Handicap-Liebe - Christiane Fischer - E-Book

Handicap-Liebe E-Book

Christiane Fischer

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Marie wittert den Durchbruch als Redakteurin. Dafür muss es ihr nur gelingen, den ehemaligen Spitzensportler Lars Franke zu einem Interview zu bewegen. Doch seit der Leichtathletik-Profi mit Querschnittslähmung im Rollstuhl sitzt, verweigert er der Presse jeden Kontakt. Aufgeben war jedoch noch nie eine Stärke von Marie. So wählt sie einen ungewöhnlichen Weg, um mit Lars in Kontakt zu kommen. Dass dieser dabei auch ihr Herz berührt, war so nun wirklich nicht geplant. Es beginnt eine emotionale Zeit, die neben Spannung und Aufregung auch tiefe Einblicke in das Leben eines Rollstuhlfahrers offenbart.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Prolog

Das Abenteuer beginnt

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Impressum

Edition Paashaas Verlag

Titel: Handicap-Liebe

Autor: Christiane Fischer

Originalausgabe November 2021

Covermotiv: Pixabay

Covergestaltung: Michael Frädrich

Printed: BoD GmbH, Norderstedt

© Edition Paashaas Verlag, Hattingen

Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-096-3

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d–nb.de abrufbar

Handicap-Liebe

Prolog

Lars stieg in seinen dunkelblauen Jaguar, drehte den Zündschlüssel im Schloss und brauste davon.

Der Motor surrte ergeben und heulte dann vielversprechend auf. Das Fahren mit diesem Flitzer war berauschend.

Lars hatte ihn erst vor zwei Wochen gekauft und somit auf den Rat seines besten Freundes gehört: „Ein Spitzensportler braucht auch einen Spitzensportwagen.“

Er fuhr die Straße hinunter und schaltete in den dritten Gang. Die perfekt wie Säulen aneinander gereihten Buchen am Straßenrand warfen die ersten Blätter ab. Kinder spielten in den Einfahrten zu den Häusern, denn es waren Herbstferien. Menschen gingen einkaufen, führten ihre Hunde Gassi, fuhren zur Arbeit.

Lars ließ noch einmal den Motor aufheulen, nachdem er die Häuser hinter sich gelassen hatte. Er legte den vierten Gang ein und trat fester aufs Gaspedal. Dann steuerte er die Autobahn an, schaltete hoch in den fünften und sechsten Gang. Er liebte es, Vollgas zu geben, die Motorengeräusche seines Jaguars zu hören, sich frei und unabhängig zu fühlen – so ähnlich wie beim Laufen.

Als er an der nächsten Ausfahrt abfuhr und eine Landstraße erreichte, nahm er den Laster noch im Seitenspiegel wahr, der auf ihn zu raste. Ehe er realisieren konnte, was geschah, spürte er auch schon den Aufprall und hörte ein ohrenbetäubendes Krachen. Erbarmungslos und unkontrolliert. Reifen quietschten schrill auf. Ein heftiger Ruck ging durch seinen Körper wie bei einem Erdbeben. Das Herz hämmerte hart gegen seine Rippen. Lars verlor die Kontrolle über das Fahrzeug. Der Jaguar überschlug sich mehrere Male, drehte sich wie ein Kreisel, schleifte dann über das Straßenpflaster direkt in den Gegenverkehr. Autofahrer versuchten in letzter Sekunde auszuweichen. Vergeblich. Die ersten drei Fahrzeuge donnerten mit ungebremster Geschwindigkeit in den Jaguar und verursachten eine Massenkarambolage. Dann herrschte auf einmal Totenstille. In Lars‘ Schädel drehte sich alles. Benommen hielt er noch immer sein Lenkrad umklammert. Das Adrenalin betäubte seine Sinne. Bloß einen metallischen Geschmack im Mund nahm er wahr, bevor er das Bewusstsein verlor.

Das Abenteuer beginnt

Ich konnte den plötzlich aufkommenden Impuls, meinem Chef eine runterzuhauen, nur mühsam unterdrücken. Wut und Enttäuschung stiegen in mir auf wie Lava in einem Vulkan. Wieso in Gottes Namen bekam ausgerechnet ich in unserer Redaktion immer die Scheißjobs?!

„Marie?“, riss mich Hendrik, mein Chef, aus meinen Gedanken. „Hast du verstanden?“

Ich biss mir auf die Unterlippe. Ja, ich hatte verstanden. Ich sollte mal wieder einen Artikel über die Rassehundeausstellung in München schreiben.

Seit einem Jahr arbeitete ich in der Redaktion des Münchener Blickpunkts und durfte bisher immer bloß die Messe- und Ausstellungsartikel schreiben. Ohne Raffinesse und ohne Tiefgang über etwas zu berichten, das mich nicht im Geringsten interessierte oder herausforderte, war für mich, wie aus einem Telefonbuch vorzulesen. Es steckte deutlich mehr in mir! Warum wollte mein Chef das nicht begreifen?

„Ja“, antwortete ich ruppig.

Hendrik stemmte entschlossen die Hände in die Hüften und schaute konzentriert in die Runde. Sein Team aus Redakteuren und freien Journalisten saß an einem großen Konferenztisch. Er wirkte auf mich wie ein Admiral, der augenblicklich in See stechen wollte. Seine Augen glommen verwegen, während sein Schnurrbart auf und ab tanzte, so als könne er sich nicht entscheiden, ob er ernst bleiben oder lieber lachen sollte.

„Chef, ich möchte gern einen Artikel über den Brand in der Grünwalderwohnung schreiben. Ich habe neue Fakten gesammelt zu diesem Fall. Eine Augenzeugin hat einen Verdächtigen kurz vor dem Brand in der Nähe der Wohnung gesehen“, sagte Matthias mit einem triumphierenden Lächeln im Gesicht. Beide Hände versteckte er lässig in seinen Hosentaschen, während er fast auf seinem Stuhl lag.

Ich riss an meiner Nagelhaut herum.

„Gute Arbeit!“, sagte Hendrik anerkennend und steckte sich mit einer raschen Handbewegung eine Zigarette an.

Ich fand es schon eine Frechheit, wie er sich einfach über den Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz hinwegsetzte.

„Was hast du, Sandra?“ Er nahm einen kräftigen Zug und schaute dann fordernd zu meiner Kollegin hinüber.

