Halbgötter - Matthias P. Gibert - E-Book

Halbgötter E-Book

Matthias P. Gibert

4,6

Beschreibung

Hauptkommissar Paul Lenz, gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt, wird an den Tatort eines geradezu unfassbaren Verbrechens gerufen. In einem Kasseler Hotel liegen die Leichen von acht toten Männern, allesamt Chefärzte deutscher Herzzentren, die sich wegen eines Kongresses in der Stadt aufgehalten haben. Lenz und sein Kollege Kommissar Thilo Hain stehen vor einem Rätsel. Wer löscht mit einem Mal die Kompetenzen des Landes auf dem Gebiet der Herztransplantation aus?

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Matthias P. Gibert

Halbgötter

Lenz’ 14. Fall

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2015

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ivan kmit –Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4736-5

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1. Kapitel

Hauptkommissar Paul Lenz ließ das linke Bein über die Bettkante gleiten und stemmte den Oberkörper in eine aufrechte Position.

»Oh, je, das sieht aber mal wieder gar nicht gut aus, mein lieber Paul«, kommentierte seine Frau leise von der anderen Bettseite her seine Bewegungen.

Lenz drehte sich langsam und bedächtig nach ihr um. »Ich dachte, du schläfst noch«, gab er ebenso dezent zurück.

»Du weißt doch, dass ich merke, wenn du dich aus dem Bett stehlen willst. Und ich bemerke es umso eher, je mehr du mir verheimlichen willst, dass es dir mal wieder ganz und gar nicht gut geht mit deinem Rücken.«

»Da kann ich dir leider nicht widersprechen, Maria. Heute Morgen fühlt es sich tatsächlich an, als sei ein Güterzug über mich drübergerattert.«

»Und warum bleibst du nicht einfach liegen, machst im Laufe des Vormittags einen Termin beim Arzt, lässt dich mal wieder untersuchen und dann für mindestens zwei Wochen krankschreiben?«

Der Polizist schüttelte den Kopf und lächelte sie dabei sanft an. »Wir wissen doch, was dabei herauskommt, Maria. Solange ich mich nicht operieren lasse, wird das immer wieder schlimmer, aber auch wieder besser. Im Augenblick ist es ziemlich garstig, dafür wird es nächste Woche sicher wieder gehen.«

Die Frau mit den kupferfarbenen Haaren rollte sich auf seine Bettseite, zog ihre Decke hinter sich her und legte ihren Kopf auf seinen Oberschenkel.

»Das kann nicht so weitergehen, Paul, und das weißt du auch. Du wirst auf Dauer sowieso nicht um den Eingriff herumkommen, deshalb denke ich, dass jeder Tag mit Schmerzen ein verlorener Tag ist. Also, was hindert dich daran, zum Arzt zu gehen und dir eine Einweisung ins Krankenhaus zu holen?«

Lenz streckte seinen rechten Arm nach vorn, ließ seine Hand langsam unter ihr dünnes Nachthemd gleiten und streichelte mit der anderen ihren Nacken. Nun jedoch war es Maria, die energisch den Kopf schüttelte.

»Das kannst du total vergessen, mein Lieber, dass du mit einer Runde Morgensex dieser Diskussion aus dem Weg gehst. Das klappt heute schon deshalb nicht, weil ich mir wirklich Sorgen um dich mache.«

Sie löste sich von ihm und setzte sich ebenfalls auf die Bettkante.

»Und auch wenn dir das jetzt vielleicht wie ein Ultimatum vorkommt, oder von mir aus wie eine Drohkulisse, so sage ich dir, dass ich das nicht länger mitmachen möchte.«

Ihre rechte Hand tastete nach seiner und umfasste sie.

»Wir haben ein wirklich geiles Leben, Paul, das ich keinesfalls dadurch aufs Spiel setzen will, indem du dich der dringenden Therapie für deine angegriffenen Bandscheiben entziehst.«

Lenz machte eine kleine Pause, bevor er zu einer Replik ansetzte. »Und was genau sagst du mir mit diesen Worten?«

»Nicht mehr und nicht weniger, als dass wir jetzt und hier eine Vereinbarung treffen, wann du dich unters Messer begibst.«

»Aber Maria, das …«

»Nichts aber Maria, Paul. Ich will nicht irgendwann deinen Rollstuhl durch die Gegend schieben müssen, weil du den Hintern nicht hochbekommen hast.«

Maria sah ihren Mann mit echter Besorgnis an.

»Zu einer recht harmlosen Operation, das sollten wir bei der Gelegenheit nicht unerwähnt lassen.«

»Ich weiß, dass ich mir wegen der Operation nicht wirklich große Sorgen machen muss, aber ein Restrisiko bleibt, und das kannst auch du weder durch salbungsvolle Worte noch durch Drohungen und Ultimaten aus der Welt schaffen.«

»Und was genau willst du mir mit diesen Worten sagen, Paul? Dass du es lieber auf einen Knatsch mit mir ankommen lässt?«

»Nein«, warf er schnell ein, »natürlich will ich keinen Knatsch mir dir. Aber im Moment geht es schon wegen der vielen Arbeit nicht.«

»Das kannst du deiner Großmutter erzählen«, regte sie sich nun wirklich auf. »Wenn du nicht da bist, bist du einfach nicht da, und basta. Der Thilo kriegt das auch mal ein paar Wochen ohne dich hin.«

Lenz hob den Kopf und betrachtete einen imaginären Punkt an der Decke.

»Das sagt sich so leicht, Maria, wenn man die Abläufe und das ganze Prozedere nicht wirklich kennt. Aber wenn man hinter die Kulissen …«

Er brach ab, weil er den zutiefst missbilligenden Blick seiner Frau spürte.

»Ich mein ja nur …«

»Du kannst meinen, was du willst, aber wir werden jetzt und hier eine Vereinbarung treffen, wann du dich operieren lässt. Wir wissen beide, dass es sein muss, und deshalb wird es auch passieren.«

Lenz griff sich an seinen schmerzenden Rücken, atmete tief ein und drückte seiner Frau einen Kuss auf die Wange.

»Du hast recht, Maria. Ich gehe nachher beim Arzt vorbei und hole mir das Papier, was ich fürs Krankenhaus brauche. Das Letzte, was ich will, ist wegen so einer dummen Lappalie Ärger mit dir.«

»Wenn ich deine Versuche, dich davor zu drücken, und deine seit Wochen anhaltenden Schmerzen richtig einordne, sprechen wir ganz und gar nicht von einer Lappalie«, grinste sie.

»Das muss ich leider eingestehen. Aber du weißt, dass ich vor und im OP nicht wirklich der Held bin.«

»Wer ist das schon? Ich zumindest kenne niemanden, der sich um eine Operation reißt, und wenn sie noch so harmlos ist.«

»Na ja, harmlos ist das, was da auf mich zukommt, ja nun wirklich nicht.«

»Nun hör auf zu jammern, solche Sachen macht normalerweise der Klinikpförtner. Also, ich verlass mich darauf, dass du heute Abend mit etwas Greifbarem in der Hand nach Hause kommst, wenn ich dich schon nicht dazu überreden kann, im Bett zu bleiben.«

»So machen wir es«, stimmte der Leiter der Kasseler Mordkommission ein wenig verhalten zu.

