Rache am Siel - Sigrid Hunold-Reime - E-Book

Rache am Siel E-Book

Sigrid Hunold-Reime

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Die junge Krankenschwester Fenna ist verschwunden - angeblich eine spontane Reise nach Costa Rica. Doch das kann ihre ältere Schwester Marit nicht glauben. Sie bittet Pensionswirtin Tomke, Nachforschungen in Fennas Klinik anzustellen. Eine willkommene Herausforderung für Tomke. Doch schon bald häufen sich Fragen und Ungereimtheiten. Warum hat sich Fenna immer mehr zurückgezogen? Und warum verheimlicht sie den Namen ihres Geliebten? Schwebt die junge Frau tatsächlich in höchster Gefahr?

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Seitenzahl: 287

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Sigrid Hunold-Reime

Rache am Siel

Roman

Zum Buch

Ohne Spuren Pensionswirtin Tomke sehnt sich nach einem zweiten beruflichen Standbein. Unverhofft erhält sie die Chance dazu, denn Fenna, eine junge Krankenschwester, ist verschwunden. Angeblich ist sie spontan nach Costa Rica gereist. Doch Marit, Fennas ältere Schwester, kann das nicht glauben. Sie bittet Tomke, Nachforschungen in der Klinik anzustellen. Tomke glaubt nicht, dass Fenna Hilfe braucht. Trotzdem nimmt sie den Auftrag an und ermittelt undercover an Fennas Arbeitsplatz. Das anfangs spannende Abenteuer wird schnell bitterer Ernst. Fragen und Ungereimtheiten häufen sich und Tomke beginnt ernsthaft zu ermitteln. Warum hat sich Fenna immer mehr zurückgezogen? Und warum verheimlicht sie den Namen ihres Geliebten? Schwebt die junge Frau tatsächlich in höchster Gefahr?

Sigrid Hunold-Reime, geboren 1954 in Hameln, lebt seit vielen Jahren in Hannover. 2000 schrieb sie ihren ersten Ostfriesland-Kurzkrimi – ihre kriminelle Energie war geweckt. Es folgten Beiträge in diversen Anthologien. 2008 erschien ihr erster Kriminalroman im Gmeiner-Verlag „Frühstückspension“. Die patente Protagonistin Tomke wuchs der Autorin so ans Herz, dass sie in den folgenden Kriminalromanen stets präsent blieb und im Roman „Die Pension am Deich“ schließlich wieder eine Hauptrolle bekam. Sigrid Hunold-Reime blieb „ihrem“ Wangerland treu. Es folgten »Liebesinsel am Deich«, »Zweite Chance am Deich« und nun »Rache am Siel«.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Zweite Chance am Deich (2015)

Meine Schwester, Mutter und ich, (E-Book Only, 2016)

Asternleuchten (E-Book Only, 2016)

Dann geh’ doch (E-Book Only, 2015)

Hexentänze (E-Book Only, 2015)

Liebesinsel am Deich (2014)

Hab’ keine Angst mein Mädchen (2013)

Die Pension am Deich (2012)

Janssenhaus (2011)

Schattenmorellen (2009)

Frühstückspension (2008)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © textag/fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5666-4

Widmung

Für alle Leser, die Tomke Heinrich noch nicht kennengelernt haben, und für alle diejenigen, die sich noch einmal erinnern möchten, wartet im Anhang eine kleine Tomke-Chronologie.

Prolog

Sie steht auf. Leichter Schwindel lässt sie taumeln. Sie öffnet die Terrassentür. Aufgeheizte, blütenschwere Luft strömt ihr entgegen. Der intensive Duft von süßem Flieder legt sich schwer auf ihre Atemwege. Es ist unerträglich schwül. Kein Windhauch macht das Luftholen leichter. Selbst die wenigen wie dahingetupften Wolken scheinen stillzustehen. Das täuscht. Weiter hinten, ganz im Westen, steigt ein Wolkenpilz empor. Er trinkt sich am Meer satt. Es wird ein heftiges Gewitter geben.

Zum Glück ist der stechende Kopfschmerz zurückgegangen. Die Wirkung des Pflasters hat endlich eingesetzt. Wenn nur der Schwindel nicht wäre. Sie muss sich am Türrahmen stützen. Sie sollte sich hinlegen. Warten, bis die erlösende Abkühlung kommt. Sie setzt sich auf einen Gartenstuhl. Tief durchatmen. Sie schließt die Augen. Es ist noch genügend Zeit. Sie könnte schlafen. Einen kleinen Augenblick. Sie braucht einen klaren Verstand für das Treffen. Sonst steht sie als haltlose Verschwörerin da. Die sich nur rächen will. Rache will sie. Aber das darf sie sich nicht anmerken lassen. Sie wird Informationen weitergeben. Sachlich und mit überzeugenden Fakten, um ihr Interesse zu wecken. Und sie wird sich interessieren. Davon ist sie überzeugt. Das wird einen richtig netten Skandal geben. Danach wird sie von hier verschwinden.

Eine leichte Brise umweht ihre verschwitzte Stirn. Endlich. Gleich werden die kühleren Luftmassen den Garten erreichen. Gleich wird sie besser atmen können. Sie öffnet die Augen. Da steht er vor ihr.

Sie blinzelt. Das ist eine Halluzination. Das muss eine sein. Aber er sieht verwirrend lebendig aus. »Papa?«, flüstert sie entgegen jeder Vernunft.

Er nickt. Über sein vertrautes Gesicht huscht ein liebevolles Lächeln. »Papa«, wiederholt sie glücklich. Sie spürt, wie ihr die Tränen in die Augen steigen. Sie hat ihn so vermisst. Er streckt seine Hand nach ihr aus, und sie ergreift sie glückselig.

