Pechsträhne - Matthias P. Gibert - E-Book

Pechsträhne E-Book

Matthias P. Gibert

4,8

Beschreibung

In einer Villa in Kassel wird die übel zugerichtete Leiche des Bankmanagers Sven Vontobel gefunden, neben ihm sein ebenfalls erschossener Hund. Wegen seiner umstrittenen Wertschöpfungsmethoden war er selbst bei seinen Kollegen unbeliebt. Bald gibt es zwei weitere Tote, ebenfalls Mitarbeiter der Nordhessenbank. Gegen alle Widerstände aus den Reihen der Geldmafia und in einer für sie fremden, abstoßenden Welt fahnden Hauptkommissar Paul Lenz und sein junger Kollege Thilo Hain nach einem Täter, der ihnen immer einen Schritt voraus zu sein scheint.

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Matthias P. Gibert

Pechsträhne

Lenz’ elfter Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2013 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung und E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: © Andreas Jung, Stuttgart

ISBN 978-3-8392-4156-1

1

Martha Zacharias sah in die Gesichter der drei Menschen, die mit ihr gemeinsam das Abendessen einnahmen.

Alte Gesichter, dachte sie, wiewohl noch nicht bereit für den letzten Schritt.

»Willst du noch etwas von dem Aufschnitt, Martha?«, wollte Horst Breiter, der Mann ihr gegenüber wissen. »Der ist wirklich sehr gut.«

»Nein, vielen Dank, Horst«, erwiderte die 76-jährige Frau kopfschüttelnd. »Ich will nicht mehr so viel Fleisch essen, das weißt du doch.«

»Aber das ist Wurst, Martha! Wurst, kein Fleisch!«

»Ja, ja«, gab sie mit einem gütigen Nicken zurück, »ich weiß.«

»Du gefällst mir heute ganz und gar nicht, Martha«, bemerkte Herbert Anselm, der Mann zu ihrer Rechten, leise. »Es geht dir doch nicht immer noch schlecht wegen dieser vermaledeiten Sache?«

Sie schüttelte schnell den Kopf.

»Nein, nein, darüber bin ich soweit hinweg, Herbert. Ich habe ein wenig Kopfschmerzen, aber sonst geht es mir nicht schlecht.«

»Du sagst Bescheid, wenn ich etwas für dich tun kann, ja?«

Die Frau blickte ihm lang in die Augen, bevor sie antwortete.

»Das mache ich, versprochen.«

Damit tupfte sie sich die Lippen ab, stand auf und nickte in die Runde.

»Ich bin müde und lege mich hin. Den Fernsehabend lasse ich heute aus, und es kann gut sein, dass wir uns erst wieder zum Frühstück sehen.«

Damit drehte sie sich um und verließ den Raum.

»Ich mache mir ernsthaft Sorgen um sie«, sinnierte Herbert Anselm kurz darauf murmelnd.

»Um Martha?«, fragte Elli Beselich, die ihm gegenüber saß, mit vollem Mund.

Er nickte.

»Um die brauchst du dir nun wirklich keine Sorgen zu machen«, fuhr die Frau fort. »Das alte Schlachtschiff geht schon nicht unter, und überleben wird die uns alle hier sowieso.«

Während Elli Beselich diesen Satz sprach, bewegte die Frau, von der sie redete, sich mit gemächlichen Schritten auf ihr kleines Appartement im zweiten Stock des Seniorenstifts im Kasseler Stadtteil Wilhelmshöhe zu. Als die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, lehnte sie sich mit dem Rücken gegen das Holz, atmete tief durch, lächelte kurz und machte sich im Anschluss auf den Weg ins Bad. Dort öffnete sie den Badewasserhahn, gab ein wenig des sündteuren Badegels, das sie sich seit einigen Jahren gönnte, ins Wasser, und nahm danach an dem kleinen Schreibtisch Platz, der vor dem Wohnraumfenster stand. Dort griff sie nach einem vorbereiteten Briefbogen, legte ihn vor sich zurecht, nahm einen schwarzen Füllfederhalter in die rechte Hand und begann zu schreiben.

Liebe Mitarbeiter des Hauses,

was genau hinterlässt man in solch einer Situation? Ich weiß es nicht, denn dies ist, offen gestanden, mein erster Suizid. Und ich wäre sehr erleichtert, wenn ich erfolgreich und es damit auch mein letzter wäre.

Zunächst entschuldige ich mich für die Unannehmlichkeiten, die ich Ihnen allen mit meinem Handeln bereite. Ich vermute, Sie werden schockiert und auch verärgert sein, bitte Sie jedoch, meinen Wunsch nach dem Tod zu respektieren (dies nur für den Fall, dass ich vor dem letzten Atemzug aufgefunden werden sollte). Und um es noch einmal so deutlich wie möglich auszudrücken: Ja, ich möchte nicht mehr leben. Ich möchte es einfach nicht mehr.

Sicher ist es tröstlich für alle Übriggebliebenen, wenn sie etwas zu den Beweggründen meines Ausscheidens aus dem Leben erfahren, deshalb hier eine kurze Erläuterung.

Nach den unglücklichen Ereignissen, die für mich und einige der Menschen hier im Stift zu großen finanziellen Einbußen geführt haben, ja die teilweise, wie in meinem Fall, ruinös waren, war meine Existenz geprägt von großer Angst und noch mehr Scham. Scham denjenigen gegenüber, die ich durch mein Verhalten und mein sinnloses Handeln in entsetzliche Schwierigkeiten gebracht habe. Jedoch, und das ist ein ebenso unverrückbares wie tragisches Faktum, sind diese Ereignisse nicht zu revidieren.

Aus diesem Grund bitte ich alle, die ich in diese peinliche Situation gebracht habe, aus tiefstem Herzen um Verzeihung. Ebenso möchte ich meinen Neffen Moritz dafür um Verzeihung bitten, dass ich seine Ausbildung nicht weiter finanzieren kann, und dass er das bekömmliche Erbe, auf das er sich vermutlich seit vielen Jahren gefreut hat, nun nicht in Empfang wird nehmen können, denn mit dem heutigen Tag sind alle meine Ersparnisse aufgebraucht, alle Konten auf Null.

Zu guter Letzt möchte ich darauf hinweisen, dass mir ein schönes Leben vergönnt war, das ich in weiten Teilen sehr, sehr genießen konnte. Ich hatte einen erfüllenden Beruf, einen großen, unterhaltsamen Bekanntenkreis und konnte viele Winkel der Welt sehen, die vermutlich den meisten anderen Menschen verborgen bleiben werden.

Als Atheistin verkneife ich es mir, von einem Wiedersehen zu sprechen, jedoch wünsche ich allen, die mir zweifellos folgen werden, dass sie es mit so viel Freude im Herzen tun können wie ich.

Nach der Unterschrift überflog sie die Zeilen noch einmal, nickte zufrieden, faltete das Blatt und ging damit ins Badezimmer, wo der Wasserstand sich bedrohlich der Oberkante der Wanne genähert hatte. Mit ein paar schnellen Bewegungen schloss sie den Hahn, ließ etwas Wasser ab, atmete erneut tief und zufrieden durch und stellte ihren Abschiedsbrief gut sichtbar auf der Fliesenreihe vor dem Spiegel ab. Danach entkleidete sie sich langsam und betrachtete eine Weile ihren faltigen, jedoch noch immer braun gebrannten Körper im Spiegel.

Die besten Jahre sind ja nun endgültig vorüber, dachte sie ohne irgendwelche Reue, wandte sich zur Seite und legte einige Tabletten und eine Rasierklinge in das Handtuch auf dem Wäschekorb. Danach füllte sie einen Zahnbecher mit Leitungswasser auf und stellte ihn auf dem Badewannenrand ab. Mit vor der Brust verschränkten Armen sah sie aus dem Fenster, wo die Arbeiter auf der Baustelle gegenüber schon wieder Überstunden machten.

Eine Minute darauf hatte sie durch das Hinzugeben von kaltem Wasser die perfekte Temperatur in der Badewanne gefunden und ließ ihren Körper langsam in den wohlig duftenden Schaum gleiten.

