11,99 €
Der Awareness-Ansatz wurde ursprünglich von Betroffenen von sexualisierter Gewalt und deren Verbündeten entwickelt, um auf Sexismus und sexualisierte Gewalt zu reagieren und entsprechende Unterstützungsstrukturen zu schaffen. In der Folge wurde das Konzept auch auf andere Diskriminierungsformen und Gewaltverhältnisse übertragen. Der Awareness-Ansatz war somit von Anfang an ein Bewegungs- und Community-Ansatz: Die Erfahrungen der Betroffenen bildeten das Wissen darüber, welche Arten von Diskriminierung und Gewalt stattfinden und was es braucht, um präventiv zu wirken, Betroffene zu unterstützen und die Verhältnisse zu verändern. Es geht um Betroffenenwissen, Parteilichkeit und Betroffenenzentrierung. Mittlerweile ist Awareness aus den sozialen Bewegungen und der Clubkultur kaum mehr wegzudenken, und auch die großen Bildungsträger, Jugendverbände und emanzipatorischen Parteien nutzen sie. Doch die Verbreitung des Ansatzes ist nicht nur eine Erfolgsgeschichte, sondern hat auch zu Institutionalisierung, Kommerzialisierung und Mainstreamisierung von Awareness geführt. Ann Wiesental skizziert daher mit "Haltung zeigen" nicht nur die Entwicklungen der letzten Jahre, sondern versucht insbesondere, der Verflachung des Awareness-Ansatzes entgegenzuwirken und den Blick auf das Wesentliche zu richten: die Haltung, die mit Awareness einhergeht.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 177
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ann Wiesental
Haltung zeigen
Awareness als Antwort auf Diskriminierung und Gewalt
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
Ann Wiesental:
Haltung zeigen
1. Auflage, Februar 2025
eBook UNRAST Verlag, Juni 2025
ISBN 978-3-95405-223-3
© UNRAST Verlag, Münster 2025
Fuggerstraße 13 a, 48165 Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung, der Übersetzung sowie der Nutzung des Werkes für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: UNRAST Verlag, Münster
Satz: Andreas Hollender, Köln
Vorwort
Der Awareness-Ansatz
Der Medizinische Ansatz
Wissenschaftliche Fachansätze
Der Ansatz der Frauenfachberatungsstellen
Der Ansatz der Sozialen Arbeit
Selbsthilfeansatz und Betroffenenkontrollierter Ansatz
Intersektionale Unterstützung
Intersektionale Methoden und Ansätze
Wie kann intersektionale Unterstützung konkret aussehen?
In der UnterstützungErstgespräch und nächste Schritte
Die Haltung im Unterstützungsgespräch
Das Erstgespräch
Zweiter Teil des Erstgesprächs / weitere Schritte
Abschluss des Erstgesprächs
Längerfristige Unterstützungsarbeit in Organisationen
Der Schritt zum Awareness-Team
Unterstützung geben
Stumme Ausschlüsse von Betroffenen verhindern
Stigmatisierung und Ausgrenzung entgegenwirken
Gemeinsam vorantasten und Haltung zeigen
Die Position der Betroffenen stärken
Umgang mit der diskriminierenden oder gewaltausübenden Person
Parteilichkeit und Definitionsmacht
Grenzen der Definitionsmacht
›Verschobene Wahrnehmung‹
Über Betroffenenunterstützung hinaus: Umfeldarbeit und Community Accountability
Die Umfeldarbeit
Community Accountability
Mainstreamisierung – Kommerzialisierung – InstitutionalisierungNeuen Entwicklungen als Bewegung begegnen
Mainstreamisierung
Kommerzialisierung
Institutionalisierung
Was war vor Awareness? Interview mit zwei Autorinnen des Buches Antisexismus_reloaded
Self-CareDem Ausbrennen entgegenwirken
Selbstreflexion
Reflexion in der Gruppe
Eigene Betroffenheiten
Self-Care als Thema im Awareness-Team
Self-Care und äußere Rahmenbedingungen
Ein Awareness-Konzept selbst erarbeitenAnregungen und Fragen
Fragen für die Erstellung eines Awareness-Konzepts
Anmerkungen zur Entwicklung eines Awareness-Konzepts
Materialien
Bücher
Broschüren/Texte
Internetadressen
Beratungsstellen und Selbsthilfestrukturen
Anmerkungen
In den letzten Jahren ist viel passiert. Als 2017 mein erstes Buch, Antisexistische Awareness[1], veröffentlicht wurde, war der Begriff ›Awareness‹ hierzulande nahezu unbekannt. Und nur sehr Wenige wussten, dass sich hinter dem Begriff ein komplexer Ansatz zur Gewaltprävention verbirgt. Das hat sich jedoch fundamental geändert. Mittlerweile ist Awareness aus den sozialen Bewegungen wie auch der Clubkultur kaum mehr wegzudenken, und auch die großen Bildungsträger, Jugendverbände und emanzipatorischen Parteien nutzen sie.