Kapitel 1

Friederikensiel im Mai

Britta wirft im Vorbeigehen einen Blick auf die Küchenuhr. Kurz vor vier. Höchste Eisenbahn. Sie muss los. Vorher nur schnell eine Maschine Wäsche aufhängen. Torbens Arbeitsklamotten. Sie schüttelt die Hemden glatt und hängt sie über Bügel an die Leine. Der Himmel ist strahlend blau, fast wolkenlos. Das heftige Gewitter von gestern hat die Luft gereinigt. Eine Erlösung nach mehreren Tagen drückender Schwüle. Selbst hier am Deich wehte kein Lüftchen. Eine seltene Wetterlage am Meer und extrem ungewöhnlich für die Jahreszeit. Sie haben erst Anfang Mai.

Britta streicht nachdenklich ein Hemd glatt. Heute Morgen hat sie Torben gefragt. Beim Frühstück. Das mag Torben nicht, aber zurzeit ist es die einzige Gelegenheit, um ein paar Worte miteinander zu wechseln.

»Janssen will das Haus verkaufen«, sagte Britta.

Torben warf ihr über die Zeitung hinweg einen flüchtigen Blick zu.

»Janssen hat ausdrücklich betont, wir hätten Vorkaufsrecht. Es würde ihn mächtig freuen, wenn wir es sind, die hier blieben.«

Torben ließ die Zeitung sinken. Er sah sie stirnrunzelnd an. Als fiele es ihm schwer, dem Sinn ihrer Worte zu folgen.

»Und? Was sagst du dazu? Willst du nicht hier bleiben?«, fragte Britta. Sie klang ungeduldig. Aber sie hasste es, wenn Torben nicht antwortete. Nur dumpf guckte. Ohne dabei eine Miene zu verziehen.

»Das will ich schon«, räumte er vorsichtig ein. »Aber das Haus kaufen ist …«, er suchte augenscheinlich nach den richtigen Worten.

»Das ist dir zu verbindlich«, ergänzte Britta aufgebracht.

Torben wiegte den Kopf ein paar Mal hin und her. Als wollte er die nächsten Worte, die er sagte, vorher auspendeln.

»Was heißt ›zu verbindlich‹? Ja, vielleicht. Aber das ist schließlich ein schwerwiegender Schritt. Ein Haus zu kaufen ist etwas anderes als eine neue Waschmaschine. Wir werden einen netten Abtrag zahlen müssen. Lange Jahre.«

»Miete müssen wir auch jetzt jeden Monat zahlen.«

»Das stimmt. Aber wir brauchen nicht für Reparaturen aufkommen. Und wir haben keinen Druck. Stell dir vor, wir können aus irgendwelchen Gründen den Abtrag nicht mehr aufbringen. Als Mieter passiert uns nichts.«

»Außer, dass wir rausfliegen.«

»Komm, du weißt, wie ich das meine. Ich mag keine Schulden. Jedenfalls nicht so einen Riesenbatzen.«

»Wenn wir verheiratet wären, hätten wir steuerliche Vorteile«, warf Britta mit klopfendem Herzen ein.

Torben machte eine Bewegung mit den Schultern, die eine vage Zustimmung signalisierte.

»Warum heiraten wir dann nicht? Wir leben seit drei Jahren zusammen und lieben uns immer noch. Tun wir doch, oder?«

»Ja. Aber gerade deshalb sollten wir es so lassen, wie es ist.«

»So lassen«, wiederholte Britta ärgerlich. »Du willst immer alles so lassen. Aber willst du kein Kind – mit mir?«

Torbens Gesichtszüge entspannten sich und wurden weicher. »Doch sicher will ich das. Später.«

Seine Hand tastete über den Tisch und suchte Brittas. Sie entzog sie ihm nicht, obwohl in ihr ein Sturm wütete.

Britta unterbricht ihre Gedanken an die Frühstücksszene und stellt mit einer heftigen Bewegung den Wäschekorb im Flur ab. Die Erinnerung hat sie erneut verärgert. Später! Das ist Torbens Lieblingswort. Wenn er das sagt, bildet er sich ein, dass er erst mal seine Ruhe hat. Er hat nicht Nein gesagt und Britta vertröstet. Später. Das sagen Heranwachsende, wenn sie über die Zukunft sinnieren und träumen. Später, wenn man erwachsen ist. Aber sie sind keine Teenager mehr. Torben wird noch in diesem Jahr zweiunddreißig und Britta dreißig. Torben kann leicht von später reden. Bei ihm tickt nicht die Biouhr. Bis deren Wecker klingelt, hat Britta Zeit. Sicher. Aber sie will nicht so eine alte Mutter werden. Wie zum Beispiel ihre Cousine Hella. Die hat erst mit Anfang vierzig ein Kind bekommen. Allerdings nach fünfzehn Jahren Ehe. Die war eingespielt. Wahrscheinlich zu sehr. Denn Enno, ihr Mann, konnte mit der eigenen Konkurrenz im Haus und im Bett nicht fertigwerden. Er war zu lange gewohnt, die erste Geige zu spielen. Enno hat sich von Hella getrennt.