»Wie, du willst ins Krankenhaus?«, wiederholte Thilo Hain mit einem Glas Wasser in der Hand knapp zwei Stunden später die Worte seines Chefs. »Was willst du denn an dir machen lassen, das noch etwas bewirken könnte?«

Lenz lachte laut auf. »Die Frage ist wirklich berechtigt, Thilo. Aber ganz im Ernst, ich muss endlich was gegen meine Rückenprobleme unternehmen, sonst verliere ich noch den letzten Rest an Lebensqualität.«

»Wow, ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm ist.«

»Doch, doch, und Ärger zu Hause hat es mir auch schon eingebracht.« Er berichtete seinem Kollegen von der frühmorgendlichen Unterredung mit seiner Frau.

»Also hast du die Einweisung schon in der Tasche?«

»Nein, leider nicht. Bei meinem Hausarzt hängt ein großes Schild an der Tür, dass er leider erkrankt ist, mit dem Verweis auf einen Kollegen, der seine Patienten in der Zwischenzeit übernimmt. Dort bin ich zwar hingegangen, aber nur ganz kurz, weil schon auf der Treppe fast kein Durchkommen mehr war. Also habe ich kurzerhand umgedreht und mich auf den Weg hierher gemacht.«

»Das wird Maria ganz und gar nicht gefallen«, fasste Hain mit empathisch-zerknirschtem Gesichtsausdruck zusammen.

»Ja, davon ist auszugehen.«

»Und wie geht es jetzt weiter? Startest du morgen einen neuen Versuch? Oder gleich heute Nachmittag?«

»Nö, dazu habe ich echt keine Lust. Ich werde Maria offen und ehrlich berichten, wie es gewesen ist. Dann werde ich sehen, ob sie mir den Kopf herunterreißt oder nicht.«

»Ich setze einen Zwanziger auf runterreißen.«

»Arschloch.«

»Ach«, erwiderte Hain grinsend, »das wird alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Auch bei deiner Frau nicht, aber das weißt du doch viel besser als ich. Und wenn du glaubst, dass nur du heute schon Mist erlebt hast, muss ich dich leider enttäuschen, ich war nämlich eine Dreiviertelstunde später als geplant hier.«

»Woran lag’s?«

»Rund um die Stadthalle war alles gesperrt, weil sich ein paar Schlipsträger aus Wiesbaden die Ehre gaben. Warum, kann ich dir nicht sagen, aber es war ein Monsterauflauf.«

»Das liegt vermutlich an dem Ärztekongress, der dort stattfindet.«

»Ein Ärztekongress? Hier in Kassel?«

»Ja, Maria hat mir davon erzählt. Sie hat es von einer Freundin, deren Mann daran teilnimmt.«

»Und wie lang dauert das Ganze?«

»Keine Ahnung. Aber die Herren Mediziner sind ja nicht ewig abkömmlich, oder?«

»Nein, das wäre undenkbar.«

»Und das alles dann noch bei dieser Hitze, das grenzt ja schon an Quälerei. Haben die in der Stadthalle überhaupt eine Klimaanlage?«

»Was weiß ich?«, erwiderte Hain und zuckte dabei mit den Schultern. »Ich bin jedenfalls froh, dass mein kleiner Japaner eine hat. Offen zu fahren, kommt im Augenblick nur ganz früh morgens oder spät nachts infrage. Ansonsten ist es, als würdest du von einem überdimensionierten Fön in die Mangel genommen werden.«

Der junge Oberkommissar und sein Boss sprachen von der massivsten Hitzewelle seit mehr als 40 Jahren, die ganz Mitteleuropa in einen Brutofen verwandelt hatte und die dafür sorgte, dass die meisten Menschen während des Tages ihre Häuser nicht verließen. Insgesamt hatte es schon mehr als 600 Tote gegeben, davon allein 170 in Deutschland.

Auch Lenz und Hain hatten in den letzten beiden Wochen darauf geachtet, sich primär im Präsidium aufzuhalten, wo es zwar keine Klimaanlage gab, die Situation aber wegen der Bauweise des Gebäudes recht angenehm war.

Den Rest des Tages verbrachten die beiden mit viel trinken, wenig essen und dem unvermeidlichen Schreibkram, der zu jedem Kriminalfall gehörte und der, speziell beim Leiter der Kasseler Mordkommission und seinem engsten Mitarbeiter, meist viel zu lang unerledigt blieb.

2. Kapitel

»Hallo, mein Lieber«, wurde der Hauptkommissar abends von seiner Frau begrüßt, die, bekleidet mit kurzer Hose und Bikinioberteil, mit einem Buch in den Händen in der Hängematte lag. Lenz betrat die Terrasse, ging auf sie zu und küsste sie sanft auf den Mund.

»Hallo, Maria. Wie war dein Tag?«

Sie klappte ihre Lektüre zu, legte sie auf den kleinen Tisch neben sich und griff nach seiner Hand.

»Entspannt. Sehr entspannt. Und bei dir? Wann darf ich dich im Hospital besuchen und dir das Aufwachen aus der Narkose versüßen?«

Der Polizist kratzte sich hörbar am Kinn. »Ich weiß, das klingt jetzt erst mal wie eine Ausrede, Maria, aber die Praxis macht Urlaub. Ich war sogar bei der Vertretung, doch da war es so voll, als würde Kassel von einer schrecklichen Epidemie heimgesucht werden. Da hätte ich garantiert den ganzen Vormittag im Wartezimmer gesessen, und das wollte ich mir dann doch nicht antun, nicht bei dieser Hitze.«

Maria hob den Kopf und blickte ihrem Mann tief in die Augen. »Ich hab heute Mittag im Radio gehört, dass wegen der ungewöhnlichen Temperaturen die Arztpraxen unter dem Patientenaufkommen stöhnen, deshalb will ich für heute Gnade vor Recht ergehen lassen; aber sobald die Praxis wieder geöffnet ist, will ich Vollzug von dir gemeldet bekommen. Einverstanden?«

Lenz atmete erleichtert aus. »Vielen Dank, euer Ehren.«

»War das ein Ja?«

»Natürlich, klar.«

Nach einem Salat, den ein noch immer zutiefst dankbarer Lenz seiner Frau und sich zubereitet hatte, zogen sich die beiden wieder in die Komfortzone der Terrasse zurück. Maria las weiter in ihrem Buch, während der Kommissar mit zum stahlblauen Himmel gerichtetem Blick seinen Gedanken nachhing.

»Was denkst du?«, wollte sie nach ein paar Minuten des Schweigens wissen, ohne den Blick von den Seiten zu heben.

»Och, nichts Besonderes. Ich habe nur so im Kopf herumgesponnen, wie es wäre, wenn ich wirklich den Dienst quittieren würde.«

Maria ließ das Buch auf die Brust sinken und sah ihn überrascht an. »Ist nicht dein Ernst!«

»Na ja, so ganz richtig und voll entschlossen nicht, aber eine Überlegung wert ist es halt schon.«

»Das glaube ich nicht«, jubelte sie trotzdem auf. »Da liege ich dir jetzt schon so lange damit in den Ohren, dass du diesen Job wirklich nicht mehr unbedingt machen musst, und plötzlich, nach all den Zurückweisungen von dir, kommt so was. Wenn das mal keine Überraschung ist.«

»Warte, warte, Maria, ich habe nicht gesagt, dass ich morgen oder nächste Woche kündige. Ich habe nur – auf deine Frage hin – laut darüber nachgedacht, ob ich wirklich bis zum Erreichen der Pensionsgrenze dabeibleiben will.«

Maria warf das Buch auf den Boden, kämpfte sich aus der Hängematte und ließ sich neben ihrem Mann nieder. »Das habe ich doch auch gar nicht so verstanden, Paul. Aber allein, dass du laut darüber nachdenkst, macht mich schon ziemlich glücklich.«

Sie kraulte seine Brusthaare und sah ihn dabei wie ein pubertierendes Schulmädchen an.

