Sturm in meinem Kopf - Christiane Fischer - E-Book

Sturm in meinem Kopf E-Book

Christiane Fischer

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Beschreibung

Auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Ex-Freund sucht Lena Schutz bei ihrem damaligen Jugendfreund Adnan. Dafür zieht sie von Duisburg nach Berlin. Als Lena ihm das erste Mal nach dreizehn Jahren wieder gegenübersteht, merkt sie, dass sich an ihren Gefühlen von damals nichts geändert hat. Im Gegenteil: Er lässt ihr Herz höherschlagen, höher als jemals zuvor. Schon lange plagen sie starke Konzentrationsstörungen. ADHS wird vermutet. Kann sie sein Herz dennoch erobern? Denn Lena trägt zudem ein dunkles Geheimnis mit sich herum, das einer Partnerschaft im Wege steht ...

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Dennis

Berlin

Veronika

Versöhnung

Geheimnisse

Duisburg

Die aufgehende Sonne

Epilog

Danksagung

Widmung

Nachwort

Hinweis

Über die Autorin

Impressum

Edition Paashaas Verlag

Titel: Sturm in meinem Kopf

Autor: Christiane Fischer

Originalausgabe März 2023

Covermotive: Pixabay

Covergestaltung: Michael Frädrich

Lektorat: Nina Sock, Manuela Klumpjan

Printed: BoD GmbH, Norderstedt

© Edition Paashaas Verlag,

Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-119-9

Die Hauptfiguren, sowie sämtliche Charaktere und Handlungen in dieser Geschichte sind frei erfunden.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d–nb.de abrufbar

Sturm in meinem Kopf

Von Christiane Fischer

Prolog

Angespannt biss ich mir auf die Unterlippe und starrte voller Verzweiflung auf meinen Klausurbogen. Ich las die Frage, die mich gerade zum Stocken brachte, wieder und wieder durch. Bis auf zwei Aufgaben hatte ich seit etwa fünfzehn Minuten keine weiteren mehr beantworten können.

Aufgabe 3:

Differenziere zwischen den Stofftransportvorgängen Phagocytose und Pinocytose.

Das habe ich mir gestern noch durchgelesen, aber gerade fällt es mir irgendwie schwer, alles in meinem Kopf zu sortieren … Ich kann mich schon wieder nicht konzentrieren …

Ein Bein schlug ich über das andere, wippte damit nervös auf und ab, ließ meinen Blick durch das Klassenzimmer schweifen. Es war still wie auf einem Friedhof. Jeder meiner Mitschüler schien vertieft in seine Aufgaben zu sein. Mareike, die an einem Tisch direkt vor mir saß, schrieb eifrig vor sich hin. Thomas, zu meiner Linken, drehte sein Blatt um und begann die übrigen Aufgaben zu bearbeiten. Ja, der Bogen bestand tatsächlich aus zwei Seiten und ich hatte nicht einmal eine halbe Seite geschafft! Der Schädel dröhnte mir wie ein Sägewerk.

Ich bin froh, wenn ich Lucy gleich in der großen Pause sehe. Sie ist ziemlich lange krank gewesen. Schon blöd, wenn man keine anderen Freundinnen hat! Aber besser eine als keine. Reiß dich zusammen, Lena! Konzentriere dich endlich auf die Aufgaben. Du hast für diese Klausur gepaukt. Du kannst das doch.

„Nicht Löcher in die Luft starren, Lena. Schreib lieber, die Zeit wird knapp!“, mahnte mich Herr Goldberg, mein Biolehrer. Er warf mir einen verdrießlichen Blick zu und rückte seine verrutschte Brille zurecht.

Ich nickte beklommen und sah erneut auf mein Aufgabenblatt. Es war, als ob mich irgendetwas blockierte, mich lähmte. Meine Gedanken, ich konnte sie nicht greifen. Sie zerronnen wie Sand zwischen den Fingern. Ich beschloss, mich der nächsten Frage auf meinen Bogen zu widmen.

Der Griff um meinen Stift wurde fester, so fest, dass meine Haut anfing zu kribbeln und meine Fingerknöchel weiß hervortraten.

Komm schon! Wenn ich diese Klausur wie die letzten beiden auch noch vergeige, werde ich definitiv eine 5 auf mein Zeugnis kriegen …

Verstohlen schielte ich zur Wanduhr.

Was, schon 10:45 Uhr? Dann habe ich ja bloß noch zehn Minuten. Scheiße!

Die Wände schienen näher zu kommen, so als ob sie mich zerquetschen wollten, jedenfalls fühlte es sich so an. Das Ticken der Wanduhr hörte ich plötzlich lauter als jemals zuvor: tick-tack, tick-tack. Die Zeit lief mir buchstäblich davon: tick-tack, tick-tack …

Dennis

Lena

Ein lauter Knall ließ mich zusammenzucken. Es polterte und klirrte. Glas zersprang. Reflexartig und mit pochendem Herzen sprang ich in die Ecke, suchte Schutz vor ihm. Doch es war hoffnungslos, als ob ich unter Wasser eine Kerze anzünden wollte. Unmöglich.

„Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du mich nicht verlassen kannst. Niemand nimmt so jemanden wie dich. Du bist wertlos, ohne mich bist du nichts!“

Seine Schritte kamen näher. Schützend, wenn auch unnütz, hielt ich mir beide Arme vor den Kopf. Mein ganzer Körper zitterte.

„Mein Bruder hat mir verraten, dass du uns alle verlassen willst. Komm her!“, brüllte er.

Der aggressive Tonfall seiner Stimme ging mir durch Mark und Bein. „Bitte, Dennis, lass mich endlich gehen! Das, was wir haben, ist keine Beziehung mehr und ich möchte auch nichts mehr mit Gregor und seinen Leuten zu tun haben.“

Er kam näher, packte mich an den Haaren, schleifte mich über den Boden wie Vieh. Das hatte er schon viel zu oft getan. Vor Schmerzen schrie ich auf.

„Ich entscheide, wann es vorbei mit uns ist, du gehörst mir, mir allein!“

Dennis löste seinen Griff. Eine Ader hatte sich auf seiner Stirn gebildet. Seine graublauen Augen, die ich einmal so sehr geliebt hatte, waren weit aufgerissen. Kalt und fremd wirkten sie.