Auch Sandra, die an einer ihrer lockigen Haarsträhnen zwirbelte, hatte natürlich eine Antwort parat: „Ich möchte gern über die Trickbetrügereien in und um Schwabing berichten.“

Einen trockenen Nagelhautfetzen hatte ich bereits abgerissen …

Dann meldete sich auch noch Hanna zu Wort. Die rote Baskenmütze, die sie stets trug, war schon zu ihrem Markenzeichen geworden. Die immer trendige und stilvolle Hanna wollte etwas zum Klimawandel beisteuern.

Torben hatte den festen Willen, über Merkel zu schreiben. Auch dagegen hatte unser Chef nichts einzuwenden. Es waren aktuelle Themen, die die Leute beschäftigen, wie er sagte.

„Noch irgendwelche Vorschläge?“ Hendrik zupfte an seinem Schnurrbart, während er seinen Glimmstängel in einem Wasserglas ertränkte. Angeekelt zog ich eine Grimasse. Etwas verspätet meldete sich auch Frederik: „Ich werde über die Missstände in deutschen Kitas schreiben.“ Er setzte ein kurzes Lächeln auf und schob dann seine verrutschte Brille auf seine Nase zurück.

„Welche Missstände denn?“, wollte Hendrik mit einer hochgezogenen Augenbraue wissen.

„Hohe Gebühren, kurze Öffnungszeiten und natürlich Personalmangel. Zu dem Thema möchte ich einige Fakten allgemeinverständlich zusammenfassen“, sagte er mit einem entschlossenen Blitzen in den Augen.

Frederik und all die anderen hatten im Vergleich zu mir ein paar Jahre mehr Erfahrung auf dem Buckel. Ich hasste die Tatsache, “das Küken“ zu sein.

Nachdem Hendrik Stephanie, Peter und Horst die Sport- und Politik-Themen zugewiesen hatte, war die Sitzung beendet. Er klatschte wie jedes Mal laut in die Hände und rief: „An die Arbeit!“ Gerade als ich mit dem restlichen Team zur Tür herausmarschieren wollte, hörte ich: „Marie, du noch nicht! Mach mir doch bitte zuerst Kaffee!“

Natürlich. Wie konnte ich nur meine Hauptaufgabe vergessen? Dem Chef Kaffee zu kochen! Zack … Den anderen Hautfetzen hatte ich mir auch noch abgerissen.

Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, lehnte sich Hendrik in dem Drehstuhl seines Büros zurück, holte seine Brotdose aus seiner Schreibtischschublade hervor, begann an einer Karotte zu mümmeln und steckte sich fast zeitgleich die nächste Zigarette an. Der Gesundheitsapostel mit der Raucherseele. Das wäre eine passende Überschrift zu einem Portrait über diesen Mann gewesen, dachte ich. Er hatte bereits sein Smartphone herausgekramt, ein verklärtes Grinsen aufgesetzt und schien zu chatten – bestimmt nicht mit seiner Frau. Ich schüttelte verständnislos den Kopf und waltete meines Amtes.

Den restlichen Arbeitstag verbrachte ich damit, einige Informationen aus dem Internet über die Rassehundeausstellung zu sammeln und telefonierte mit einem Veranstalter. Ich langweilte mich und sah deshalb meinen Kollegen und Kolleginnen über die Schulter. Mucksmäuschenstill schlich ich an den Schreibtischen vorbei, da alle außer mir noch eifrig für die morgige Ausgabe tippten. Ich ging zu Frederik und beobachtete, wie auch er leidenschaftlich in die Tasten haute. Er bemerkte mich gar nicht, so vertieft war er in seinen Text.

Einen Moment lang hielt ich inne. Dann räusperte ich mich. „Hey, Lust auf einen Absacker, nach Feierabend in unserer Stammkneipe?“ Erwartungsvoll lächelte ich ihn an.

Frederik blickte auf. Seine braunen Augen strahlten voller Enthusiasmus. „Aber klar doch! Wir treffen uns dort um 19:00 Uhr“, antwortete er bestens gelaunt. Dann war er wieder in seine Schreibarbeit abgetaucht. Wie ich ihn beneidete …

Ich war froh darüber, so einen guten Freund wie Frederik zu haben. So etwas war für mich nicht selbstverständlich und in diesem Haifischbecken erst recht nicht, wo jeder den anderen ausbooten wollte und wo jeder nur sich selbst kannte.

Ich blickte verstohlen auf die Wanduhr. Es war nach 17:00 Uhr. Ich hatte noch ein bisschen Zeit, um mich zu Hause frisch zu machen. Also tätschelte ich zum Abschied Frederiks Schulter, ließ ihn weiterarbeiten und machte mich auf den Weg nach Hause.

Kritisch warf ich einen Blick in den Wandspiegel und drehte mich von links nach rechts. Bluse und Stoffhose hatte ich gegen Jeans und Pulli mit Bluseneinsatz getauscht. Das würde sicher nicht der Hingucker des Abends werden. Doch das ist auch besser so, dachte ich mit gerunzelter Stirn.

Ich zog den Kragen aus dem Pullover hervor und strich ihn glatt. Genervt pustete ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und beäugte meine roten Haare, die einen deutlichen Kontrast zum Blau meines Pullis bildeten. Ein paar Haarsträhnen kitzelten mir im Nacken. Deshalb riss ich das Zopfgummi raus, nahm alle Strähnen sorgfältig zusammen und vereinte sie erneut zu einem Pferdeschwanz – die einzige Möglichkeit, um meine Mähne zu bändigen.

Ich zog seit zwei Jahren legere Kleidung einem Minirock vor. Auch trug ich lieber Turnschuhe und hasste High Heels. Früher hatte ich Tops geliebt, die wie eine zweite Haut an mir gesessen und mir ein sexy Gefühl trotz meines flachen Busens verschafft hatten. Doch in diesem Augenblick wollte ich mich weder begehrenswert noch aufreizend fühlen – das war vorbei. Es genügte mir, Marie Wagner zu sein, eine Frau ohne Makeup, ohne Netz und doppelten Boden.

Ein Knurren in meinem Magen machte sich bemerkbar. Mit einer Hand fuhr ich mir über den flachen Bauch.

Ich sollte noch etwas essen, bevor ich losziehe!