»Du weißt, dass wir, sagen wir mal, ziemlich wohlhabend sind, Paul, das muss ich dir nicht jedes Mal unter die Nase reiben. Und auch wenn das Zinsniveau so dramatisch niedrig bleiben sollte, werfen unsere Investitionen und Rücklagen genug ab, um damit bis zu unserem Lebensende gut versorgt zu sein.«

»Ja, ich weiß, Maria, dass du auf einem netten Kohleberg sitzt, a…«

»Stopp!«, rief sie laut. »Wenn du jetzt wieder mit mein und dein kommst, springe ich wirklich über die Brüstung. Hör bitte auf damit, wie du es mir schon mindestens hundertmal versprochen haben dürftest.«

»Stimmt, das war blöd von mir«, gab er sich kleinlaut. »Aber ich mag nun mal meinen Job, auch wenn ich manchmal so laut über ihn fluche, dass man, oder besser du, es kaum aushältst.«

»Das stimmt, manchmal ist es tatsächlich kaum auszuhalten.«

Sie wandte sich von ihm ab und sah nun ebenfalls in den Himmel. »Aber vielleicht funktionieren wir als Paar ja auch nur so gut, weil du ihn hast, diesen Job. Vielleicht gibt es uns ein halbes Jahr nach deinem Ausscheiden bei der Polizei gar nicht mehr.«

Lenz drehte sich um und legte die Stirn in Falten. »Jetzt mach mir bloß keine Angst, Maria. Ich arbeite lieber freiwillig, bis ich 80 bin, als mir diesen schrecklichen Gedanken auszumalen.«

Sie zog ihn zu sich heran, schlang ihre Arme um seinen Hals und küsste sanft seine Wangen. »Nein, das war doch nur so eine Spinnerei. Wir kommen auch noch miteinander aus, wenn du jeden Tag hier rumhängen solltest. Außerdem will ich selbst ja auch nicht komplett aus der Galerie aussteigen, dafür macht es mir deutlich zu viel Spaß.«

»Siehst du! Ich soll meine Arbeit an den Nagel hängen, aber du willst mit deiner weitermachen.«

Ihre Hand fuhr über seinen schweißnassen Rücken.

»Die Diskussion wird mir jetzt zu viel, Paul. Was würdest du davon halten, wenn wir gemeinsam duschen und uns danach ins klimatisierte Schlafzimmer zurückziehen?«

»Sex zum Stressabbau?«

»Wird im Tierreich gern genommen.«

Er tat, als würde er überlegen. »Lieber würde ich mit dir an einen Badesee fahren und es danach …«

Maria wartete einen Moment, ob er seinen Satz selbst beenden würde, was jedoch nicht geschah.

»Ja …?«, fragte sie schließlich scheinheilig. »Kommt da noch was?«

»Du weißt doch genau, was ich meine.«

»Klar weiß ich das, aber du könntest es mir auch sagen.«

»Wenn du es weißt, warum muss ich es dann noch aussprechen?«

»Weil ich es hören will. Denk dir einfach, dass ich es geil finde, es gesagt zu bekommen.«

»Ach, Maria.«

»Nichts, ach, Maria. Sag, was du willst, dann kriegst du es auch. Vielleicht«, schob sie schnell hinterher.

»Ich weiß, dass du es geil findest. Und du weißt genauso gut, dass ich nicht der große Verbalerotiker bin. Also lass uns unsere Sachen packen und an den See fahren, der Rest kommt dann von ganz allein.«

Sie schüttelte lasziv den Kopf. »Nee, heute nicht.«

Der Kommissar holte tief Luft. »IchwillmitdirandenSeeunddanachimAutoLiebemachen«, platzte es kaum verständlich aus ihm heraus.

»Na, geht doch«, lachte Maria, schwang sich in die Vertikale und zog ihren Mann mit hoch. »Dann aber ohne Verzögerung, ich bin nämlich schon ziemlich …«

»Nein, sag es nicht«, fuhr Lenz dazwischen. »Das will ich nicht hören, sondern gleich selbst spüren.«

Gegen 23:15 standen sie, giggelnd wie Schulkinder, im Fahrstuhl zu ihrer Wohnung.

»Danke für diesen schönen Ausflug«, hauchte sie in sein rechtes Ohr, in dem noch immer das Wasser des Badesees gluckerte.

»Gern geschehen, und mit Dank zurück.« Sie fuhr ihm mit der Hand zwischen die Beine. »Alles gut hier?«

»Könnte nicht besser sein.«

Der Lift stoppte, und beide pressten sich durch die Türen und auf die Wohnung zu.

»Erster«, keuchte Maria.

»Das hatten wir heute schon mal«, erwiderte Lenz prustend.

Mit dem Aufschieben der Wohnungstür setzte das Läuten des Telefons irgendwo aus dem Wohnzimmer ein.

»Oh, nein«, murmelte Maria mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. »Um diese Zeit hatte das noch nie etwas Gutes zu bedeuten.«

»Das sehe ich leider genauso«, brummte der Polizist, trat in den großen Raum, nahm den Hörer in die Hand und drückte auf den grünlich schimmernden Knopf. »Ja, Lenz.«

»Hallo, Paul, hier ist Lemmi.«

»Hallo, Lemmi. Meine Frau hat gerade bemerkt, dass um diese Zeit das Klingeln des Telefons noch nie etwas Gutes bedeutet hat.«

»Wie ich immer sage, Paul, diese Frauen sind wirklich kluge Geschöpfe. Und diesmal ist es was ganz besonders Ungutes«, gab der Kollege vom Kriminaldauerdienst mit belegter Stimme zurück. »Wir haben hier so was wie die vermutlich größte anzunehmende Sauerei.«

»Geht das etwas präziser?«

Es entstand eine kurze Pause.

»Richte dich auf acht Tote ein.«

»Acht? Hab ich dich richtig verstanden, du redest von acht Toten?«

»Ja, leider.«

»Wo bist du?«

»Im Hotel La Bohème, in der …«

»Ja, ich weiß, wo das ist, Lemmi. Ich bin in zehn Minuten bei dir. Hast du Thilo verständigt?«

»Der müsste schon bei dir vor der Tür stehen, wenn ich …« Der Mann vom KDD stoppte, weil er durch das Telefon Hains Läuten an der Haustür hörte. »Dann bis gleich«, fuhr er kurz fort und beendete direkt im Anschluss wortlos das Gespräch.

»Verdammt«, murmelte der Hauptkommissar.

»Ja, er kommt sicher gleich runter«, hörte Paul Maria an der Sprechanlage sagen.

»Sag ihm, es dauert eine Minute, ich will mir wenigstens eine lange Hose anziehen.«

Sie lauschte einen Moment, wünschte Thilo Hain eine gute Nacht und hängte den Hörer auf.

»Er hat mitgehört und sagt, dass er im Wagen wartet.«

Maria folgte ihrem Mann ins Ankleidezimmer, wo Lenz sich aus der kurzen Hose schälte und in eine Jeans stieg.

