Tödlicher Befehl - Matthias P. Gibert - E-Book

Tödlicher Befehl E-Book

Matthias P. Gibert

4,4

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Der türkischstämmige Politiker Okan Schulze bringt sein Auto in die Werkstatt eines Freundes. Nach einer kurzen Probefahrt kommt der Mechaniker von der Fahrbahn ab - das Auto geht in Flammen auf. Schnell stellt sich heraus: Der Wagen wurde manipuliert. War Okan Schulze das Ziel des Anschlags? Der Politiker will das nicht glauben. Währenddessen wird ein türkischer Geheimdienstmitarbeiter tot aufgefunden und plötzlich überschlagen sich die Ereignisse. Die Ermittler vermuten einen Zusammenhang und müssen bald erkennen, dass dieser Fall bis in die höchsten Kreise der türkischen Regierung hineinreicht.

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Seitenzahl: 383

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Matthias P. Gibert

Tödlicher Befehl

Ein neuer Fall für Thilo Hain und Pia Ritter

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Tödliche Ferien (2017), Unkrautkiller (2016), Paketbombe (2016),

Halbgötter (2015), Müllhalde (2014), Bruchlandung (2014),

Pechsträhne (2013), Höllenqual (2012), Menschenopfer (2012),

Zeitbombe (2011), Rechtsdruck (2011), Schmuddelkinder (2010),

Bullenhitze (2010), Eiszeit (2009), Zirkusluft (2009),

Kammerflimmern (2008), Nervenflattern (2007)

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © billyfoto/istockphoto.com

ISBN 978-3-8392-5854-5

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Guten Morgen, meine Damen und Herren,

ich begrüße Sie zu unserer Sendung Brinkmann am Sonntag hier auf Radio Hessen. Als Studiogast darf ich Ihnen heute den Kasseler Politiker und Stadtverordneten Okan Schulze vorstellen. Schön, dass Sie da sind, Herr Schulze, und einen guten Morgen.

 

Ja, danke, ich wünsche Ihnen und den Hörern auch einen guten Morgen. Und natürlich bedanke ich mich für die Einladung.

Sehr gern. Am besten steigen wir direkt ein, denn es gibt ein paar Fragen an Sie, die mir unter den Nägeln brennen und für die sich vermutlich auch unsere Hörer an den Radiogeräten sehr interessieren.

Mit Vergnügen.

Gut. Groß vorzustellen braucht man Sie wahrscheinlich gar nicht, Herr Schulze, aber ein paar Stationen Ihres Lebens würde ich schon gern aufgreifen.

Also: geboren in der Türkei, aber noch vor dem zweiten Geburtstag der Umzug nach Deutschland, genauer gesagt, nach Kassel.

Das stimmt, ja.

Abitur und Ausbildung in Kassel, danach Studium und schließlich der Abschluss in Sozialpädagogik.

Richtig, so hieß das damals noch.

Schon in jungen Jahren politisch aktiv und schließlich eines der Gesichter der Kasseler Lokalpolitik. Hat es Sie eigentlich nie gejuckt, mal über den Kasseler Tellerrand hinaus politisch aktiv zu werden?

Das bin ich interessanterweise schon recht häufig gefragt worden. Bisher hat mir Kassel als politische Wirkungsstätte immer gereicht, aber vielleicht ändert sich das ja noch, wer weiß. Im Moment allerdings bin ich mit meinem Leben und meiner Arbeit, sowohl der politischen wie auch der zum Broterwerb, sehr zufrieden. Und aus Kassel wegzugehen, würde mir nicht leichtfallen, weil ich die Stadt sehr liebe.

Geboren wurden Sie als Okan Mersin, Herr Schulze, und haben dann den Namen Ihrer Frau angenommen. Ist es Ihnen schwergefallen, plötzlich einen anderen Nachnamen zu tragen?

 

Nein, gar nicht. Meine Frau und ich waren sehr jung, als wir geheiratet haben, und fanden das toll. Mein Vater allerdings konnte sich bis zu seinem Tod nicht damit anfreunden. Für einen traditionell denkenden türkischen Mann ist es unvorstellbar, seinen Namen aufzugeben.

Was uns direkt zum Thema bringt, Herr Schulze. Sie sind bekannt dafür, sich immer wieder von Deutschland aus in die türkische Innenpolitik einzumischen und klar Stellung zu beziehen, was dort, wie man hört, nicht jedem gefällt. Haben Sie nicht manchmal Angst, sich Feinde am Bosporus zu machen? Einflussreiche Feinde vielleicht sogar?

 

Auch das bin ich schon sehr häufig gefragt worden: Hast du nicht Angst, dass dir etwas zustoßen könnte, Okan?Hast du nicht Angst, dass dir mal einer ans Leder will dafür, dass du dich mit deiner Meinung so in der Öffentlichkeit exponierst? Und ich sage dazu immer das Gleiche, nämlich dass die, die Angst schüren, gewinnen würden, wenn ich Angst hätte. Wenn ich mich der Angst beugen würde, dann hätten sie gewonnen, und das könnte, das würde ich mir nicht verzeihen. Außerdem lebe ich in Deutschland, in einem Rechtsstaat und einem Land, in dem man seine Meinung offen äußern kann und darf. Aber um die Frage ganz konkret zu beantworten: Nein, ich habe überhaupt keine Angst.

Interessant. Sie kritisieren immer wieder, dass die Demokratie aus immer weiteren Kreisen der türkischen Zivilgesellschaft verschwindet; dass immer mehr Züge einer Diktatur sichtbar werden. Woran machen Sie das fest?

 

Zum Beispiel an der Angst der Menschen, sich öffentlich über politische Themen zu äußern. Früher waren politische Themen und die manchmal auch hitzigen Diskussionen darüber, in jeder Kneipe und in jedem Café der Türkei an der Tagesordnung. Aber das ist lange vorbei. Wenn man heute öffentlich eine Meinung vertritt, die nicht auf einer Linie mit der der Regierung liegt, muss man mit seiner Verhaftung und seiner Einkerkerung rechnen. Und das hat für mich definitiv diktatorische Züge.

Da kann ich Ihnen leider nicht widersprechen, Herr Schulze. Darüber hinaus scheinen Sie es sich zum Steckenpferd gemacht zu haben, den türkischen Staatspräsidenten direkt mit Kritik, aber auch mit Häme zu überziehen. Urlaub in der Türkei steht derzeit vermutlich nicht auf dem Programm bei Ihnen?

 

Nein, das würde ich mich derzeit nicht trauen, weil ich befürchten müsste, ins Gefängnis geworfen zu werden. Wie so viele andere übrigens, was gern mal vergessen wird.

Aber davon abgesehen hat der Staatspräsident bis heute nicht erkennen lassen, dass er auch nur ein Jota von seinem Nepotismus und seinem Hang zur Vetternwirtschaft Abstand nimmt. Sein Schwiegersohn hat sich mit seiner Hilfe das größte Kommunikationsunternehmen des Landes unter den Nagel gerissen und seine älteste Tochter leitet das Justizministerium. Und es gibt leider so viele weitere Beispiele für Korruption im Umfeld des Staatspräsidenten, dass Ihre Sendezeit dafür nicht ausreichen würde, auch nur einen Bruchteil davon zu erörtern.

Und was das Thema Häme angeht, da muss ich Ihnen komplett widersprechen. Ich begleite die Entwicklung in meinem Heimatland mit kritischem Interesse, das, ja. Aber für Häme ist schon wegen der Menschen, die in diesem Land leben müssen, kein Platz.