Dennis war nicht der, für den ich ihn einst gehalten hatte. Er war ein Narzisst und unsere Beziehung toxisch. Leider hatte ich es erst zu spät erkannt, immer wieder die Augen davor verschlossen, mir immer wieder eingeredet: Diesmal ist es der letzte Ausraster. Jeder Tag war ein Alptraum, aus dem ich einfach nur aufwachen wollte. Doch wie stellt man das an, wenn man gelähmt und wie gefangen in sich selbst ist? Ich ließ meinen Blick durch die demolierte Küche schweifen. Pfannen und Töpfe lagen verstreut neben Glassplittern und Essensresten auf dem Boden. Die Luft war geschwängert mit Schweiß, Testosteron und blankem Hass. Mein Herz schlug einen unruhigen Takt. Einmal war das unser Zuhause gewesen, in dem ich geglaubt hatte, glücklich mit ihm werden zu können. Doch jetzt war es bloß noch ein Gefängnis, ein Ort voller Hoffnungslosigkeit und Schmerz.

Ich atmete tief durch, versuchte vergeblich die anbahnenden Tränen in Schach zu halten. Eine nach der anderen kullerte mir die Wangen herunter. Ich schluckte hart und sah zu ihm auf. Dennis fixierte mich nach wie vor mit einem düsteren Blick, der mich aufs Neue lähmte. Dem Impuls, jetzt einfach zu versuchen, schnell wegzurennen, konnte ich nicht nachgehen, denn die Kontrolle über meine Beine hatte versagt. Wie ein wehrloses Tier saß ich in der Falle.

So kann es nicht weitergehen. Ich halte das einfach nicht mehr aus!

„Ich liebe dich nicht mehr, Dennis. Ich kann das hier alles nicht mehr“, nahm ich all meinen Mut zusammen.

Ruckartig packte er mich am Nacken und stieß mein Kopf gegen die Wand. Von dem heftigen Schlag dröhnte mein Schädel wie eine ganze Baustelle. Pochende und stechende Schmerzen hielten Einzug. Instinktiv fasste ich mir mit einer Hand an die Stirn und fühlte Blut.

„Du bist nichts weiter als eine kleine Schlampe, Lena. Undankbar, so undankbar bist du! Du hast mir einfach alles zu verdanken. Ich habe dich in die Gemeinschaft gebracht, dich mit Gregor bekannt gemacht. Wenn du nicht so dumm gewesen wärst, ihnen allen den Rücken zu kehren, hättest du endlich mal was im Leben erreichen können. Alles hast du einfach mit Füßen getreten und weggeworfen!“

Ich schluchzte auf, hatte keine Kraft mehr. Vielleicht solltest du dich einfach umbringen, erklang eine Stimme in mir. Gedanken daran hatte ich schon viele gehabt, wenn ich ehrlich war. Aber da gab es dann immer den Teil in mir, der leben, so gerne richtig leben und frei sein wollte. Genau dieser Teil hatte bisher immer überwogen. Dieser Teil war es, der sich in diesem Moment unverhofft zu Wort meldete. Ich holte tief Atem, schaute um mich. Zu meinen Füßen lag eine Bratpfanne, die ich schnell packte, ohne weiter nachzudenken. Ehe Dennis reagieren konnte, knallte ich sie ihm vor dem Kopf. Er sackte daraufhin bewusstlos in sich zusammen. Schnell begutachtete ich seine Stirn. Ich konnte keine Platzwunde erkennen. Dann tastete ich an seinem Hals nach dem Puls, der noch vorhanden war. Er ist bloß bewusstlos.

Rasch griff ich zum Telefon und rief den Notarzt, packte so schnell ich konnte Kleidungsstücke, Unterwäsche und Schuhe in meine Tasche und rannte aus der Wohnung.

***

Was mache ich jetzt bloß? Da stand ich mitten auf der Straße in dieser kühlen Aprilnacht und war plötzlich obdachlos. Shit, shit, shit!

Hecktisch schob ich den verrutschten Trägerriemen meiner Tasche zurück auf meine Schulter und keuchte unruhig vor mich hin, lief die Straße unserer Wohnsiedlung hinunter. Die dünnen Lichtkegel der Straßenlaternen wiesen mir den Weg. Zu meinem Vater würden mich keine zehn Pferde kriegen, überlegte ich weiter und spürte den zarten Wind, der mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht blies. Die Erinnerungen daran, wie mein Vater jeden einzelnen Tag, an dem ich bei ihm gelebt hatte, gesoffen hatte wie ein Ketzer, verursachten mir augenblicklich Übelkeit. Seine Worte hallten in mir wider: „Du bist schuld daran, dass deine Mutter uns verlassen hat!“

Ja, sie hatte uns damals verlassen, da war ich elf Jahre alt gewesen und mein Vater hatte mich jeden Tag dafür büßen lassen. Denn wenn er nicht gerade an der nächsten Flasche Korn gezogen hatte, hatte er sich darüber ausgelassen, dass meine Leistungen in der Schule schlecht waren. „Du bist dumm wie Brot“, hatte er immerzu gesagt. Bei jeder schlechten Note bekam ich eine Woche Hausarrest. Und ja, ich hatte oft Hausarrest.

Er und ich hatten seit fünf Jahren keinen Kontakt mehr gehabt, obwohl er gerade einmal zwanzig Fußminuten von mir entfernt wohnte. Ein zufälliges Treffen draußen oder beim Einkaufen war dennoch so gut wie ausgeschlossen gewesen, denn durch seine kaputte Hüfte hatte er schon damals das Haus so gut wie nie verlassen und einen Nachbarn mit den Einkäufen beauftragt. Nie hatte ich es geschafft, dieses blöde Kaff in Duisburg zu verlassen. Niemals war ich woanders gewesen, noch nicht einmal im Urlaub. Jetzt befand ich mich auf der Flucht vor meinem durchgeknallten Ex. Er würde mich suchen, daran hatte ich keine Zweifel. Missmutig strich ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und bog in die nächste Kreuzung ein. Auf einer Bank, die an einen Stadtpark grenzte, ließ ich mich nieder. Den Kopf in den Nacken gelegt, schaute ich zum Sternenhimmel hinauf und betete zu Gott. Was ich brauchte, war ein Wunder.

Ich zückte mein Handy und rief meine beste und einzige Freundin Lucy an. Nach dem dritten Klingeln nahm sie bereits ab.

„Hey, Lenchen, wie geht es dir?“

Ich seufzte, ehe ich antwortete: „Gar nicht gut, um ehrlich zu sein. Ich … ich …“ Ein plötzlicher Heulkrampf unterbrach mein Gestammel.