Die beiden ASS-Tabletten, die sie zwei Stunden zuvor eingenommen hatte, sollten ihre volle Wirkung bereits erreicht haben, wobei es Martha Zacharias dabei mehr auf die Verdünnung ihres Blutes als den schmerzlindernden Effekt ankam. Nun legte sie sich drei 10-Milligramm-Tabletten des Schlafmittels Zolpidem auf die Zunge, kippte Wasser nach und schluckte. Den gleichen Vorgang wiederholte sie mit drei Tabletten des Schmerzmittels Transtec.

Es ist unglaublich, was man heutzutage alles aus dem Internet erfahren kann, dachte sie, und exakt im gleichen Augenblick, in dem der Gedanke ihre Hirnwindungen durchlief, wurde ihr Körper von einem Schauer überrollt. Von einem kalten, Angst auslösenden Schauer.

Nur ruhig bleiben, Martha.

Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen, spürte den weichen Schaum auf ihrer Haut und ließ sich in einen Tagtraum fallen. Einen Tagtraum, den sie schon eine Million mal geträumt hatte, und der sie doch immer wieder ebenso zufrieden wie traurig stimmte.

In diesem Tagtraum tauchte Günter auf; Günter ohne h, wie er sich beim ersten Aufeinandertreffen in der Schule vorgestellt hatte. Der erste Tag nach den endlos langen Sommerferien, der erste Tag in der Oberstufe und der Tag, an dem sie sich Hals über Kopf unsterblich in Günter verliebt hatte. Er war zwei Klassen über ihr, fuhr ein schwarzes Fahrrad und beeindruckte ebenso mit seinem Körper wie mit seiner charmanten Art.

Allerdings blieb Marthas Liebe das ganze Schuljahr über unerwidert, was vor allem daran lag, dass sie mit niemandem darüber sprach, vor allem nicht mit Günter. Doch im folgenden Sommer, während der Kirchweih in der fränkischen Kleinstadt, in der sie lebten, funkte es plötzlich auch bei ihm. Sie trafen sich heimlich, meist weit draußen im Wald, wo sie sich wild küssten und er ihr schließlich an einem lauen Spätsommerabend die Unschuld nahm.

Den technischen Akt hatte sie sich in ihrer Fantasie eigentlich wärmer, weicher und liebevoller vorgestellt, doch dieser kleine Schönheitsfleck wurde von dem alles überstrahlenden Gefühl dominiert, dass sie und Günter nun für alle Zeit miteinander verbunden wären.

Wie anders sich die Dinge doch manchmal entwickeln. Günter war in den Tagen und Wochen, nachdem er sie am Waldrand abgesetzt hatte, ein völlig anderer Mensch, der sich nicht mehr im Geringsten für sie zu interessieren schien. So oft Martha auch versuchte, ihn zu treffen oder zu besuchen, er war nicht zu Hause oder ließ sich einfach verleugnen. Und als sie sich in ihrer Verzweiflung nachts aus dem Elternhaus geschlichen hatte, um an sein Fenster zu klopfen und ihn zur Rede zu stellen, wurde sie Zeugin, wie er es mit einem anderen Mädchen trieb. Wie er dieses Mädchen in seinem Bett nahm, ebenso roh, wild und ungestüm, wie er es ein paar Wochen zuvor mit ihr getan hatte. In dieser Nacht wollte sie sterben, am besten vor dem Zug oder im nahen Waldsee, doch dafür hatte ihr Mut nicht gereicht.

Allerdings hielt das Schicksal einen weiteren Schlag für sie parat, denn als sie nach dieser endlos langen Nacht im Morgengrauen von der Toilette über den Hof gehen wollte, erkannte sie an der Haustür Helga, ihre ältere Schwester, die in Günters Armen lag, ihm einen innigen Abschiedskuss gab, und danach leise im Haus verschwand. Sechs Monate später heirateten die beiden, wobei sich Helgas kugelförmiger Bauch schon deutlich unter dem Brautkleid abzeichnete.

Günter und Martha hatten seitdem nie mehr über ihre Liebelei gesprochen, und manchmal hatte sie das Gefühl, dass all das, was sich in diesem Spätsommer 1954 zwischen ihnen beiden abgespielt hatte, ein Traum gewesen sein musste.

Kein Traum allerdings war, dass Martha Zacharias von diesem Tag an nie wieder etwas mit einem Mann angefangen hatte. Nicht während ihrer Zeit an der Universität, wo sie zur Lehrerin ausgebildet wurde, und auch danach nicht, obwohl es an Gelegenheiten nicht gemangelt hätte.

Sie schreckte so abrupt hoch, dass sich ein großer Schwall Wasser über den Badewannenrand hinweg auf den Boden ergoss. Intuitiv wollte Martha etwas dagegen unternehmen, doch dann begann sie zu lächeln. Mit einem schnellen Blick auf ihre Armbanduhr nahm sie wahr, dass die Einnahme der Schlaf- und Schmerzmittel mehr als 20 Minuten zurücklag.

Dann los, bringen wir es hinter uns, dachte sie merkwürdig entspannt, griff zu der Rasierklinge links von ihr und nahm sie in die rechte Hand.

Immer mit der Ader, nie quer, Martha!

Sie hatte das Gefühl, dass die Welt um sie herum in Watte gepackt war. Alles war ruhig, entschleunigt, und merkwürdig friedlich. Ein wenig fürchtete sie sich schon vor den Schmerzen, die vielleicht gleich kommen würden, aber sie wusste, dass die vorübergehen würden. Sie würden gemeinsam mit ihrem Leben verschwinden.

*

Der erste Schnitt fühlte sich merkwürdig an. Gerade so, als ob Papier gerissen würde. Sie hatte nur leichte Schmerzen, und als das Blut warm über ihre linke Hand zu rinnen begann, schloss sie für ein paar Sekunden die Augen.

Ich werde sterben, dachte sie, und trotz der Medikamente in ihrem Körper hatte der Gedanke etwas Aufregendes.

Meine Güte, was hätten wir für ein schönes Leben haben können, Günter.

Die Rasierklinge wanderte mit geschlossenen Augen in die andere Hand, wo sie die Prozedur wiederholte. Ab der Mitte des Armes hatte Martha stärkere Schmerzen, und als sie mit der Klinge an der Handwurzel angekommen war, schrie sie leise auf und öffnete unwillkürlich die Finger.

Die meisten schneiden sich vermutlich ein paar Sehnen durch, schoss es ihr durch den Kopf.

Dann jedoch ließ sie beide Arme in das warme Wasser gleiten, was ein leichtes Brennen verursachte, das allerdings ein paar Augenblicke später wieder verschwand. Auch die Übelkeit, die sich kurz meldete, konnte sie einfach hinunterschlucken.

Es fühlt sich genauso an, wie ich es vermutet habe. Als ob gemeinsam mit dem Blut das Leben den Körper verlässt.

Martha Zacharias öffnete kurz die Augen, um sich zu vergewissern, dass sie noch bei Bewusstsein war, doch mittlerweile war sie einfach nur noch müde. Sie war müde und freute sich auf den Schlaf, der bald, sehr bald einsetzen würde. Ihr Blick fiel auf eine freie Stelle zwischen dem Badeschaum, und als sie das rot verfärbte Wasser sah, erschrak sie ein wenig.

Aber ja, so ist es nun einmal, wenn man sich in der Badewanne die Pulsadern aufschneidet.

Die Badezimmerdecke, die sie mit den Augen fixieren wollte, verschwamm zu einem surrealen Muster. Sie schluckte, schloss ein letztes Mal die Augen und holte dabei tief Luft. Während ihr Kopf langsam zur Seite fiel und sie bis zu den Schultern ins Wasser eintauchte, befand sie sich in einem Stadium zwischen wachen und schlafen, das allerdings nur kurz andauerte.

Das Letzte, was Martha Zacharias in ihrem Leben wahrnahm, war ein geträumtes Bild von Günter, wie er sie am ersten Schultag in der Oberstufe angestrahlt hatte. Dann sank sie weiter in die Badewanne, und ein paar Minuten später hörte ihr Herz auf zu schlagen.