Das bedeutet, dass sich das Bewusstsein verändert hat. Immer mehr Menschen ist bewusst, dass Diskriminierungen und (sexualisierte) Gewalt keine Ausnahmen und Einzeltaten sind, sondern zu jeder Zeit und auf allen gesellschaftlichen und privaten Ebenen stattfinden. Es wäre zwar wünschenswert, wenn die Betroffenen sich selbst behaupten, wehren und schützen könnten oder wenn das Umfeld oder die Umstehenden von sich aus eingreifen, intervenieren oder Unterstützung anbieten würden, doch das ist leider nur eine Utopie, aber nicht die Realität. Auch das ist mittlerweile vielen Menschen bewusst. Diskriminierung und (sexualisierte) Gewalt sind strukturelle Probleme, daher benötigen wir auch eine Antwort auf struktureller Ebene. Awareness bietet diese.
Ich schreibe dieses Buch als Betroffene von sexualisierter Gewalt, und mir macht es Mut, wenn Betroffene sich nicht zurückziehen, sondern für sich eintreten. Immer mehr Menschen haben erkannt, dass sich die Zustände nicht von alleine ändern, sondern dass wir unsere sozialen und beruflichen Umfelder, unsere Orte der Zusammenkunft wie auch die Organisationen, in denen wir uns womöglich bewegen, verändern müssen, damit sich die Zustände zum Besseren wenden. Es gibt viele Vorschläge, Formen und Antworten, wie dies gelingen könnte. Awareness ist zwar nur eine Möglichkeit unter vielen, hat sich in den letzten Jahren aber als praktikabler Ansatz bewährt und relativ breite gesellschaftliche Zustimmung erfahren.
Doch die Verbreitung des Ansatzes ist nicht nur eine Erfolgsgeschichte, sie hat zu Institutionalisierung, Kommerzialisierung und Mainstreamisierung von Awareness geführt. Diese unterstützen die gesellschaftliche Akzeptanz und Verbreiterung, doch bringen sie auch Herausforderungen mit sich.
Ich möchte daher mit Haltung zeigen nicht nur die Entwicklungen der letzten Jahre aufzeigen, sondern insbesondere versuchen, der Verflachung des Awareness-Ansatzes entgegenzuwirken und den Blick auf das Wesentliche zu richten: die Haltung, die mit Awareness einhergeht.
Für das Verständnis von Awareness ist es wichtig zu begreifen, dass Gewalt und Diskriminierung immer mit gesellschaftlichen (Zwangs-)Verhältnissen verbunden sind. Sie sind daher im gesellschaftlichen Kontext zu betrachten. Diese Verhältnisse zu bekämpfen und eine Entwicklung hin zum Positiven zu bewirken, ist das erklärte Ziel des Awareness-Ansatzes. Die Herkunft des Ansatzes aus der queer-feministischen, sozialen Bewegung kommt an diesem Punkt deutlich zum Tragen.