Britta schnappt sich Jacke und Tasche und bleibt vor dem Garderobenspiegel stehen. Sie fährt sich durch das kurze, dunkelblonde Haar und zieht ihre Stupsnase kraus. Ja, sie sieht jünger aus, als sie ist. Es passiert ihr nicht selten, dass Patienten sie für eine Auszubildende halten. Aber das ändert nichts an den Tatsachen. Britta sieht sich fest in die Augen. Das Haus kaufen. Ja oder nein. Die Antwort wird mehr bedeuten. Sie wird eine Weiche für ihr weiteres Zusammenleben stellen. Wie soll es weitergehen? Unverbindlich. Wollen sie wie zwei Singles zusammenleben, die sich sehr mögen, aber keinen Stein und schon gar kein Haus auf eine gemeinsame Zukunft bauen wollen? Die sich jederzeit ohne große Komplikationen wieder trennen können. Trennen. Allein der Gedanke daran lässt ihr Herz schmerzhaft flattern, aber sie will mehr als lapidare Vertröstungen. Torben wird Farbe bekennen müssen. Und sie auch.

Britta zieht die Haustür zu und geht zu ihrem Auto. Eine Windbö trägt den Geruch von Geräuchertem in ihre Nase. Britta schlägt sich mit der flachen Hand an die Stirn. Fast hätte sie es vergessen. Sie sollte Tomke ein Stück Lachs mitbringen. Die Deichräucherei liegt keine hundert Meter entfernt hinter dem alten Sieltor.

Ein Wagen kommt die Seedeichstraße entlang. Er wird abgebremst und knapp hinter Brittas Wagen zum Halten gebracht. Was soll das denn? Wie soll sie da rauskommen? Sie hat schon einen verärgerten Spruch auf den Lippen, als sie die Fahrerin erkennt. Marit. Wahrscheinlich will sie auch zur Deichräucherei. Die hat schließlich einen guten Ruf, und Marit wohnt nicht weit von Friederikensiel entfernt. In Förrien. Aber warum parkt sie hier? Marit steigt aus. Die enggeschnittene Jeans bringt ihre langen schlanken Beine vollendet zur Geltung. Sie hat das gleiche rotblonde Haar wie Fenna. Nur kurzgeschnitten, während Fennas Haar fast hüftlang und wild gelockt ist.

»Moin, Britta«, sagt Marit und kommt auf sie zu. »Tut mir leid, dass ich dich überfalle, aber ich muss dringend mit dir sprechen. Ich wollte erst anrufen, aber …«

»Ist etwas passiert?«, unterbricht Britta sie.

»Ich hoffe nicht, aber ich – du willst gerade los, nicht wahr? Hast du noch einen Moment Zeit? Das wäre sehr lieb.«

Britta denkt an ihre Verabredung mit Tomke. Aber Marit wirkt so aufgelöst und unbeholfen. Britta wird Tomke anrufen, dass es etwas später wird. Wenn jemand dafür Verständnis hat, dann Tomke.

»Ja, ich wollte gerade wegfahren. Aber das kommt nicht auf fünf Minuten an. Komm rein.«

»Danke.«

Sie gehen in das gemütliche Wohnzimmer. Das Zimmer hat drei großzügige Fenster und eine Terrassentür. Das vermittelt den Eindruck eines Wintergartens. Der saftig grüne Deich, der blaue Himmel und der prächtige blühende Kirschbaum vor dem Haus geben ein postkartenschönes Bild ab.

»Möchtest du etwas trinken?«, fragt Britta.

Marit schüttelt den Kopf. »Nein, danke. Ich bin hier, weil … weißt du, wo Fenna ist?«

Britta wollte sich setzen. Nun stellt sie sich wieder gerade auf und sieht Marit beunruhigt an.

»Wieso? Ist sie nicht in Wiardersiel?«

Marit sinkt in sich zusammen.

»Ich hatte gehofft, sie hat dir etwas erzählt. Etwas, was ich nicht wissen soll. Du brauchst es mir nicht zu verraten. Sag mir nur, dass es Fenna gutgeht.«

Britta setzt sich zu Marit an den Tisch.

»Was sollte sie mir erzählt haben? Marit, was ist los? Warum suchst du Fenna?«

»Ich kann sie nicht erreichen. Fenna geht nicht an ihr Handy. Im Krankenhaus sagen sie, dass sie Urlaub genommen hat. Aber dann würde sie doch nach Förrien kommen. Und wenn sie wirklich verreisen wollte – nicht, ohne sich von mir zu verabschieden. Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Seit wann geht sie denn nicht ans Handy?«

»Seit gestern Nachmittag.«

Britta nickt und bemüht sich, ihre Erleichterung zu verbergen. Fenna geht einen Tag nicht ans Telefon, und Marit macht Alarm. Typisch meine große Schwester, würde Fenna stöhnen. Britta sieht in Marits müdes Gesicht. Sie muss schlecht geschlafen haben, und sie hat es nicht verdient, belächelt zu werden. Immerhin ist sie keine normale große Schwester. Sie ist Fennas Mutter. Eine Alleinerziehende dazu. Der frühe Unfalltod der Eltern hat ihr Leben grundlegend verändert. Marit hat mit neunzehn das Sorgerecht für die sechsjährige Fenna übernommen. Das war garantiert nicht leicht. Die Verantwortung für ein Kind und gleichzeitig ein Studium zu bewältigen. Fenna ist längst erwachsen, aber Marit steckt noch immer in ihrer Mutterrolle und fühlt sich verantwortlich. Und das konnte Britta immer besser verstehen als Fenna. Wahrscheinlich, weil sie Abstand hat.

»Du denkst, ich bin überbesorgt«, unterbricht Marit Brittas Gedanken. »Aber Fenna hat noch nie ihr Handy ausgestellt. Du weißt selbst, dass sie ihr Handy immer einsatzbereit hat. Darüber haben wir uns bei Tisch manches Mal gestritten. Außerdem wäre sie nicht verreist, ohne sich von mir zu verabschieden.«

»Ja, mit dem Handy hast du recht. Da ist Fenna nervig. Aber vielleicht will sie ausnahmsweise mal nicht gestört werden«, sagt Britta behutsam.

In Marits blauen Augen blitzt es wachsam auf.