2

»Das wurde nun auch wirklich Zeit«, meinte Maria vielsagend, als Thilo Hain seine frisch angetraute Ehefrau zum Hochzeitstanz aufs improvisierte Parkett vor der Grillhütte bat. Die knapp zweijährigen Zwillinge der beiden standen mit offenen Mündern daneben und verstanden, wie es den Anschein hatte, nichts von dem, was sich da gerade vor ihren Augen abspielte. Aber sie hatten auf jeden Fall ihren Spaß an der Sache.

Später, als die Fete in vollem Gang war, saßen Thilo und Paul Lenz, sein Boss und Freund, etwas abseits und sahen in die Runde der gut gelaunten und ausgelassen feiernden Menschen.

»Hast du Angst, dass sich was ändern wird?«, wollte der Hauptkommissar wissen.

»Wegen dieses einen Wortes?«, lachte der junge Bräutigam laut auf. »Das nun wirklich nicht. Die Kohle reicht schon jetzt hinten und vorn kaum, aber das hab ich ja schon geahnt, bevor ich die beiden Jungs ins Leben gesetzt hab.«

Er betrachtete ebenso verliebt wie stolz das Treiben seiner Frau, die mit ein paar alten Freundinnen einen Tisch gekapert hatte und lautstark alte Geschichten austauschte.

»Und mit Carla wird es auch mit Ring laufen, da bin ich mir sicher. Warum auch nicht? Immerhin hatten wir ein paar Jahre Zeit zum Üben.«

»Das stimmt wohl«, bestätigte Lenz. »Und was ist mit eurem Traum vom Häuschen im Grünen?«

Hain warf ihm einen irritierten Blick zu.

»Hatte ich nicht eben erwähnt, dass die Kohlefrage recht schmallippig zu beantworten ist?«, feixte er. »Und kann man das so verstehen, dass Geld für ein Häuschen im Grünen da ist?«

Nun fing Lenz an zu lachen.

»Hör auf, du Spaßvogel. Ich weiß ganz genau, dass ihr am Suchen seid.«

»Wie? Woher willst du das denn haben?«

Der Hauptkommissar wies mit dem Kopf auf Maria, seine Frau.

»Ein Vögelchen hat es mir gezwitschert.«

»Dass diese Tussis auch nie etwas für sich behalten können«, stellte Hain mit resigniertem Gesichtsausdruck fest.

»Also ist es wahr?«

»Ja, klar ist es wahr, aber etwas Konkretes zu vermelden gibt es wirklich noch nicht. Wir suchen, haben aber noch nicht das Richtige gefunden.«

»Und finanzieren könntet ihr es auch, oder?«

Der Oberkommissar setzte ein verschmitztes Lächeln auf.

»Vermutlich ja. Carla hat ein paar Bausparverträge, die wir einsetzen können. Mit so was kann ich leider nicht dienen, aber dafür bin ich immerhin Beamter auf Lebenszeit und sitze hoffentlich bald auf deinem Sessel als Leiter der Mordkommission Kassel.«

»Freu dich nicht zu früh, Junge. Ich habe leider, für dich zumindest, auch noch ein paar reichliche Jahre vor mir, bevor du dich um mein Erbe bewerben kannst.«

»Vielleicht gibst du ja doch dem Werben des Polizeipräsidenten nach und fällst auf der Karriereleiter so steil nach oben, dass dein Posten neu zu besetzen ist.«

»Und du meinst, die geben den einem Strolch wie dir?«

»He, he, was ist denn an mir auszusetzen?«

»Eigentlich gar nichts. Allerdings bist du erst Oberkommissar, was die Sache mit dem Leiter des  11 ziemlich unmöglich macht. Außerdem kannst du dir dein Traumhaus nicht leisten, weil du früher deine ganze Kohle in Haschisch und was weiß ich sonst noch für Drogen gesteckt hast.«

Hain nippte an seinem Bier.

»Bei der Sache mit dem Oberkommissar gebe ich dir recht, da steht erst mal die Beförderung zum Hauptkommissar an. Aber dass ich in grauer Vorzeit mal gekifft hab, weiß außer dir im Präsidium niemand. Und du bist nicht als Zeuge zu verwenden, weil wir praktisch Blutsbrüder sind, weil ich damals die Kugel für dich gefangen habe.«

Er spielte auf einen Vorfall ein paar Jahre zuvor an, bei dem er schwer verletzt wurde.

»Ich lach mich scheckig«, prustete Lenz los.»Blutsbrüder! Geht’s noch?«

»Na, ihr habt aber Spaß miteinander«, erklang es aus dem Hintergrund, wo Maria mit einem Sektglas in der Hand auftauchte.

»Ja, wir besprechen gerade ein paar von Thilos Fehltritten in der Vergangenheit.«

Sie betrachtete belustigt das Gesicht des jungen Kommissars, dessen Züge im flackernden Kerzenschein ein wenig verschwammen.

»Und, Thilo, gibt es viel, was besser unter der Oberfläche bleiben sollte?«

»Ach, dein Kerl übertreibt mal wieder maßlos. Ein bisschen Kifferei, das war’s aber auch schon.«

»Kiffen? Haben wir das nicht alle gemacht, als wir noch jünger waren?«

Lenz warf seiner Frau einen irritierten Blick zu.

»Wie darf ich das bitte verstehen, Maria, dass wir das allegemacht haben, als wir noch jünger waren? Zählst du dich selbst auch zu alle?«

»Klar«, erwiderte sie selbstbewusst. »Klar habe ich früher gekifft, sogar als ich schon mit Erich verheiratet war. Irgendwann allerdings habe ich am Tag danach immer rasende Kopfschmerzen bekommen, also habe ich es einfach sein gelassen und mich dem Rotwein zugewandt.«

Sie betrachtete das Glas in ihrer Rechten.

»Und dem Sekt. Aber der zählt ja eigentlich nicht.«

»Ich bin zutiefst schockiert, Maria«, murmelte Lenz.

»Ach, hör doch auf, Paul«, mischte sich Hain ein. »Ihr wart früher auch keine Waisenknaben, und wenn du mir jetzt erzählen willst, dass du noch nie in deinem Leben einen Docht geraucht hast, lache ich dich ganz gepflegt aus.«

»Ich könnte es ja machen wie Bill Clinton«, konterte Lenz schmunzelnd, »der hinterher behauptet hat, er habe zwar am Joint gezogen, aber nicht inhaliert.«

»Davon hab ich auch gehört, glaube es jedoch genauso wenig wie du. Oder?«

»Nein, das ist schon ein klein bisserl unglaubwürdig, da gebe ich dir uneingeschränkt recht.«

»Und«, wollte Maria von der Seite wissen, während sie sich an ihn presste. »Hast du oder hast du nicht?«

»Dazu gebe ich keinen Kommentar ab.«

»Kein Kommentar heißt eindeutig ja.«

»Gegen diese Unterstellung verwahre ich mich in aller Form.«

»Man kann es so sehen oder so«, warf Hain ein, »und es ist mir auch wirklich ziemlich egal, ob du in deiner sowieso Lichtjahre zurückliegenden Jugend mal gekifft hast, aber mich treibt ein ganz anderes Problem um. Nämlich was ich mache, wenn einer von meinen Jungs mal kommt und danach fragt. Was sage ich dem? Oder was mache ich, wenn ich ihn beim Kiffen erwische? Das sind echte Dilemmen. Oder heißt es Dilemmata? Egal, es macht mir auf jeden Fall Kopfzerbrechen.«

»Das kann ich gut verstehen«, stimmte Lenz seinem Kollegen zu. »Und ich vermute, so wie dir geht es vielen Hunderttausend Menschen da draußen, die sich nicht vorstellen können, mit ihren Kindern so etwas besprechen zu müssen.«

»Vermutlich hab ich noch ein paar Jahre Zeit, bevor das auf mich zukommt, was meint ihr?«

»Davon ist glücklicherweise auszugehen«, gab Maria schmunzelnd zurück.