Der Awareness-Ansatz wurde ursprünglich von Betroffenen von sexualisierter Gewalt und deren Verbündeten entwickelt, um auf Sexismus und sexualisierte Gewalt zu reagieren und entsprechende Unterstützungsstrukturen zu schaffen. In der Folge wurde das Konzept auch auf andere Diskriminierungsformen und Gewaltverhältnisse übertragen. Der Awareness-Ansatz war somit von Anfang an ein Bewegungs- und Community-Ansatz: Die Erfahrungen der Betroffenen bildeten das Wissen darüber, welche Arten von Diskriminierung und Gewalt stattfinden und was es braucht, um präventiv zu wirken, Betroffene zu unterstützen und die Verhältnisse zu verändern. Dieses Betroffenenwissen bildet bis heute den Ausgangspunkt für Awareness-Arbeit und wird flankiert von dem Grundsatz der Parteilichkeit, der Definitionsmacht und der Betroffenenzentrierung, nach der das Wohlergehen der Betroffenen an erster Stelle steht und das Awareness-Team nur in Abstimmung mit ihnen handelt.
Für die praktische Awareness-Arbeit oder die Unterstützung von Betroffenen ist also die Haltung wesentlich. Es geht nicht vorrangig um das Erlernen bestimmter Vorgehensweisen, Gesprächsführungen in der Unterstützung oder Abläufe, entscheidend ist vielmehr die Haltung, mit der Awareness angeboten und ausgeübt wird. Das umfasst Grundsätze, Herangehensweisen und Analysen und diese werden nicht nur kognitiv eingeübt und angeeignet, sondern mit Erfahrungswissen, Selbstreflexion und Reflexion in der Gruppe/im Kollektiv durchdrungen. Wichtig ist, dass die Haltung durch reflektierte Erfahrung gefüllt wird. Sie wird analysiert, eingeordnet ausgestrahlt und auch gefühlt. Die Haltung gilt es stets mit (Erfahrungs-)Wissen zu verbinden und daraus Anforderungen, wie sie beispielsweise in den Standards oder Mindeststandards der Awareness-Arbeit formuliert sind (https://awareness-institut.net/, https://awareness-standards.info/), zu entwickeln.
Die Haltung in der Awareness-Arbeit basiert also auf dem Awareness-Ansatz. Der Awareness-Ansatz ist eine Möglichkeit der Unterstützung von Betroffenen. In Bezug auf die Unterstützung von Betroffenen gibt es verschiedene Ansätze, die sich teils erheblich unterscheiden. Dies ist auch auf den Einfluss verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, aber auch sozialer gesellschaftlicher Institutionen zurückzuführen, deren Ansätze sich zum Teil fundamental von dem der Awareness unterscheiden, jedoch auch Überschneidungen oder sogar positive Koppelungseffekte aufweisen.
Im Folgenden möchte ich die wichtigsten dieser Ansätze und ihr Verhältnis zu Awareness kurz skizzieren.
Die Medizin befasst sich – ebenso wie Awareness – mit den Folgen von (sexualisierter) Gewalt. Allerdings werden die Folgen auf Symptome reduziert und in griffige Diagnosen verpackt, beispielsweise das Trauma. Die Gewalt verschwindet nun hinter dem Trauma-Begriff und die Verknüpfung der Gewalt mit den gesellschaftlichen Verhältnissen bleibt unbenannt und somit unsichtbar. Das ist eine fatale Reduzierung: Die Ursachen der Gewalt und die komplexe Verwobenheit von individueller Gewalt und gesellschaftlichen (Gewalt-)Verhältnissen geraten vollkommen aus dem Blick.
Dass die Medizin eine der anerkanntesten Wissenschaften ist, auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblicken kann und im Ruf steht, ausschließlich Tatsachen und Fakten zu beschreiben und eine verlässliche Forschung zu betreiben, macht diese Reduzierung umso ärgerlicher. Hinzu kommt, dass die Medizin in den Fachkreisen, die sich beruflich mit Gewalt auseinanderzusetzen haben, eine höhere Anerkennung genießt als andere Fachrichtungen, die sich immer noch an der Medizin messen (lassen) müssen. Das gilt sowohl für die Psychologie, die erst viel später entstanden ist als die Medizin, als auch für die Soziale Arbeit, die noch jüngeren Datums ist. Beide ringen in Bezug auf die Medizin immer noch um Anerkennung. Und selbst die Beratungsstellen, Frauenhäuser und Fachberatungsstellen gegen Gewalt haben bis heute mit der Deutungshoheit der Medizin zu kämpfen.