»Wie kommst du darauf?«

Britta zögert. Was darf sie Marit erzählen? Britta schüttelt in Gedanken den Kopf. Was soll diese Frage? Sie tut, als könnte sie aus einem Topf des Wissens schöpfen. Dabei weiß sie im Grunde selbst nicht viel. Fenna hat nur einmal von einem Mann gesprochen. Dem angeblich ultimativen Mann. Er wäre anders als alle anderen, die ihr bislang begegnet sind. Das wäre ein sehr starkes Gefühl. Vielleicht die Liebe ihres Lebens. Aber das Verhältnis wäre kompliziert. Er sei verheiratet. Britta hat bis zu dem Punkt mit zunehmender Begeisterung zugehört. Fenna war ein Schmetterling, und Britta hat ihr eine feste Beziehung gewünscht. Aber bei den Worten ›kompliziert‹ und ›verheiratet‹ war ihr ein gequältes ›oh nein‹ herausgerutscht. Das hat Britta im nächsten Augenblick leidgetan. Denn Fenna hat sofort dichtgemacht und von da an ihre Gefühle gebunkert. Sie hat sich zurückgezogen. In den letzten Monaten haben sich die Freundinnen kaum gesehen. Es ist genauso gekommen, wie Britta es befürchtet hat. Sie haben sich durch den Ortswechsel entfremdet.

»Warum antwortest du nicht?«, hört sie Marit leise fragen. »Hast du Fenna versprochen, den Mund zu halten?«

»Nein, aber ich habe überlegt, was ich dir sagen kann. Um ehrlich zu sein, viel weiß ich auch nicht. Besonders über die letzte Zeit. Fenna hat sich zurückgezogen. Ich denke, das hängt mit einem Mann zusammen.«

Marit nickt langsam. »Ja, das stimmt. Fenna hat sich verändert. Sehr sogar. Ich hatte das Gefühl, sie war nur körperlich anwesend, wenn sie mal zu Hause war. Spätestens sonntags ist sie regelrecht geflüchtet. Dabei hätte sie gut erst am Montagmorgen fahren können.«

Marit holt tief Luft. »Zwischen uns hatte sich eine unangenehme Distanz aufgebaut. Wie eine Mauer. Kann sein, du denkst jetzt: Ja, liebe Marit. Das ist gesund. Wird Zeit. Vielleicht. Dagegen will ich mich gar nicht sperren. Aber es fühlt sich nicht wie loslassen an, sondern wie ein Abbruch. Ganz plötzlich. Ohne Gespräche. Nichts. Außer, dass wir keine Zeit mehr miteinander verbracht haben. Daran war allerdings Fenna nicht allein schuld. Ich habe einen Auftrag an Land gefischt. Einen ganz dicken Auftrag. So einen bekommt man als Webdesignerin nicht alle Tage angeboten. Wahrscheinlich nur einmal im Leben. Durch den Auftrag bin ich über Jahre finanziell abgesichert. Ich habe mich in die Arbeit gestürzt und eine Präsentation vorbereitet. Und ich habe den Auftrag gekriegt. Deshalb – ich war in den letzten Monaten sehr beschäftigt. Vielleicht wollte Fenna mit mir reden, und ich habe es gar nicht bemerkt.«

Marit verknotet ihre feingliedrigen Hände auf der Tischplatte. Sie kämpft mit aufsteigenden Tränen. Britta kann nicht anders. Sie folgt ihrem Gefühl. Sie steht auf und umfasst Marits Schultern.

»Ach Mensch Marit, mach dich doch nicht verrückt. Wenn Fenna mit dir reden wollte, hätte sie dir ein Signal geben müssen. Immerhin ist sie sechsundzwanzig. Sie ist kein Kleinkind mehr, oder?«

Ein bisschen sagt Britta das zu ihrem eigenen Trost. Sie hat in der letzten Zeit ihre Ohren bei Fenna auch nicht auf Empfang geschaltet.

»Ja«, sagt Marit und drückt Brittas Hände. »Du hast recht. Fenna ist alt genug. Und sie hat sich nicht das erste Mal mit Haut und Haaren verliebt. Das weißt du selbst am besten. Ihr kennt euch seit der Ausbildung. Fenna ist schnell zu begeistern. Viel zu schnell. Aber es war niemals wie mit diesem Mann. Fenna verhält sich wie eine Fremde. Fast feindselig.«

»Das gibt sich wieder. Fenna muss erst mal ihre Gefühle auf die Reihe kriegen. Ist halt anders, wenn es einen richtig packt.«

»Anscheinend ist es so. Diese Erfahrung ist an mir vorbeigegangen.«

Das ist es wohl, denkt Britta liebevoll. Du warst immer nur für Fenna da. Aber du bist noch keine vierzig und eine sehr attraktive Frau.

Marit streckt sich und steht auf.

»Es stimmt alles, was du gesagt hast. Aber ich lasse mich nicht davon abbringen, dass etwas nicht stimmt. Fenna hat immer auf meine Nachrichten geantwortet. Und wenn es nur ein Smiley oder irgendein Bildchen mit Küsschen war. Fenna hat immer die letzte SMS gesendet. Immer. Ich werde noch einmal auf ihrer Station anrufen.«

»Und was willst du dort fragen?«

»Ob Fenna mit einem Kollegen geredet hat. Also mehr geredet. Wenn nicht, werde ich mir die Durchwahl von Schwester Gudrun geben lassen. Das ist die Leitende Schwester oder Oberin, wie man das nennt. Fenna hat zu ihr einen guten Draht, und vielleicht weiß die mehr.«

Britta atmet tief durch. Bei allem Respekt vor Marits Gefühlen. Aber das ist lächerlich. Sie kann keine Vorgesetzte anrufen, weil Fenna sich einen Tag nicht zurückmeldet. Das wird bei Fenna mit Sicherheit keine Begeisterungsstürme auslösen. Aber Marit ist wild entschlossen. Keine Chance, sie von ihrem Vorhaben abzubringen.