3

Zwei Tage später waren alle Beschwerden und Zipperlein, die eine rauschende Ballnacht verursachen konnte, vergessen. Lenz und Hain saßen in einem Vernehmungszimmer einem Mann im T-Shirt und mit verschränkten Armen gegenüber, der an allen sichtbaren Hautpartien Tätowierungen aufwies.

»So kommen wir nicht weiter, Herr Bromeis«, sprach Hain den im Rockermilieu beheimateten Verdächtigen an.

»Entweder Sie reden jetzt mit uns, oder wir lassen Sie zurück in Ihre Zelle bringen.«

»Ich könnte auch deine Mutter ficken und dich dabei zugucken lassen«, fauchte der muskelbepackte Hüne.

»Ich kann mir ganz und gar nicht vorstellen, dass das ein Vergnügen für dich wäre«, murmelte der Oberkommissar genervt, stand auf und nickte einem neben der Tür stehenden Uniformierten zu.

»Bring ihn weg. Ich bin heute nicht in der Stimmung, über das Geschlechtsleben meiner Mutter zu philosophieren.«

Lenz erhob sich ebenfalls.

»Schönes Leben noch«, raunte er dem Mann mit den Handschellen hinterher.

»Ich bin urlaubsreif«, fuhr er fort, nachdem sich die Tür geschlossen hatte und er mit seinem Kollegen allein war. »Und solche Arschgeigen machen es mir verdammt leicht, ein paar Wochen auszusetzen.«

»Habt ihr schon irgendwas gebucht?«

»Nein. Aber Maria ist in solchen Dingen immer ganz findig. Die macht das schon.«

»Ja, das weiß ich. Und dann kommt immer eine Fernreise dabei heraus, die allen Umstehenden den puren Neid ins Gesicht treibt.«

»Wir haben uns …«, wollte Lenz etwas erwidern, wurde jedoch vom Klingeln seines Mobiltelefons unterbrochen. Mit einer umständlichen Bewegung kramte er das Gerät aus der Sakkotasche, nahm den Anruf an und hörte ein paar Sekunden zu.

»Ist gut, RW. Hölderlinstraße 8, wir sind unterwegs.«

Damit schob er das Telefon zurück in die Jacke.

»Irgendwas Größeres?«, fragte Hain.

»Sieht ganz so aus. RW sagt, dass er noch nie einen so übel zugerichteten Menschen gesehen hat.«

Hain schluckte.

»Was für ein scheiß Tag und was für ein scheiß Wochenstart.«

Das Haus in der Hölderlinstraße lag hinter einer hohen, abweisend wirkenden hellbraunen Mauer, die in der Mitte von einem elektrischen Rolltor unterbrochen wurde, das im geschlossenen Zustand vermutlich ebenfalls keinen Blick auf das dahinterliegende Grundstück zuließ. Nun stand die schwere Stahlkonstruktion zur Hälfte offen, sodass Hain mit seinem Kombi ohne Schwierigkeiten auf das Anwesen fahren konnte.

»Nobel, nobel«, bemerkte Lenz mit gekräuselter Stirn und öffnete die Beifahrertür.

»Ja, hier lebt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein Hartz-IV-Empfänger«, stimmte sein Kollege ihm zu, ließ den Motor absterben und stieg ebenfalls aus dem Wagen.

Die Größe des Hauses, oder besser des Bungalows, vor dem die Polizisten nun standen, war von der Straße nicht zu erkennen. Die Front des modernen Baus war fast zur Gänze verglast, wobei den Beamten sofort die Stärke der grünlich schimmernden Scheiben auffiel.

»Schusssicheres Glas«, resümierte Hain. »Und das gleich tonnenweise.«

Der Rest der Fassade wurde dominiert von glatt geschliffenem, matt glänzendem Sichtbeton. Auf der linken Seite gab es die ebenfalls grünlich schimmernde gläserne Eingangstür, vor der ein uniformierter Kollege der beiden stand, der kurz grüßte.

»Einfach durch, bis es nicht mehr weiter geht, dann sehen Sie es schon.«

Die beiden bedankten sich, zogen sich blaue Füßlinge über die Schuhe, betraten das Haus und waren sofort beeindruckt von der fast schon unangenehmen Kälte, die ihnen entgegenschlug.

»Meine Fresse, hier halte ich es nicht länger aus als notwendig«, knurrte Lenz. »Bei der Temperatur kann ich die Erkältung mit jedem Atemzug näherkommen sehen.«

»Stimmt«, nickte Hain. »Die Klimaanlage schuftet vermutlich auf Vollgas. Aber vielleicht kann ich sie ja überreden, sich ein wenig zu mäßigen.«

»Dafür würde ich dich lieben.«

Sie ließen den Eingangsbereich hinter sich und betraten den weiß gestrichenen, schwarz gefliesten Flur, von dem auf jeder Seite drei Türen abgingen. Am Ende kamen sie zu einem riesigen, lichtdurchfluteten Raum, dessen schiere Größe die beiden Polizisten anerkennend die Augen rollen ließ.

Links an der Wand stand eine Stereoanlage zwischen Lautsprecherboxen, mit denen man vermutlich auch ein Stadion hätte beschallen können, die gegenüberliegende Seite war bis zur Decke mit Bücherregalen verstellt, und hinter den Polizisten befand sich ein riesiges Terrarium, in dem zusammengerollt eine Riesenschlange döste. In der Mitte des Raumes umrahmte eine Sitzgruppe aus weißem Leder einen Glastisch mit Chromgestell. Auf einem der Sessel saß vornübergebeugt ein blutverschmierter Mann, vor seinen Füßen lag der Kadaver eines Hundes.

»Sie haben sich recht viel Zeit gelassen, meine Herren«, wurden sie von Dr. Franz, dem Rechtsmediziner begrüßt, der sich mit einem Thermometer in der Hand an dem Toten zu schaffen machte.

»Hallo, Doc«, erwiderte Lenz, während bei Hain eine kurze Bewegung mit dem Kopf in Richtung des Arztes ausreichen musste.

»Moin, Männer«, kam es von der Terrassentür, in der Rolf-Werner Gecks, der dienstälteste Kommissar der Abteilung, auftauchte.

»Hallo, RW.«

»Schöner Start in die Woche, was?«

»Ja, das kann man so sagen«, erwiderte Lenz mit Blick auf den Toten. »Weißt du schon was Genaueres?«

»Hmm. Er heißt Sven Vontobel, so viel ist sicher, weil ich seinen Personalausweis in seiner Brieftasche gefunden habe. 38 Jahre alt, ledig, geboren in Frankfurt.«

»Und gestorben an einer Überdosis Blei«, setzte Dr. Franz die Aufzählung des Polizisten fort. »Allem Anschein nach zumindest. Obwohl, was er vor seinem Tod durchgemacht hat, dürfte auch nicht von schlechten Eltern gewesen sein.«

»Wie meinen Sie das?«, wollte Hain wissen.

»Er ist nicht einfach so erschossen worden«, bemerkte der Rechtsmediziner mit einer Handbewegung in Richtung der Schusswunde, die den halben Hinterkopf weggerissen hatte. »Der oder die Täter haben sich offenbar einen Spaß daraus gemacht, ihn noch etwas leiden zu lassen. Zuerst ein Schuss ins Bein, der vermutlich richtig wehgetan haben dürfte, eine ganze Weile später dann die Erlösung.«

Er deutete auf den toten Hund.

»Und wenn ich mich, natürlich ohne vertiefte veterinärmedizinische Kenntnisse, nicht völlig täusche, ist der Hund vor seinen Augen erschossen worden.«

»Da hat die Schlange ja richtig Glück gehabt«, brummte Hain mit Blick auf das Terrarium.

»Ja, ich habe nachgeschaut, das Vieh lebt noch.«

»Wann ist es denn ungefähr passiert?«, wollte Lenz wissen.

»Vermutlich gestern. Vielleicht in der Nacht auf heute. Im Augenblick ist die genaue Bestimmung ein wenig schwierig, weil die Klimaanlage das Bild vermutlich zu sehr verfälscht. Da benötige ich noch ein paar weiterführende Untersuchungen für die genaue Bestimmung.«

Klimaanlage war das Stichwort für Thilo Hain, der den Raum verließ und sich nach der Steuerung umsah.