Deshalb ist es so wichtig, dass Awareness nicht auf Wissenschaft und Fachwissen aufbaut (oder deren Anerkennung sucht), sondern auf reflektiertem Erfahrungswissen, dem Wissen von Betroffenen und dem Wissen aus den sozialen Bewegungen. In sozialen Bewegungen gibt es z.B. den Ansatz, Herrschaftswissen herauszuarbeiten und zu analysieren, um es anschließend zu verlernen. Verlernen statt Lernen lautet hier das Motto. Denn große Bestandteile des Wissens, auf das in der Gesellschaft wie selbstverständlich aufgebaut wird, basieren auf Annahmen und sind letztlich Konstruktionen, die Machtverhältnisse schaffen und aufrechterhalten.
Der wesentliche Unterschied zwischen dem Awareness Ansatz und den medizinischen Ansätzen liegt auf der Hand. Die Medizin beruht auf einem klar definierten Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Ihre Wissenschaft und Forschung wie auch die praktische medizinische Anwendung sind entsprechend darauf ausgerichtet. Doch was ist krank und was gesund? Die Definitionen sind nicht unumstritten und die Grenzen zwischen den beiden Polen oft fließend. Gerade die sozialen Bewegungen haben die Willkürlichkeit und die Folgen dieser Unterteilung immer wieder kritisiert. Insbesondere die Inter*-Bewegung weist darauf hin, wie viel Leid Kindern und Menschen durch die Medizin zugefügt wurde/wird:
»Nach der Geburt, als Kinder, Jugendliche und Erwachsene, sehen sich viele intergeschlechtliche Menschen mit Verletzungen ihrer körperlichen Integrität konfrontiert, einschließlich medizinischer Eingriffe ohne persönliche, vorherige, anhaltende und vollständig informierte Einwilligung. Diese Eingriffe verursachen Berichten zufolge schwere körperliche Beeinträchtigungen, die von schmerzhaftem Narbengewebe oder Gefühllosigkeit bis hin zu Osteoporose und Harnröhrenproblemen sowie psychischen Traumata reichen. Im Hinblick auf psychische Traumata haben Zeugnisse und Forschungsarbeiten gezeigt, dass Säuglinge und Kleinkinder bereits physische und psychische Traumata erleben und dass diese sich später im Leben auswirken.«[2]
Die Inter*-Bewegung, die erst in den 1990er-Jahren entstand, hat mittlerweile viel erreicht, wie die folgenden Zitate, die gleichzeitig Bestätigungen medizinischer Fehlbeurteilungen sind, belegen:
»[…] das Bewusstsein für Menschenrechtsverletzungen, denen intergeschlechtliche Kinder, Jugendliche und Erwachsene ausgesetzt sind, hat zugenommen, und Inter*Genitalverstümmelung (IGM) wurde auf UN-Ebene als schädliche medizinische Praxis anerkannt.«[3]
»Die Europäische Kommission bekräftigt in ihrer Strategie auch, dass nicht lebensnotwendige Operationen und medizinische Eingriffe an intergeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen ohne deren persönliche und vollständig informierte Zustimmung als schädliche Praktiken verstanden und angegangen werden müssen.«[4]
Ein anderes Beispiel bildet der Umgang mit Transgender. Die Trans*-Bewegung weist darauf hin, dass die medizinische Versorgung nach wie vor nicht diskriminierungsfrei abläuft:
»Fachkräfte im Gesundheitssystem, aber auch in Institutionen und Ämtern wissen nur zum Teil über das Thema Trans* Bescheid. Durch fehlendes Wissen und Unsicherheit kommt es häufig zu unangenehmen Situationen, mitunter auch zu trans*negativen oder trans*feindlichen Erlebnissen. Dazu gehören zum Beispiel Vorurteile, aufdringliche Befragungen und/oder die Bezeichnung mit falschen Pronomen. Solche Erfahrungen machen es für trans* Personen schwerer, bei Bedarf Ärzt_innen aufzusuchen.«[5]
Dies hat Folgen:
»Diskriminierung und ein eingeschränkter Zugang zum Gesundheitssystem sind mit erheblichen gesundheitlichen Risiken (HIV, Depression, Suizidalität) für trans* Personen verbunden.«[6]
Zudem ist es noch gar nicht so lange her, dass Trans*geschlechtlichkeit nicht mehr als Störung der Geschlechtsidentität diagnostiziert wird:
» Die ›International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems‹ (dt.: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben. Trans*geschlechtlichkeit wird in der ICD-11 (Version 11) nicht mehr als psychische Störung aufgefasst. Die Diagnose lautet ›Geschlechtsinkongruenz‹. Die ICD-11 wurde 2019 verabschiedet …«[7]
Die medizinische Diagnostik wird jedoch nicht nur auf Krankheiten, sondern auch auf sogenannte ›Störungen‹ angewendet. In der Folge kann es für die Betroffenen zu Stigmatisierungen, Pathologisierungen und falschen oder unzureichenden Anwendungen oder Therapieformen kommen.
