würde ich unseren Wohnwagen mitnehmen (lacht).

Kapitel 2

Natürlich machte ich mir in erster Linie Sorgen um meine Mutter. Aber um ehrlich zu sein, auch um ihr Sparbuch. Es hätte mich einfach maßlos geärgert, wenn sie das schöne Geld für eine verrückte Idee aus dem Fenster geworfen hätte. Die ihr mit Sicherheit ihre durchgeknallte Freundin Lilly eingeredet hatte. Wer weiß, wo die mit meiner Mutter hinreisen wollte. Vielleicht nach Indien zu irgendeinem Guru. Diese theatralische Abschiedsvorstellung mit erzwungener Kaffee-Einladung beunruhigte mich zunehmend.

Es war ein unerträglich schwüler Spätsommertag. Der Parkplatz am See war brechend voll. Zum Glück war ich mit meinem ›Kleinen‹ unterwegs und ergatterte noch eine enge Lücke. Der Wagen rechts neben mir konnte danach nicht mehr von der Fahrerseite bestiegen werden. Egal. Ich hatte nicht vor, lange zu bleiben. Die anderen Wagen standen hier mit Sicherheit bis in die Abendstunden.

Ich war nicht gern draußen am See. Diese viel gepriesene Freiheit der Lauben- und Campingplatzidylle war mir zu muffig. Und den Radweg, der sich rund um den lang gezogenen Teich schlängelte, mied ich sowieso. Aus gutem Grund. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wer mir dort über den Weg laufen würde. Schließlich riet ich allen meinen Depressiven zum Spazierengehen, Radeln oder sogar Segeln. Und zwar hier! Vielen Dank auch. Darauf konnte ich verzichten. Ihre euphorischen Berichterstattungen waren mir aus der Praxis zur Genüge bekannt. »Frau Dr. Meinberg, ich hatte ganz vergessen, wie viel Spaß es macht, flache Steine zu sammeln und über das Wasser zu werfen. Oder an der kleinen Brücke die Wiese mit dem Meer aus blühendem Flox. Es ist faszinierend, verliebten Schmetterlingen dort beim Tanzen zuzusehen. Oder wussten Sie, dass die Frösche am Westufer im Schilf zu Hause sind? Ich kenne jetzt schon ein paar von ihnen und bilde mir ein, sie mich auch. Finden Sie das albern?«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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