Gut. Bliebe noch die Frage, wie sich das nach Ihrer Meinung in der Türkei weiterentwickeln wird. Sehen Sie irgendeinen Grund für Optimismus?

 

Leider nein. Die Türkei ist in einen Krieg verstrickt, das Regime unterdrückt massiv jegliche Opposition und die Menschen werden mithilfe der zumeist willfährigen Medien so dumm und uninformiert wie möglich gehalten. Wo sollte ich da so etwas wie einen Silberstreif am Horizont erkennen?

Eine wirklich pessimistische Perspektive, die uns unser heutiger Studiogast und Interviewpartner präsentiert. Nach dem Song »It’s The End Of The World« von R.E.M. hören wir mehr von Okan Schulze. Bleiben Sie dran …

 

 

1

Kassel, Mitte Mai 2018

Pia Ritter keuchte vor Anstrengung, blieb aber dennoch dem etwa 60 Meter vor ihr rennenden Mann mit dem Kapuzenpullover auf den Fersen. Immer wieder kam sie ein paar Meter näher, wenn der Verfolgte einem Fußgänger ausweichen musste. Der Abstand vergrößerte sich aber sofort wieder, wenn sie den vielen flanierenden Passanten und Einkaufswilligen auf der Oberen Königsstraße aus dem Weg gehen musste. Nun kam ihr auch noch einer der blauen Kombis dazwischen, mit denen die Mitarbeiter des Nordhessischen Verkehrsverbundes für Ordnung sorgten.

Verdammt, du hast mir gerade noch gefehlt, dachte sie mit tonlosem Stöhnen und wischte sich mit einer hektischen Bewegung den Schweiß von der Stirn. Der Mann, den sie verfolgte, gewann nun deutlich an Boden. Entweder hatte er die zweite Luft bekommen oder Pia wurde, ohne dass sie es bewusst mitbekam, langsamer.

Scheiße.

Nun allerdings hatte der Fahrer des blauen Kombis es bis knapp hinter den Flüchtenden geschafft, bremste ruckartig, und gleich danach flog die Beifahrertür auf. Zu Pias großem Erstaunen sprang ihr Kollege Thilo Hain aus dem Auto, hatte keine fünf Sekunden später zu dem sich umblickenden Mann mit dem Hoodie aufgeschlossen und brachte ihn mit einem gezielten Stoß zu Fall.

»He, bist du bescheuert?«, stieß der Mann auf dem Boden in Richtung des Polizisten aus, nachdem er sich ein paarmal um sich selbst gedreht hatte und auf dem Rücken zum Liegen gekommen war.

»Das willst du nicht wirklich wissen«, brummte Hain leise, griff sich dabei den Handschellensatz vom Gürtelhalter und wollte sie dem Mann anlegen. Der jedoch wehrte sich nach Kräften. Im gleichen Augenblick erschien Pia Ritter neben Hain, machte jedoch keine Anstalten, ihrem Kollegen beim Fixieren des noch immer nachhaltig zappelnden Hoodieträgers zur Hand zu gehen. Stattdessen stützte die junge Oberkommissarin keuchend und kopfschüttelnd die Hände auf die Oberschenkel.

»Was war denn das jetzt wieder?«, wollte sie mit hochrotem Kopf wissen.

Hain, der sich langsam vom Boden erhob, grinste sie an.

»Das war ökonomische Polizeiarbeit«, erwiderte er mit einem schelmischen Augenzwinkern.

»Unter Zuhilfenahme eines Kraftfahrzeuges, wenn ich das richtig gesehen habe. Das ehrenvolle Rennen hinter einem Verdächtigen her wird vermutlich nicht mehr deine Spezialdisziplin werden, oder?«

Sie richtete sich auf und drängte ein paar neugierige Passanten zurück.

»He, was ist mit meinen Menschenrechten?«, kam es jaulend von unten. »Ihr zwei Schwachmaten könnt mich nicht einfach so hier auf dem Boden rumliegen lassen, vor all den Gaffern hier. Und überhaupt, was soll dieser brutale Angriff?«

Hain und Ritter sahen sich schmunzelnd an.

»So, so, Schwachmaten«, brummte der Hauptkommissar. »Wenn das mal keine ernsthafte, ja fast ehrenrührige Beleidigung ist.« Er beugte sich nach unten, ließ seine rechte Hand in der linken vorderen Tasche der Kapuzenjacke verschwinden und zog ein Bündel Geldscheine heraus. »Wie, meinst du, sieht es mit den Menschenrechten der Zeitungsstandbetreiberin aus, der du unten am Königsplatz vor nicht mal fünf Minuten eine Ladung Tränengas verpasst und die du anschließend ausgeraubt hast? Hast du dazu auch was zu sagen, du Dumpfbacke?«

»Damit hab ich nicht das Geringste zu tun. Das stimmt gar nicht, was Sie da behaupten.«

Nun kam vom Rathaus her ein Streifenwagen auf sie zugerollt. Das Blaulicht war zwar eingeschaltet, auf die lautstarke Sirene verzichteten die uniformierten Kollegen aber.

»Hallo, Pia«, begrüßte der Beifahrer die Oberkommissarin herzlich und warf auch Hain ein wohlwollendes Nicken zu. »Was haben wir denn hier?«

»Er hat vor ein paar Minuten den Zeitungskiosk unten am Königsplatz ausgeraubt. Thilo und ich waren gerade am Mittagessen, haben es beobachtet, die Verfolgung aufgenommen und ihn hier gestellt.«

»Na, eher gefällt, wenn ich das richtig sehe«, sagte der Fahrer des Streifenwagens und stellte sich zwischen die beiden Beamten.

Pia wies auf ihren immer noch grinsenden Kollegen und deutete danach auf den blauen Kombi, dessen Fahrer am Kotflügel lehnte und an einer Zigarette zog.

»Das waren die beiden im Kollektiv. Mir wäre er vermutlich entwischt, aber der Kollege Hain hat sich chauffieren lassen und ihn dadurch … ausgebremst.«

»Wie auch immer«, erwiderte Hain und drückte dem links neben ihm stehenden Kollegen in Blau die Geldscheine in die Hand. »Die Kohle hatte er in der Tasche. Wenn ich es richtig beobachtet habe, sollte es genau das sein, was der Kioskbesitzerin fehlt.«

»Das stimmt alles nicht, wirklich«, brüllte der Mann am Boden. »Der lügt wie gedruckt.«

»Schon klar«, brummte der Streifenwagenfahrer, griff ihm unter die Arme und beförderte ihn in die Vertikale. »Das besprechen wir alles auf dem Revier.«

»Aber ich sage die Wahrheit. Ich hab das nicht gemacht, was der da erzählt. Ich hab die Kohle eben auf der Bank abgehoben und auf einmal verfolgt mich diese durchgeknallte Tante. Ich weiß überhaupt nicht, von welchem Kiosk die reden.«

In diesem Moment drängelte sich eine Frau von etwa 50 Jahren energisch durch die gaffende Menge. Sie hatte rot unterlaufene, tränende Augen und konnte vermutlich kaum etwas erkennen. Mit einem zwinkernden Rundumblick begutachtete sie die Szenerie, trat dann auf den Hoodieträger zu und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.

»Die ist für heute«, schnaufte sie und schlug ihn mit der anderen Hand noch einmal. »Und die für deinen Überfall im letzten Jahr.«

»Das ist doch mal eine Eins-a-Zeugenaussage«, murmelte Hain in Richtung seiner Kollegen.