»Okay, dann mach das«, sagt Britta resigniert und verlässt das Zimmer. Sie wird in der Zeit Tomke anrufen.

Kapitel 2

Horumersiel im Mai

Anne öffnet die Haustür.

»Hallo, Tomke! Ich bin wieder da!«

Sie zieht genießerisch die Luft durch die Nase ein. »Das riecht hier aber lecker.«

Anne hängt ihre Jacke an die Flurgarderobe und läuft schnurstracks zu der Quelle des Wohlgeruches. In die Küche.

Tomke steht am Fenster. Die Strahlen der Nachmittagssonne verfangen sich in ihrem Haar und lassen einige Strähnen rot auffunkeln. Der schmale Tisch in der kleinen Küche ist liebevoll gedeckt. Auf der Anrichte steht eine rechteckige, große Auflaufform. Herrlich aufgegangener Blätterteig. Eindeutig Tomkes Spinatpizza. Daneben stehen eine Schale mit Zaziki und ein Teller mit appetitlich angerichteten Tomaten, Gurken und schwarzen Oliven.

»Habe ich irgendein Datum vergessen?«, fragt Anne. Sie wirft begehrliche Blicke auf die Köstlichkeiten.

»Nee, hast du nicht«, sagt Tomke. »Britta kommt gleich zu Besuch. Sie wünscht sich von mir immer diese Blätterteigpizza.«

»Ach so«, sagt Anne und schluckt enttäuscht den angesammelten Speichel herunter. »Ich kann ihre Wahl verstehen.«

Tomke muss grinsen. Sie kennt Anne und ihren gesegneten Appetit. Anne hat auch eine nette Strecke Körper zu versorgen. Sie ist mehr als einen Kopf größer als Tomke.

»Keine Sorge. Meinst du, ich lasse dich verhungern? Das ist für zwei Personen viel zu viel.«

Anne erwidert ihr breites Lächeln. Stimmt. So gut sollte sie Tomke wirklich kennen. »Ich dachte nur, weil du nur für zwei gedeckt hast.«

»Hab ich«, gibt Tomke zu und streicht sich verlegen durchs Haar. »Ich sehe meine Schwiegertochter selten allein. Sehr selten. Deshalb wollte ich gern …«

»Kein Thema«, unterbricht sie Anne. »Das passt mir ganz gut. Ich habe gerade eine Geschichte im Kopf, die ich aufschreiben will. Wenn ich meinen Anteil Nahrung bekomme, ist alles in Ordnung.«

Tomke nickt erleichtert. Dabei klingt das Wort Schwiegertochter in ihr nach. Du Hochstaplerin. Wunschschwiegertochter wäre die richtige Bezeichnung. Aber manchmal kann Tomke nicht widerstehen und stellt Britta als Schwiegertochter vor. Wenn ihr das rausrutscht, darf Torben nicht in Hörweite sein. Heiraten ist sein empfindliches Thema. Wenn Tomke einen Versuch in die Richtung startet, bekommt sie von Torben sofort eins zwischen die Hörner. Die Reaktion findet Tomke stark übertrieben. Immerhin sind sie seit mehr als sieben Jahren zusammen und leben seit drei Jahren in Friederikensiel. Die beiden verstehen sich prima. Soweit Tomke das von außen beurteilen kann. Manchmal hat sie Angst, ihr Sohn verpasst den Zeitpunkt, dieser tollen Frau einen Heiratsantrag zu machen.

Tomke öffnet den Schrank und greift nach einem flachen Teller. Seine Größe erinnert an eine Tortenplatte. »Ich mache dir eine Portion fertig. Und du kannst dir jederzeit Nachschub holen.«

»Super«, sagt Anne. »Aber erst muss ich was trinken. Meine Kehle ist völlig ausgetrocknet. Ich hatte die ganze Strecke über Gegenwind.«

»Alle Achtung, dass du fast immer mit dem Rad nach Hooksiel fährst«, sagt Tomke und reicht Anne ein Glas Wasser. »Für die nächsten Tage sind Regenschauer angesagt. Ich kann dich fahren.«

»Du bist ein Schatz, aber ich habe dir noch nicht die Neuigkeiten des Tages erzählt. Heute war mein letzter Arbeitstag als Blumenfrau. Meine Stelle ist wieder besetzt. Die junge Mama will zurück ins Berufsleben.«

»Oh«, kann Tomke nur sagen. In ihrem Hals sitzt plötzlich ein dicker Kloß.

Anne lacht unbekümmert. »Aber das ist genau der richtige Zeitpunkt. Das habe ich Frau Niehoff auch gesagt. Sie war total erleichtert. Denn …« Anne strahlt nun über das ganze Gesicht, »ich habe endlich eine Idee, was ich schreiben kann. Was sage ich? Es ist die Idee!«