„Wo bist du, Süße? Ich komme und hol dich.“

„Du bist nicht in Afrika?“, fragte ich überrascht. Ein Hoffnungsschimmer breitete sich in mir aus.

„Nein, ich bin seit heute Abend wieder hier. Eigentlich wollte ich dich ja morgen früh überraschen, aber …“

Lucy war also zu Besuch bei ihren Eltern. Sicherlich würde sie mich mit auf ihr Zimmer nehmen für heute Nacht. Das war meine Rettung.

„Also, wo genau steckst du?“, hakte sie noch einmal nach.

Ich gab ihr die Adresse vom Park durch, und sie machte sich auf dem Weg.

Zehn Minuten verstrichen, ehe ein roter, hupender Ford Fiesta zu meiner Rechten auf der Straße zu sehen war. Lucy stieg aus. Ich erhob mich von der Bank. In schnellen Schritten kam sie auf mich zugelaufen, breitete ihre Arme aus, hielt dann aber einen Moment inne. Mit aufgerissenen Augen, eine Hand vor dem Mund gelegt, bedachte sie mich mit einem entsetzten Gesichtsausdruck. Natürlich war ihr der Anblick im Licht der Straßenlaterne nicht verborgen geblieben. Ich allerdings hatte gar nicht mehr an meine Kopfwunde gedacht. Es tat noch nicht einmal mehr weh.

„Oh Gott, Lena! Was hat er nur mit dir gemacht? Du musst dieses Schwein anzeigen, hörst du! Du musst weg von ihm!“

Bedrückt nickte ich, dann schloss sie mich in ihre Arme. Mit einem Mal setzte eine neue Portion Schmerz ein, verlangte von mir, rausgelassen zu werden. Ich fing an zu heulen und spürte, dass Lucys Griff um mich fester wurde. Eine ganze Weile hielten wir beide inne, bis wir schließlich zusammen ins Auto stiegen.

„Wir fahren jetzt erst einmal in die Notaufnahme, meine Liebe.“

„Nein“, protestierte ich entschieden und schüttelte den Kopf, der zu meinem Leidwesen immer noch ein wenig dröhnte. „Ich kenn das ganze Prozedere schon und habe wirklich keine Lust über Nacht dort zu bleiben. Wenn ich keinen Schwindel oder Übelkeit verspüre, ist soweit alles in Ordnung. Ich habe sicherlich keine Gehirnerschütterung.“

„Aber, Lena, was, wenn doch? Was, wenn …“

„Bitte, erspar mir das heute Nacht. Ich lege mich sofort ins Bett und gehe auch morgen direkt zu einem Arzt, versprochen!“

Resigniert seufzte Lucy auf. „Na gut. Aber, wenn du dich irgendwie unwohl fühlst oder so, dann musst du sofort Bescheid sagen, ja?“

Ich nickte stumm.

„Du bleibst solange bei meinen Eltern“, sagte meine Freundin entschlossen und startete den Motor.

Lucy hatte sich im Laufe der Jahre kaum verändert: Ihr hübsches und anmutiges Gesicht wurde von einer schwarzen, wilden Lockenmähne umrahmt. Ihre perlweißen Zähne bildeten einen Kontrast zu ihrem gebräunten Teint, den sie ihrer Abstammung verdankte. Sie war zur Hälfte Ägypterin, die andere Hälfte war deutsch. Vor sieben Jahren hatte sie Duisburg verlassen, um als Entwicklungshelferin in Afrika arbeiten zu können. Damals war eine halbe Welt für mich zusammengebrochen. Wir beide kannten uns seit der fünften Klasse und waren seitdem unzertrennlich gewesen. Dennoch hatten wir immer den Kontakt zueinander gehalten: Lange Telefonate, Skypen und drei Besuche von ihr im Jahr waren für uns das Mindeste.

„Wie läuft es in deiner Arbeit?“, fragte ich nach einer Minute des Schweigens.

Lucy warf mir einen kurzen Seitenblick zu, ehe sie sich wieder der Straße zuwandte. „In Benin wurde endlich eine weitere Schule gebaut. Ich habe mitgeholfen, die Klassenräume zu gestalten“, gab sie strahlend zurück.

„Oh, das freut mich so für dich.“ Ich lehnte mich zurück und schaute aus dem Fenster. Die Plattenbauten wirkten im Dunklen wie große Festungen. Gespenstisch und kahl. Hier in Meiderich hatte ich meine halbe Kindheit verbracht, die andere Hälfte in Rheinhausen.

Die deutlich noblere Gegend, wo ein Reihenhaus neben dem nächsten stand, war Lucys Wohnviertel gewesen. Dort besaßen ihre Eltern ebenfalls ein Haus. Wie oft ich nach der Schule dort war, mit Lucy Hausaufgaben gemacht und gespielt hatte, konnte ich gar nicht zählen. Wir passierten den großen Garten mit den Hyazinthen, die links und rechts vor sich hin blühten. Solarlampen, die in Reih und Glied in den Rabatten steckten, beleuchteten uns den Weg bis zur Haustür. Auch hier hatte sich seit meinem letzten Besuch vor etwa fünf Monaten nicht viel verändert. Ein weißer Briefkasten war an der Wand neben der stämmigen Anthrazit-Tür angebracht, eine Lampe, ebenfalls weiß, hing direkt darüber. Eine ockerfarbene Fußmatte aus Kork war am Eingang platziert, daneben links und rechts standen zwei Löwenfiguren aus Marmor.

Lucy kramte in ihrer Handtasche nach dem Haustürschlüssel und drehte ihn schließlich so geräuschlos wie möglich im Schloss. Ich hoffte, dass wir leise genug bleiben würden, um ihre Eltern nicht zu wecken. Meine Freundin trat ein, tastete zielsicher an der Wand nach dem Lichtschalter. Daraufhin wurde es hell. Ich folgte ihr durch den großen Flur, der mit einem Hochflorteppich mit schwarzen Wabenmuster ausgelegt war. Doch als wir das Wohnzimmer erreicht hatten, bemerkte ich, dass dort noch Licht brannte. Beim genaueren Hinsehen, sah ich ihre Eltern, die sich ruckartig vom Sofa erhoben, nachdem sie uns erspäht hatten.