»Was ist passiert?«

»Das weiß ich natürlich noch nicht genau, aber Lemmi sprach von acht Toten.«

»Ein Unfall?«

»Ich weiß es wirklich nicht, Maria. Und ich würde jetzt so gern mit dir ins Bett gehen und mit dir im Arm einschlafen, das kannst du dir gar nicht vorstellen.«

»Doch, ich versichere dir, dass ich das kann, und du weißt, dass ich mir das Gleiche wünsche. Aber wie die Dinge liegen, werde ich ein paar Stunden auf dich warten müssen.«

»Ja, das steht zu befürchten, meine Liebe.«

Als der Polizist im Fahrstuhl auf dem Weg nach unten war, verglich er seine aktuelle Gefühlswelt mit der ein paar Minuten zuvor und schüttelte den Kopf. »Verdammt«, murmelte er erneut, riss zwei Schmerztabletten aus ihrer Verpackung, schob sie in seinen Mund, kaute ein Stockwerk lang auf dem leicht bitter schmeckenden Zeug herum und schluckte es anschließend hinunter.

Thilo Hain erwartete ihn im offenen Mazda, bekleidet mit einer leichten Baumwollhose und einem weit sitzenden Poloshirt.

»So schnell sieht man sich wieder«, begrüßte er seinen Chef.

»Ja, so schnell kann’s gehen. Weißt du schon irgendwas?«

»Vermutlich nicht mehr als du. Ich hatte den Eindruck, dass Lemmi irgendwie unter Schock stand.«

»Geht mir genauso. Normal ist er deutlich gesprächiger.«

Der Oberkommissar startete den Motor, legte den ersten Gang ein und nahm Kurs auf die Südstadt.

»Was macht der Rücken?«

»Geht so. Hab gerade zwei Schmerzkiller eingeworfen.«

»Hmm«, brummte Hain. »Lagst du schon im Bett?«, wollte er nach ein paar Sekunden wissen, während sie den Bahnhof Wilhelmshöhe passierten.

»Nein, wir waren am Badesee und gerade durch die Tür gekommen, als das Telefon geklingelt hat.«

»Welcher Badesee?«

»Am Bühl.« Der Leiter der Kasseler Mordkommission sprach von dem kleinen, im nahen Ahnatal gelegenen Natursee, wo er und Maria sich abends gern eine Erfrischung gönnten.

»Schön.«

Weit weniger schön gestalteten sich die letzten 200 Meter der Anfahrt zum Hotel, denn offenbar war jeder Streifenpolizist des Präsidiums Nordhessen damit beschäftigt, den Verkehr weiträumig umzuleiten. Hain musste insgesamt sechs Mal seinen Dienstausweis in die Höhe halten, erst dann konnte er den kleinen Japaner vor dem klobigen Zweckbau abstellen.

Direkt hinter ihnen kam der silberne SUV von Dr. Franz zum Stehen. Der Rechtsmediziner stieg aus, griff sich seinen großen Lederkoffer von der Rückbank und kam auf die beiden Kommissare zu, die auf ihn gewartet hatten.

»Guten Abend, die Herren.«

»’n Abend, Doc«, erwiderte Hain freundlich, während Lenz mit ernstem Gesichtsausdruck nickte.

»Wie ich höre, gibt es reichlich Arbeit«, fuhr der Mann mit dem Koffer fort.

»Das habe ich auch so vers…« Lenz brach ab, weil sich Jürgen Lehmann auf sie zuschob.

»Lasst mich bitte nicht unnötig warten, Leute«, bat er mit feuchter Stirn. »Hier ist die Kacke nämlich mächtig am Dampfen, und ich habe keine Ahnung, wie diese verdammte Nacht ausgehen wird.« Er drehte sich um und ging wieder auf den hell erleuchteten Eingang des Hotels zu, vor dem ein halbes Dutzend Streifenpolizisten standen. Die beiden Kommissare und der Gerichtsmediziner folgten ihm.

»Ich bin ja nur froh, dass unsere Freunde von den Medien bisher nicht hier eingefallen sind, das hätte mir gerade noch gefehlt«, stellte er nervös fest, nachdem er schräg gegenüber der Rezeption seine Schritte ein wenig verlangsamt hatte.

»Nun bleib doch mal stehen, Lemmi«, bat Lenz, »und erklär uns mal, was hier eigentlich los ist.«

Lehmann stoppte, drehte sich erneut um, holte tief Luft und wies mit dem rechten Arm auf einen Gang am Ende der großen Halle.

»Dort hinten, in einem Seminarraum mit dem schönen Namen Nabucco, liegen die Leichen von acht Männern. Wie es sich im Moment darstellt, handelt es sich bei ihnen um die Crème de la Crème der deutschen Herzspezialisten.«

»Herzspezialisten?«, echoten Lenz und Dr. Franz wie aus einem Mund irritiert.

»Ja, Herzspezialisten. Das sagt zumindest die Mitarbeiterin des Hotels, die für die Seminarraumplanung zuständig ist.«

»Ist die Spurensicherung schon da?«

»Ja, die waren diesmal ziemlich schnell.«

»Dann lass uns mal rübergehen.«

Auf dem Gang zum Seminarraum standen mehrere Hotelmitarbeiter, die meisten mit gesenktem Kopf und in den Hosentaschen vergrabenen Händen. Etwa fünf Meter vor der Tür zum vermeintlichen Tatort hinderten ein Absperrgurt und zwei Uniformierte Unbefugte am Weitergehen.

Lenz schob den linken Ständer zur Seite, nickte den Kollegen zu und betrat den etwa 16 Quadratmeter großen Raum. Er erblickte eine in U-Form stehende Tischgruppe, auf der sich Wasserflaschen und Gläser befanden. Über dem ganzen schwebte ein Beamer, der offenbar jedoch nicht im Einsatz gewesen war, und an der Wand hing die dazugehörige Leinwand. Um den Tisch verteilt waren acht Stühle. Auf sechs von ihnen saßen Männer in weißen Hemden. Ihre Oberkörper waren auf die Tischplatte gesunken. Scheinbar schliefen sie. Zwei weitere Stühle waren zurückgeschoben und leer. Daneben lag jeweils ein weiterer lebloser Mann. Vier der Gesichter waren dem Kommissar zugewandt und keines davon machte auch nur im Geringsten einen angestrengten oder verzerrten Eindruck.

Ganz im Gegenteil, dachte der Hauptkommissar, die sehen alle irgendwie glücklich und zufrieden aus.

Was nicht zum Rest des Bildes passen wollte, war die Farbe der Gesichter. Doch bevor Lenz dazu etwas einfallen konnte, meldete sich Dr. Franz von hinten. »Alle Mann raus aus dem Raum und zwar sofort0 und ohne jegliche Diskussion«, rief er, während seine linke Hand in die abgestellte Tasche fuhr.

Die Männer der Spurensicherung, die gerade dabei waren, in ihre Tyvekanzüge zu steigen, sahen sich gegenseitig und danach den Gerichtsmediziner fragend an.

»Warum …?«

»Bitte verlassen Sie auf der Stelle diesen Raum«, schrie Dr. Franz nun, und es hatte ernsthaft den Anschein, als würde er im nächsten Augenblick handgreiflich werden. »Bitte, sofort!«

Mittlerweile hielt er ein elektrisches Gerät in seiner Hand, etwa so groß wie eine Zigarettenschachtel. Während die drei Männer das Zimmer verließen, holte tief Luft und trat nach vorn. Als er bei den Tischen angekommen war, drückte er einen Knopf auf dem Gerät, wartete ein paar Sekunden und ging zurück in den Flur.

»Habe ich es mir doch gedacht«, stieß er triumphierend aus, sprang zurück in das Seminarzimmer und riss sämtliche Fenster auf. Danach warf er die Tür von außen zu. »Wir alle haben jetzt ein paar Sekunden Pause.«

»Warum das denn?«, wollte Thilo Hain mit deutlich vernehmbaren Unverständnis wissen.