Tomke kann nicht antworten. In ihrem Kopf wirbeln die Gedanken durcheinander. Anne wird nicht mehr in Lillis Blumenladen arbeiten. Sie will schreiben. Wo? Wird sie dafür zurück nach Hameln gehen? Dieser Augenblick musste irgendwann kommen. Das war Tomke immer klar. Aber sie hatte entgegen aller Vernunft die leise Hoffnung entwickelt, Anne würde für immer bleiben. Bei ihr in der Pension. Ganz schön egoistisch von ihr. Anne liebt zwar Blumen, aber die Halbtagsstelle konnte sie auf die Dauer nicht glücklich machen. Sie ist Autorin, und das Schreiben hat ihr mehr und mehr gefehlt. Das hat Tomke sehr wohl gemerkt. Die beengte Wohnsituation konnte auch keine Dauerlösung sein. In Hameln hat Anne eine geräumige Eigentumswohnung. Die könnte sie vermieten, aber im Sommer wird ihre Tochter aus Amsterdam zurückkommen. Dann wäre Anne spätestens gegangen. Das weiß Tomke und hat es verdrängt. Nicht gleich, aber nach und nach. Immerhin lebt Anne schon ein halbes Jahr bei ihr. Der Zeitraum erscheint Tomke länger. Im positiven Sinne. Sie hat das Gefühl, sie hat schon immer mit Anne zusammengewohnt. Da ist so viel Selbstverständlichkeit zwischen ihnen. Anne hat ein ähnliches Verständnis von Distanz und Nähe wie Tomke. Hausarbeit geht bei ihnen Hand in Hand. Da brauchen sie nicht viel Worte drüber verlieren. Kochen auch im Wechsel. Aber das Schönste, sie waren nicht allein. Es war immer jemand da. Auch wenn sie ihre gemeinsam verbrachte Zeit nie überstrapaziert haben. Sie haben manchen Abend in ihrem eigenen Zimmer gesessen. Jede für sich. Auch das war schön. War, denkt Tomke und spürt Traurigkeit in sich aufsteigen. Schon wieder mal ein schönes Gefühl loslassen. Sie atmet tief durch. »Und was nun? Willst du zurück nach Hameln?«

»Wenn du mich loswerden willst?«, kokettiert Anne.

Tomke muss lächeln. Anne. Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie keinen lockeren Spruch auf Tomkes Bemerkung gemacht. Sie hätte nur die Aufforderung herausgehört: Wird Zeit. Die Besuchszeit ist ausgereizt. Aber Anne ist selbstbewusster geworden. Der Umgang mit Menschen, Gespräche und Lob für ihre kunstvollen Blumenarrangements haben sie gestärkt.

Tomke dreht sich um und schneidet ein riesiges Stück Pizza zurecht. Die Enden lappen über den Tellerrand. Anne wird bleiben. Erst einmal. Aber der Schreck, sie könnte gehen, sitzt ihr noch in den Knochen.

Anne nimmt den Teller und löst mit den Fingern etwas von dem Blätterteig. Sie steckt es sich in den Mund. »Hm lecker.«

Anne lehnt sich an die Küchenzeile. »Weißt du, was das für ein tolles Gefühl ist? Ich werde wieder schreiben. Die Geschichte liegt ausgebreitet vor mir. Das ist ein Stück siebter Himmel.«

Anne schiebt sich noch ein Stück Pizza in den Mund. »Kennst du Frau Reck aus der Bücherei?«

»Ja, sie macht manchmal auch historische Führungen durch Horumersiel.«

»Genau! Sie war heute bei uns im Blumenladen. Es war gerade ruhig, und wir sind ins Gespräch gekommen. Keine Ahnung, wie wir auf das Thema gekommen sind. Schwimmen lernen. Dass heute fast schon jedes Kind vor der Schule ein Seepferdchen hat. Vor nicht allzu langer Zeit konnte kaum jemand hier an der Küste schwimmen. Auch die meisten Seeleute nicht. Hätte Hops Maries Schwiegermutter schwimmen gekonnt, wäre sie nicht im Hafenbecken ertrunken. Hops Marie? Wer ist das?, habe ich gefragt. Ich habe hinter dem Namen sofort eine Geschichte gewittert. Und richtig. Hops Marie hat vor mehr als hundert Jahren in Horumersiel gelebt. Und sie hat im Streit ihre Schwiegermutter ins Hafenbecken gestoßen. Ein Mord in Horumersiel? Ja, aber er wurde nie aufgeklärt. Der einzige Zeuge, der die Tat vom ›Strandhotel‹, früher hieß es ›Zur schönen Aussicht‹, beobachtet hat, der hat sich nicht gemeldet. Weil er vier Kindern nicht die Mutter nehmen wollte. Außerdem war die Schwiegermutter überall als alte Hexe verschrien. Kennst du die Geschichte?«

Tomke nickt. »Sicher. Als ich sie zum ersten Mal gehört habe, war ich richtig traurig. Maries Schicksal hat mich auch berührt. Da kann ich dich verstehen. Sie hatte übel unter ihrer Schwiegermutter zu leiden. Das war ein Satansbraten. Jeder in Horumersiel wusste das. Deshalb hat ihr auch niemand hinterhergetrauert, und es wurde nicht groß nachgeforscht, ob sie ins Hafenbecken gefallen ist oder gestoßen wurde. Aber Marie ist trotzdem nicht glücklich geworden, nachdem sie den Hausdrachen los war.«

»Ja, Frau Reck hat mir von Maries Mann erzählt. Der war Sargtischler und hatte anscheinend einige Charakterzüge von seiner Mutter geerbt. Im Grunde seines Herzens soll er froh gewesen sein, als es keinen Streit mehr im Haus gab. Aber er konnte das nicht so hinnehmen. Er hat geahnt, dass seine Frau schuld am Tod seiner Mutter war. Und er hat von da an seine Launen an Marie ausgelassen. Wenn ihm ein Sarg nicht abgekauft wurde oder ihm das Essen nicht geschmeckt hat. Marie musste raus auf den Hof, und er hat die Reitpeitsche geschwungen. Dann hat man ihn rufen hören: ›Nu hops Marie!‹ Immer wieder. Bis sie nicht mehr konnte und umfiel.«