Zügig lief ich in meine Küche im Landhausstil, die ich zu meinem Glück damals von der Vormieterin hatte übernehmen können. Zielstrebig riss ich die Kühlschranktür auf, griff mir einen Erdbeerjoghurt und ließ mich auf einen Stuhl am Tisch nieder. Es war eine winzig kleine Hochhauswohnung hier in Schwabing, die ich mein Zuhause nannte. Sie war eher bescheiden eingerichtet: im Wohnzimmer gab es ein burgunderrotes Sofa mit einem gläsernen Couchtisch und einer Holz-Wohnwand. Eine kleine Ecke hatte ich mir etwas weiter abseits am Fenster für meinen Schreibtisch auserkoren – alles bei Ebay-Kleinanzeigen erworben. Das Wertvollste, das ich besaß, war eindeutig mein Laptop. Nachdem ich den letzten Rest Joghurt aus dem Becher gekratzt hatte, warf ich mir meinen grünen Parka über und verließ die Wohnung mit einem Lächeln.

Ich freute mich auf den Abend mit Frederik. Das würde bestimmt wieder lustig.

Frederik hatte ein Bein über das andere geschlagen und nippte an seinem Mai Tai. „Was machen wir eigentlich an deinem Geburtstag?“, wollte er mit einem süffisanten Grinsen von mir wissen und schaute mich verheißungsvoll an.

Wir saßen direkt an der Bar, und ich warf einen Blick durch die gut besuchte Kneipe. Überwiegend Studenten tummelten sich hier und spülten einen Drink nach dem anderen zur Happy Hour am Donnerstagabend runter. Ich sah wieder zu Frederik, dem ich eine Antwort schuldig blieb. Das grelle Licht der Deckenleuchten spiegelte sich in seinen Augen wider, ließen ihn in diesen Moment unbeschwert und kindlich wirken wie ein kleiner Junge, der es kaum erwarten konnte, mit mir Kuchen zu essen und Geschenke auszupacken.

Er sagte noch etwas zu mir wie: „Was ist jetzt?“

Ich hatte jedoch Mühe, ihn zu verstehen, da die Musik ziemlich dröhnte. Der Song Eye of the Tiger war mir hier in der letzten Zeit allerdings schon ein bisschen zu oft gespielt worden.

Die Retro Bar hier in Schwabing war unser kleiner Zufluchtsort nach stressigen oder deprimierenden Arbeitstagen. Ich liebte das rustikale Ambiente, die vielen bunten Neonlichter wie auch die alten Poster aus den 80er-Jahren von Madonna oder Cindy Lauper.

Matt ließ ich meine Hände über den Tresen gleiten und zog eine Grimasse. „Ich habe dir doch bereits erzählt, dass ich Geburtstage hasse, seit ich fünfzehn bin“, rief ich wegen der Lautstärke, die dann endlich verebbte. Ich fuhr mir mit beiden Händen durchs Haar und zog das Haargummi wieder stramm. Mit Dreams are my reality wurde es wieder leiser.

„Aber Marie, Schatz! Du musst die alte Geschichte von damals doch endlich mal ruhen lassen!“

Mit einer Hand tätschelte Frederik meine Schulter, seufzte tief, sah mich durchdringend an und rieb sich die Nase.

Ich schluckte kaum merklich. „Wenn deine Mutter Kids aus der Schule dafür bezahlt hätte, um auf deine Party zu gehen, dann wärst du heute auch gebrandmarkt“, gab ich bitter zurück, schwenkte mit einer Hand mein Glas und fuhr mit den Fingerspitzen über meine Jeanshose.

Bei den Erinnerungen an meine viel zu peinliche Schulzeit, in der meine kleine Schwester und ich so unterschiedliche Leben wie Tag und Nacht geführt hatten, stieg Übelkeit in mir auf. Isabelle – Schwarm aller Jungs, blond, langbeinig, anmutig – und meine Wenigkeit: Sommersprossen, Naturkrause, Zahnspange und nicht sehr gefragt.

Rasch nahm ich einen kräftigen Schluck meines Mojitos und schob die Altlasten beiseite.

Ich ließ meinen Blick über die Nostalgie–Blechschilder gleiten, die überall verteilt an den Holzwänden hingen. Sie zeigten knapp bekleidete Frauen, die lächelnd Cocktails in den Händen hielten oder für Waschmittel und Softdrinks warben.

„Du kennst mich und weißt, dass ich das niemals so stehenlassen werde, Marie Wagner!“

Genau dafür liebte ich ihn. Vielleicht würde ich Frederik den Gefallen tun und ihn eine Party für mich organisieren lassen. Aber es würden sowieso nur ein paar seiner Freunde kommen. Ich war nicht gerade ein Mensch, der schnell vertraute, und ließ nur wenige Leute in mein Leben. Frederik hatte es mit seiner gutherzigen und lockeren Art geschafft. Ich konnte mich noch genau daran erinnern, als mich Hendrik damals wegen einer falsch recherchierten Telefonnummer irgendeines Szeneclubs zusammengestaucht hatte – ein Zahlendreher. Ich war gerade frisch in der Redaktion eingestellt worden und so einen rüden Tonfall nicht gewohnt. Frederik entgingen meine verheulten Augen nicht. Er brachte mir einen Kaffee an meinen Schreibtisch und erzählte mir ein paar Anekdoten von seiner Zeit, als er noch der Neue in der Redaktion und Zielscheibe von Hendriks regelmäßigen Tobsuchtsanfällen gewesen war. Seine warmen, braunen Augen strahlten sofort etwas Vertrauensvolles aus, etwas, das mir Halt gab.

Seit einem Jahr wohnte ich inzwischen schon in Schwabing und traf mich regelmäßig mit Frederik. Es fühlte sich an, als wäre seitdem eine halbe Ewigkeit vergangen. Erstaunlich.

„Wann wird das aufhören, dass ich von Hendrik als Barista verdonnert werde und nur über so kleine Dinge wie unwichtige Events oder Messen schreiben darf?“, fragte ich und wechselte das Thema. Frustriert stützte ich das Kinn in meine Hände.