Als Beispiel sei hier PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) genannt, der die Medizin ein klar definiertes Krankheitsbild zugeordnet hat, um anschließend ausschließlich auf die gesundheitlichen Folgen zu fokussieren. Die dahinter stehende Diskriminierung oder Gewalt wird ebenso wenig berücksichtigt wie die Auswirkungen gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Obwohl sich in den letzten Jahren diesbezüglich in der Medizin einiges bewegt hat, ist die Sichtweise nach wir vor sehr verkürzt. Thomas Schlingmann von der Beratungsstelle Tauwetter[8] fasst das Dilemma wie folgt zusammen:
»In der Traumatheorie findet ohnehin eine Reduzierung des komplexen Sachverhalts ›sexualisierte Gewalt‹ auf variablenpsychologisch erfassbare Vorgänge statt …«[9]
Die Traumatheorie ist also ein biomedizinischer Ansatz, der stets auf ein vorgefertigtes, aber unterkomplexes Krankheitsbild reagiert. In Teilen hat die Medizin das mittlerweile eingesehen, sodass z.B. auch Komplextraumatisierungen Eingang in die Diagnostik gefunden haben. So wird zumindest in Ansätzen dem Umstand Rechnung getragen, dass Betroffenheit von Diskriminierung oder Gewalt nicht einem einfachen Ursache-Wirkung-Schema folgt, sondern die Ursachen und Auswirkungen, auch auf die Gesundheit, komplexer sind.[10]
Zudem hat in den letzten Jahren auch in der Traumatheorie die Gehirnforschung einen regelrechten Hype erfahren und uns sicher in vielen Punkten weitergebracht. Für manche Betroffenen war es z.B. sicherlich erleichternd zu verstehen, warum sie sich an bestimmte Erlebnisse nicht erinnern können. Doch letztlich wird die Bedeutung der Gehirnforschung überbewertet: Sie liefert auf viele dringenden Fragen nicht die Antworten, führte bislang auch nicht zu erfolgversprechenden Therapieformen oder gar zu Heilungen. Ich möchte hier nicht falsch verstanden werden: Es ist gut, mehr über den Körper, das Gehirn, die Psyche und deren Zusammenhänge zu erfahren, und es gibt durchaus Therapien, die manchen Menschen weiterhelfen, wie z.B. EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing). Das ist eine Therapieform, bei der die Patient*innen gebeten werden, sich auf ein spezifisches traumatisches Ereignis, einen Gedanken oder ein Bild zu konzentrieren. Währenddessen führt die*der Therapeut*in eine bilaterale Stimulation durch. Dies kann durch Augenbewegungen (die Patient*innen folgen mit den Augen den Fingern der*des Therapeut*in, die sich von rechts nach links bewegen), Töne oder taktile Reize (z.B. durch abwechselndes Antippen der Hände) geschehen. Die bilaterale Stimulation soll helfen, die traumatischen Erinnerungen neu in die Erinnerung zu integrieren, um auf diese Weise Trigger zu verringern.