Anne ist beim Erzählen immer ernster geworden. »Marie konnte ihren Mann nicht verlassen. Sie hatte vier Kinder, und Frauen waren zu der Zeit von ihren Männern abhängig. Sie hatten offiziell quasi keine Rechte und waren auf das Wohlwollen ihrer Partner angewiesen. Oder sie waren von Haus aus wohlhabend genug, um nicht heiraten zu müssen. Das waren dann die alten Jungfern. Einen hohen gesellschaftlichen Status hatten die auch nicht.«

»Und du willst über Marie einen Roman schreiben?«

»Ja, aber nur mit den Eckdaten. Ansonsten wird er ganz fiktiv«, sagt Anne. Ihre freudige Erregung ergreift sie wieder. »Ich habe sogar schon mit Charlotte telefoniert. Sie will ja unbedingt, dass ich etwas anderes schreibe. Voilà! Ich schreibe einen historischen Frauenroman. Das kommt meiner Sprache entgegen. Charlotte ist auf jeden Fall interessiert. Sie will ein Exposé.«

Annes Stimme kiekst vor Begeisterung. Sie gibt Tomke einen Kuss. »Ich verziehe mich. Sonst ersticke ich an den gespeicherten Worten.«

Sie tippt sich an den Kopf, schnappt sich ihren Teller und huscht nach nebenan in ihr kleines Domizil.

Tomke schaut ihr nachdenklich hinterher. Plötzlich erscheint es ihr in der Küche ungewöhnlich still. Sie hört die Wanduhr ticken. Tomke öffnet das Fenster, um die Geräusche von draußen reinzulassen. Vorbeigehende Badegäste. Lachen. Fahrradklingeln. Möwen.

Tomke gönnt Anne die Inspiration für einen Roman von Herzen, aber sie beneidet sie gleichzeitig um ihre Vorfreude, arbeiten zu können. Auf das Alleinsein mit ihrer neuen Geschichte. Irgendwie fühlt Tomke sich ausgeschlossen. Und langweilig. Was hat sie Interessantes zu bieten? Sie ist Pensionswirtin. Toll. Noch nicht einmal von einem großen Haus, sondern von drei Doppelzimmern. Ihre Tage sind durchstrukturiert. Das ist Fluch und Segen. Die Routine ist hilfreich, um über die schlechten Tage zu kommen. Aber sie schläfert auch ein. Tomke hat verlernt, einmal etwas Neues auszuprobieren. So wie Anne. Sie lebt an einem anderen Ort und hat spontan die Stelle im Blumengeschäft angenommen. Und nun wird sie wieder einen Roman schreiben. Daran zweifelt Tomke keinen Augenblick. Sie hat Anne noch nie so angefixt erlebt. Wann war Tomke das letzte Mal ähnlich begeistert? Sie muss überlegen. Kleine Sequenzen fallen ihr ins Gedächtnis. Zum Beispiel, als ihre Enkelin sie zum ersten Mal bewusst angelacht hat. Das war Glück pur. Als sie sich in ihre Arme gestürzt hat, weil sie sich gefreut hat, ihre Oma zu sehen. Das waren Augenblicke, da schlugen ihre Herzen im gleichen Takt. Tomke war im Glücksrausch, als sie geglaubt hat, Paul würde sich von seiner Frau scheiden lassen. Er würde sie heiraten und mit ihr leben. Auch die Freundschaft zu Anne macht sie glücklich. Das warme Gefühl, wenn Torben sie in die Arme nimmt und ihr das Gefühl gibt, die Beste zu sein. Oder wenn Juliane mit ihr ein Gespräch von Frau zu Frau führt. Tomke schaut aus dem Fenster. Das sind wunderbare Momente. Aber sie sind allesamt abhängig von Menschen. Ein Glück, das nur etwas mit ihr zu tun hat. Nein, an das Gefühl kann Tomke sich nicht erinnern. Was unterscheidet sie von Anne? Die acht Jahre, die Anne jünger ist, können es nicht sein. Sie jammern beide nicht über Einsamkeit oder verpulvern ihre Energie mit Sehnsucht nach einem neuen Partner. Aber Anne ist autarker, selbst wenn sie immer betont, allein hätte sie das letzte halbe Jahr nicht hingekriegt. Sie hätte durch ihre Schreibblockade in Hameln Depressionen bekommen. Nun hat sie endlich eine Romanidee. Hoffentlich braucht Anne sie weiterhin als Freundin. Tomke schüttelt ärgerlich den Kopf. Was heißt brauchen? Was denkt sie da für einen Unsinn? Anne und Tomke sind sich sehr nahegekommen, und das bleibt. Nein, das Problem liegt bei Tomke. Sie muss sich etwas suchen, das ihr eine eigene Zufriedenheit gibt. Unabhängig von Beziehungen. Sonst bleibt sie nur ein ewiges Anhängsel und hat Angst, irgendwann wieder verlassen zu werden. Aber was könnte das sein? Ihre Pension macht ihr durchaus Freude. Und sie braucht die Einnahmen, um das Haus instand zu halten. Mit ihrer Witwenrente allein würde sie das nicht wuppen. Anne ist finanziell unabhängig. Das macht es für sie leichter. Komm, Tomke, auch mit finanzieller Unabhängigkeit kann man sich keine ausfüllende Tätigkeit aus dem Ärmel schütteln. Aber was kann man mit Anfang fünfzig neu beginnen? Eine Berufsausbildung kommt nicht mehr in Frage. Da würde ihr jeder Arbeitgeber einen Vogel zeigen. Vielleicht malen? Farben haben Tomke schon immer fasziniert. Gleich drei Häuser weiter bietet Edda ständig Kurse an. Oder sie könnte Führungen durchs Wangerland anbieten. Wenn sich eine hier auskennt, dann sie.