»Weil die Kohlenmonoxydkonzentration da drinnen so hoch ist, dass es vermutlich jedem, der sich länger als ein, zwei Minuten in dem Raum aufhält, genauso ergeht wie den armen Teufeln, die da über und unter den Tischen kauern.«

Er hob den Arm, blickte auf seine Uhr und stürmte ohne jegliche Vorwarnung zurück in das Zimmer.

»Sie alle bleiben, wo Sie sind«, rief er noch, bevor er mit einem lauten Knall die Tür hinter sich ins Schloss zog. Es dauerte etwa eine halbe Minute, bis er wieder auftauchte.

»So, jetzt sollten wir alle unter halbwegs vernünftigen Bedingungen arbeiten können, meine Herren«, schnaufte er, ließ das Messgerät zurück in die Tasche gleiten und sah in die Runde der irritiert dreinblickenden Männer.

»Wie Sie sich vermutlich schon gedacht haben«, deutete er mit enervierendem Dozentenunterton und erhobenem Zeigefinger an, »haben wir es hier mit einer Kohlenmonoxydsache zu tun, meine Herren. Die ist für die Männer da drinnen nicht gut ausgegangen.«

»Sie meinen«, unterbrach Lenz den Arzt, »dass alle acht durch Kohlenmonoxyd zu Tode gekommen sind?«

Dr. Franz streifte sich ein paar Einweghandschuhe über, während er den Leiter der Mordkommission unter Zuhilfenahme eines missbilligenden Blicks und leichten Kopfschüttelns maßregelte. »Ob sie alle tot sind, müssen wir jetzt erst einmal herausfinden, Herr Kommissar. Wobei wir jedoch schon hoffen sollten, dass es so ist. Sollte einer der sich im Raum Befindlichen noch atmen und er die unvermeidlichen Wiederbelebungsversuche auch noch überleben, dürfte der Rest seiner Verweildauer auf diesem Planeten nicht in die Rubrik angenehm fallen.« Damit drehte er sich erneut um, öffnete die Tür und wandte sich, ohne auch nur eine Zehntelsekunde zu verlieren, dem ersten Opfer zu.

»Kohlenmonoxyd …«, murmelte Thilo Hain, während die Männer der Spurensicherung wieder nach ihren Tyvekanzügen griffen.

Lenz schlüpfte in ein paar blaue Füßlinge, zog ebenfalls Einweghandschuhe über und betrat den Seminarraum, in dem, trotz der offenen Fenster, die Luft stand und es wie in einer öffentlichen Toilette stank.

»Wartet bitte, bevor ihr mit eurer Arbeit beginnt«, wies er die Kollegen der Spurensicherung an. »Ich will mir erst mal ein Bild machen.« Damit zog er die Tür hinter sich zu und ließ die Situation in dem Raum auf sich wirken. Dabei atmete er vorsichtig ein und aus, wurde sich dann jedoch der Tatsache bewusst, dass Kohlenmonoxyd weder zu riechen noch zu schmecken ist.

»Was hat Sie so schnell so sicher gemacht, dass diese Männer an einer … die Opfer einer Kohlenmonoxydvergiftung geworden sind?«, wollte er von Dr. Franz wissen, während er sich weiterhin im Raum umsah.

»Die Gesichtsfarbe«, gab der ohne nachzudenken zurück. »Und der Gestank hier im Raum. Ich wette, dass jeder dieser Männer seinen Darm und seine Blase entleert hat, sofern er denn wirklich tot ist.«

Der Rechtsmediziner legte dem Zweiten in seiner Runde den Zeigefinger und den Mittelfinger der rechten Hand an den Hals, wartete einen Moment und schüttelte den Kopf.

»Die CO-Konzentration hier im Raum war während meiner Messung so abenteuerlich hoch, dass es nach menschlichem Ermessen unmöglich ist, dass sie von einem der Anwesenden überlebt werden konnte«, fuhr er fort.

»Und es reicht wirklich, dass wir die Fenster geöffnet halten, um der Gefahr aus dem Weg zu gehen?«, wollte der leicht verunsicherte Lenz wissen.

»Ja, das reicht auf jeden Fall. Allerdings würde ich vorschlagen, dass sie und Ihre Kollegen sich stante pede daran machen, die Herkunft der Kontamination zu suchen, die sich ja nun offensichtlich nicht hier im Raum befindet. Nicht, dass es sich um etwas handelt, das noch immer aktiv ist.«

Der Hauptkommissar gab sich ernsthaft Mühe, den Worten des Rechtsmediziners zu folgen, doch es wollte ihm nicht wirklich gelingen.

»Sie meinen«, fragte Thilo Hain stattdessen, der ein paar Sekunden zuvor den Raum betreten hatte, »dass hier immer noch irgendwo Kohlenmonoxyd ausströmen könnte?«

»Das ist durchaus denkbar, Herr Hain«, gab Franz freundlich nickend zurück, während er sich mit einem weiteren Opfer beschäftigte. Auch hier allerdings war seine Reaktion eindeutig. »Sie können gern mein Messgerät benutzen«, bot er den Polizisten an. »Damit sollte es Ihnen leichter fallen, die Quelle zu entdecken, falls es sie noch gibt.«

Er ging zu seinem Koffer, holte das CO-Messgerät heraus, schaltete es ein und reichte es dem Hauptkommissar.

»Sie führen am besten alle 15 Sekunden eine Messung durch. Damit sollten Sie feststellen können, aus welcher Richtung der Wind weht, wenn er denn wehen sollte.«

Hains Arm wies auf mehrere Lüftungsgitter am hinteren Ende der Wand. »Dann sollten wir am besten dort drüben anfangen.«

»Das wäre auch mein Vorschlag gewesen.«

Lenz nickte abwesend, weil sein Blick auf den Männern haftete, die über die Tische gebeugt da saßen, und wieder fiel ihm auf, dass keiner von ihnen auch nur im Geringsten angestrengt aussah. Es schien, als seien sie einfach nach vorn gesackt und eingeschlafen.

»Der Kohlenmonoxydtod wird ja immer als eher angenehm beschrieben, Doc«, wandte er sich an den Rechtsmediziner. »Wenn ich die Lage hier betrachte, sollte das wirklich zutreffen.«

»Hatten Sie noch nie einen solchen Fall?«

»Soweit ich mich erinnere, nicht.«

»Das ist überraschend. Immerhin gibt es in Deutschland Jahr für Jahr einige Hundert Todesfälle wegen Kohlenstoffmonoxydvergiftungen, wie es wissenschaftlich präzise heißt.«

Er folgte dem Blick des Polizisten.

»Aber Sie haben es richtig gedeutet, sie sehen alle sehr friedlich und irgendwie entrückt aus. Das hängt damit zusammen, dass man das Ersticken, um das es sich zweifellos handelt, nicht als Ersticken wahrnimmt. Zuerst wird einem ein wenig schwindlig, gefolgt von im weiteren Verlauf bleierner Müdigkeit, und schließlich wird man bewusstlos. Danach dauert es keine zehn Minuten und die Messe ist gelesen.« Er räusperte sich. »Will sagen, der Tod tritt ein. Manchmal«, fuhr der Mediziner mit Blick auf einen der Toten fort, »findet man, wie bei ihm, ein wenig Schaum vor dem Mund, doch das ist nicht grundsätzlich der Fall. Was man hingegen immer vorfindet, und was absolut charakteristisch ist für diese Art des Todes, und das dürfte auch Ihnen bereits aufgefallen sein, ist die hellrote Hautfarbe, aus der sich im weiteren Verlauf dann auch hellrote Leichenflecken entwickeln werden.«

»Kann ich schon mal mit den Messungen anfangen?«, wollte Thilo Hain mit einem Griff nach dem Messgerät in der Hand seines Bosses wissen. »Ich würde mich nämlich bedeutend wohler fühlen, wenn ich wüsste, dass die bleierne Müdigkeit, die sich seit meiner Ankunft hier in meinem Kopf ausbreitet, von der fortgeschrittenen Uhrzeit herrührt und nicht von etwas Unangenehmerem.«

»Ja, klar, wir fangen an, Thilo«, erwiderte Lenz und reichte seinem Kollegen das kleine Gerät.