»Meinst du, unsere Salate warten noch da auf uns, wo wir sie stehen gelassen haben?«, wollte Pia mehr rhetorisch wissen.

»Das will ich doch hoffen. Immerhin habe ich eine verdammt anstrengende Verfolgungsjagd hinter mir und damit den Rest ehrlich verdient.«

»Idiot.«

Die Salate der beiden waren tatsächlich nicht abgeräumt worden, vermutlich weil die lethargische Bedienung der Pizzeria nicht einmal ihren überstürzten Abgang mitbekommen hatte. Doch die beiden Kommissare hatten keine Lust auf eine Mahlzeit, die für jeden zugänglich eine knappe halbe Stunde in der Sonne gestanden hatte. Der eine oder andere hätte den Salat mit Unappetitlichem nachwürzen können. So saßen sie kurz darauf in ihrem Büro, wo sie auf dem Schreibtisch eine handschriftliche Nachricht von Kriminalrat Herbert Schiller vorfanden. »Macht euch mal besser sofort auf den Weg zu mir!«

»Wow, das klingt aber mal richtig übel«, bemerkte Pia.

»Ach was, der hat nun mal eine schroffe Art. Wirst sehen, da steckt nichts Besorgniserregendes dahinter.«

»Wenn du meinst.«

Sie tranken beide schnell ein Glas Wasser und machten sich auf den Weg.

»Rein mit euch«, wurden sie von Schiller kurz und mit einer Handbewegung begrüßt, der mit zwischen Schulter und Hals eingeklemmtem Telefon hinter seinem Schreibtisch saß und von seinem Gesprächspartner mental offenbar stark gefordert wurde.

»Ja, natürlich, aber ich habe Ihnen doch jetzt mehrfach dargelegt, dass …«

Er hörte schnaufend zu.

»Selbstverständlich könnten wir das so machen, aber …«

Wieder lauschte er eine Weile regungslos, legte dann die Stirn in tiefe Falten, drückte die rote Taste am Telefon und legte das Gerät kommentarlos vor sich auf der Schreibtischplatte ab.

»Das klang nervig«, machte Hain auf gut Wetter.

Der Kriminalrat blieb regungslos sitzen und starrte seine beiden Mitarbeiter an. »Hm.«

»Was heißt dieses Hm? War der Anruf nun so nervig, wie es bei mir ankam, oder nicht?«

»War er.«

»Aber das ist ja nicht der Grund, warum du uns so … direktiv zu dir zitiert hast«, vermutete Pia Ritter.

»Nein, das ist er natürlich nicht.«

Die junge Oberkommissarin machte ein paar nervöse Trippelschritte. »Und was ist dann der Grund?«

Über Schillers Gesicht huschte die Andeutung eines Lächelns. »Ich wollte was ausprobieren.«

»Was ausprobieren? Was um alles in der Welt wolltest du denn mit dieser blöden Nummer ausprobieren?«

»Wollt ihr euch nicht setzen?«

»Erzählst du uns dann, was du …?«

»Klar, und ich merke gerade, dass speziell du, Pia, für dieses Experiment vielleicht nicht ganz die richtige Probandin bist.«

»Ein Experiment? Jetzt werde ich wirklich neugierig.«

»Ich war die letzten beiden Tage auf einem Seminar, wie ihr wisst. Kommunikation und Führung und dieser ganze Unfug, aber ich muss es ja mitmachen. Eigentlich gab es nicht viel Neues mitzunehmen, aber dieser komische Seminarleiter hat mich mit einer These wirklich verblüfft, und die hatte genau mit dem zu tun, was ihr gerade erlebt habt. Er hat uns erklärt, dass eben jenes Verhalten, das ihr gerade an den Tag gelegt habt, total weitverbreitet ist.«

Ritter und Hain sahen sich fragend an.

»Na ja, ich meine die Tatsache, dass ihr eigentlich sicher wart, nichts Beklopptes oder sonst wie Falsches getan zu haben. Und trotzdem seid ihr hier reingeschlichen wie geprügelte Hunde, nur weil meine Ansage auf dem Zettel ein wenig direktiv war. Interessant, oder?«

Hain ließ das Gesagte ein wenig sacken und schüttelte schließlich den Kopf. »Du meinst, du hast uns hierherbestellt, um uns zu Probanden beim Beweis dieser kruden These zu machen?«

»Hat ja immerhin geklappt, oder?«

Wieder eine kurze Pause.

»Du schaffst es immer wieder, mich in den Zustand der Verwunderung zu versetzen, Herbert. Aber was hättest du denn gemacht, wenn wir hier völlig entspannt und locker aufgetaucht wären? Uns zum psychologischen Dienst geschickt?«

»Darüber habe ich nicht ernsthaft nachgedacht, wirklich nicht. Aber die Idee hätte was Verlockendes.«

Der Hauptkommissar grinste seinen Boss schief an, hob die rechte Hand zum Abschied, drehte sich um und hielt auf die Tür zu.

»Nun sei doch nicht gleich angepisst, Thilo. Das ganze Jahr nehmt ihr mich auf die Rolle und macht mir das Leben zur Hölle, und wenn ich es einmal genauso mache, dann gibst du hier den Spielverderber. Nun komm wieder her, setz dich hin und find diesen Knüller ebenso lustig wie ich.«

»Wenn er sagt, dass es ein Revanchegag war, dann kann ich ihn sogar ein bisschen verstehen«, beschrieb Pia Ritter Hain ihre Gemütsverfassung. »Wir machen ihm das Leben wirklich nicht gerade leicht.«

»Aber …«

»Kein Aber.« Die Kommissarin wies auf ihren Boss. »Und vergiss nicht, dass du ohne Herbert vermutlich gar kein Bulle mehr wärst.«

Schiller lehnte sich in seinem Stuhl zurück und begann, auf einem Bleistift herumzukauen.

»Willst du uns jetzt noch mit der Auswertung deines ethisch zutiefst zu missbilligenden Experiments beglücken?«, wollte Hain schnippisch wissen.

»Nö. Ich will euch eigentlich nur demütig und voller Hochachtung mitteilen, dass ihr beiden vom Innenminister des Landes Hessen zu seiner diesjährigen Sommersause im Garten seines Dienstsitzes in Wiesbaden eingeladen worden seid.«

Wieder warfen sich die beiden vor dem Schreibtisch sitzenden Polizisten einen kurzen Blick zu, der jede Menge Unsicherheit verströmte.

»Du willst uns aber nicht zum zweiten Mal an diesem Tag auf die Rolle nehmen, oder? Und das, nachdem wir gerade in der proppenvollen Innenstadt ganz heldenhaft einen gewissenlosen Räuber verfolgt und natürlich auch dingfest gemacht haben.«

Schiller bestand zunächst darauf, detailliert über die Ereignisse des Tages informiert zu werden, bevor er bezüglich der Einladung konkret wurde.

»Soweit ich es verstanden habe, geht es um diesen Einsatz im Winter, dieser Kinderprostitutionsgeschichte und dem toten Jungen. Offenbar hat unser oberster Dienstherr davon erfahren und findet, dass ihr eine Ehrung verdient habt.«

»Aber wir haben doch nur unseren Job gemacht, Herbert«, mischte Pia sich noch immer überrascht und auch ein wenig zweifelnd ein. »Dafür gibt es eigentlich keine besonderen Auszeichnungen.«

»Na, nun stell mal euer Licht nicht unter den Scheffel, Pia. So, wie ihr euch da reingehängt und durchgeackert habt, hätten das nicht viele Kollegen gehandhabt. Und ich gestehe freimütig ein, dass ich zwischenzeitlich auch so meine Bedenken hatte, ob die ganze Arbeit und viele Zeit zu etwas führen würde.«

Die drei sprachen über den bisher kniffligsten Fall der beiden Ermittler, bei dem der gewaltsame Tod eines 13-jährigen Jungen quasi zu einer Kettenreaktion geführt hatte. Am Ende stand die Zerschlagung einer Gruppe von Menschenhändlern, zu deren Opfern auch Kinder ab acht Jahren gehört hatten.