Doch trotz dieser möglichen positiven Effekte ist zu beachten, dass derartige Therapieformen Betroffene auch zusätzlich unter Druck setzen können und es in der Medizin immer wieder zu Entmündigungen, Entmachtungen oder Retraumatisierungen kommt. Viele Betroffene wählen daher eher Selbsthilfeansätze, zum einem, um Entmündigungen zu entgehen, zum anderen, weil sie dort Erleichterung, Stabilisierung und Stärkung erfahren und Schritte in Richtung Heilung gehen können. Doch in unserem Gesundheits- und Hilfesystem dominiert die Schulmedizin, weshalb Betroffene oftmals nicht offen und umfangreich beraten und auf alternative Angebote, die es zudem nicht in ausreichender Anzahl gibt, hingewiesen werden. Deshalb greifen immer noch zu viele Betroffene auch dann auf medizinische Ansätze zurück, wenn sie eigentlich lieber Alternativen wählen würden, oder sie werden in diese hineingedrängt.
Neben dem bereits genannten medizinischen Ansatz gibt es einige weitere wissenschaftliche Ansätze, die einen Bezug zum Awareness-Ansatz aufweisen. Dabei handelt es sich vor allem um subjektbezogene Ansätze. Zu nennen ist hier insbesondere die Kritische Psychologie nach Holzkamp[11] und Markard[12]. Die subjektbezogenen Ansätze gehen mit dem Awareness-Ansatz insbesondere zusammen, weil die Betroffenen als handelnde Subjekte betrachtet werden, die ein Interesse an der Wiederherstellung ihres Selbstwertgefühls, ihrer Handlungsmöglichkeit und an der Veränderung ihrer Situation haben. Sie werden als Wissende betrachtet, deren Handlungen subjektiv gute Gründe haben. Darüber hinaus sind die Forschungen von Prof. Ariane Brenssell von großem Interesse. In ihren jüngsten Arbeiten führt Brenssell[13] den Ansatz der Kontextualisierten Traumaarbeit ein, der dem Zusammenhangswissen von Gewalt und Gewaltfolgen im gesellschaftlichen Kontext eine große Bedeutung einräumt, sowohl gesellschaftlich als auch für die individuelle Bearbeitung der Folgen von Gewalt. Sexualisierte Gewalt und die Folgen für die Betroffenen werden nicht reduzierend als Diagnose oder Krankheit/Störung gefasst:
Menschen, die ›Traumatisches‹ erlebt haben, werden gesellschaftlich zunehmend im Licht einer Diagnose betrachtet, sie haben zum Beispiel eine posttraumatische Belastungsstörung und brauchen jetzt eine ›Behandlung‹. Der Fokus liegt auf dem Individuum, unabhängig von den Ursachen dieser Diagnose. Wir verstehen geschlechtsspezifische Gewalt hingegen auch als Symptom einer Gesellschaft, in der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern als legitim gilt. Traumaarbeit ist für uns zum einen die konkrete Hilfe für gewaltbetroffene Frauen und Mädchen. Zum anderen aber auch die Arbeit an den Ursachen. Wir betrachten Traumata, die durch geschlechtsspezifische Gewalt verursacht wurden, stets im Kontext, also im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. Denn diese Traumafolgen sind keine ›Krankheit‹, kein ›Einzelschicksal‹ und keine ›Störung‹, sondern Folge von Gewalt. Damit stellen wir uns gegen eine Individualisierung von Traumafolgen, die das Problem ins Individuum verlagert und die Ursachen außen vor lässt.«[14]
Dieser Ansatz ist deshalb so wertvoll, weil er das Erfahrungs- und Praxiswissen der spezialisierten Frauenfachberatungsstellen aufgreift, das bislang noch viel zu wenig in Fachartikeln oder Forschungsarbeiten aufgearbeitet wurde. In der Arbeit von Ariane Brenssell, Ans Hartmann und Cai Schmitz-Weicht werden die Praktiker*innen und Betroffenen auf Augenhöhe miteinbezogen. So heißt es z.B. in Bezug auf das Partizipative Forschungsprojekt[15], aus dem heraus die Arbeit entstand:
»Wir – das sind Mitarbeiterinnen aus Frauenberatungsstellen und Frauennotrufen sowie Frauen, die diese Beratung in Anspruch genommen haben. Außerdem Mitarbeiter*innen aus unserem Dachverband bff (Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe) und Wissenschaftlerinnen, die die Forschung gemeinsam initiiert und geleitet haben.«[16]
Der Ansatz der Frauenfachberatungsstellen geht dem Awareness-Ansatz historisch voraus und entstand bereits im Zuge der 2. Frauenbewegung, die in den 1970er-Jahren mit der Selbsthilfebewegung (Gründung von Selbsthilfegruppen) Hand in Hand ging. Aus ihr entstand eine institutionalisierte Beratungsstruktur mit Frauenhäusern, Zufluchtswohnungen und spezialisierten Frauenfachberatungsstellen. Es war ein großer Erfolg feministischer Kämpfe, dass die gesellschaftliche Relevanz und Verantwortung anerkannt wurde und der Staat Angebotsstrukturen dauerhaft finanzierte. Die spezialisierten Frauenfachberatungsstellen entwickelten in der Folge einen eigenen spezifischen Ansatz, der auf einer machtkritischen Analyse der Geschlechterverhältnisse basiert und durch eine parteiliche Haltung geprägt ist. Gewalt wird nicht als Einzelfall, sondern als strukturelle Folge des Patriarchats oder der Geschlechterverhältnisse gefasst. Die betroffene Frau muss die erlebte Gewalt nicht beweisen, sondern ihr wird grundsätzlich geglaubt. Dieser Ansatz war ein großer emanzipativer Fortschritt, der nicht genug wertgeschätzt werden kann.
Es gibt jedoch auch viel zu kritisieren, was u.a. darauf zurückzuführen ist, dass innerhalb der sozialen Bewegungen, also auch der Frauenbewegung, verschiedene Diskriminierungsverhältnisse missachtet wurden. So war die 2. Frauenbewegung in der BRD stark weiß-deutsch, abled (befähigt, im Gegensatz zu behindert), cis-weiblich und bildungsbürgerlich dominiert, was immer wieder zu Ausschlüssen und Abwertungen von Women of Color, disabled Women, Trans-Personen, Inter-Personen, Non-binary-Personen und nicht-bildungsbürgerlichen Personen geführt hat. Ebenso wurden Sexarbeiter*innen lange Zeit ausgeschlossen oder abgewertet. Doch die Kämpfe (auch innerhalb) der sozialen Bewegungen haben hier mittlerweile viel verändert und den Diskurs verschoben. Dies ist den verschiedenen sozialen Bewegungen und deren Aktivist*innen zu verdanken.
Diese Kämpfe und Verschiebungen veränderten auch die Frauenfachberatungsstellen, die heutzutage vielfach für FLINTA (Frauen, Lesben, Inter-Personen, Non-binary-Personen, Trans-Personen, Agender-Personen) geöffnet sind und sich Fachberatungsstellen gegen Gewalt nennen. Auch in den Frauenhäusern haben sich Zugänge verändert, und Trans-Frauen und Inter-Personen sind in vielen Frauenhäusern willkommen.[17] Jedoch sind die Kämpfe längst noch nicht ausgefochten. Insbesondere für Non-binary-Personen und Trans-Männer ist die Situation oft unklar. Und es gibt immer noch zu viele Projekte oder Angebote, die sich vorrangig oder ausschließlich an cis-Frauen richten, auch wenn es so nicht im Konzept steht. Und es gibt weiterhin Fachberatungsstellen, die in ihrer Praxis noch zu unreflektiert sind und bei denen eine Veränderung noch nicht ausreichend stattgefunden hat. Festzustellen bleibt jedenfalls: Fachberatungsstellen sind keine diskriminierungsfreien Orte. Insbesondere in Bezug auf Rassismus ist noch viel zu tun, damit von Gewalt betroffene Women of Color in den Fachberatungsstellen die für sie kompetenten und unterstützenden Ansprechpartner*innen finden.