»Wir können unseren Diskurs über den süßen Tod durch Kohlenmonoxyd gern zu einem anderen Zeitpunkt fortsetzen, Herr Kommissar«, gab ihm Dr. Franz mit auf den Weg zu den Lüftungsgittern.

Lenz nickte abwesend. »Hoffentlich weißt du, wie das Ding funktioniert«, murmelte er Hain zu, der grinsend zur Seite blickte.

»Logo, es gibt ja nur ein paar Knöpfe und mit denen werde ich schon fertig.«

Der Oberkommissar drückte auf einen davon, hob den Arm und hielt ihn ein paar Sekunden in dieser Position. Dann ließ er ihn wieder fallen, drückte auf einen anderen und las vom Display ab. »He, Doc, hier haben wir einen Wert von 126. Ist das viel?«

»Eigentlich schon«, antwortete der Rechtsmediziner, »aber vorhin, als ich allein im Raum war und bevor ich die Fenster geöffnet hatte, habe ich 18.000 ppm gemessen. Das ist wirklich viel.«

Lenz und Hain schoben sich zur Seite und stellten sich mit dem Messgerät vor einem weiteren Lüftungsschacht auf. Hier ergab die Messung einen Wert von 486 ppm.

»Das ist durchaus bedenklich und wäre, wenn wir nicht die Fenster geöffnet hätten, ein Grund, den Raum sofort zu verlassen«, beschied ihnen der Arzt, der nun seine Runde um die acht Männer beendet hatte.

Die beiden Kommissare machten noch sechs weitere Messungen, doch keiner der Werte erreichte auch nur im Ansatz die Höhe der zweiten.

»Dann wissen wir zumindest jetzt, dass von hier das Kohlenmonoxyd einströmt«, fasste Lenz zusammen, »und können uns daran machen, nach der offenbar wirklich noch aktiven Quelle zu suchen.«

»Am besten wir reißen erst mal das Gitter hier aus der Wand raus«, schlug der Oberkommissar vor, »und sehen nach, was sich dahinter verbirgt.«

»Vielleicht wäre es auch damit getan, die Schrauben zu lösen, Thilo?«

»Ja, das meine ich doch.«

»Bevor wir damit anfangen, müssen wir die Jungs von der Spurensicherung ihren Job machen lassen, sonst reden die nie wieder ein Wort mit uns.«

Er wandte sich erneut an den Mediziner.

»Das ist doch kein Problem, oder, Herr Doktor?«

»Solang die Fenster offen sind, geht das gut. Und ich bin ja vor Ort, um zu verhindern, dass sie geschlossen werden.« Der Rechtsmediziner sah die beiden Polizisten trübselig an. »Es ist übrigens, wie ich es mir gedacht habe. Keiner der Männer hatte auch nur den Hauch einer Chance, die Sache zu überleben.«

3. Kapitel

Etwa 15 Minuten später saß Lenz in der Lobby einer der Frauen gegenüber, die für die Seminarbetreuung im Hotel zuständig waren. Rund um ihn und seine Gesprächspartnerin herrschte reges Treiben. Immer wieder gelang es jemandem mit einer Kamera oder einem Mobiltelefon ins Innere der Hotelanlage vorzudringen. Der Hauptkommissar trug einem der Streifenpolizisten auf, sich persönlich darum zu kümmern, dass niemand Unbefugtes die Halle betreten würde, und wandte sich danach wieder Hanna Winkler zu.

»Ich weiß, es ist bestimmt sehr schwer für Sie, aber ich brauche alle Informationen über die Männer, die an der Veranstaltung im Raum Nabucco teilgenommen haben«, forderte Lenz so mitfühlend wie möglich von der jungen Frau, die ihm weinend gegenübersaß. »Alles, was Sie haben, Namen, Anreisedatum, Geburtsdatum, Adresse. Geht das?«

Sie nickte. »Es ist so furchtbar«, platzte es aus ihr heraus. »Vor drei Stunden haben sie noch beim Abendessen zusammengesessen und jetzt sind sie alle tot. Ich verstehe das nicht.«

»Frau Winkler, so leid es mir tut, aber Sie müssen mir jetzt wirklich helfen. Ich kann mir gut vorstellen, dass das alles für Sie sehr schwer zu verstehen ist, aber wir beide können die Sache nicht ändern. Also gehen Sie jetzt bitte und tragen die Informationen zusammen, um die ich Sie gebeten habe.«

Die etwa 23-jährige Seminarkoordinatorin des Hotels rang sichtbar um Fassung, stand auf und machte sich auf den Weg. Der Hauptkommissar sprang ebenfalls aus seinem Stuhl, griff nach seinem Telefon und wählte.

»Wie läuft es bei dir, Thilo?«

»Ich wollte dich auch gerade anrufen, wir haben nämlich was gefunden«, antwortete der junge Oberkommissar. »Und das wirst du vermutlich nicht glauben.«

»Mach’s nicht so spannend. Wo bist du?«

»Das findest du nie, Paul. Ich schicke dir den Haustechniker, mit dem ich unterwegs bin, der holt dich ab.«

»Gut, ich bin in der Nähe der Rezeption.«

Während er auf den Mitarbeiter des Hotels wartete, tauchte aus einem der Speisesäle ein bekanntes Gesicht auf.

»Hoho, der Herr Peters«, wurde der Mann von Lenz, der mit schnellen Schritten auf ihn zugegangen war, alles andere als freundlich begrüßt. »Zufällig Gast im Hotel?«

»Nein, wieso?«, fragte der Mitarbeiter der Lokalpostille zurück.

»Weil Sie aus einer ungewöhnlichen Richtung kommen.« Der Polizist wies auf den Haupteingang. »Normale Menschen kommen da lang.«

»Tja, das ist bei mir halt ein wenig anders«, erwiderte der Journalist kühl.

»Dann haben Sie doch sicher nichts dagegen«, beschied Lenz dem Mann mit ebenso eiskalter Mimik, »wenn ich Sie jetzt zu meinen Kollegen am Haupteingang bringe. Dort können Sie warten, bis wir Ihnen und den anderen Medienvertretern etwas zu berichten haben, was im Augenblick leider noch nicht der Fall ist.«

»Das ist eindeutig Behinderung der Pressearbeit«, protestierte Peters lauter als notwendig, was den Leiter der Mordkommission jedoch nicht daran hinderte, ihn höchstpersönlich bei dem Kollegen der Schutzpolizei abzuliefern, mit dem er kurz zuvor gesprochen hatte.

»Herr Peters hat es irgendwie geschafft, ins Gebäude zu kommen, was mir sehr missfällt. Sorgen Sie bitte dafür, dass er nicht wieder hineinkommt, und schauen Sie weiterhin, dass an allen Zugängen zum Hotel ein Kollege steht, der darauf achtet, dass sich nicht ein übermütiger Mitarbeiter ein paar Hunderter dadurch verdient, dass er das Zutrittsverbot etwas großzügiger auslegt.«

Damit wandte er sich ab und ging zurück in die Halle, wo direkt neben der Rezeption ein Mann im dunklen Trainingsanzug stand, der offensichtlich etwas suchte.