Frederik seufzte und fuhr sich mit einer Hand durch sein kastanienbraunes Haar. „Diese Frage stellst du mir gefühlt fünfmal im Monat, Marie, und meine Antwort wird immer dieselbe sein: Du musst Geduld haben und Ausdauer zeigen. Bevor du vor einem Jahr zu uns kamst, war ich Hendriks kleiner Butler.“

Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. „Also, dann hoffe ich einfach mal, dass bald jemand Neues beim Münchener Blickpunkt eingestellt wird, damit ich in der Hierarchie ein Treppchen aufsteigen kann.“

Frederik lachte auf. „Bevor nicht jemand aus unserem Team kündigt, wird der alte Geizkragen niemand Neues mehr einstellen.“

Seine Worte versetzten mir einen Tritt in die Magengrube und zerstörten mit einem Schlag das kleine bisschen Hoffnung, das ich gehegt hatte.

Von diesem anspruchslosen Job konnte ich gerade mal meine Miete zahlen, denn das Gehalt für diese kleinen Events war mickrig. Den Rest verdiente ich mir mit Nachhilfeunterricht in Englisch und Deutsch. Damit konnte ich mich über Wasser halten.

„Ich bestelle uns noch zwei Pina Coladas“, beschloss Frederik leicht angeheitert, als er in sein leeres Glas starrte.

„Gut. Diese Runde geht aber auf mich!“, entschied ich und knuffte ihn dabei in die Flanke. Ich kann mich ja nicht die ganze Zeit von ihm aushalten lassen!

Mir entging natürlich nicht, wie er den gut gebräunten und tätowierten Barkeeper bereits den ganzen Abend anschmachtete. Schon wieder! „Er ist hetero.“

Frederik verdrehte die Augen. „Ich weiß. Gucken wird man ja wohl noch dürfen“, gab er schnippisch zurück.

„Wie läuft es eigentlich momentan mit den Männern?“, wollte ich wissen, eine Hand unter mein Kinn gepresst.

„Ich habe letzten Samstag jemanden in einem Club kennengelernt. Er heißt Angelo. Wir haben Nummern ausgetauscht.“

„Das freut mich für dich!“ Ich schenkte ihm ein Lächeln und widmete mich dann meinem Cocktail.

Ich hoffte wirklich, dass er auch endlich mal Glück in der Liebe hätte. Zu oft wurde Frederik von Kerlen enttäuscht.

Er setzte derweil ein breites Grinsen auf, krallte sich seinen jungfräulichen Cocktail und hielt ihn mir vor die Nase.

„Auf die Loverboys dieser Welt!“

Auch ich erhob mein Glas, obwohl ich seinen Trinkspruch im Grunde nicht erwidern wollte. „Auf die Loverboys dieser Welt!“

Unsere gemeinsamen Abende bedeuteten mir alles. Umso unbehaglicher fühlte ich mich dann jedes Mal, wenn es darum ging, allein nach Hause gehen zu müssen. Jedes Mal, wie auch an diesem Abend, bot Frederik mir an, bei ihm zu schlafen. Es war mir wohler dabei, nicht allein in meinem Bett liegen zu müssen und meinen oft kreisenden Gedanken ausgeliefert zu sein. Er wusste das. Frederik besaß ein schickes, kleines Apartment in Schwabing.

Wir lagen aneinander gekuschelt in seinem Boxspringbett.

An der Seite meines besten Freundes konnte ich viel besser einschlafen. Mit ihm konnte ich meine Probleme vergessen – jedenfalls für eine kurze Zeit.

„Marie, du musst dir Hilfe holen, wenn diese Alpträume nicht aufhören“, flüsterte er in mein Ohr. Das war seit langem das erste Mal, dass er das Problem angesprochen hatte. „Du hast nie Anzeige gegen dieses Schwein erstattet, noch hast du dir Hilfe geholt und lässt keinen Mann an dich heran.“

Ich legte meine Arme um Frederiks Bauch und kuschelte mich ins Bettlaken. „Außer dir“, korrigierte ich und nahm seine Hand. Bei ihm fühlte ich mich geborgen. Es tat einfach gut zu wissen, dass es jemanden gab, der für mich da war.

„Dieser Vorfall ist nun zwei Jahre her. Du musst das hinter dir lassen“, sagte er sanft zu mir, während er meine Hand festhielt.

Frederik hatte Angst um mich. Das gefiel mir gar nicht. Wenn das nur so einfach wäre. Wenn ich nicht fast jede Nacht Alpträume bekommen würde. Ach, wenn das doch nie passiert wäre. Mein bester Freund sagte noch etwas Fürsorgliches zu mir, doch ich war bereits dabei, wegzudämmern.

Ich tanze ausgelassen in einem Münchener Club.

Der Bass der dröhnenden Musik vibriert in meinem Brustkorb. Rote, gelbe, blaue und grüne Neonlichter bewegen sich zum Beat der Dance Music auf und ab. Ein Blitzlichtgewitter verwandelt die Bühne in einen Walk of Fame. Ich fühle mich frei und unbeschwert, gebe mich dem Rhythmus des Songs Scared to be loneley von Dua Lipa hin und lasse meine Hüften kreisen, schüttele mein Haar wild in alle Richtungen.

Ich bin allein zum Feiern hierhergekommen – das macht mir allerdings nichts aus. Ich will lediglich ein bisschen Klausur-Stress abbauen und mehr nicht.

Hitze durchströmt meinen Körper. Die Menschenmassen rotieren um mich herum. Es riecht nach billigem Parfüm und Schweiß. Einige Typen tanzen mich an, doch ich schüttele einen nach dem anderen ab. Sie sind nicht mein Fall. Außerdem bin ich nicht die Art Frau, die sich einen Kerl in einem Club aufreißen würde. Um genau zu sein, war mein Besuch hier eher eine spontane Entscheidung.

Doch leider trinke ich zu viel. Viel zu viel.

Plötzlich finde ich mich in einem schäbigen, kleinen Hinterzimmer wieder. Ich schlage die Augen auf, weiß nicht mehr, was zuvor geschehen ist. Dunkelheit umhüllt mich wie dichter Nebel. Hände legen sich um meinen Körper, streichen über meine Beine, über meine Brüste. Sie sind schwitzig und jagen mir Ekel über den Rücken. Als ich in meiner Benommenheit begreife, was vor sich geht, schreie ich. Aber mein Schrei wird sogleich von seiner Hand erstickt. Ich wehre mich so gut es geht – vergeblich. Seine Hände sind stärker, ziehen meinen Rock hoch und drücken mich mit voller Kraft zu Boden. Mir wird klar, dass ich keine Chance gegen IHN haben würde. Mein Herz springt mir beinahe aus der Brust, Schweiß perlt von meiner Stirn. Krampfhaft versuche ich in SEIN Gesicht zu schauen, doch alles ist so verschwommen. Dann nimmt sich der Mann ohne Gesicht, was er will.