»Du verarschst uns aber jetzt wirklich nicht, Herbert. Oder?«

Schiller schüttelte den Kopf. »Nein, damit mache ich keinen Spaß. Ihr seid am 26. August, einem Sonntag, Gäste des Innenministers in Wiesbaden. Und bitte, Leute, zieht euch was Vernünftiges an. Speziell du, Thilo. Ich will nicht deine Visage im Fernsehen sehen müssen und dabei denken, dass ein neuer Anzug eine gute Idee gewesen wäre.«

»Was hast du gegen meinen Anzug?«, echauffierte sich der Hauptkommissar künstlich. Offenbar war seine schlechte Laune komplett verflogen. »Bisher hat er dir doch immer gut gefallen.«

»Das mag sein. Aber der Trend geht zum Zweitanzug, Thilo. Vermutlich hast du davon leider noch nichts gehört.« Schiller winkte ab. »Aber lass mal. Ich werde, was das angeht, lieber mit Carla reden, die hat da hoffentlich den richtigen Einfluss auf dich.«

»Und was erwartest du von mir?«, kam es nun von Pia. »Das kleine Schwarze?«

»Nee, sicher nicht. Es sei denn, du willst den Herrn Innenminister auf irgendeine Weise angraben?«

»Keinesfalls. Häuptling Polizistenboss ist definitiv nicht mein Fall.«

»Gut. Dann war es das von meiner Seite. Von mir aus könnt ihr euch verdrücken und wieder hinter den bösen Buben dieser Welt herjagen.«

Hain sah auf seine Uhr. »Die Jagd besteht für den Rest des Tages aus Papierkram. Aber ab morgen früh sind wir wieder auf der Straße unterwegs, um dem Übel dieser Welt den Garaus zu machen.«

»Schön gesagt. Und jetzt verschwindet.«

2

Ankara, einen Tag später

Die Boeing 737-800 der Turkish Airlines setzte ein wenig holprig auf der Landebahn 21L des Flughafens Ankara-Esenboğa auf. 20 Minuten später hatte Hakan Durmus, der nur eine kleine Ledermappe bei sich trug, auf der Rückbank eines ladenneu wirkenden Mercedes-Taxis Platz genommen und dem Fahrer eine Adresse genannt.

Der Mann hinter dem Lenkrad musterte ihn ebenso interessiert wie beeindruckt im Rückspiegel, während er den Motor startete.

»Eine bemerkenswerte Adresse«, sagte er, während der Wagen anfuhr.

Durmus tat, als hätte er die Worte nicht gehört, und sah aus dem Fenster. Die Fahrt in die City und weiter zu seinem im Westen der türkischen Hauptstadt gelegenen Ziel dauerte wegen des morgendlichen Berufsverkehrs mehr als eine Stunde. Immer wieder blickte der Mann im unauffälligen grauen Anzug interessiert auf die vielen neu entstandenen Hochhäuser und Einkaufspassagen.

Hier hat sich wirklich viel getan, seit ich meine Ausbildung absolviert habe, dachte er nicht ohne Stolz.

»Wollen Sie am Haupteingang aussteigen, oder ist es Ihnen lieber, wenn ich Sie an einem der Nebeneingänge aussteigen lasse?«, wollte der Fahrer wissen.

»Am Haupteingang.«

Durmus konnte im Rückspiegel gut erkennen, wie sich die Stirn des etwa 60 Jahre alten Mannes am Steuer anerkennend hob.

»Sie wissen, dass es verboten ist, dort auszusteigen, wenn man nicht die ausdrückliche Genehmigung dazu hat?«, informierte er seinen Fahrgast trotzdem.

»Kümmern Sie sich um Ihre Dinge und lassen Sie mich meine erledigen«, blaffte Durmus ihn verärgert an.

»Natürlich«, kam es devot zurück. »Ich dachte nur …«

»Sie werden fürs Fahren bezahlt, nicht fürs Denken. Und jetzt schweigen Sie, verdammt noch mal!«

Hätte der bemitleidenswerte Fahrer ihn besser gekannt, wäre er vermutlich noch irritierter über den Wutausbruch des Fahrgastes gewesen, denn Hakan Durmus war im Umgang und in der Kommunikation mit anderen Menschen in der Regel ein kaum zu beeindruckender Profi. Heute allerdings befand er sich im Zustand der höchsten Anspannung. Der allerhöchsten, um präzise zu sein.

Sie passierten immer weniger Häuser, im Gegenzug wurden die Grünflächen üppiger. Durmus hatte natürlich schon viele Bilder des neuen, im Jahr 2014 offiziell eingeweihten Präsidentenpalastes gesehen, war jedoch noch nie auch nur in die Nähe des Gebäudekomplexes gekommen, der angeblich die Fläche von mehr als 50 Fußballfeldern einnahm. Nun tauchte der weiße Prunkbau unvermittelt hinter einer Baumreihe auf, und genauso schlagartig wurde dem Geheimdienstmitarbeiter übel. Übel, bei dem Gedanken, dass er an diesem Vormittag in einem der mehr als 1.000 Zimmer sitzen würde, übel auch deshalb, weil er nicht den blassesten Schimmer hatte, warum er hierherbefohlen worden war und wer von der Administration ihn dort empfangen würde.

Hakan Durmus. Geboren am 14. September 1978 in dem kleinen Dorf Hüseyinalan südlich von Bursa, verheiratet, zwei Kinder. Sohn eines Kleinbauern und einer Wäscherin und das vierte von 13 Kindern. Als Jugendlicher und Heranwachsender hatte er als aufsässig gegolten, doch die Zeit des Militärdienstes hatte ihm diese Flausen gründlich ausgetrieben. Und sie hatte dafür gesorgt, dass der junge Hakan seine Bestimmung fand. Einer seiner Ausbilder nämlich war auf seine extrem ausgeprägte Auffassungsgabe und sein Talent aufmerksam geworden, technische Zusammenhänge in kürzester Zeit zu analysieren und zu verstehen.

»Gib dem Hakan eine Kombizange, einen Hammer und eine Tube Dichtmittel und er kann jeden kaputten Motor dieser Welt innerhalb kürzester Zeit reparieren«, hatte ein anderer Ausbilder später einmal über ihn gesagt.

Deshalb war er direkt nach dem Militärdienst vom MIT angeworben worden, dem Nationalen Nachrichtendienst der Türkei. Die sich anschließende, mehr als vierjährige Ausbildung war hart und zehrend und trotzdem schloss Durmus sie als Zweitbester seines Jahrgangs ab. Danach verließ er Ankara und wurde zunächst auf verschiedenen Posten im Südosten der Türkei eingesetzt, wo er sich im Kampf gegen die zu jener Zeit noch sehr aktive PKK auszeichnete. Schon damals war er ein glühender Verehrer des jetzigen Staatspräsidenten geworden und hatte den Werdegang des Mannes mit dem Vornamen seines Geburtsmonats mit großem Wohlwollen verfolgt, obwohl er dessen extremer Hinwendung zum Islam und der damit einhergehenden Abkehr von der Säkularisierung der Türkei nicht mit der letzten Begeisterung folgen konnte.