»Sie warten sicher auf mich«, sprach Lenz ihn an.

»Wenn Sie der Kollege von dem Polizisten sind, mit dem ich die Lüftungsanlage inspiziert habe, dann will ich Ihnen nicht widersprechen.«

»Der bin ich.«

»Dann kommen Sie bitte. Und machen Sie sich darauf gefasst, dass Sie ziemlich dreckig werden.«

Was der Mann mit ziemlich dreckig meinte, wusste Lenz keine drei Minuten später. Die beiden waren mit dem Fahrstuhl ein Stockwerk tiefer gefahren, hatten mehrere Vorratskeller und die Heizungsräume hinter sich gebracht und waren schließlich an einer Tür zum Stehen gekommen, auf der groß Zutritt strengstens verboten zu lesen war. Dahinter verbarg sich die Klima- und Lüftungsanlage mit der dazugehörigen Steuerungseinheit. An den Wänden und über ihren Köpfen wanden sich silbrig schimmernde Rohre in allen Durchmessern.

»Vermutlich macht das alles hier normalerweise einen Höllenlärm?«, kommentierte Lenz die geradezu unheimliche Stille.

»Ach, so schlimm ist das gar nicht«, entgegnete der Haustechniker, der sich als Marc Hollstein vorgestellt hatte.

»Wir haben vor zwei Jahren eine komplett neue Anlage gekriegt, und die ist wirklich technisch auf dem neuesten Stand. Die alte war wirklich laut, aber die hier ist – natürlich relativ – leise.« Er wies auf einen schmalen, unbeleuchteten Gang, der von der langen Wand des etwa 30 Quadratmeter großen Raums abging. »Da müssen wir rein.«

Der Hauptkommissar folgte Hollstein, der nach etwa zehn Metern stehen blieb und die Taschenlampe in seiner Hand nach oben richtete.

»Jetzt müssen wir die Leiter hier rauf, über die Wand, und dann haben wir es auch schon fast geschafft. Und wundern Sie sich nicht über die Hitze, für die gibt es einen wirklich guten Grund.«

Über die Wand bedeutete einen Kriechweg von etwa drei Metern, und während Lenz sich fragte, ob seine Hose jemals wieder ihre alte Farbe annehmen würde, klatschten die ersten Schweißtropfen auf den zentimeterhohen Staub, auf dem sie sich bewegten. Dann ging es auf der anderen Seite der Mauer hinunter, um zwei Ecken, wo Thilo Hain im T-Shirt auf einem hochkant gestellten, bei den Bauarbeiten vermutlich vergessenen, leeren Bierkasten saß.

»Ach du Scheiße«, murmelte der Hauptkommissar, und dieser Gedanke war keineswegs dem Kollegen geschuldet, der im gleichen Moment aufgestanden war und auf ihn zukam. »Müssen wir uns Sorgen machen, dass wir gleich umfallen und es uns so geht wie den armen Schweinen da oben?«

»Nee, das hab ich im Griff«, erwiderte Hain, wobei er sich mit dem Rücken der rechten Hand den Schweiß von der Stirn wischte. In seiner Linken hielt er Dr. Franz’ Messgerät, das er leicht anhob.

»Wenn das Ding hier korrekt funktioniert, und daran habe ich bei unserem Doc nicht den geringsten Zweifel, dann liegt der Wert bei …«

Er drückte einen der Knöpfe und wartete.

»… exakt 89. Und das halten wir aus, nach seiner Aussage.«

Lenz nickte, bat den Hotelmitarbeiter um die Taschenlampe und trat einen Schritt zurück, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen.

»Damit scheidet ein Unfall als Ursache dieser Sauerei da oben ja wohl aus«, bemerkte Hain mit belegter Stimme.

»Ja, da hast du eindeutig recht, Thilo.«

Lenz folgte dem Lichtkegel und fixierte mit fassungslosem Blick die Szenerie, die sich ihm bot. An der gegenüberliegenden, etwa drei Meter entfernten Wand stand ein riesig wirkender, etwa einen Meter im Durchmesser breiter Metallbottich, in dessen Mitte die rötlich schimmernden Reste eines Holzkohlefeuers zu erkennen waren. Um diesen kleinen Glutring herum war die Holzkohle zu weißer Asche verbrannt. Über dem Trog, in etwa zwei Metern Höhe, verlief ein dickes Metallrohr, in das im 90-Grad-Winkel ein weiteres Rohr eingefügt worden war. Am Ende dieses unfachmännisch angebracht wirkenden Rohres war so etwas wie ein umgedrehter Trichter zu erkennen, der, ähnlich einer Dunstabzugshaube, die Abluft der Kohleglut direkt in das obere Rohr geleitet hatte.

Lenz hob die Taschenlampe und richtete den Lichtstrahl auf das horizontal verlaufende, metallisch schimmernde Blech.

»Man muss kein Hellseher sein, um zu vermuten, dass sich am Ende dieses Rohres der Seminarraum mit den Leichen befindet, oder?«

»Nein, das sehen Sie völlig richtig«, antwortete Hollstein leise. »Aber es ist völlig unlogisch, dass nur dieser Raum … vergiftet worden ist. Normalerweise müssten alle dahinterliegenden Seminarräume ebenfalls betroffen sein.«

»Sind Sie denn sicher, dass das wirklich nicht der Fall ist?«, fragte Lenz zurück.

»Ja, ganz sicher. Nachdem klar war, dass im Raum Nabucco irgendwas nicht stimmt, haben wir die anderen Seminarräume sofort geräumt, und da hat absolut niemand über irgendwelche Beschwerden geklagt.«

Der Hauptkommissar ließ die Taschenlampe durch den Raum kreisen und blieb erneut an dem Metallbottich mit der Grillkohle darin hängen.

»Dieses Ding ist doch bestimmt ziemlich schwer. Und der einzige Weg in diese Koje hier ist der, den wir gekommen sind, oder?«

Hollstein nickte. »Ja, ganz richtig, es gibt keinen anderen Zugang.«

Der Blick des Hotelangestellten richtete sich nach oben.

»Ich kann es natürlich nicht beschwören, aber ich vermute, dass sich dort, wo jetzt das Rohr nach unten angeflanscht wurde, eine Serviceklappe befunden hat. Die sind relativ häufig vorgesehen, weil in dem System eine ganze Menge Luft umgesetzt wird.«

Der Techniker zuckte mit den Schultern.

»Ich war auch erst einmal hier drinnen, vor etwa drei Jahren, als ich meinen Job angetreten habe und mir alles gezeigt wurde. Normalerweise kommen immer zwei Mann von einer Lüftungsfirma, die für die Reinigung sorgen, da gibt es wohl einen Wartungsvertrag. Aber hundertprozentig weiß ich das nicht, da müssen Sie schon mit meinem Boss reden.«

»Das machen wir«, erwiderte Thilo Hain und sah seinen Chef und Freund an. »Meinst du, wir brauchen ein weiteres Team der Spurensicherung, Paul?«

»Lass uns mit den Kollegen darüber reden, ich weiß es nicht. Nach meiner Meinung gibt es hier nichts, das besondere Eile gebietet, also könnten sie es auch machen, wenn sie oben fertig sind. Auf jeden Fall hauen wir jetzt hier ab.«

»Den Rest der Glut lassen wir weiter vor sich hin kokeln?«

»Ist bestimmt die beste Idee. Wenn wir das jetzt löschen, nehmen uns das die Jungs von der Spurensicherung mit Sicherheit übel, und zwar egal welche.«

Zehn Minuten später standen die beiden Kommissare mit Dr. Franz und dem Leitenden Staatsanwalt Dr. Franz Marnet auf dem Gang zwischen Tatort und Halle zusammen. Sowohl der Mediziner als auch der Leiter der Mordkommission hatten den Juristen über die bis zu diesem Augenblick vorliegenden Fakten des Verbrechens informiert.