„Kind, komm mal her!“, sagte Frau Faizan und schloss mich sogleich in ihre Arme. „Lucy hat uns erzählt, dass du nachts auf einer Parkbank gesessen hast. Da konnte ich mich natürlich nicht mehr schlafen legen“, erklärte sie und strich mir mit den Fingerspitzen sanft durchs Haar. Anschließend gab sie mich wieder frei und begutachtete mit kräuselnder Stirn und bleistiftdünnen Lippen die Wunde an meiner Stirn. Sie schluckte hörbar. Ihre blonden Locken wippten auf ihrer Schulter auf und ab.

Herr Faizan kam ebenfalls näher und inspizierte mich mit einem schockierten Gesichtsausdruck. „Wart ihr im Krankenhaus?“, fragte er heiser und strich sich mit zwei Fingern durch seinen Bart.

„Nein, Lena geht morgen“, gab Lucy Antwort und setzte sich aufs Sofa.

„Kind, das ist unvernünftig und gefährlich!“ Frau Faizan schüttelte missmutig den Kopf.

„Lass sie, Mama! Ich habe Lena schon zurechtgewiesen.“ Lucy fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und sah ihre Mutter ernst an.

„Zuerst versorge ich die Wunde“, beschloss Herr Faizan, kam nach etwa einer Minute mit einem Erste-Hilfe-Kit auf mich zugelaufen und blickte mich konzentriert an. Behutsam betupfte er die bereits verkrustete Wunde an meiner Stirn mit einem mit Desinfektionsmittel beträufelten Stück Mull. Es brannte unangenehm, so dass ich zischend die Luft einsog.

„So, fertig“, sagte er zufrieden, nachdem er die Wunde mit einem Pflaster bedeckt hatte.

„Setz dich endlich hin, Lena. Ruh dich aus. Willst du einen Tee?“, wollte Frau Faizan wie eine Glucke von mir wissen. Ihre mütterliche Besorgnis wärmte mein Inneres und berührte eine kleine Stelle meines Herzens.

„Nein, danke. Aber ein Wasser gerne.“

„Kommt sofort!“ Eilig steuerte sie auch schon die Küche an.

Herr Faizan bedachte mich mit einem mitfühlenden Blick. Seine Samtaugen strahlten Güte und Wärme aus. Ihm hatte Lucy ihren braunen Teint zu verdanken. Er stammte ursprünglich aus Ägypten, bis er vor fünfunddreißig Jahren nach Deutschland ausgewandert war, um hier Architektur zu studieren. Dort hatte er Lucys Mutter kennengelernt, eine Deutsche.

„Du wohnst jetzt erst mal bei uns, Lena. Du gehörst doch zur Familie“, sprach er in einem deutlich aufheiternden Tonfall weiter. „Du kannst in Adnans altem Zimmer schlafen.“

Adnan. Unweigerlich hüpfte mein Herz auf und ab und ich musste an Lucys großen Bruder denken. Er hatte uns oft in der Schule vor miesen Typen beschützt, uns nachts von Partys abgeholt, hatte hin und wieder mit uns in Lucys Zimmer abgehangen. Doch meist war er seine eigenen Wege gegangen, hatte viele Kumpels und war echt beliebt in der Schule gewesen. Ein Blick in seine samtigen Augen hatte genügt, um meine Knie in Grießbrei zu verwandeln. Er war der erste Junge, in den ich mich damals verliebt hatte. Doch uns trennten drei Lebensjahre. Als Teenager war das verdammt viel.

„Hier ist dein Wasser, Kind“, riss mich Frau Faizan aus meinen Gedanken.

„Vielen Dank!“ Ich nahm einen kräftigen Schluck, stellte das Glas anschließend auf dem gläsernen Couchtisch ab und schaute verstohlen zu Lucy und ihren Eltern hinüber, die sich ein paar ratlose Blicke zuwarfen.

***

Ich knautschte das Kopfkissen, kuschelte mich in das Bettzeug und schaute hoch zur Zimmerdecke. Adnan, meine Gedanken kreisten die ganze Zeit um ihn und verdrängten sogar den schrecklichen Vorfall mit Dennis. Ich erinnerte mich an einen bestimmten Moment:

Ich blicke durch den Türspalt in Adnans Zimmer. Gerade bin ich bei Lucy und wir wollen uns gleich einen Film mit Johnny Depp reinziehen. Aber als sie eben zur Toilette gegangen ist, habe ich einfach nicht widerstehen können, auch wenn es albern ist. Ich muss ihn sehen! Seit er mich letzte Woche in der Schule gegen diesen Spacken Tommy verteidigt hat, habe ich plötzlich andauernd solche Gefühle. Adnan geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ja, er hat meine Ehre verteidigt, denn Tommy hat gemeint, dass ich so blöd bin und sicherlich noch ein zweites Mal sitzenbleiben werde. Adnan hat ihn am Kragen gepackt und ihn gezwungen, sich bei mir zu entschuldigen. Das war so cool!

Ich bekomme Herzrasen, als ich erkennen kann, dass er gerade nach seiner Hantel greift, um zu trainieren. Er bemerkt mich nicht. Gut so! Heavy Metal-Musik, die aus seinem Zimmer dröhnt, erfüllt den ganzen Flur. Ich schmachte ihm eine ganze Weile hinterher, seufze vor mich hin, bis ich auf einmal eine Hand an meinem Rücken spüre: „Hey, was machst du da?“

Wie ertappt fahre ich zusammen und drehe mich zu Lucy um. Sie setzt ein breites Grinsen auf. „Stehst du etwa auf meinen Bruder? Seit wann?“

„Pssst!“, mache ich verlegen und ziehe sie weiter in den Flur.

Lucys Grinsen wird immer breiter. „Keine Sorge, der hat nichts gehört. Die Musik ist viel zu laut.“

Ich seufze auf, zerre sie in ihr Zimmer und erzähle ihr alles über meine überraschenden und neuen Gefühle für ihren Bruder. Wir beide sitzen im Schneidersitz auf ihrem Bett. Ich gerate so dermaßen ins Schwärmen, dass sie mich daraufhin einige Male ungläubig anstarrt, so, als würde ich von einer völlig anderen Person und nicht von ihrem Bruder reden.

„Ich fass es nicht, dass du dich in meinen Bruder verschossen hast, Lena“, quiekt Lucy amüsiert, während das Bett unter ihren hektischen Bewegungen anfängt zu wackeln.

„Bitte, Lucy, er darf es nicht erfahren!“, sage ich bitter und schaue sie ernst an. „Ich hätte nie eine Chance bei ihm. Außerdem geht er momentan mit Nicole.“

Ich mache mir nichts vor, obwohl es weh tut.