2008 absolvierte er einen dreimonatigen Crashkurs in deutscher Sprache und wurde im Anschluss nach Leverkusen geschickt, wo er unter falschem Namen und mithilfe einer komplett erfundenen Legende 16 Monate lang lebte. Er war in dieser Zeit einer der mehr als 400 türkischen Geheimdienstmitarbeiter, die von Ankara auf die ungefähr drei Millionen seiner hier lebenden Landsleute angesetzt wurden. Hier ging es vorrangig um die Basisarbeit eines Nachrichtendienstlers, nämlich die Anwerbung von inoffiziellen Mitarbeitern, das Zusammentragen und Weiterleiten von relevanten Informationen und die gezielte Desinformation.

Eigentlich langweilte er sich die meiste Zeit der knapp eineinhalb Jahre, doch manches blieb ihm auch in angenehmer Erinnerung. Wie zum Beispiel die perfekt ausgebauten Autobahnen, auf denen man nach Lust und Laune und mit Höchstgeschwindigkeit rasen konnte. Er hatte ein paar wenige schmutzige Jobs zu erledigen gehabt, allesamt Körperverletzungen, die ihn jedoch zu keiner Zeit forderten oder gar überforderten.

2010 wurde er nach Istanbul zurückbeordert.

»Keinen Tag zu früh«, wie er gern erwähnte.

Dort übernahm er die Leitung eines Teams, das in der Welt der Geheimdienste unter der Bezeichnung »Nasse Angelegenheiten« tätig war, was nichts anderes als die vom Staat befohlene Tötung von Menschen bedeutete. Auch hier zeichnete sich der Familienvater als treuer Diener seiner Organisation aus und wurde insgesamt viermal mit verschiedenen Orden versehen. Nun, mit knapp 40 Jahren, hatte er einen Rang erreicht, über dem es für ihn kaum etwas zu erklimmen gab, der ihm und seiner Familie ein sehr gutes und von den Sorgen des Alltags freies Leben ermöglichte.

Nun jedoch, an diesem selbst für die allgemeinen klimatischen Verhältnisse Ankaras unglaublich heißen Frühsommertag, wurde er am mehr als beeindruckenden Haupteingang des Präsidentenpalastes von einem Uniformierten in Empfang genommen und ohne jegliches Prozedere um die beiden Personenschleusen herum zu einem der vielen Fahrstühle geführt. Dort drückte sein Begleiter auf den Anforderungsknopf, wartete, bis die Edelstahltüren sich geöffnet hatten, und nickte ihm ohne jegliche Emotion zu. Durmus bestieg die Kabine, der Mann drückte auf den Knopf für die zweite Etage und zog sich anschließend zurück.

Das überaus mulmige Gefühl, das ihn schon bei der Bekanntgabe des Befehls am Vortag beschlichen hatte, sich in diesem Haus zu genau dieser Stunde einzufinden, verstärkte sich in einem Maße, das Hakan Durmus nicht für möglich gehalten hatte. Er hatte das Gefühl, die Schweißflecken unter den Achseln würden bald den Hosenbund erreichen, während sein Mund so trocken war wie ein anatolischer Getreideacker in der Mittagshitze. Ein dezenter Ton ließ ihn aufsehen, und im gleichen Augenblick schwangen die Türen zurück. Direkt vor dem Ausgang stand ein weiterer hoch aufgeschossener Uniformierter, der ihm mit einer kurzen Geste zu verstehen gab, ihm zu folgen.

Vielleicht war es die schiere Größe des Gebäudes, möglicherweise die nicht enden wollenden Flure, vielleicht aber auch einfach die durch Klimatisierung erzeugte Kühle, die ihn erschaudern ließ. Der mit raumgreifenden Schritten vor ihm gehende Wachmann bekam davon nichts mit, so hoffte er zumindest. Kurz darauf hatten sie ihr Ziel erreicht. Durmus wurde einem anderen Wachmann mit einer dunkleren, fast schwarzen Uniform übergeben, der ihn wieder wortlos aufforderte zu folgen. Sie gelangten zu einer weiteren Personenschleuse mit einem Körperscanner, wie er ihn von großen Flughäfen kannte. Durmus wurde durchleuchtet und nach ein paar weiteren Ecken schließlich von dem Wachmann vor einer riesigen, doppelflügeligen Tür gestoppt. Sein Aufpasser zog eine Chipkarte durch einen verdeckt angebrachten Codeleser, schob die klackend entriegelnde rechte Türhälfte nach vorn und bedeutete ihm, auf dem vor einem völlig überdimensionierten Schreibtisch stehenden Stuhl Platz zu nehmen.

Durmus tat, was man von ihm verlangte, legte die Hände im Schoß übereinander und sah sich um. Vor seinem geistigen Auge ging er zum wiederholten Mal sämtliche Aufträge durch, die er und sein Team in den letzten Jahren erledigt hatten. Zur großen Zufriedenheit all seiner wechselnden Chefs, wie er zu Recht vermutete. Und doch beschlich ihn aufs Neue das Gefühl, irgendetwas oder irgendwen mit seiner Arbeit oder seinem Handeln gegen sich aufgebracht zu haben.

Nein, das kann nicht sein. Wir haben ausschließlich im Auftrag von oben gehandelt. Es kann nicht sein, dass etwas nicht zur vollsten Zufriedenheit meiner Bosse gelaufen ist.

Mit fahrigen Bewegungen wischte er sich die klatschnassen Hände am Stoff der Hosenbeine ab und schob sie wieder ineinander.

Verdammt, was passiert hier?

In diesem Moment wurde eine Tür geöffnet, die auf der ihm zugewandten Seite weder eine Klinke noch ein Schloss besaß. Ein relativ kleiner, etwa 60 Jahre alter Mann betrat den Raum und begrüßte ihn mit Vor- und Nachnamen, ohne sich jedoch selbst vorzustellen.

»Bitte, folgen Sie mir«, sagte er schließlich und trat durch die versteckte Tür. Hakan Durmus stand auf, holte tief Luft, schluckte und setzte sich mit langsamen Schritten in Bewegung. Als er mit pochendem Herzen die Tür erreicht hatte, blickte er in einen weiteren hohen, quadratisch geschnittenen Raum, in dem ebenfalls ein massiver, riesiger Schreibtisch stand, hinter dem ein Mann saß. Durmus musste mehrmals hinschauen, um ganz sicher zu sein, wen er da hinter der polierten Holzplatte erkannte, denn er wollte sich garantiert nicht täuschen oder täuschen lassen, in diesem wichtigsten Moment seines bisherigen Lebens.

Der kleine Mann verschwand durch eine weitere Tür. Nun war der Geheimdienstmitarbeiter allein mit seinem Staatspräsidenten.

Er wäre am liebsten auf die Knie gefallen, doch er wusste nicht, ob das auf der anderen Seite mit Wohlwollen aufgenommen worden wäre. So blieb er stehen, sah den im gleißenden Licht der durch die meterhohen Scheiben hereinfallenden Sonne sitzenden Mann stumm an und wäre am liebsten im Boden versunken.

»Komm näher, Hakan«, wurde er leise aufgefordert. »Und setz dich. Ich möchte gern mit dir reden. Na ja, vielmehr möchte ich dich um einen kleinen Gefallen bitten.«

Hakan Durmus konnte weder Luft holen noch einen klaren Gedanken fassen. Und auf keinen Fall konnte er auf den Schreibtisch zugehen. Trotzdem setzten sich seine Beine in Bewegung und kamen schließlich am offerierten Stuhl an.