Ich wachte schweißgebadet auf. Keuchend rollte ich mich zurück in Frederiks Arme und war froh, dass ich ihn mit meinem unruhigen Schlaf nicht geweckt hatte.

Ruhig und friedlich atmete er vor sich hin.

Eine Flut von Erinnerungen überschwemmte mich.

Warum nur konnte ich mich nicht an dieses Gesicht erinnern?

***

Das Geräusch von klapperndem Geschirr riss mich aus meinem Schlaf. Leicht benommen seufzte ich.

Gedämpfte Radiomusik ertönte aus der Küche.

Ich griff nach meinem Handy und schielte auf das Display.

Es war gerade mal 06:33 Uhr! Oh Gott! Viel zu früh für mich. Mein Motto: Es ist noch Nacht, solange es draußen dunkel ist. Ich kniff die Augen fest zu, drehte mich nach links und nach rechts und krallte meine Finger in die Matratze.

Die Versuchung, ein weiteres Mal in erholsamen Schlaf zu versinken, war sehr groß. Doch dann dachte ich an Frederik und dass er gleich zur Arbeit musste. Denn im Gegensatz zu mir war er jeden Tag in der Redaktion beschäftigt. Er würde sich sicher freuen, wenn ich mit ihm zusammen noch einen Kaffee trinken würde.

Er weckte mich nie, wenn er sich für die Arbeit fertigmachte. Ich konnte in Ruhe bei ihm duschen, frühstücken und später einfach die Wohnungstür hinter mir zuziehen. Frederik hatte mir immer das Gefühl gegeben, bei ihm zu Hause zu sein. Dafür war ich ihm sehr dankbar.

Langsam erhob ich mich und verließ ein wenig wehmütig das warme Bett. Ich ging zum Spiegel, warf einen flüchtigen Blick hinein, zog dabei die Stirn in Falten, strubbelte meine Haare, schlüpfte in die Sandalen und lief zur Küche. Frederik stand vor dem Herd und wendete gerade mit einem Pfannenheber ein paar Spiegeleier in der Bratpfanne.

Die Ärmel seines weißen Hemdes hatte er dabei fachmännisch zurückgekrempelt. Die schwarze Jeans war so etwas wie sein Markenzeichen. Jedenfalls wenn er im Büro arbeitete.

Privat bevorzugte Frederik eher Cargo-Hosen und Langarmshirts. Er war schmächtig gebaut und wirkte mit seinen eins achtzig wie ein Riese neben mir.

„Guten Morgen, Sonnenschein“, sagte er fröhlich überrascht und deutete mit dem Kopf auf die kleine Bar-Theke mit den silberfarbenen Hockern.

„Setz dich. Frühstück ist gleich fertig.“

„Guten Morgen, du Frühaufsteher“, entgegnete ich nüchtern. Träge ließ ich mich auf einem der Hocker nieder.

Die Zeit nach dem Schlaf war mir nicht gerade die liebste. Ich war zwar wach, musste aber erst in die Gänge kommen, was in der Regel etwa zwei Stunden dauerte.

Wie konnte ein Mensch zu dieser frühen Morgenstunde nur so gut gelaunt sein?

„Ist alles in Ordnung?“, wollte er mit einer hochgezogenen Augenbraue von mir wissen.

„Jup. Wieso?“

„Weil du normalerweise zu dieser Uhrzeit schläfst wie ein Murmeltier, wenn du nicht mit mir in die Redaktion musst.“

Ich gähnte immer noch halb verschlafen, zupfte am Saum meines Nachthemds herum und streckte ein Bein vor das andere, ohne den Boden zu berühren. Denn für eine so kleine Person wie mich war das – auf einem Barhocker sitzend – schier unmöglich.

„Ich dachte mir, du könntest heute mal etwas Gesellschaft gut gebrauchen“, sagte ich und zwinkerte Frederik zu.

Er stellte die Kaffeebecher zusammen mit den Spiegeleiern und dem getoasteten Brot auf dem Tresen ab und nahm dann gegenüber von mir Platz.

„Wenn ich Hendrik das nächste Mal sehe, werde ich ihn fragen, ob er einen neuen Aufgabenbereich für mich hat, der besser bezahlt wird“, murmelte ich, während ich an meinem Kaffeebecher nippte.

Frederik sah mich mit kraus gezogener Stirn an und schob seine Brille hoch. Ehe er etwas darauf erwidern konnte, redete ich weiter. „Die Anzahl meiner Nachhilfeschüler hat sich inzwischen leider halbiert. Ich brauche mehr Geld!“ Missmutig knabberte ich an meinem Toast herum, ehe ich hineinbiss.

Frederik nickte. „Verstehe“, sagte er und warf mir einen mitfühlenden Blick zu.

Zu allem Überfluss musste ich auch noch meinen Studienkredit abbezahlen. Mein Vermieter hing mir zudem seit letzter Woche wegen eines Mietrückstandes im Nacken.

Wenn sich nicht bald etwas änderte, würde ich aus der Wohnung fliegen. Doch diese Details beschloss ich fürs erste für mich zu behalten.

Mit einer Hand fuhr sich Frederik übers Kinn. „Fragen kostet ja bekanntlich nichts, auch wenn ich da bei Hendrik skeptisch bin.“

Ich stieß Luft aus und knetete meine Hände.

Ich musste es einfach versuchen!

Als ich Montagmorgen die Redaktion erreichte, machte mein Chef ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Das war bekanntlich keine Seltenheit bei Hendrik Schleys, jedoch würde es meine Pläne durchkreuzen. Scharf zog ich die Luft ein. Es roch in unserer Redaktion wie immer nach Zigaretten und Kaffee. Diese Messeartikel müssen ein Ende haben, damit mein Boss erkennt, was noch so alles in mir steckt!

Frederik hatte sich längst wie alle anderen an seinen Arbeitsplatz zurückgezogen, um für einen Artikel zu recherchieren.