Daraufhin schwört Lucy mir mit einem Fingerschwur hoch und heilig, dass sie ihrem Bruder niemals von meinen Gefühlen zu ihm erzählen wird.

Nein, ich hatte mir nie etwas vorgemacht. Was hätte er von der zahnspangentragenden Freundin seiner Schwester gewollt, die wirklich schon zweimal sitzengeblieben war? Das flachbrüstige und weiblich so gut wie kaum ausgereifte Mädchen, das wenig begehrenswert erschien? Ich hatte mich stets mit ein paar gemeinsamen Gespräche begnügt, mit der Tatsache, dass ich ihn jeden Tag sehen konnte. Entweder in der Schule oder bei ihm zuhause. Er war immer lieb und hilfsbereit mir gegenüber gewesen und hatte mich eher als eine zweite Schwester betrachtet, wie ich unschwer hatte erkennen können. Nie hatte ich den Mut gefunden, ihm meine Gefühle zu gestehen. Noch nicht einmal dann, als er damals nach seinem Medizinstudium nach Berlin gezogen war, um dort in einer Uniklinik zu arbeiten. Ich war am Boden zerstört. Es gab doch im Ruhrgebiet genug Krankenhäuser. Ich hatte nicht verstehen können, warum man dafür gleich das Bundesland wechseln musste.

Doch Adnan hatte erklärt, dass er und sein bester Kumpel Mike, der wie er in Düsseldorf Medizin studiert hatte, schon immer in Berlin leben wollten. Es war ihr gemeinsamer Traum gewesen, in eine Großstadt zu ziehen, die am Puls der Zeit hängt.

Nie hatte ich ihn vergessen können. Dennoch hatte ich eines Tages beschlossen, dass mein Leben weitergehen musste und ich nicht als einsame Jungfrau sterben wollte und lernte daraufhin Dennis kennen. Schöner Mist! Wenn ich die Uhr nochmal zurückdrehen könnte, hätte ich mich dann doch für Jungfrau entschieden.

Frustriert stieß ich Luft durch meine Nasenlöcher.

Wie geht es jetzt wohl weiter? Er wird mich hier doch schnell finden. Und was ist mit meiner Arbeit? Wenn ich da nächste Woche hingehe, wird er mir spätestens dort auflauern und mich in seine Höhle zurückziehen wollen. Jetzt ist erstmal Wochenende.

Ich atmete schwer aus und legte mich auf die Seite, hoffte bald einschlafen zu können. Trotz meinen Sorgen und Ängste fühlte ich mich plötzlich geborgen. Es war sein Bett, seine Bettwäsche, sein Zimmer. Sogar sein Duft schien noch in der Luft zu hängen. Wahrscheinlich bildete ich mir das bloß ein. Somit fühlte ich mich Adnan nahe. Ich fand zu meinen alten Fantasien zurück, die ich über Jahre gehegt und gepflegt hatte und die mich auf unerklärlicherweise gewärmt hatten. In diesen Filmen, die mein Kopf abspulte, gab es bloß Adnan und mich:

Ich bin in Berlin, stehe vor seiner Wohnungstür und drücke die Klingel.

Adnan macht auf und schaut mich erstaunt an: „Lena, was machst du denn hier?“

„Ich bin gekommen um dir etwas zu sagen“, hauche ich, ziehe ihn plötzlich ganz nah an mich heran und küsse ihn.

Er atmet ruhig in mich hinein und erwidert zärtlich den Kuss, zieht mich vollständig in seine Arme. Dann knöpft er mir die Bluse auf. Hastig zerre ich an seiner Hose herum. Wir lassen uns schlussendlich nackt und engumschlungen auf die Couch fallen und haben hingebungsvollen Sex.

Meine Atmung wurde ruhiger, bis ich schließlich in den Schlaf glitt.

***

Mit einem unruhigen Grummeln im Bauch steuerte ich das Verwaltungsgebäude in der Innenstadt an – mein Arbeitsplatz. Dort arbeitete ich als Empfangsdame. Nach meinem Schulabschluss konnte ich zu meinem Bedauern nicht wie Adnan und Lucy mit Spitzennoten glänzen. Hart genug war es schon gewesen, die siebte und die neunte Klasse wiederholen zu müssen, Lucy nicht mehr in der gleichen Klasse an meiner Seite zu wissen und keine anderen Freundschaften schließen zu können. Ich war eher die Außenseiterin, die stille, graue Maus in der hintersten Reihe gewesen. Mein BWL-Studium hatte ich dann auch nicht gepackt und die Offenbarung, dass meine beste Freundin dann auch noch den Kontinent wechselte, hatte mir komplett den Boden unter den Füßen weggezogen. Die Tatsache eine Versagerin zu sein, die mit dem Lernstoff nicht gut klarkam und der es so wahnsinnig schwerfiel sich zu konzentrieren, nagte heftig an mir. Zu meinem Glück hatte ich meine Ausbildung mit befriedigenden Noten als Bürokauffrau abschließen können.

Beim Eintreten in die Lobby grüßte ich nickend ein paar Kollegen, die meinen Weg kreuzten. Die Sonne schien durch die Glasfenster der Eingangshalle und flutete diese hell. Eine kleine Gänsehaut kroch mir die Arme hoch. Da es heute laut Wetterbericht warm werden würde, war die Klimaanlage bereits eingestellt und wie üblich, für meinen Geschmack ein wenig zu hoch. Ich würde gleich noch die Strickjacke, die ich in meine Tasche gepackt hatte, über meine Bluse ziehen müssen.

Sogleich steuerte ich meinen Arbeitsplatz am Empfang an. Hier stellte ich wichtige Anrufe zu meinem Chef durch, betreute die Telefonhotline und begrüßte Kunden. Es war keine sonderlich anspruchsvolle Tätigkeit, dennoch erforderte sie viel Verantwortung und genügte mir vollkommen.

Ich ließ mich auf meinen Drehstuhl plumpsen und atmete tief durch.

Du musst dich heute ganz besonders konzentrieren, dir darf kein Fehler unterlaufen, sagte ich in Gedanken zu mir selbst und ließ meinen Blick durch die Halle, vorbei an den glänzend silbernen Fahrstühlen schweifen. Zu meinem Bedauern kam es hin und wieder vor, dass ich irgendwie unkonzentriert, unachtsam wurde. Unweigerlich musste ich mich an meinen letzten Fauxpas erinnern:

Mit krausgezogener Stirn und ernstem Gesichtsausdruck mustert mich mein Chef. Er hat mich für ein ernstes Wort in sein Büro gebeten.