»Bitte, bitte, nur nicht so schüchtern, Hakan.«

Er war mit dem Staatspräsidenten allein in einem Raum, in einem Raum in dessen Amtssitz.

Was passiert hier gerade?, fragte er sich bebend.

Dann hatte er Platz genommen und sah vorsichtig hinüber zu dem Mann, der die gesamte Machtfülle des Staates in sich vereinte. In sich allein, wohlgemerkt.

»Was … was kann ein einfacher Mann wie ich für Sie tun, Rei…?«

Fast wäre Durmus die inoffizielle, jedoch in der gesamten Türkei bekannte und von dessen Anhängern gern gewählte Bezeichnung für den ersten Mann im Land herausgerutscht.

»Ich freue mich, wenn du mich so nennst, Hakan, du musst dich wirklich nicht genieren. Ich bin dein Reis, und deshalb darfst du mich auch so nennen.«

»Danke, Reis.«

»Möchtest du etwas trinken? Tee? Ein Glas Wasser vielleicht?«

»Ein Glas Wasser wäre zu gütig, vielen Dank«, kam es mehr krächzend als verständlich aus seiner ausgetrockneten Kehle.

Der Präsident stand auf, ging auf einen Tisch an der Seitenwand zu, auf dem eine Karaffe und ein paar Gläser standen, und schenkte für sich und seinen Besucher ein. Auch wenn der Politiker deutlich kleiner war als im Fernsehen, war Durmus beeindruckt.

Er bedient mich! Was geschieht hier nur?

»Du fragst dich bestimmt, was ich von dir wollen könnte«, formulierte der Staatspräsident, nachdem er seinem Gast das Glas überreicht und sich wieder auf der anderen Seite des Tisches niedergelassen hatte.

Der Geheimdienstmann nickte, trank dabei das Glas in einem Zug aus und nahm es in beide Hände.

»Man hat mir gesagt, dass du der beste Mann seist für die Aufgabe, die ich zu vergeben habe«, ließ der Staatspräsident ihn wohlwollend wissen. »Dass du einer der besten Männer bist für gewisse Spezialaufgaben. Aufgaben, bei denen es mehr auf das Handeln als auf das Reden ankommt.«

»Es ehrt mich sehr, Reis, dass Sie das sagen. Und ich werde Sie, egal was Sie mir auftragen, nicht enttäuschen, das verspreche ich Ihnen. Ich schwöre es beim Leben meiner Kinder.«

»Gut, gut. Nach dem, was ich von dir gehört habe, zweifle ich nicht daran. Obwohl es ein ziemlich … delikater Auftrag ist. Ich möchte nämlich, dass du zurück nach Deutschland gehst.«

»Dort war ich schon, Reis. Ich spreche die Sprache fast wie ein Einheimischer und kenne mich mit den Gepflogenheiten sehr gut aus.«

Das Staatsoberhaupt nickte gönnerhaft. »Ich weiß. Und trotzdem ist die Aufgabe, für die ich dich vorgesehen habe, keine leichte, das kannst du mir glauben. Aber mit der Hilfe Allahs und deinen mir zugetragenen Fähigkeiten solltest du nicht scheitern.«

Durmus nickte beflissen. »Das werde ich nicht, Reis.«

Es vergingen ein paar Sekunden, in denen der Präsident seinen Besucher, der dabei vor Aufregung fast hyperventilierte, eindringlich musterte.

»Ich habe ein Dossier für dich vorbereiten lassen. Wenn du es gelesen hast, wirst du wissen, was unser Land von dir erwartet.«

»Ich bin bereit.«

Wieder vergingen ein paar Sekunden, bevor der Mann hinter dem Schreibtisch zu einer Replik ansetzte.

»Du weißt, Hakan, dass wir viele Feinde haben. Feinde hier im Land, viele Feinde, aber wir haben auch überaus viele Feinde im Ausland. Manche von denen sind es nicht wert, sich mit ihnen zu beschäftigen, aber andere sind gefährlich. Mehr als gefährlich. Sie verbreiten Lügen über uns und … über mich, die ich einfach nicht mehr dulden will. Nicht mehr dulden kann. Mit einem von diesen Leuten wirst du dich beschäftigen, das ist meine Aufgabe für dich.«

Diesmal sagte Hakan Durmus nichts. Der Staatspräsident griff nach rechts, zog eine Schublade auf, entnahm ihr eine Kladde und legte sie auf den Tisch. »Hier«, wies er auf das Dossier, »geht es um einen der größten Feinde der Türkei. Es ist ein Mann, der seit Jahren die absurdesten Lügen über mich und meine Familie verbreitet, der dieses Land und die Regierung verunglimpft und der auch vor Gewalt nicht zurückschreckt. Ihm muss ein für alle Mal das Handwerk gelegt werden. Hast du mich verstanden?«

Der Mann vor dem Schreibtisch nickte. »Das habe ich, ja.«

»Allerdings darf es auf keinen Fall dazu kommen, dass wir, also die Türkei oder die türkische Regierung, mit irgendetwas diesen Mann Betreffendem in Verbindung gebracht werden. Dazu darf es nicht kommen, niemals und unter keinen denkbaren Umständen.«

»Das werde ich zu verhindern wissen, Reis.«

»Gut. Weiterhin findest du hier Informationen zu einem weiteren Mann, einem ehemaligen Fußballspieler aus Ostdeutschland.«

»Aus Ostdeutschland? Aber Ostdeutschland und Westdeutschland sind doch seit vielen Jahren …«

»Glaubst du, ich weiß das nicht, du Kretin?«, bellte der Staatspräsident ihn unvermittelt an. Die bis eben noch weichen und gütigen Züge des Staatsoberhaupts hatten sich schlagartig verhärtet. »Zeig dich deinem Präsidenten gegenüber bloß nicht hochmütig, sonst wirst du ihn von einer anderen Seite kennenlernen. Hast du das verstanden?«

»Ja, Reis«, flüsterte Durmus geknickt.

Der spontane Wutausbruch hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen.

»Ich will dir glauben, Hakan.«

Der rechte Zeigefinger des Präsidenten tippte auf die Kladde. Dann wanderte seine Hand an die Seite, klappte den Deckel auf und blätterte in der Unterlagensammlung.

»Dieser Mann, dieser ehemalige ostdeutsche Fußballspieler, trug den Namen … Eigendorf. Lutz Eigendorf. Sein Fall ist viele Jahre her, und trotzdem will ich, dass er zu so etwas wie einer Blaupause wird für das, was du in Deutschland zu erledigen hast. Du wirst ausschließlich mir persönlich Bericht erstatten und du wirst mit niemandem, mit wirklich keinem anderen Menschen, über diesen Auftrag reden. Ist das klar und deutlich bei dir angekommen?«

»Absolut, Reis.«

»Gut. In diesen Unterlagen findest du eine Telefonnummer und ein absolut abhörsicheres Telefon. Die Nummer ist die meines ersten persönlichen Assistenten, also des Mannes, der dich in diesen Raum geführt hat. Sein Name ist Kaynak Levent, was aber nichts zur Sache tut; er ist dein Ansprechpartner und dein Verbindungsglied zu mir. Du wirst ihn niemals anrufen, damit das völlig klar ist. Er ist derjenige, der dich erreichen wird, wenn es etwas zu besprechen geben sollte. Das Telefon muss also immer geladen und eingeschaltet sein.«

Der Mann vor dem Schreibtisch nickte willfährig. Der Staatspräsident zögerte eine Weile, bevor er weitersprach.