»Wer hat ihn gefunden?«

»Die Putzfrau«, erklärte Gecks. »Sie wollte wie jeden Montag die Bude sauber machen, und da saß er hier.«

»Wo ist sie?«

»Bei einer Nachbarin, zu der sie in ihrer Panik gerannt ist. Die Arme ist völlig durch den Wind.«

Lenz deutete auf den toten Mann im Ledersessel.

»Und ihn hat niemand vermisst?«

»Das weiß ich noch nicht, Paul. Die Nachbarin, bei der die Putzfrau untergekommen ist, wusste eigentlich gar nichts über ihn. Nur, dass er wohl bei einer Bank gearbeitet hat und sich um Kohle keine Sorgen machen musste.«

»Was stimmen könnte, wenn man sich hier so umschaut.«

»Der oder die Täter haben auf jeden Fall ein verdammt großes Kaliber benutzt, das kann ich Ihnen schon jetzt sagen«, warf Dr. Franz ein. »Eine Eintrittswunde in dieser Größenordnung habe ich schon seit ewigen Zeiten nicht mehr zu sehen bekommen.«

»Ein Banker, der mit einem großen Kaliber hingerichtet wird, nachdem man ihn gefoltert und seinen Hund abgeknallt hat«, sinnierte Lenz. »Das bringt Kassel ja mal wieder richtig in die Schlagzeilen. Allerdings leider die falschen.«

»So, die Kühlung ist runtergedreht«, rief Hain von der Tür her. »Und die Medien sind auch schon in Mannschaftsstärke draußen versammelt.«

»Vergiss die Spurensicherung nicht«, donnerte es aus dem Flur, wo Heini Kostkamp und zwei seiner Mitarbeiter auftauchten. »Und bewegt schleunigst eure Ärsche hier raus, das ist nämlich ab jetzt und so lang unser Tatort, bis wir euch wieder rufen.«

»Ja, der ewige Kampf Gut gegen Böse«, philosophierte Lenz.

»Nicht zu gewinnen für die einen, nicht zu gewinnen für die anderen. Aber trotzdem einen schönen guten Morgen, Heini.«

»Guten Morgen ist gut«, gab der rotgesichtige, übergewichtige Mann zurück, während er einen großen, silbernen Koffer neben die linke Lautsprecherbox stellte. »Hast du mal auf die Uhr gesehen?«

»Habe ich, ja. Und jetzt viel Vergnügen an deinem Tatort.«

Damit schob Lenz sich an ihm vorbei und betrat den Flur.

»Gibt es in den anderen Zimmern irgendwas von Interesse, RW?«, fragte er seinen Kollegen, der mit Hain im Schlepptau neben ihm auftauchte.

»Nein. Küche, Schlafzimmer, Büro, Fitnessraum und so was wie ein Kinderzimmer, allerdings recht spärlich möbliert. Dazu ein riesiges Badezimmer und eine Kammer, in der die Waschmaschine, der Trockner und der Rest der Reinigungsutensilien untergebracht sind. Außerdem findet dort die Steuerung der Haustechnik statt.«

»Kein Keller?«

»Ich habe keinen gefunden.«

»Nein, es gibt keinen«, mischte Hain sich in das Gespräch ein. »Die Hütte wurde ohne Keller gebaut.«

Als die drei Polizisten vor das Haus traten, wurden sie von der Hitze des Sommertages förmlich erschlagen.

»Lasst uns mal nachsehen, was der Mann für einen Fuhrpark unterhalten hat«, schlug Lenz mit Blick auf die ausladende, frei stehende Dreifachgarage gegenüber vor.

»Gute Idee«, erwiderte Hain, überquerte den Hof und kam ein paar Sekunden später vor dem mächtigen Tor zum Stehen.

»Alles funkgesteuert«, ließ er die Kollegen nach einer kurzen Inaugenscheinnahme wissen, wandte sich ab und verschwand hinter der linken Ecke des hellen Baus.

»Bingo«, kam es gedämpft, danach klapperte eine Tür, und kurz darauf fuhr das Tor nahezu lautlos nach oben.

»Herrje«, pfiff Lenz durch die Zähne. »Das kann man getrost als Fuhrpark bezeichnen.«

Nebeneinander aufgereiht standen eine Porsche-Limousine neuester Baureihe, ein beeindruckend breites Cabriolet, ebenfalls aus Zuffenhausener Produktion, und ein chromglänzender Mercedes-Oldtimer. Vor den drei Fahrzeugen parkte jeweils quer ein Motorrad.

»Voilà, meine Herren«, fand Hain als Erster die Sprache wieder. »Was Sie hier an Wert sehen, sprengt deutlich die Investitionsmöglichkeiten eines deutschen Kripobeamten.«

Er bewegte sich nach rechts und lugte wie ein kleiner Junge durch die Scheibe des alten Mercedes.

»Das hier ist eine Legende, Jungs.«

»Ich weiß«, stimmte Lenz ihm zu. »Ein 300 SL Flügeltürer. 215 PS, sechs Zylinder und eine Spitze von bis zu 260 Stundenkilometern, je nach Übersetzung.«

Der Oberkommissar bedachte ihn mit einem völlig perplexen Blick.

»Autoquartett, Thilo. So was haben wir früher gespielt, und in einem von meinen war der 300 SL der Supertrumpf.«

»Du schaffst es immer wieder, mich zu überraschen, Paul.«

»Wenigstens was.«

»Supertrumpf hin oder her«, warf Gecks ein, »wenn einem so ein Fuhrpark gehört, hat man sicher reichlich Kohle auf dem Konto.«

»Oder Kredite und Leasingverträge am Hacken«, entgegnete Lenz, der ins Innere der Garage vorgedrungen war und sich umsah. »Was ich mir in diesem Fall allerdings nicht so recht vorstellen kann.«

Außer den Fahrzeugen gab es in der Halle nichts zu sehen. Keine Gartenwerkzeuge, die irgendwo herumstanden, keine Winterreifen, die an den Wänden hingen, und auch keine Mülltonnen oder Ähnliches. Absolut nichts. Selbst die auf den Bodenfliesen sonst üblichen Spuren von nassen Reifen gab es nicht.

»Auf jeden Fall hat er es gern ordentlich gehabt«, stellte Lenz lakonisch fest. »Aber das hat sich ja im Haus schon angedeutet. Wir sollten …«

Der Hauptkommissar brach ab, weil von der anderen Seite des Hofs Stimmengewirr laut wurde. Dort standen zwei Männer und wollten den Streifenpolizisten vor der Tür offenbar in eine Diskussion verwickeln.

»Lasst uns mal rüber gehen«, schlug Hain vor und setzte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, in Bewegung. Lenz und Gecks folgten ihm.

»… geht hier um die Interessen der Nordhessenbank. Wenn Sie es nicht überreißen, dass …«

»Morgen, die Herren«, rief Hain den Männern aus etwa fünf Metern Entfernung zu, die weder ihn noch seine Kollegen bisher wahrgenommen hatten, was zu einer sofortigen Unterbrechung des Redeschwalls führte und den Uniformierten erleichtert durchatmen ließ.

»Darf ich fragen, wer Sie sind?«, wollte der junge Oberkommissar wissen.

»Darf ich zurückfragen, wer das wissen will?«, gab der ältere der beiden Männer ärgerlich zurück.

Hain kramte seinen Dienstausweis aus der Sakkotasche und stellte sich und seine Kollegen vor.

»Das trifft sich gut, dass Sie hier sind, meine Herren«, fuhr der Mann fort. »Wir sind gekommen, um die Interessen des Arbeitgebers von Herrn Vontobel zu wahren.«

»Ja«, mischte Lenz sich leise ein, »das haben wir schon verstanden. Allerdings möchten wir zunächst wissen, wer genau Sie sind.«

Der Blick, der ihn traf, sollte vermutlich gehöriges Einschüchterungspotenzial haben.