„Frau Höfer, so geht das nicht mehr weiter! Es kam jetzt zum wiederholten Male vor, dass Sie einen Zahlendreher beim Notieren wichtiger Telefonnummern hatten. Außerdem haben Sie vergessen, mir mitzuteilen, dass mein Meeting mit Herrn Stauß von 15:00 auf 16:00 Uhr verlegt worden war. Eine Stunde habe ich im Restaurant gewartet wie ein Depp.“ Seine Wangen haben einen rötlichen Farbton angenommen. Mit einer Hand fährt er sich über die Glatze, beißt sich dann auf die Unterlippe.

„Es … es tut mir so leid! Das wird nie wieder vorkommen, Herr Alois!“

Mein Chef stößt die Luft aus und räuspert sich. „Wie oft haben Sie mir das im Laufe dieser zehn Monate, wo Sie schon bei uns beschäftigt sind, versprochen? Das ist jetzt Ihre zweite Abmahnung, Frau Höfer. Oft genug habe ich ein weiches Herz gezeigt und irgendwann ist auch meine Geduld mal am Ende. Wenn das ein drittes Mal passiert, sind Sie draußen, verstanden?“

Ich schlucke, rutsche tiefer in den Stuhl. „Verstanden!“

Meine Zerstreutheit und Verspieltheit war leider Gottes schon immer Teil meines Lebens gewesen und das machte mir Angst. Natürlich war so etwas menschlich und konnte schon einmal vorkommen. Aber es gab Phasen bei mir, wo ich wirklich das Gefühl hatte, dass diese Zerstreutheit die Oberhand gewinnen würde. Ich musste meinen Job behalten. Bereits zwei Bürojobs hatte ich in der Vergangenheit verloren. Ich kaute auf meiner Unterlippe herum und zupfte mit einem Finger am Saum meiner Bluse.

Das Wochenende hatte ich mich halbwegs bei den Faizans erholen können. Ich hatte es sogar mit Lucys Unterstützung endlich geschafft, Dennis anzuzeigen. Die Polizei hatte ein vorläufiges Kontaktverbot verhängt, was mich erstmal hatte aufatmen lassen. Doch dann dachte ich wieder daran, wie hartnäckig und besessen er war und dass dies ihn höchstwahrscheinlich nicht einschüchtern würde. Im Gegenteil. Zu meinem Überraschen hatte er in den letzten zwei Tagen nicht versucht, mich anzurufen. Auch Nachrichten von ihm bekam ich keine zugeschickt. Dennoch fühlte es sich an, wie “Die Ruhe vor dem Sturm“.

„Guten Morgen, Frau Höfer!“, durchbrach Herr Alois meine Gedanken und trat näher an die Information.

„Guten Morgen, Herr Alois“, erwiderte ich mit einem aufgesetzten Lächeln und straffte die Schultern. Mit gekräuselter Stirn musterte er mich oder wahrscheinlich das dicke Pflaster auf meiner Stirn.

„Oh, was haben Sie gemacht?“, wollte er wissen, fuhr sich mit dem Finger über eine seiner Silberschläfen und stopfte eine Hand in die Seitentasche seines Jacketts.

Ich räusperte mich, ehe ich antwortete: „Ich habe mir bloß den Kopf gestoßen, halb so schlimm.“ Mit einer Hand winkte ich ab und setzte ein gequältes Lächeln auf. Mein Chef nickte langsam und wirkte einen kleinen Moment nachdenklich.

„Bis 11:00Uhr bitte keine Telefonate zu mir durchstellen, ich habe gleich ein Zoom-Meeting“, erklärte er und lief auch schon zu den Fahrstühlen.

„In Ordnung, Chef.“ Ich sah ihm hinterher, verfolgte, wie sich die Fahrstuhltür öffnete und er einstieg.

Der Tag war nicht allzu stressig und verlief zu meiner Freude relativ ruhig. In meiner Mittagspause telefonierte ich mit Lucy, die mir versprach, heute einen Mädelsabend mit mir zu veranstalten. So wie früher: wir beide zusammen auf ihrem Zimmer, eine Liebesschnulze und Eiscreme. Ich freute mich schon sehr darauf. Den Hackbraten, den Frau Faizan mir in eine Tupper-Dose mit den Worten: „Du musst mehr essen, Lena. Du bist ganz knochig geworden“, mitgegeben hatte, verschmähte ich. Keinen Hunger. Ich zog mir einen Instant-Kaffee am Automaten und ging schließlich zurück zu meinem Arbeitsplatz.

Ein Schrecken jagte wie ein Blitz durch meine Knochen. Von weitem erkannte ich Dennis. Sein dunkles, gegeltes Haar und sein gelbes Sweatshirt waren unverkennbar. Unsere Blicke trafen sich. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Erbärmliche Angst kroch in mir hoch, lähmte mich von Neuem. Schnell hechtete er zu mir herüber, packte mich und flüsterte in mein Ohr: „Du kleine Schlampe hast mich bei der Polizei angezeigt? Das ist nun der Dank, he?“

Sein Griff um mich wurde fester. Ich fing ein paar erstaunte und neugierige Blicke von einigen Kollegen und einigen Besuchern auf, die uns passierten.

„Bitte, nicht hier, Dennis! Das ist meine Arbeitsstelle“, flehte ich keuchend und versuchte mich aus seinem festen Griff zu befreien. Natürlich erfolglos.

„Ich scheiß auf deine Arbeitsstelle!“, brüllte er so laut, dass seine Stimme an den Wänden widerhallte.

Alle Aufmerksamkeit war spätestens jetzt komplett auf uns gerichtet. Ich fühlte mich wie nackt an einem Pranger gestellt.

Sabine, eine Kollegin aus der Bearbeitung, sah irritiert zu mir herüber, zückte dann ihr Telefon und hielt es sich ans Ohr, fixierte uns weiterhin. Dennis schien das vollkommen egal zu sein. Ich spürte seinen vor Wut bebenden Körper. Immer enger presste er mich an sich. Mir war, als ob ich unter den dutzenden Blicken, die die anderen Leute mir zuwarfen, verbrennen würde. Einige tuschelten miteinander.

„Ich hätte dich für die Nummer mit der Bratpfanne ebenfalls anzeigen können, du kleines Miststück“, zischte er an mein Ohr gepresst. „Komm heute Abend wieder nach Hause und zieh das Kontaktverbot zurück, dann vergesse ich alles“, sagte er in einem schneidenden Tonfall.