»Aber du musst wissen, dass du bei dieser Aufgabe völlig auf dich allein gestellt bist. Du hast, was die finanziellen Mittel angeht, keine Limits, sollte jedoch irgendetwas schiefgehen, hast du definitiv komplett autonom gehandelt, nicht im Auftrag oder auf Weisung irgendeines anderen Menschen.«

Wieder ein schneidender Blick.

»Kann sich dein Land auf dich verlassen, Hakan?«

»Ich bin stolz, meinem Land auf diese Weise dienen zu können, Reis. Und noch mehr bin ich stolz, ihm und Ihnen in jeder erdenklichen Weise dienen zu dürfen.«

Der Mann mit dem markanten Oberlippenbart lehnte sich in seinem Stuhl zurück und nickte.

»Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann, Hakan. Dass ich, und damit unser geliebtes Vaterland, dass wir Türken uns auf dich verlassen können.«

»Ich werde Sie und unser Volk nicht enttäuschen, Reis.«

Als Hakan Durmus sich in der Boeing 737, die ihn zurück nach Istanbul bringen würde, angeschnallt hatte, traute er sich zum ersten Mal einen Blick in die ihm vom Staatspräsidenten persönlich ausgehändigten Unterlagen zu werfen. Während der Taxifahrt, überhaupt in Ankara, war er dafür viel zu aufgeregt und auch erregt gewesen. Jedoch hatte er sich, in bester Manier eines Geheimdienstmannes, immer wieder verstohlen auf die Suche nach potenziellen Verfolgern gemacht, doch es gab keine. Und wenn – was unwahrscheinlich war –, dann waren sie so gut, dass er sie auch in Zukunft nicht wahrnehmen würde.

Nun also, da er in der nur sehr mäßig gebuchten Mittagsmaschine nach Istanbul eine komplette Sitzreihe für sich allein hatte, lehnte er sich nach links an die Bordwand und schlug die erste Seite auf. Er las den Namen des Mannes, dessentwegen er nach Deutschland geschickt wurde. Besah sich sein Bild. Blätterte weiter. Auch die folgenden Papiere befassten sich ausschließlich mit ihm. Dann Bankunterlagen. Wenn er die Zahlen richtig deutete, und daran gab es nicht den geringsten Zweifel, hatte der Reis ein Konto auf seinen Namen eingerichtet und mit zwei Millionen Euro ausgestattet.

Durmus schluckte.

Die nächsten Seiten beschäftigten sich tatsächlich mit einem ostdeutschen Fußballspieler namens Lutz Eigendorf, von dem er noch nie in seinem Leben etwas gehört hatte. Warum das so war, wurde ihm klar, als er dessen Todesdatum las.

7. März 1983

Da war ich noch nicht einmal fünf Jahre alt, dachte er irritiert. Dann jedoch kam er zu den Informationen, die sich mit dem Tod des Kickers beschäftigten. Der »Beckenbauer des Ostens« hatte sich 1979 während einer Westreise seiner Mannschaft BFC Dynamo abgesetzt und war im kapitalistischen Teil Deutschlands geblieben, was den offiziellen Stellen im Ostteil nicht gefallen hatte. Über den 1. FC Kaiserslautern ging es für ihn zu Eintracht Braunschweig, an seine glänzende Ostkarriere konnte er allerdings zu keiner Zeit mehr anknüpfen. Viel wichtiger waren für Durmus jedoch die detaillierten Schilderungen seines Todes. Er war nämlich auf mehr als mysteriöse Weise bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, wobei sich bis in die heutige Zeit Gerüchte hielten, dass die Staatssicherheit der DDR dabei eine ebenso tragende wie todbringende Rolle gespielt haben könnte.

»Möchten Sie etwas trinken?«

Hakan Durmus schreckte hoch und schlug gleichzeitig den Deckel der Kladde zu.

»Was …?«

»Ich würde Ihnen gern etwas zu trinken anbieten«, wiederholte die Stewardess mit einem Plastikbecher in der linken Hand und dem Verweis auf die Getränke in ihrem Trolley mit der anderen.

Der Mann auf Platz 15a atmete tief durch, sah kurz aus dem Fenster und nahm erst jetzt wahr, dass das Flugzeug schon fast seine Reiseflughöhe erreicht hatte. Er war so vertieft gewesen in seine Lektüre, dass er weder vom Start noch vom anschließenden Steigflug etwas mitbekommen hatte.

»Nein, vielen Dank«, erwiderte er freundlich. »Ich bin mit allem versorgt, was ich benötige.«

3

Kassel, im Juli 2018

Adrian Schlaffke wollte gerade das große Rolltor seiner Kfz-Werkstatt im Stadtteil Bettenhausen schließen, als eine weinrote Mercedes-Limousine auf den Hof fuhr. Da der Mechanikermeister sowohl das Auto als auch den Fahrer kannte, stoppte er sein Vorhaben. Der Wagen kam etwa zwei Meter vor ihm zum Stehen.

»Guten Abend, Adrian«, wurde er durch die offene Scheibe begrüßt, nachdem er an die Fahrertür getreten war.

»Grüß dich, Okan. Na, will er mal wieder nicht so wie du?«

Der Mann hinter dem Steuer schaltete den Motor ab, öffnete die Tür, stieg aus und drückte den Mechaniker herzlich.

»Ach, diesmal ist es wohl die Hinterachse. Sie hat gestern Abend angefangen zu singen; ganz plötzlich, ohne Vorwarnung und auch ziemlich laut.«

»Wie ich es dir prophezeit habe, mein Freund. Es wird nicht aufhören, und wenn wir eine Baustelle abgearbeitet haben an deinem Schätzchen, wird irgendwo eine neue entstehen. Aber du wolltest ja nicht hören und unbedingt an dieser Geldvernichtungsmaschine hier festhalten.«

»Aber ich stehe nun einmal auf diese Geldvernichtungsmaschine, wie du mein geliebtes Auto nennst.« Der gebürtige Türke mit deutschem Pass legte die Stirn in Falten. »Meinst du, es wird dir noch einmal gelingen, ihn vor dem Schafott in Form des Schrottplatzes zu retten? Oder soll ich besser gleich wieder wegfahren und mich auf einen tränenreichen Abschied vorbereiten?«

Der 45-jährige Mann im Blaumann fing laut an zu lachen. »Du immer mit deinen blumigen Worten. Nein, lass stecken, einmal werde ich es wohl noch hinkriegen, dass er seinen Gesang einstellt. Aber das ist dann endgültig die letzte Ölung, danach ist wirklich Schluss mit Reparieren. Dann gehst du ins Autohaus und besorgst dir eines dieser supermodernen, ökologisch aber vielleicht doch nicht so hundertprozentig korrekten Elektroautos, von denen du mir seit Jahren so vorschwärmst.« Wieder huschte ein Grinsen über sein Gesicht. »Diese Elektrokarren, die Menschen wie mich in die Arbeitslosigkeit treiben und dafür sorgen werden, dass ein kompletter Berufsstand in der Bedeutungslosigkeit verschwinden wird.«

»Ach nein, jetzt geht diese Diskussion wieder los, du alter Nörgler. Elektromobilität ist die Zukunft, darüber lasse ich nicht mit mir verhandeln. Und für einen genialen Tüftler wie dich wird es auch in Zukunft genug zu tun geben, glaub mir. Wer soll denn die ganzen Unfallschäden reparieren, die es auch mit Autos ohne Verbrennungsmotor geben wird?«

»Ich zumindest nicht. Diesen Scheiß fasse ich nicht an.«

Okan Schulze warf die Tür ins Schloss und reichte Schlaffke den Schlüssel.