Mit einem Becher frisch gebrühtem Kaffee betrat ich das Büro des Chefs. Der Zigarettenrauch war beißend. Ich rümpfte die Nase. Hendrik biss finster in eine Selleriestange. Anschließend verschwand sein Kopf hinter einer großen Tageszeitung. Es war nicht unsere. Irgendetwas schien an ihm zu nagen.

Vielleicht sollte ich ihn besser ein anderes Mal fragen.

„Alles in Ordnung, Chef?“, erkundigte ich mich und stellte die Kaffeetasse auf seinem Schreibtisch ab.

Er zog seinen Kopf aus der Zeitung hervor.

„Hast du schon mal versucht, dich komplett vegan zu ernähren?“

„Nein“, gab ich knapp zurück. Das wäre ja noch schöner!

„Es ist scheiße, wenn du feststellen musst, dass mittlerweile schon drei Schulfreunde von dir an Krebs gestorben sind. 3! Das heute in den Todesanzeigen war Marco Tunberg, der Dritte! Er war gerade einmal 56 Jahre – so alt wie ich.“ Hendrik seufzte tief und schüttelte mitgenommen den Kopf. Die Zeitung faltete er unachtsam zusammen und schob sie weit von sich. Er wirkte ein wenig gedankenverloren.

Vielleicht solltest du einfach, anstatt das Grünzeug zu essen, aufhören zu qualmen, dachte ich mir, als er sich gerade wieder eine anzündete.

„Chef“, sagte ich stattdessen und rückte näher an die Schreibtischkante. „Ich habe ein wichtiges Anliegen.“ Ich räusperte den Frosch in meinem Hals schnell weg und glättete mit den Händen meinen Blazer. „Ich arbeite mittlerweile seit einem Jahr in dieser Redaktion. Der Job füllt mich nicht aus. Ich brauche ein neues Themenfeld!“ So, jetzt war es raus.

Er nahm einen Zug aus seiner Zigarette. Der Qualm stieg mir penetrant in die Nase und umhüllte ihn wie eine Nebelwolke. Ich hasse Passivrauchen!

„Ich habe momentan nichts anderes für dich. Alle Rubriken sind vergeben.“

„Was ist mit einer Schlagzeile?“

„Du bist noch nicht so weit, Marie.“

„Wenn du mir eine Chance gibst, werde ich dich nicht enttäuschen.“

„Schluss jetzt!“ Hendriks Stimme klang gereizt.

Seine düstere Miene und seine sich kräuselnden Lippen schüchterten mich ein. Er sah mich unnachgiebig und zugleich auffordernd an.

„Der Messe- und Event-Teil ist deine Rubrik. Wenn mal was wirklich Aufregendes auf einer Messe passiert, kannst du auf Seite 1 darüber schreiben. Du weißt: Nach dem Druck ist vor dem Druck. Also, an die Arbeit!“

Wieder klatschte der Idiot in die Hände.

Ich hatte überhaupt nicht gemerkt, wie ich mir den letzten Fingernagel auch noch eingerissen hatte, denn auf einmal spürte ich ein Stück davon zwischen Daumen und Zeigefinger. Ich schluckte schwer. Angestrengt versuchte ich, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Jedoch ohne Erfolg. Wortlos und wie ein begossener Pudel verließ ich das Büro.

Schwermütig ließ ich mich auf meinen Drehstuhl plumpsen. In meine Schläfe pochte es dumpf.

Ich nahm mein Handy vom Schreibtisch und lugte auf das Display. Ein Anruf in Abwesenheit von meinem Vermieter! Das konnte nichts Gutes bedeuten! Ich musste schleunigst etwas unternehmen, ehe ich noch obdachlos werden würde.

Gerade als ich den Computer hochfahren wollte, bemerkte ich eine Hand auf meiner Schulter. Ich drehte mich erschrocken um. Es war Torben.

„Alles in Ordnung bei dir, Marie?“

Ihm war wohl nicht entgangen, mit was für einer Miene ich aus dem Chefbüro marschiert war. Er hatte schon lange ein Auge auf mich geworfen. Oft empfand ich Torbens Blicke wie Kaugummi, die an mir klebten. Auch wenn ich zugeben musste, dass er ganz und gar nicht unattraktiv war mit seinen breiten Schultern, den niedlichen Wangengrübchen und den samtigen Augen. Torben war durchweg sympathisch, aber ich konnte mich nicht auf ihn einlassen.

Bereits zweimal hatte ich eine Einladung von ihm zum Kaffee ausgeschlagen. Ich hielt seinem durchdringenden Blick stand.

„Ja, es ist alles in Ordnung bei mir“, gab ich mit einem aufgesetzten Lächeln zurück. Ich wollte nicht mit ihm darüber sprechen, denn es war mir peinlich, dass Hendrik mir nicht mehr zutraute.

„Ich muss da nämlich jetzt auch gleich rein“, bekannte Torben flüsternd, während seine dunklen Augen mich fixierten.

„Es wäre also gut zu wissen, wie schlecht seine Laune ist. Sagen wir bei einer Skala von eins bis zehn?“

„Zwölf.“ Ich war nur ehrlich.

„Oh! Na, dann wird sie nach meiner Berichterstattung noch auf vierzehn steigen, denke ich.“

Ich wusste nicht, ob Torben die Wahrheit sagte oder ob er mich bloß ein bisschen aufmuntern wollte.

„Oje, was gibt es denn so Schlimmes zu berichten?“

„Ich sollte für Hendrik ein Interview vom ehemaligen Olympiasieger Lars Franke besorgen, aber der verweigert jegliche Pressearbeit und das schon seit seinem Unfall vor fünf Jahren. Hendrik ist ganz versessen darauf, ihn eines Tages zu knacken.“

Lars Franke: Der Name war mir ein Begriff. Er hatte damals eine vorbildliche Sportlerkarriere hingelegt. Sein Unfall vor einigen Jahren – eine Querschnittslähmung – hatte sich in der deutschen Presse wie ein Lauffeuer verbreitet.

Mit einem verschmitzten Lächeln trat Torben geradewegs den Weg in die Höhle des Löwen an.

Wie von selbst streckten sich meine inneren Fühler aus. Die Neugierde übermannte mich. Also googelte ich Lars Franke:

Lars Franke, mehrfacher Leichtathletik-Medaillengewinner – nicht mehr zu stoppen.

Wird Franke erneut Gold für Deutschland holen?

Olympiasieger erleidet schweren Verkehrsunfall!