Meine Atmung wurde immer flacher, alles drehte sich gerade um mich herum viel zu schnell. Ich wollte mich nur noch auflösen, verschwinden, tot sein.

„Ich habe alles mit Gregor besprochen, auch er würde dir deinen letzten Fehltritt verzeihen“, sprach Dennis mit ruhiger Stimme weiter und atmete tief durch.

„Ich gehe nicht zu Gregor und den anderen zurück“, stellte ich mit enger Kehle klar und merkte, wie sein Griff um mich noch fester wurde.

Zwei Securities sprinteten auf uns zu und trennten uns endlich voneinander. Einer der Männer verschränkte Dennis´ Arme hinter seinem Rücken, der andere hielt seine Schulter fest. „Sie werden jetzt auf der Stelle verschwinden! Sie haben Hausverbot“, sprach einer der Männer. Resolut schleiften sie Dennis zum Eingangsbereich.

„Du bist so gut wie tot, Lena! Ich mach dich fertig, du kleine Hure!“, schrie er mir erbost hinterher.

Kraftlos sackte ich auf dem Boden in mich zusammen.

***

In den nächsten Tagen folgten Drohungen von meinem Ex, entweder per Sprachnachricht, über WhatsApp, per E-Mail und auch mit der Post. Ich hatte irgendwann aufgehört zu zählen.

„Lena, du undankbares Miststück! Ich mach dich fertig!“

„Ich werde dich töten!“

„Versteck dich nur bei deiner Ersatz-Familie, irgendwann erwische ich dich und dann bist du dran!“

„Du verdammte Sau, ich werde dir alles zurückzahlen. Wir werden sehen, wer zuletzt lacht.“

Es war ein Terror, dem ich nicht gewachsen war. Zu dünnhäutig war ich ohnehin schon. Da mein Chef mich nach diesem heftigen Vorfall für den ich mich wohl mein Leben lang in Grund und Boden schämen würde, beurlaubt oder besser gesagt verständnisvoll heimgeschickt hatte, hatte ich Familie Faizans Haus nicht mehr verlassen. Den halben Tag verkroch ich mich in Adnans Bett, hatte sogar ein altes Shirt aus dem Schrank gefischt, dass er bei seinem letzten Besuch hiergelassen hatte. In den Jahren, als er noch studiert hatte und jedes zweite Wochenende bei seiner Familie gewesen war, hatte ich es vermieden, bei den Faizans aufzukreuzen, denn ich hatte entschieden mit dem Thema Adnan abzuschließen, wollte über ihn hinwegkommen.

Später dann, als auch noch Lucy das Nest verließ, hatte ich ohnehin kaum Anlass, die Familie zu besuchen.

Ich drückte sein Trainingsshirt fest an meinem Körper, schnupperte daran und wurde wieder ruhiger. Beide Beine hatte ich unter der Bettdecke ausgestreckt und wollte mich wieder mit Adnan davonträumen, als es plötzlich an der Tür klopfte und Lucy eintrat.

„Hey, Maus, komm in die Küche. Mama hat Mittagessen gekocht. Es gibt Königsberger Klopse.“ Lucy hopste aufs Bett. Schnell versteckte ich das Shirt unter die Decke und setzte mich auf.

„Danke, aber ich habe keinen Hunger.“ Ich zog das Zopfgummi an meinen Haaren strammer und ließ mich ins Kissen zurückfallen.

„Lena, Schatz, so geht es nicht weiter. Du darfst dich nicht kaputtmachen lassen!“ Sie sah mich beschwörend an. Ihre Lockenpracht fiel ihr glänzend über die Schulter. Ein dichter und langer Wimpernkranz zierte ihre braunen Augen. Lucy war schon immer strahlendschön wie die Sonne gewesen. Sie trug ein rotes, figurbetontes Shirt und Bluejeans, die wie eine zweite Haut saßen. Ich sah mit meiner Jogginghose, dem Nachtshirt, den spindeldünnen blonden Haaren und der blassen Haut dagegen aus wie ein Penner.

Ich seufzte tief, griff nach dem Brief, der auf den Nachttisch lag – Dennis letzte verfasste Drohung an mich – und drückte ihn Lucy wortlos in die Hand.

Diese begann mit kräuselnden Lippen laut zu lesen:

„Du kleine, dumme Schlampe wirst sterben! Ich werde mich fürs erste vor den Bullen verstecken und irgendwann zuschlagen, wenn es keiner mehr erwartet. Du kommst nicht davon!“

Lucy stöhnte auf und schluckte. „Scheiße, Lena! Wir werden gleich nochmal die Polizei benachrichtigen, dann …“

„Was bringt das schon? Er ist komplett wahnsinnig und leider auch nicht dumm. Die Polizei wird ihn nicht so schnell aufspüren können. Ich habe Angst!“

Mit zugeschnürter Kehle schluchzte ich auf.

Lucy kam zu mir ins Bett gekrochen und schmiegte sich ganz fest an mich, streichelte mir über den Scheitel.

„Weißt du, ich kann das deinen Eltern nicht mehr länger zumuten. Dennis ist ein Psychopath. Was, wenn er auch nicht davor zurückschreckt, euch etwas anzutun?“ Nervös knabberte ich an meinen Fingernägeln herum.

„Nein, du gehörst zu uns“, antwortete Lucy entschieden und schnaubte.

„Das ist wirklich sehr lieb, aber ich gehe vorerst wieder zu meinem Vater zurück. Er wird schon einverstanden sein, mich bei sich wohnen zu lassen“, schlug ich vor und beobachtete, wie Tageslicht durch die Lamellen auf dem Boden auf und abtanzte.

„Kommt gar nicht in Frage! Er hat dich doch ständig nur fertig gemacht. Mit ihm wieder unter einem Dach zu leben, würde dich nur noch mehr kaputtmachen.“ Lucy klappte die Bettdecke auf, zog mich mit sich aus dem Bett, sah mich entschlossen an. „Ich weiß eine Lösung für unsere Probleme. Die einzig sinnvolle sogar.“

Ich wiegte nachdenklich den Kopf nach links und rechts und wartete gespannt ihre Antwort ab.

„Du gehst nach Berlin und wohnst bei Adnan.“

Mir fiel gerade alles aus dem Gesicht. „Was, was hast du gesagt?“ Meine Stimme erklang piepsig und dünn.