»Na ja, die Verbrenner verschwinden ja nun leider nicht von heute auf morgen von den Straßen. Vermutlich hast du bis zum Erreichen des Rentenalters noch jede Menge mit den Übriggebliebenen zu tun.«

»Ja, wenn du und deine Politikerkumpels sie nicht eines Tages einfach verbieten. Und bis ich in Rente gehe, werden wir vermutlich alle arbeiten müssen, bis wir 80 sind.«

»Wie wäre es gleich mit 100? Oder arbeiten, bis der Deckel über einem zufällt? Morgens zur Schicht, abends ins Krematorium.«

»Hör auf. Du willst doch nur davon ablenken, dass diese Elektrokarren niemals funktionieren werden. Elektromobilität ist ein Irrweg, Okan, und ganz tief in dir drin weißt du das auch.« Er wies auf Schulzes Wagen. »Sonst würdest du nämlich nicht immer noch mit diesem fast 15 Jahre alten Trümmerhaufen durch die Gegend fahren.«

»Hast du die Kaffeemaschine eigentlich schon ausgeschaltet«, versuchte sich der braun gebrannte Mann mit dem vollen an den Schläfen melierten Haupthaar an einem Ablenkungsmanöver.

»Morgens der erste Handgriff, abends der letzte. Komm rein, ich mach dir einen.«

»Das ist doch mal eine Aussage, mit der ich leben kann.«

Die Wurzeln der Freundschaft jener beiden Männer, die nun das kleine, jedoch piekfein eingerichtete Büro des Werkstattbetriebs betraten, reichten mehr als 30 Jahre zurück. Okan Mersin, wie er damals mit Nachnamen noch geheißen hatte, war Schulsprecher im Abiturjahrgang am Bertha-von-Suttner-Gymnasium, Adrian Schlaffke, ein pickliger, aufsässiger, von nichts und niemandem zu beeindruckender kleiner Mistkerl, der sowohl die Lehrerschaft als auch seine Mitschüler durch sein antisoziales Verhalten regelmäßig zur Weißglut trieb. Die beiden hatten bis zu einem lauen Frühsommertag nie miteinander zu tun gehabt, doch dieser Tag hatte das Leben der beiden jungen Männer schlagartig verändert. Schlaffke hatte rauchend auf dem Pausenhof gestanden, während alle anderen Schüler längst dem Gongzeichen gefolgt waren und sich in den Klassenräumen befanden. Der Abiturjahrgang hatte seine schriftlichen Prüfungen bereits hinter sich und bereitete sich mehr oder weniger konzentriert auf die bald folgenden mündlichen Abschlussexamen vor. Okan Mersin saß seiner Freundin gegenüber und hatte ein zugeklapptes Buch auf seinen Oberschenkeln liegen. Offensichtlich fragten sie sich gegenseitig ab.

Irgendwann in diesen Minuten betrat ein kräftiger, fast zwei Meter großer, komplett in Leder gekleideter Mann den Schulhof und ging mit schnellen Schritten auf Schlaffke zu.

»He, Arschloch«, begrüßte er den Schüler ohne jeglichen Anflug von Freundlichkeit. »Hab dich gerade im Vorbeifahren gesehen und mir gedacht, ich statte dir mal einen Besuch ab, weil du dich ja bei uns nicht mehr blicken lässt. Was macht meine Kohle?«

Schlaffke schnippte seinen Zigarettenstummel auf den Boden – er flog dabei nur ein paar Zentimeter am linken Bein seines Besuchers vorbei – und holte tief Luft. »Was soll deine Kohle schon machen? Sie ist bei mir in der Tasche und wartet darauf, ausgegeben zu werden. Aber garantiert nicht, in deine Richtung zu wandern. Dazu war das Dope, das du mir verhökert hast, wirklich zu mies.«

Der Mann in der Lederjacke, über der er eine speckige graue Lederkutte mit der Aufschrift »Black Crows Kassel« trug, trat einen Schritt nach vorn, griff nach Adrian Schlaffkes Hals und drückte ihn mit Daumen und Zeigefinger zu. »Ich will meine Kohle, du Scheißer. Sonst statte ich dir einen Besuch zu Hause ab, und was dabei passiert, würde dir garantiert nicht gefallen.«

Der picklige Schüler schlug den Arm des Rockers zur Seite, schluckte und ließ seinen Blick über den Schulhof kreisen. Schließlich blieb er an dem großen, klobigen Haupthaus mit den vielen Fenstern hängen.

»Mann, Mann, Mann, Blum, du willst doch sicher hier keine Schlägerei anfangen, oder? Vergiss nicht, dass du auf Bewährung draußen bist.«

»Für dich braucht es keine Schlägerei, du Wichser. Dich saug ich ein, kau dich durch und spuck dich auf die Straße. Und auf den Rest piss ich mit vollem Strahl drauf.«

»Was er doch für ein Poet ist, unser dealender, leider führerscheinloser Rockerkönig. Hast du im Knast die Schreibwerkstatt für Schwuchteln besucht?«

Freddy Blum, dem Rocker, schoss die Zornesröte ins Gesicht. Seine Adern am Hals wurden schlagartig sichtbar und das Mahlen seiner Zähne war bis zu Schlaffke hin deutlich hörbar.

»Halt dein verdammtes Maul und gib mir meine Kohle. Du denkst wohl, dass ich so was wie ein beschissener Einzelhändler bin, bei dem du reklamieren kannst, aber das läuft bei mir nicht. Ich habe dir guten Shit gegeben, und du gibst mir gutes Geld dafür.«

Natürlich hatte Blum recht, das wusste auch Adrian Schlaffke. Das Haschisch, das er von dem Dealer gekauft hatte, war außerdem alles andere als minderwertig gewesen. Zehn Gramm hatte er sich zwei Wochen zuvor auf Kredit geholt, bisher nicht eine Mark dafür bezahlt, jedoch ein paar wirklich schöne Stunden genossen. Und nun wollte er einfach auf die billige Tour davonkommen. Blum wusste das nur zu gut.

»Mach keinen Scheiß, Adi«, versuchte er es trotz seiner Wut auf die Gutmütige. »Du weißt, dass ich keinen Scheiß verkaufe, jeder weiß das. Also sei fair und reich mir meine Kohle rüber.«

Schlaffke schüttelte den Kopf, kramte eine weitere Zigarette aus der Schachtel und schob sie zwischen die Lippen. »Das kann ich nicht machen, Freddy. Wenn sich rumsprechen würde, dass ich mir von jedem dahergelaufenen Penner den letzten Scheiß an Dope andrehen lasse, wäre das echt nicht gut, verstehst du?«

In diesem Moment verknüpften sich in Freddy Blums Hirn eine paar Synapsen, die besser weiterhin als lose Enden ins Nichts ausgelaufen wären. Er stürzte sich auf Schlaffke, schlug ihm die Faust zweimal ins Gesicht und trat hinter dem sich frei zappelnden Schüler her.

»Jetzt ist deine Bewährung garantiert im Arsch, Freddy«, keuchte der. »Ich werde nämlich zu den Bullen gehen und dich anscheißen, darauf kannst du dich verlassen.«