»Mein Name ist van Roon. Willem van Roon. Ich bin Justiziar der Nordhessenbank und habe den Auftrag, jene Dinge aus dem Besitz des Herrn Vontobel, die eindeutig meinem Arbeitgeber gehören, sicherzustellen.«

»Schön«, erwiderte Lenz, und wandte sich an den Begleiter des Justiziars. »Und wer sind Sie?«

»Mein Name ist Markus Specht. Ich bin Mitarbeiter in der Abteilung von Herrn Vontobel.«

»Ach, das ist ja interessant. Dann können Sie uns bestimmt ein paar Fragen zu Ihrem Boss beantworten.«

Der etwa 32-jährige Mann warf seinem Begleiter einen unsicheren Blick zu.

»Ich weiß nicht … Eigentlich kenne oder kannte ich Herrn Vontobel gar nicht so gut. Da gibt es bestimmt welche in der Abteilung, die Ihnen besser helfen können als ich.«

»Herr Specht«, mischte der Justiziar sich streng ein, »ist nicht befugt, über Interna der Bank zu sprechen. Ich bitte Sie, das zu respektieren.«

»Es lag mir fern«, erwiderte Lenz mit unverhohlenem Sarkasmus in der Stimme, »Herrn Specht über Interna seines Arbeitgebers zu befragen. Allerdings gebe ich zu bedenken, dass sich im Inneren dieses Hauses ein Mensch befindet, dessen Leben auf eine nicht sehr geschmackvolle, dafür aber überaus gewalttätige Art beendet wurde. Also versuchen wir, wie es unser Job ist, möglichst viel über diesen Menschen zu erfahren, um so schnell wie möglich einen Ermittlungserfolg erzielen zu können. Oder, vulgo, den Mörder dingfest zu machen.«

»Das mag alles zutreffen, Herr Kommissar, jedoch ist es mein vorrangiges Ziel, die Interessen der Bank zu wahren. Und dazu gehört, unverzüglich einen Computer und einen Laptop sicherzustellen.«

Lenz kratzte sich am Kinn und schüttelte dabei den Kopf.

»Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt, Herr van Roon, aber aus diesem Haus wird niemand, ich wiederhole, niemand ohne meine Zustimmung auch nur die kleinste Kleinigkeit wegschaffen. Nicht das Geringste. Haben Sie das nun verstanden?«

»Das war nicht falsch zu verstehen. Allerdings gebe ich zu bedenken, dass die Dinge, um die es mir geht, sich lediglich im Haus des Herrn Vontobel befanden. Eigentümer ist die Nordhessenbank, und aus diesem Grund muss ich darauf bestehen, dass mir die angesprochenen Geräte auf der Stelle ausgehändigt werden. Es ist von größter Wichtigkeit, dass die Daten, die sich darauf befinden, nicht in die falschen Hände gelangen.«

»Ach«, machte Hain. »Sie wollen damit sagen, die Polizei wäre die falschen Hände?«

»Das will ich natürlich nicht. Aber dass es auch in Ihren Reihen Menschen gibt, die es mit der Diskretion nicht so genau nehmen, muss ich sicher nicht explizit erwähnen.«

Er wandte sich wieder Lenz zu.

»Also bekomme ich nun besagte Geräte?«

»Nein«, erwiderte Lenz völlig ruhig. »Was Sie aber tun können, ist, nun das Gelände zu verlassen; immerhin handelt es sich hier um einen Tatort. Auf Wiedersehen.«

So eindeutig die Ansage des Hauptkommissars war, so wenig wollte van Roon sich offenbar davon beeindrucken lassen.

»Es könnte zu weitreichenden, für viele Menschen unschönen Konsequenzen führen, wenn Sie auf Ihrem Standpunkt beharren. Davon abgesehen bin ich mir nicht sicher, ob der geschätzte Herr Polizeipräsident Ihre Eigenmächtigkeit tolerieren wird. Vom Innenminister will ich an dieser Stelle noch gar nicht sprechen, um die Sache nicht gar so hoch zu hängen. Also seien Sie vernünftig und händigen Sie uns das Eigentum der Bank aus.«

Hain und Gecks waren den Ausführungen des Juristen mit immer größer werdenden Augen gefolgt, und beide sahen nun ihren Chef an. Der wandte sich völlig unbeeindruckt an den Uniformierten, der sich etwas zur Seite begeben hatte.

»Würden Sie die beiden Herren bitte zum Ausgang begleiten, Herr Kollege? Und für den Fall, dass sie sich weigern sollten, Sie zu begleiten, nehmen Sie sie einfach fest. Ob wegen Behinderung oder Widerstand überlasse ich ganz Ihrer Einschätzung.«

»Ich protestiere auf das Allerschärfste«, echauffierte sich van Roon lautstark, »so können Sie mit mir nicht umspringen. Das wird böse Folgen haben für Sie, das verspreche ich Ihnen.«

Lenz nickte ihm zu und hatte sich schon ein paar Meter zur Seite bewegt, blieb dann jedoch stehen und drehte sich noch einmal um.

»Könnte ich Sie kurz unter vier Augen sprechen, Herr Specht?«, fragte er den Bankmitarbeiter, der augenblicklich den Blickkontakt mit seinem Begleiter suchte und dabei überaus unsicher wirkte. »Nur ein paar Fragen, deren Beantwortung garantiert keine Interna Ihres Arbeitgebers berühren wird.«

Van Roon beugte sich kurz nach rechts, flüsterte Specht etwas ins Ohr und nickte.

»Auch wenn andere meine Fragen Ihrer Meinung nach besser beantworten könnten«, begann Lenz vorsichtig, nachdem die beiden ein paar Schritte gegangen waren und sich außer Hörweite der Gruppe um van Roon und den Polizisten befanden. »Wie war Ihr Verhältnis zu Herrn Vontobel?«

»So wie es nun einmal ist zwischen Boss und Mitarbeiter. Dienstlich, würde ich sagen.«

»Sie haben also nie etwas privat zusammen unternommen?«

»Nein, nie. Herr Vontobel hätte das auf keinen Fall gewollt. Er hat anders getickt als die meisten anderen Menschen.«

»Ich weiß, dass er nicht verheiratet gewesen ist. Aber vielleicht gab es ja eine Freundin?«

Lenz sah, wie Specht einen dicken Kloß herunterschlucken musste.

»Oder vielleicht einen Freund?«

»Oh nein, das bestimmt nicht. Er hatte, wie man sich erzählt, manchmal was mit Frauen, aber von etwas Festem weiß ich nichts.«

Ein kurzes Zögern.

»Er hat eigentlich niemanden so richtig nah an sich herangelassen.«

Lenz’ Blick wandte sich den Fahrzeugen in der Garage zu.

»Aber ein PS-Junkie ist er schon gewesen, was?«

»Stimmt, das kann man so sagen. Darüber hat natürlich jeder in der Abteilung geredet, das können Sie sich bestimmt vorstellen.«

»Apropos Abteilung. Was genau machen Sie da, in dieser Abteilung?«

»Wir sind in der Anlageberatung tätig.«

»Das heißt, Sie geben den Kunden Tipps, was sie mit ihrem Geld machen sollten, damit es sich vermehrt.«

»So in etwa, ja.«

Über das Gesicht des Mannes lief der Schweiß nun in Strömen.

»Und läuft es gut?«

»Ich kann nicht klagen.«

»Und Herr Vontobel offensichtlich auch nicht, wenn man das alles hier so sieht?«

»Nein, vermutlich nicht. Aber ich weiß natürlich nichts über die Ausgestaltung seines Arbeitsvertrags. Er hat ja auch nur mit den sehr guten, eher großen Kunden zu tun gehabt. Also denen, die über ein größeres Portfolio verfügen.«

»Sind Sie gut mit ihm zurechtgekommen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Na, ob Sie ein gutes Verhältnis hatten, der Herr Vontobel und Sie.«

»Wie gesagt, es war eigentlich immer sehr dienstlich. Er hat uns, ich meine, mir Aufträge gegeben, und ich habe sie umgesetzt. Also erfüllt.«

»Wie würden Sie Herrn Vontobel beschreiben?«

»Ich verstehe nicht.«

»War er ein eher harter Boss oder eher von der nachgiebigen Sorte, was würden Sie sagen?«

Specht machte eine längere Pause, bevor er antwortete.