Das Telefonklingeln lässt Tomke aus ihren Gedanken aufschrecken. Auf dem Display steht: Torben und Britta. Tomkes Blick wandert zur Küchenuhr. Schon nach halb fünf. Britta müsste längst hier sein. Schade. Jetzt sagt sie auch noch ab. Tomke reißt sich zusammen und nimmt das Gespräch an.

»Moin, Tomke«, hört sie wie vermutet Brittas Stimme.

»Na, meine Liebe, ist dir was dazwischengekommen?«, fragt Tomke. Britta soll nicht merken, wie enttäuscht sie ist.

»Ja, das ist es. Aber ich komme noch. Nur später, wenn das für dich in Ordnung ist. Marit ist hier überraschend reingeschneit. Du kennst sie. Fennas große Schwester. Fenna arbeitet seit Dezember in Wiardersiel in einer Klinik. Und sie ist seit gestern Nachmittag nicht mehr an ihr Handy gegangen. Angeblich hat sie Urlaub genommen. Marit hat dabei ein ungutes Bauchgefühl. Na ja, Fenna ist und bleibt ihr Baby. Ich glaube, Fenna hat sich mit ihrem neuen Typen abgesetzt. Der ist verheiratet. Hat sie so durchblicken lassen. Wahrscheinlich sind sie spontan verreist. Dorthin, wo sie niemand kennt. Händchenhalten in der Öffentlichkeit.«

Um ein Haar wäre Tomke herausgerutscht: Das verstehe ich nicht. Warum lässt sich eine junge attraktive Frau wie Fenna auf so eine aussichtslose Geschichte ein? Tomke kann sich gerade noch bremsen. Sie wäre genau die Richtige, um schlaue Sprüche zu klopfen. Sie hat sich jahrelang heimlich mit einem verheirateten Mann getroffen. Und sie hat sich fest eingebildet, ihre Liebesgeschichte wäre eine ganz besondere und anders als die üblichen Geliebte-Ehemann-Affären.

»Schwierige Beziehung«, sagt Tomke nur vorsichtig. »Du kannst Marit gern mitbringen.« Der Vorschlag ist ehrlich gemeint. Obwohl Tomke lieber mit Britta allein gewesen wäre. Aber Marit ist ihr sympathisch. Tomke hat sich auf einigen Geburtstagsfeiern gut mit ihr unterhalten. Vor allem hat Tomke Respekt vor Marit. Sie hat in jungen Jahren eine große Verantwortung übernommen. Das packt nicht jeder.

»Danke, Tomke, du bist ein Schatz. Ich werde Marit fragen. Warte, sie kommt gerade ins Zimmer.«

Tomke hört Marits aufgebrachte Stimme. »Ich glaube es nicht! Schwester Gudrun sagt, Fenna ist verreist. Angeblich sogar eine Fernreise! Nie im Leben. Ohne sich von mir zu verabschieden. Da stimmt was nicht. Ich fahre sofort in die Klinik und sehe nach dem Rechten.«

»Warte einen Augenblick!«, ruft Britta. Dann leiser zu Tomke: »Hast du gehört?«

»Hab ich.«

»Du, wie Marit drauf ist, lässt sie sich nicht von ihrem Plan abbringen. Aber ich kann sie nicht allein fahren lassen. Die steht komplett neben sich. Die denkt nur noch: Fenna braucht Hilfe. Echt. Obwohl, komisch ist das schon. Eine Fernreise, ohne sich von ihrer Schwester zu verabschieden. Und ohne ihr heißgeliebtes Handy. Tut mir leid wegen unserer Verabredung, Tomke. Ich melde mich später bei dir. Bis dahin.«

Kapitel 3

Fenna, sechs Monate vorher

Ich halte auf dem Parkplatz der Klinik und atme tief durch. Da bin ich nun. ›Klinik Grüne Insel‹. Der Name ist keine wohlklingende Werbehülse, er entspricht der Wahrheit. Jedenfalls dem ersten Augenschein nach. Die weißblitzenden Häuser der Klinik liegen verteilt in einem riesigen gepflegten Park. Sie sind durch verglaste Gänge miteinander verbunden. Das wirkt wie aus einem Film. Eine kleine künstlich angelegte Stadt. Man hat das Gefühl, als würde man eine Hotelanlage betreten und nicht ein Krankenhaus. Die schicke Aufmachung hat mich bei meinem Vorstellungsgespräch total eingeschüchtert.

»Kaffee wird überall mit Wasser gekocht«, hat mich Marga von meiner alten Station in Wilhelmshaven aufgemuntert. Sie hat meinen Wechsel verstanden. »Wenn ich jünger wäre, würde ich auch noch mal was anderes sehen wollen. In der grünen Klinik hast du weniger Stress als in einem Akutkrankenhaus. Du kannst erst einmal durchatmen und dann – wer weiß.«

Marga hat wahrscheinlich recht. Hier kommen keine Notfälle mehr von der Straße. Nur einbestellte Operationen. Knie- und Hüftgelenke. Punktionen. Größtenteils Privatpatienten und von der Berufsgenossenschaft.

»Langweiliger geht nicht. Das ist doch wie Fließbandarbeit. Immer das Gleiche. Und dann Private. Dir ist schon klar, was das bedeutet. Du wirst die Krise kriegen«, hat Britta geunkt.

Britta. Meine beste Freundin. Sie hat es mir fast schwerer gemacht als Marit. Sie hat so getan, als wollte ich nach Amerika auswandern. Bei der Erinnerung an die Szene muss ich lächeln. Die paar Kilometer werden uns nicht auseinanderbringen. Das haben wir uns versprochen.