»Das, was Sie da unten vorgefunden haben, Herr Lenz, nennen wir übrigens eine Abart der sogenannten Hongkong-Methode«, fasste Dr. Franz die Beschreibungen des Hauptkommissars zusammen. »Nicht direkt zwar, wie gesagt, aber im Kern passt es schon ganz gut.«

»Was meine Sie mit Hongkong-Methode?«, wollte Marnet wissen.

»Irgendwann zu Beginn der Finanzkrise, ich glaube, Ende der letzten Dekade, also um 2008 oder 2009, ist eine Frau in Hongkong von ihrem Arbeitgeber, einer Bank, entlassen worden. Danach hat sie es sich mit einem glühenden Holzkohlegrill in ihrem Appartement gemütlich gemacht. Vorher muss sie wohl jeden Artikel im Internet über schmerzfreien Suizid gelesen haben. Holzkohle auf dem Balkon anzünden, durchglühen lassen, bis nur noch das Rote zu sehen ist, ab damit in die gute Stube, und schon kann es losgehen. Natürlich hat es funktioniert, und leider haben die Medien das Thema aufgegriffen, woraufhin es zu Dutzenden, wenn nicht Hunderten oder gar Tausenden Nachahmungstaten gekommen ist – dummerweise um den ganzen Erdball verteilt.«

»Sich mit einem Holzkohlegrill das Leben zu nehmen, ist eine bekannte Methode?«, wollte Lenz kopfschüttelnd wissen.

»Ganz richtig, Herr Kommissar. Rund um die Welt nehmen sich Jahr für Jahr viele, viele Menschen so das Leben. Manche, auch solche, die sich vorher nie gesehen haben, verabreden sich sogar eigens zu diesem Zweck miteinander.«

Er holte tief Luft.

»In Hongkong zum Beispiel darf ab einer bestimmten Menge, ich glaube, es ist ein Kilo, Holzkohle nur noch in Verbindung mit Grillgut verkauft werden. Damit wollen sie diesem Phänomen ein wenig Einhalt gebieten.«

»Na, das ist doch zumindest mal ein Ansatz, um diesem Unsinn vorzubeugen«, warf Marnet energisch dazwischen.

»Ach, meinen Sie?«

»Natürlich! Sie nicht?«

»Schon, schon«, gab Dr. Franz seelenruhig zurück. »Allerdings würde mich als potenziellen Suizidalen das nicht so sehr stören, geschweige denn von meinem Vorhaben abbringen. Denn wenn ich mir die Holzkohle und einen Grill für den Suizid leisten kann, dann sollte ein Bratwürstchen auch noch drin sein. Und mit diesem Kauf sind alle Hindernisse aus dem Weg geräumt.«

Marnet sah den Mediziner ein wenig gekränkt an, untersagte sich jedoch jeglichen weiteren Kommentar.

»Immer wieder beeindruckend, was Sie so alles wissen, Doc«, durchbrach Thilo Hain die sich anschließende, betretene Stille.

»Darf ich Sie kurz stören?«, meldete sich eine weibliche Stimme hinter den Männern und hatte damit Lenz im Visier. »Ich habe die Daten, um die Sie mich gebeten hatten.«

Der Hauptkommissar drehte sich um und blickte in das noch immer verheult aussehende Gesicht von Hanna Winkler, die ihm einen weißen DIN-A4-Bogen entgegenstreckte.

»Da steht alles drauf, was Sie wissen wollten. Allerdings gibt es eine Ungereimtheit, denn es waren nur sieben Herren angemeldet, und dafür haben wir auch den Raum gerichtet. Über den achten kann ich Ihnen leider nichts sagen, den gibt es in unseren Unterlagen nicht.«

Lenz bedankte sich, überflog die Liste und reichte sie danach weiter an Marnet, dessen Gesichtsausdruck sich beim Lesen immer weiter verfinsterte.

»Kennen Sie jemanden davon?«, wollte Lenz wissen.

»Ja, natürlich kenne ich Herrn Prof. Dr. Achenbach. Er ist eine überaus bekannte und beliebte Persönlichkeit in unserer Stadt … gewesen.«

»Achenbach ist dabei gewesen?«, wollte Dr. Franz wissen. »Den habe ich gar nicht erkannt. Na ja, lag vermutlich an der schlechten Beleuchtung.«

Der Rechtsmediziner griff sich die Liste.

»Die Namen hat man alle schon mal gehört, zumindest, wenn man aus der Branche kommt. Alles Herzspezialisten, wenn ich mich nicht täusche, die sich auf dem Kongress hier getummelt haben dürften. Oder wichtig gemacht, wie man es nimmt.«

»Nun hören Sie mal, Herr Doktor«, zischte der Staatsanwalt, »so etwas möchte ich nicht hören, nicht von Ihnen und nicht von jemand anderem. Wir haben da drüben acht tote Männer liegen, vermutlich allesamt Väter, Ehemänner und Koryphäen auf ihrem Gebiet. Da will ich nicht, dass Sie sich hier hinstellen und solch einen Unsinn verbreiten.«

Franz winkte ab. »Wenn Sie sich ein wenig auskennen würden auf dem Gebiet der Medizin, und speziell mit dem Naturell der geschätzten Kollegen, und ich nehme mich da gar nicht aus, würden Sie nicht so aufgebracht reagieren. Aber ich nehme es Ihnen nicht übel, sondern schreibe es Ihrer Unwissenheit zu.«

Der Leitende Oberstaatsanwalt hatte offenbar genug von der Impertinenz des Rechtsmediziners, denn er wandte sich demonstrativ von ihm ab, fixierte Lenz eindringlich und schnappte dabei ein wenig zu theatralisch nach Luft. »Ich möchte Sie morgen Vormittag in meinem Büro sehen, Herr Kommissar, wenn möglich, schon mit ersten Ermittlungsergebnissen. Haben wir uns verstanden?«

»Wir werden tun, was wir können, Herr Dr. Marnet.«

»Ja, das sollten Sie definitiv.« Damit drehte der Jurist sich um und ließ die drei ohne irgendeine Verabschiedung stehen.

»Man könnte fast meinen, Sie und der Staatsanwalt hätten sich nicht so richtig lieb«, fasste Thilo Hain mit Blick auf den Rechtsmediziner die Situation zusammen.

»Er ist ein inkompetenter, mediengeiler Idiot, das ist alles«, erwiderte Dr. Franz ohne sichtbare Emotion. »Und mehr gibt es dazu auch gar nicht zu sagen.« Dann wandte er sich Lenz zu. »Sie sollten in diesem speziellen Fall nicht mit allzu schnellen Obduktionsergebnissen rechnen, Herr Kommissar. Es ist zwar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sie alle an einer Kohlenstoffmonoxydvergiftung gestorben sind, aber bevor nicht jeder einzelne über meinen Tisch gegangen ist, gibt es natürlich keine abschließende Einschätzung. Und das kann sich, wie Sie sich bestimmt schon denken, ein wenig hinziehen.«

»Schon klar, Doc«, winkte Lenz ab. »Wir gehen von dem aus, was wir wissen, den Rest reichen Sie uns nach.«