»Nachgiebig war er bestimmt nicht. Er hat von jedem immer das Maximale gefordert.«

»War er gerecht?«

Der junge Mann sah Hilfe suchend in Richtung des Justiziars, der jedoch, geleitet von dem Uniformierten, dabei war, das Gelände zu verlassen.

»Was ist heute schon gerecht? Oder wer ist noch gerecht?«

»Also hat er es mit der Gerechtigkeit nicht so genau genommen, der Herr Vontobel?«

»Das haben Sie jetzt gesagt.«

»Stimmt«, gab Lenz freimütig zu und ließ erneut den Blick über den imposanten Fuhrpark gleiten.

»Hatte Herr Vontobel so etwas wie Feinde, von denen Sie wissen? Irgendwelche Menschen, die schlecht auf ihn zu sprechen waren, mit denen er Streit hatte?«

»Nein«, erwiderte Specht hastig, »davon weiß ich auf keinen Fall etwas.«

»Also auch nichts Erwähnenswertes, das mit seiner Arbeit zu tun gehabt haben könnte? Ein schlecht beratener Kunde vielleicht?«

»Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen, dazu habe ich viel zu geringen Einblick in seine Arbeit und kenne seine Kunden zu wenig. Natürlich ist in den letzten Jahren, in diesem wirklich schwierigen Finanzumfeld, manchmal etwas schiefgegangen, also hat sich nicht so entwickelt, wie man das prognostiziert hatte, aber das ist doch kein Grund, jemanden umzubringen.«

Lenz streckte die Rechte nach vorn, um sich bei dem Mann zu bedanken und ihn zu verabschieden, zog sie jedoch wieder zurück und hob den Kopf.

»Eine letzte Frage hätte ich noch, Herr Specht, dann sind wir auch schon fertig. Und zwar würde mich interessieren, was sich so Wichtiges auf den Computern befindet, dass Ihr Herr van Roon solch einen Aufstand macht?«

Specht schluckte erneut deutlich sichtbar.

»Das fällt jetzt aber wirklich in den Bereich Bankinterna, wie Herr van Roon es schon angesprochen hat. Und außerdem weiß ich es wirklich nicht. Unser Bereichsleiter ist vor etwa einer Stunde zusammen mit Herrn van Roon bei uns in der Abteilung aufgetaucht, hat auf mich gedeutet und gesagt, ich solle ihm alle Unterstützung geben, die er braucht. So bin ich hierher gekommen. Und Sie können mir glauben, dass ich mich nicht darum gerissen habe, ganz sicher nicht.«

»Tja, das kenne ich«, machte Lenz auf mitfühlend. »Wenn der Vorgesetzte ruft, sollte man besser keinen anderen Termin haben.«

»Genau.«

Eine Minute später hatte der Anlageberater das Gelände verlassen und saß beim Justiziar der Nordhessenbank in dessen schwerem Geländewagen, und nicht nur ein unbeteiligter Beobachter hätte durchaus den Verdacht haben können, dass er sich für das Gespräch mit dem Polizisten rechtfertigen musste.

»So, Thilo«, knurrte Lenz, nachdem er sich wieder zu seinen Kollegen gesellt und sie kurz über das informiert hatte, was aus Markus Specht herauszulocken gewesen war. »Ich will, dass alles, was in diesem Haus auch nur nach Computerdatei riecht, aufs Präsidium gebracht wird. Jede Festplatte, jeder Stick und jede Speicherkarte. Dieser Herr Jurist hat mir nämlich wirklich Appetit darauf gemacht zu erfahren, was da alles drauf zu finden ist.«

»Geht klar«, bestätigte der junge Oberkommissar.

»Und du, RW, besorgst uns alles, was wir an Bankdaten und so weiter über ihn kriegen können. Festgelder, Kredite, Immobilien, jedes Detail müssen wir wissen. Und wenn du schon dabei bist, versuch gleich mal rauszufinden, ob die BaFin was über ihn hat.«

»Das ist aber schon ein großes Kaliber, zu dem du da greifst, Paul. Außerdem ist das Bundesamt für Finanzdienstleistungsaufsicht nicht sehr gesprächig, wie du weißt. Und immerhin ist er das Opfer, nicht der potenzielle Täter.«

»Ich weiß. Aber irgendwas tief in mir drin schreit furchtbar laut, dass der Schlüssel zur Aufklärung des Falles mit seinem Job verknüpft ist.«

»Na, wenn du meinst. Dann mache ich mich am besten gleich auf den Weg, zumal es hier im Augenblick sowieso nichts zu tun gibt für mich.«

»Wenn’s geht, kannst du auch mal deinen Kumpel vom Finanzamt anzapfen, was der so über Vontobel weiß.«

»Ja, auch das mache ich«, stöhnte Gecks gekünstelt auf, verabschiedete sich und war kurz darauf durch das Tor und hinter der Mauer verschwunden.

»Dann geh ich mal rein und sehe, was ich so an Datenträgern finde«, meinte Hain und verduftete ebenfalls.

Lenz ging erneut zur Garage, betrachtete noch einmal jeden der drei Wagen, danach die Motorräder und blieb schließlich vor dem Mercedes-Oldtimer stehen.

Was für ein Auto, dachte er, und ein klein wenig Neid spielte bei dieser Überlegung schon eine Rolle, während er seine Finger über die ungewöhnlichen Türen des Wagens gleiten ließ.

Einfach nur geil, das Ding.

Mit bedächtigen Schritten ging er rückwärts, ohne jedoch den Blick von dem Auto zu nehmen.

Egal, aus welcher Position man ihn betrachtet, er ist immer schön.

»Wow, so was könnte mir auch gefallen«, kam es von hinten, wo Dr. Franz mit seiner Tasche in der Hand stand. »Ist das ein echter?«

»Davon gehe ich aus, ja.«

»Als Kind war er der Supertrumpf in meinem Autoquartett«, bemerkte der Mediziner anerkennend.

»Ach, in Ihrem auch«, murmelte Lenz leise, um gleich darauf laut und deutlich »gibt es etwas Neues wegen des Todeszeitpunktes?« hinterher zu schieben.

»Ich würde mich auf gestern Abend festlegen, irgendwann zwischen 17:00 und 23:00 Uhr. Genauer geht es leider noch nicht, aber wenn ich mit meinen Untersuchungen fertig bin, bekommen Sie die Ergebnisse als Erster in die Hand.«

»Ja danke, Doc.«

Der Rechtsmediziner nickte grußlos und wandte sich zum Gehen.

»Ach ja, bevor ich es vergesse, Herr Lenz. Ich habe veranlasst, dass die Schlange heute Nachmittag abgeholt wird. Bis es so weit ist, sollten Sie sich von dem Vieh fernhalten, diese Dinger kann man immer schlecht einschätzen. Wenn sie satt sind, geht von ihnen eher keine Gefahr aus, wenn dem aber nicht so ist, können sie ganz schön unangenehm werden. Und das eine vom anderen zu unterscheiden, ist nahezu unmöglich.«

»Ich werde Ihren Rat beherzigen, vielen Dank. Aber es besteht keine Gefahr, dass die Schlange und ich uns auf dem Flur begegnen, oder?«

»Nein, das garantiert nicht. Das Terrarium ist erstklassig gepflegt und perfekt gesichert. Darüber habe ich mich schon aus reinem Eigennutz informiert, bevor ich meine Arbeit aufgenommen habe.«

Damit verließ Dr. Franz endgültig das Gelände. Lenz ging langsam auf den Eingang zu, betrat das Haus und fand Thilo Hain im Büro unter einem Schreibtisch liegend.

»Na, was gefunden?«

»Ja, so einiges. Bin gerade dabei, das Zeug freizulegen.«

»Gut. Wie lang brauchst du noch?«

»Höchstens fünf Minuten. Nehmen wir den Krempel gleich mit?«

»Das wäre mir das Liebste, ja.«

»Dann such schon mal nach einem Karton oder etwas Ähnlichem.«

»Mach ich.«

Bevor der Hauptkommissar den Auftrag seines Mitarbeiters ausführte, schaute er bei Heini Kostkamp und dessen Mitarbeitern vorbei.