Dies ist ein wesentlicher Unterschied zur Unterstützung, die Awareness-Teams bieten, die aufgrund ihrer Geschichte (eine ihrer historischen Wurzeln liegt in der Schwarzen US-amerikanischen Queer-Community) Intersektionalität immer schon mitdenken.
Ein weiterer wesentlicher Unterschied ist darin begründet, dass die Frauenfachberatungsstellen den Weg der Institutionalisierung einschlugen und staatlich finanzierte Projekte gründeten oder besser gesagt, Projekte, die später staatliche Finanzierung in Anspruch nahmen. Mit der Institutionalisierung kam auch die Professionalisierung. Im Unterschied zum Awareness-Ansatz rekurriert der Ansatz der spezialisierten Frauenfachberatungsstellen zu einem großen Teil auf ein klassisches Professionalisierungsverständnis. Die Professionalisierung dient jedoch nicht nur einer Verbesserung der Arbeit oder des Angebots im Sinne von Qualitätsverbesserung und -sicherung, sondern zielt auch auf zunehmende Akzeptanz und Anerkennung der Angebote und Ansätze durch Medizin, Staat und Politik. Dieses Professionalisierungsverständnis hat zur Folge, dass BetroffenenkontrollierteAnsätze (BkA) (Beschreibung weiter unten) oder Ansätze wie der Awareness-Ansatz, die aus sozialen Bewegungen und aus reflektiertem Betroffenen- und Verbündetenwissen entstanden sind, teilweise als nicht professionell abgewertet werden. Die Aufwertung des einen Ansatzes hatte die Abwertung anderer Ansätze zur Folge. Eine weitere Folge ist, dass der Ansatz der spezialisierten Frauenfachberatungsstellen es Fachberater*innen erschwert, ihre eigene (im günstigsten Fall reflektierte) Betroffenheit zu benennen, da diese ihnen nicht als Qualifikation, sondern als Manko ausgelegt wird. Und wenn eine Atmosphäre entsteht, in der Berater*innen nicht mehr sichtbar machen können, dass sie ebenfalls Betroffene sind, hat das große Auswirkungen auf das Team wie auch die anderen Betroffenen. Das Aufstehen und Aussprechen von Betroffenen war historisch ein sehr wichtiger und empowernder Moment in der 2. Frauenbewegung. Zudem manifestiert es die Trennung in gesund vs. krank und professionell vs. betroffen.
Der Awareness Ansatz arbeitet im Gegensatz dazu darauf hin, diese Trennung aufzuheben, da es sich in Wirklichkeit um situative und fließende Positionen handelt und die Trennung nur der Aufrechterhaltung der Machtverhältnisse dient. Dies sind Erkenntnisse, die u.a. durch den Betroffenenkontrollierten Ansatz (BkA) formuliert worden sind, der reflektiertes Erfahrungswissen bei betroffenen Berater*innen als Qualifikation ansieht. Ihm ist es wichtig, dass von Gewalt Betroffene in der Gesellschaft als kompetent und ihr Wissen als Bereicherung wahrgenommen werden. Gesamtgesellschaftlich gilt es, das Sprechen über Gewalt zu fördern bzw. überhaupt erst zu ermöglichen.
Dem steht das Verständnis von Professionalisierung diametral entgegen, in dem Hierarchisierungen zwischen Psychiater*innen, Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen und Berater*innen ohne Studium oder Fachausbildung konstruiert und zementiert werden. Das Einzige, was zählt, ist die Ausbildung. Hier unterscheiden sich die beiden Ansätze deutlich.
Teile der Sozialen Arbeit gingen oder gehen eng zusammen mit sozialen Bewegungen und es bestehen Verknüpfungen, weil viele Personen aus sozialen Bewegungen Soziale Arbeit studieren und diesbezüglich forschen. Es besteht also ein gewisser Wissensaustausch. Themen wie Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit sind Grundlagen der Sozialen Arbeit und beziehen sich auch auf Wissen und Kämpfe der sozialen Bewegungen und greifen diese auf wie beispielsweise bei Gentrifizierung oder sexualisierter Gewalt.