Das Aus für seine Karriere?

Er war auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn gewesen, als er einen tragischen Autounfall gehabt hatte. Anschließend hatte er “Power Roles“, ein Trainingscamp für Rollstuhlfahrer, gegründet. Das Center lebte von Spenden. Franke hatte eine Stiftung gegründet. Die Leute, die bei ihm trainieren wollten, brauchten keinen Cent zu bezahlen und mussten auch keine lästigen Anträge an ihre Krankenkassen schicken, in der Hoffnung einen Teil davon zurückerstattet zu bekommen.

Ich fuhr mit meiner Zungenspitze über die Lippen. In meinem Kopf ratterte es, denn ich witterte in meinem unverbrauchten Ehrgeiz eine Chance, meine Karriere endlich vorantreiben zu können.

Zumindest wäre es eine Möglichkeit, selbst, wenn sie noch so klein schien. Unruhig bewegte ich mich in meinem Stuhl auf und ab und verursachte ein Scharren auf dem Boden.

Torben wirkte etwas zerknirscht und abgekämpft, als er aus dem Büro kam. Er zuckte hilflos mit den Schultern, als wollte er sagen: Ich werde Hendrik nie verstehen. Leicht gebeutelt trottete er zu seinem Arbeitsplatz zurück.

Ich stand auf, straffte die Schultern, steuerte noch einmal Hendriks Büro an, klopfte zweimal und wartete gar nicht erst sein Herein ab, sondern trat ein und ging geradewegs auf seinen Schreibtisch zu.

Hoch erhobenen Hauptes und mit in die Hüften gestemmten Händen stand ich vor ihm und hoffte, dass mich mein Mut nicht verlassen würde.

Hendrik saß immer noch lässig an seinem Schreibtisch, ein Bein über das andere geschlagen und nippte ein wenig gequält an seinem täglichen Gemüse-Smoothie. „Was ist denn nun schon wieder?“, fragte er genervt, zog seine Brille von der Nase und legte sie auf den Tisch.

„Gib mir eine Chance! Ich besorge dir ein Interview mit Lars Franke.“

Er lachte. Erst leise, dann immer lauter. Es war ein Glucksen und Schnauben.

„Was ist bitte so komisch?“, fragte ich empört.

Hendrik ließ genüsslich seinen letzten Lacher verebben.

„Kann es sein, dass du vorhin an der Tür gelauscht hast?“

Ich spürte, dass ich rot wurde.

„Nein, hab ich nicht. Ich habe zufällig erfahren, dass du ein Interview von Lars Franke willst“, beharrte ich kleinlaut und strich mit den Fingerspitzen meinen Blazer glatt.

„Ach, hast du das?“ Hendrik grinste. Seine Wangen waren leicht gerötet. Er schien sich immer noch über meine unbeholfene Art, für die ich mich verfluchte, zu amüsieren. „Dein Ehrgeiz in allen Ehren, aber du wirst nur – wie alle anderen – deine Zeit vergeuden. Ich habe ihm Geld für ein Interview geboten, viel Geld, beziehungsweise Torben hat das und zuvor war es Horst und dann Tobias.“

„Ich setze alles dran.“ Mein Herz pochte. „Lass mir den Versuch. Ich brauche das Geld, bitte!“ Meine Stimme zitterte. Ich fühlte mich wie eine armselige Bettlerin, und die war ich ja auch. Aber ich brauchte wirklich mehr Geld! Ich sah es Hendrik an: Er traute mir nicht mal den Versuch zu.

Er stand auf, stellte sich ans Fenster und fixierte ein Eichhörnchen, das gerade an einem Garagendach hochflitzte.

„Ich will nur eine einzige Chance! Dafür habe ich Journalismus studiert! Lass es mich wenigstens versuchen!“

Ungerührt und schweigend wandte Hendrik mir weiterhin den Rücken zu.

Ich rieb mir über die Stirn, die Spannung war kaum zu ertragen.

„Es ist wahrscheinlicher, ein Interview vom Papst zu bekommen als von diesem sturen Kerl. Du kennst Lars Franke nicht. Ich meine, ihn wenigstens ein bisschen zu kennen“, sagte er dann. Sein Feuerzeug klackte, er steckte sich wohl seine nächste Zigarette an.

„Doch was, wenn ich dir eine Enthüllungsstory schreibe?“

Die Worte waren irgendwie aus mir herausgesprudelt, total unkontrolliert.

Ein Klopfen an der Tür durchbrach die plötzlich aufkommende Stille. „Jetzt nicht“, brüllte Hendrik.

Sein Blick haftete interessiert auf mir. Ich konnte nicht deuten, ob Bewunderung oder Verachtung darin steckten.

„Wie, bitteschön, soll das gehen? Er hasst Paparazzi!“, sagte Hendrik und zog eine Augenbraue nach oben.

Zu meinem Bedauern lag er damit richtig.

Meine Mundwinkel erschlafften. Wenn meine geschätzten Kollegen keine Antworten auf gestellte Fragen aus Franke herauspressen konnten, wie um alles in der Welt sollte mir das gelingen? Ich hatte meinen Mund zu voll genommen.

Mein Chef zog erneut die Stirn kraus und ließ sich in den Drehstuhl plumpsen. Bestimmt dachte er gerade über die nächste Schlagzeile nach.

Am besten gehe ich jetzt, dachte ich. Vielleicht habe ich ja Glück, und er ist so in seiner Magazinplanung versunken, dass er nichts mehr zu mir und meinen kleinen Austicker sagen wird und dieses Gespräch auf sich beruhen lässt.

Auf Zehenspitzen schlich ich Richtung Ausgang.

„Nicht so schnell, Marie!“, rief er mir plötzlich eindringlich hinterher.

Ich fuhr zusammen und drehte mich nervös um.

„Wenn du wirklich deine Chance bekommen willst, ist der Plan folgender“, begann Hendrik beabsichtigt geheimnisvoll und mit einem verschwörerischen Grinsen im Gesicht.

Ich schluckte bloß und ließ ihn mit einem eigenartigen Gefühl tief in meiner Magengrube fortfahren.

„Du wirst dich undercover als Rollstuhlfahrerin in Frankes Camp einschleusen und so an brisante Informationen über ihn kommen!“

Völlig perplex rutschte mir die Kinnlade herunter.