»Na, Männer, schon was rausgefunden?«, wollte er freundlich wissen.

»Ja«, erwiderte der Mann von der Spurensicherung. »Der oder die Täter sind nicht mit Gewalt ins Haus eingedrungen. Wie es aussieht, muss der Ermordete sie hereingelassen haben.«

Er schnaufte tief durch.

»Und er oder sie haben ein verdammt dickes Kaliber benutzt bei ihrer Untat.«

»Sonst noch was?«

»Nichts, worüber wir schon reden sollten. Du kannst mich heute Nachmittag anrufen, dann wissen wir sicher schon mehr.«

»DNA-Spuren?«

Kostkamp funkelte ihn an.

»Nuschel ich oder was? Frag heute Nachmittag an. Oder warte, lass mir besser Zeit bis morgen früh.«

»Ist ja schon gut, Heini, krieg dich wieder ein.«

»Fällt mir schwer bei dir.«

»Ja, ich weiß.«

Lenz verließ kopfschüttelnd das Zimmer und stapfte zum Reinigungsraum, wo er neben der Waschmaschine einen Wäschekorb aus Kunststoff fand.

»Der ist gut«, wurde er von Hain gelobt, der einen PC, einen Laptop, einen Tablet-PC und mehrere externe Festplatten in das giftgrüne Behältnis packte.

»Ein paar USB-Sticks habe ich auch noch gefunden, die transportiere ich in der Jackentasche.«

Damit schnappte er sich einen der Griffe und sah Lenz an, der allerdings keine Anstalten machte, ihn zu unterstützen.

»Nix im Ei, oder was?«, brummte er stattdessen.

»Fass an, los.«

Widerwillig griff der Hauptkommissar zu, und gemeinsam wuchteten sie unter dem Klicken mehrerer Kameras und den Rufen der Reporter nach einem kurzen Statement die komplette Datensammlung des ermordeten Sven Vontobel zu Hains Kombi. Dort packten sie alles in den Kofferraum und wollten gerade einsteigen, als sich von links ein älterer Mann näherte und ihnen zunickte.

»Guten Tag. Ich vermute, Sie sind von der Polizei.«

»Ja«, erwiderte Lenz, »das stimmt. Können wir etwas für Sie tun?«

»Ich glaube nicht. Aber vielleicht kann ich etwas für Sie tun.«

Er deutete auf ein versteckt liegendes Eckhaus in etwa 100 Meter Entfernung.

»Mein Name ist Heinz Lohrmann, ich wohne dort drüben in dem Haus.«

Lenz sah ihn fragend an.

»Ja, Herr Lohrmann. Haben Sie vielleicht etwas beobachtet, das uns weiterhelfen könnte?«

Der Mann schüttelte betreten den Kopf.

»Nein, das nicht. Und vielleicht ist es auch gar nicht so wichtig, wie ich gedacht habe.«

»Na, na«, mischte Hain sich aufmunternd ein. »Für uns ist alles wichtig.«

Damit zog er den Nachbarn sanft ein paar Meter hinter sich her, bis sie außerhalb der Hörweite der Journalisten waren.

»Also, was wollten Sie uns mitteilen?«, fragte Lenz, der nun sein Gegenüber etwas eingehender musterte. Kakifarbene Leinenhose, helles Hemd, lässige Bräune, insgesamt eine sehr gepflegte Erscheinung. Nur die Schuhe nach Art von Gesundheitstretern wollten dem Kommissar nicht recht gefallen.

»Es ist doch richtig, dass Herr Vontobel erschossen wurde, oder?«

Lenz legte bedauernd die Stirn in Falten.

»Ich bitte Sie um Verständnis dafür, Herr Lohrmann, dass wir zum Stand der Ermittlungen und zu den Einzelheiten darüber, was sich im Haus abgespielt hat, keine Angaben machen können.«

»Ja, das verstehe ich. Allerdings …«

»Was allerdings?«

»Es ist vielleicht ein wenig dumm von mir gewesen, so einfach hier aufzutauchen, aber …«

Er schluckte.

»Meine Frau hat mich übrigens auch davor gewarnt, es zu tun.«

»Okay«, nickte Hain sehr verständnisvoll. »Das ist alles gut und schön, aber es hilft uns nicht weiter, wenn wir nicht wissen, wovon Sie reden, Herr Lohrmann.«

Der Angesprochene zog ein sorgsam gefaltetes Stofftaschentuch aus der Hosentasche und tupfte sich damit die Stirn ab.

»Ich muss etwas weiter ausholen, wenn ich Ihnen das erzähle, worum es mir geht.«

»Bitte, nur zu.«

Der etwa 70-jährige Mann sammelte sich, wischte sich ein weiteres Mal über die Stirn, faltete das Taschentuch ordentlich zusammen und steckte es weg.

»Ich war bis zu meiner Pensionierung vor acht Jahren Filialleiter in einer Bank hier in Kassel, das muss ich vorausschicken. Ohne das Wissen über diese Tatsache können Sie mit meinen Informationen vermutlich nur bedingt etwas anfangen.«

Anfangen ist ein gutes Stichwort, dachte Lenz.

»Ich habe die komplette Bankkarriere hinter mir. Angefangen als Lehrbursche, so hieß das damals noch, und hochgearbeitet bis zum Filialleiter. Natürlich habe ich mich immer weitergebildet, anders wäre das ja gar nicht gegangen.«

Erneut kam das Taschentuch zum Vorschein und an der Stirn zum Einsatz.

»Wir haben zu meiner Zeit noch ehrliche Arbeit abgeliefert. Grundehrliche Arbeit. Das scheint heute jedoch vielfach nicht mehr der Fall zu sein. Und ein höchst unrühmliches Beispiel für den neuen Stil stellte Herr Vontobel dar. Das weiß ich aus erster Hand.«

»Hatten Sie dienstlich mit ihm zu tun?«, wollte Hain wissen.

»Oh nein, wo denken Sie hin! Dienstlich hatte ich niemals etwas mit ihm zu tun, aber als Anleger. Und was das angeht, hat er sich nicht mit Ruhm bekleckert, das kann ich Ihnen versichern.«

»Wie meinen Sie das? Können Sie ein wenig genauer werden?«

»Er hat mich letztes Jahr einmal auf der Straße angesprochen. Wir kannten uns vom Sehen, so wie man halt etwas entfernter wohnende Nachbarn kennt. Einmal«, wies er auf die Garage, »hatten wir uns über seinen Mercedes unterhalten, aber nicht sehr ausführlich. Und dann hat er mich angesprochen und mir eine angeblich wirklich gute Kapitalanlage angeboten. Und ich Hornochse war auch noch naiv genug, mich darauf einzulassen.«

»Und haben dabei Geld verloren?«

»Nicht nur Geld. Auch einiges von meinem Ansehen, denn ich war so verblendet, dass ich noch anderen Menschen zu diesem Investment geraten habe. Freunden und Bekannten.«

»Und die haben sich natürlich auf Ihren Rat verlassen und ebenfalls Geld verloren.«

»Genau, ja.«

»Was war das denn für ein Anlagetipp?«, wollte Lenz wissen.

Lohrmann sah skeptisch von einem der Polizisten zum anderen.

»Ich bin nicht sicher, ob das Ihren Sachverstand in Finanztransaktionen nicht überfordern würde, meine Herren. Aber vereinfacht ausgedrückt hat er uns allen Aktien empfohlen, die sich dann als veritable Blindgänger entpuppt haben.«

»Und Sie meinen«, legte der Hauptkommissar nach, »dass sich einer von den Leuten, die auf Vontobels Tipps gehört haben und dabei gerupft wurden, an ihm gerächt haben könnte? Für einen miesen Tipp?«

»Sehr richtig, exakt das meine ich.«

Nun warfen Lenz und Hain sich einen Blick der Marke ›geht’s noch?‹ zu.