„Ich soll was?“, fragte ich, obwohl ich seine Worte eigentlich klar und deutlich verstanden hatte.

„Das ist die Idee überhaupt“, sagte Hendrik mit leuchtenden Augen. „Warum bin ich nicht schon viel eher draufgekommen? Lars kennt jeden Reporter in der Stadt. Aber du …, dich hat er noch nie zu Gesicht bekommen! Ich bin ein verdammtes Genie.“ Selbstgefällig strich er sich über seinen Schnurrbart und zündete eine Zigarette an. „Ich will zum einen alles über seinen Werdegang nach dem Unfall erfahren, ein paar intime Anekdoten wären natürlich auch nicht schlecht.“ Hendrik riss die Augen weit auf. In seinem Blick lag etwas Besessenes, als wäre er Indiana Jones auf der Suche nach dem heiligen Gral. Er ging zu mir rüber und sah mich eindringlich an, schaute dann um sich, so als wolle er sichergehen, dass uns niemand zuhörte. „Jetzt kommt‘s, hör gut zu: Ich hege schon lange den Verdacht, dass Franke Gelder seiner Stiftung veruntreut.“

Immer noch mehr als überfordert schüttelte ich den Kopf und blinzelte. „Äh, wie kommst du darauf?“

„Nachdem seine Stiftung überaus gut anlief, ließ er sein komplettes Haus in Grünwald nicht nur renovieren, sondern veranlasste ebenfalls einen Anbau für seine Terrasse. Damit nicht genug, bekamen seine Eltern obendrauf ein Haus geschenkt. Erst danach wurde Power Roles gegründet.“

„Aber er war doch vorher auch nicht gerade arm“, warf ich mit zugekniffenen Augen ein.

„Sein Vermögen wurde vor dem Unfall auf 1,1 Millionen geschätzt. Dann kaufte er sich ein dekadentes Haus in Grünwald. Da braucht man kein Mathegenie zu sein, um zu wissen, dass die Anschaffungskosten höher lagen als seine Finanzen. Ich glaube, ich bin da etwas Heißem auf die Spur gekommen. Du wirst mir dabei helfen, alles aufzudecken!

Falls sich mein Verdacht nicht erhärten sollte, wirst du ebenfalls genug Material für eine Reportage gesammelt haben, eine Win-Win-Situation sozusagen. Ich garantiere dir auch ein sehr großzügiges Honorar. Bist du dabei, Marie?“

Ich soll eine Querschnittsgelähmte mimen? Das ist doch kompletter Wahnsinn, meldete sich meine innere Stimme lautstark zu Wort. Doch ohne zu widersprechen, willigte ich ein.

***

War ich jetzt von allen guten Geistern verlassen? Ich hatte den Deal wirklich mit Hendrik klargemacht! Ich muss komplett bescheuert sein. Aber ich brauche das Geld dringend. Mein Schädel hämmerte wie ein Presslufthammer.

Immer noch ein wenig überrascht über mich selbst, suchte ich den Weg zu Frederiks Schreibplatz.

Gerade machte er Mittagspause und saß mit Kaffee und Brötchen, beide Beine von sich gestreckt, vor seinem Tisch. Er riss erstaunt seine Augen auf, als er von meinem Vorhaben hörte.

„Marie Wagner, du bist verrückt! Weißt du, was du dir da gerade eingebrockt hast?!“, herrschte er mich an.

Ich stützte mich mit beiden Händen an seinem Schreibtisch ab. „Ich weiß, die Methode ist recht komplex, aber in der Presse wiederum auch nicht untypisch. Es gab schon viele Reporter, die für eine Story eine andere Identität annehmen mussten. Es ist zumindest eine große Chance für meine Karriere“, versuchte ich mich vor ihm zu rechtfertigen. Und für meinen Geldbeutel, damit ich nicht bald unter einer Brücke schlafen muss, fügte ich im Gedanken hinzu.

Frederik schaute mich verständnislos an.

„Marie, du bist doch nicht Günter Wallraff!“

„Was hast du gegen Enthüllungsjournalismus?“ Ich funkelte ihn trotzig an.

Er rollte mit den Augen. „Nichts!“

„Ja, also! Eine Story ist eine Story.“

„Was, wenn Franke wirklich Dreck am Stecken hat und du auffliegst? Weißt du überhaupt, worauf du dich da einlässt?“ Unnachgiebig sah Frederik mich an.

„Es ist ein gewagter Job, aber meine einzige Chance!“

„Das ist kompletter Wahnsinn, Marie!“ Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen.

„Ich muss das jetzt durchziehen!“

Frederik stieß Luft aus. „Ich will dich wirklich nur beschützen!“ Seine Stimme wurde weicher.

Ich knabberte an einem meiner abgefressenen Nägel herum. „Ich brauche deine Hilfe!“

Frederik schüttelte verächtlich seinen Kopf. „Oh nein, Marie! Die Suppe musst du schön alleine auslöffeln.“

In meinem Magen begann es gerade eigenartig zu rumoren.

„Ich brauche dich aber als meinen Freund!“

„Als dein Freund sage ich dir, dass du jetzt gleich nochmal in Hendriks Büro gehen sollst, um diesen Irrsinn zu canceln.“ Er senkte seinen Blick, schaute zu Boden.

„Das kann ich nicht.“ Ich hob seinen Kopf nach oben, sah ihn flehend an. „Wenn ich das tue, wartet schon bald die nächste Bundesgartenschau auf mich. Verstehst du nicht? Ich muss beweisen, was in mir steckt!“

Frederick blickte durch mich hindurch, als wäre ich aus Glas. Er blinzelte kurz, legte seine Stirn in Falten. Dann stand er auf, stellte sich direkt vor mich, legte beide Hände auf meine Schultern und musterte mich eindringlich. „Es ist in meinen Augen waghalsig und riskant. Du müsstest ständig so tun, als hättest du kein Gefühl mehr in deinen Beinen, auch wenn ein Trainer dein Bein bei therapeutischen Maßnahmen bewegt. Sowas ist verdammt anstrengend!“

Er hatte natürlich recht. Das würde eine große Herausforderung werden.

An diesem Abend traf ich mich mit Frederik bei mir zu Hause. Zumindest hatte er sich mit seinem weichen Herzen dazu breit schlagen lassen, mein neu gewonnenes Problem mit mir zu besprechen.

---ENDE DER LESEPROBE---