„Überleg mal, Lena, was hält dich hier in Duisburg eigentlich noch? Da gibt es deinen sich zu Tode saufenden Vater und einen Psycho, der entweder nur leere Drohungen ausspricht oder dir wirklich eines Tages auflauern und dir was antun wird.“ Lucy beschwor mich mit ihrem Blick, fasste mich mit beiden Händen an den Schulterblättern, um ihre Aussage noch einmal mehr Ausdruck zu verleihen.

„Die Polizei kann gar nicht überall sein. Willst du wirklich ein Leben in Angst und Schrecken führen? Da gibt es ja auch noch Gregor und seine Leute.“

„Aber, ich könnte doch …“, protestierte ich mit letzter Kraft.

„Süße, ich bin in wenigen Tagen wieder in Afrika. Ich kann nicht für dich da sein, leider. Aber mein Bruder kann es!“

Was soll denn der Quatsch?

Lucy fing meinen verblüfften Blick auf, strich mir versöhnlich mit dem Finger über die Wange. „Falls dieser beschissene Stalker dich doch in deinem neuen Wohnort aufspüren würde, wärst du bei meinem Bruder sicherer. Er kann viel besser auf dich aufpassen.“

„Ich bin doch kein Kleinkind!“ Ich schob das Kinn vor und kniff die Lippen zusammen.

„Bitte, Lena, es ist nur zu deinem Besten. Ich habe schon alles mit Adnan und mit meinen Eltern besprochen. Sie sind einverstanden.“

„Du hast was?“, rief ich schrill und lauter als beabsichtigt.

„Bitte, Lenchen, ich wollte, wir wollten nicht über dich entscheiden, aber sei doch vernünftig! So ein Neuanfang würde dir sicher guttun. Es muss ja auch nicht für immer sein. Wenn sich irgendwann der Sturm gelegt hat, kannst du, wenn du es willst, ja wieder zurück.“

Ich schnaufte unruhig vor mich hin, setzte mich aufs Bett. „Das kann ich nicht, ich … ich habe hier einen Job.“

Lucy setzte sich neben mich, legte eine Hand auf meine Schulter. „Du findest auch in Berlin einen neuen Job. Adnan verdient als Arzt wirklich gut und außerdem hat er versprochen, dich bei der Jobsuche zu unterstützen. Er hat ein Gästezimmer und möchte wirklich helfen.“

Ich biss mir nervös auf die Unterlippe. „Das ist doch verrückt. Ich … ich will doch nicht deinem Bruder in meine Probleme reinziehen, ich …“

„Nochmal: Ihm macht es nichts aus, mein Bruder ist der hilfsbereiteste Mensch, den ich kenne. Oder liegt es vielleicht daran, dass …“ Lucy ließ ihren Satz abreißen und fixierte mich kritisch. „Hast du immer noch Gefühle für ihn?“

Ich war froh, dass Lucy mein scheinbar gerötetes Gesicht im Halbdunklen nicht erkennen konnte.

„Quatsch! Nein, das war eine kleine Teenie-Schwärmerei, längst vorbei“, stammelte ich schnell vor mich hin.

„Na, wunderbar. Dann steht deiner Reise nach Berlin ja nichts mehr im Weg.“

„Ihr habt das wirklich schon alles geplant, oder?“ Ich warf der grinsenden Lucy einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Ja, und ich flehe dich an, diese Chance zu ergreifen, Lena!“

Berlin

Nach fünf Stunden Autofahrt erreichten wir Berlin-Mitte und standen vor einem mehrstöckigen, imposanten Wohnblock mit vertikalbetonter Natursteinfassade und gigantischen Fenstern. Wow, dachte ich und wollte gar nicht wissen, wie viel eine Eigentumswohnung hier kostete.

Der Himmel färbte sich rot, vertrieb die Schwärze der Nacht langsam aber sicher und läutete den jungen Tag ein. Die Luft war kühl. Verkehrslärm ertönte, denn wir waren nicht weit von der Innenstadt entfernt. Die ganze Nacht waren Lucy und ich unterwegs gewesen, hofften, dass Dennis mich unter einem großen schwarzen, ins Gesicht gezogenen Cappy und dunklen Schlabbersachen nicht bemerkt hatte, falls er überhaupt irgendwo in der Nähe versteckt gewesen war.

Vor der Haustür hielt ich plötzlich inne. Mir war ganz mulmig zumute, ein Anflug von Übelkeit befiel mich.

„Alles in Ordnung?“, wollte Lucy von mir wissen und nahm meine Hand.

„Es … es ist viel zu früh am Morgen. Sollen wir nicht solange irgendwo frühstücken gehen? Ich meine, Adnan, wir würden ihn wecken.“ Ich knabberte nervös an meiner Unterlippe herum und stopfte meine andere Hand in die Jackentasche.

Lucy lachte auf. „Er muss damit rechnen, dass wir im Morgengrauen kommen, hab´s ihm geschrieben. Er meinte, dass es kein Problem sei.“

Ich stieß Luft aus. Aus der Nummer komme ich jetzt wirklich nicht mehr raus. Ich habe ihn eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen. Wie sieht er wohl aus?

Während Lucy klingelte, verkrampfte sich mein ganzer Körper. Ein Summen war zu hören. Sie stemmte sich gegen die Tür und betrat mit mir zusammen den Treppenflur.

Er wohnt in der dritten Etage. Oh Gott, noch ein paar Treppenstufen. Reiß dich zusammen, Lena! Komm, du bist keine fünfzehn mehr. Du bist über ihn hinweg. Gut, ein paar Fantasien hatte ich in der letzten Zeit über ihn gehabt, aber psychologisch betrachtet, habe ich wohl nur nach Beruhigung gesucht nach diesem Theater, nach Schutz oder sowas. Es waren nur blöde Teenie-Fantasien. Wir sind jetzt erwachsen. Vielleicht hat er in letzter Zeit zugenommen und wird mich zumindest optisch nicht mehr ansprechen.

Beim Hinaufgehen wäre ich zweimal fast die Treppen hochgestolpert, wenn Lucy mich nicht festgehalten hätte. Meine Knie zitterten. Ob sie mir meine Aussage, dass ich nichts mehr für ihren Bruder fühlte, abgekauft hatte?

Wir erreichten die Etage und sahen die eine spaltbreit offene graue Wohnungstür. Ehe ich noch irgendetwas Zögerliches erwidern konnte, wurde diese geöffnet – und Adnan stand vor mir, vor uns.

Mein Herz flatterte wie ein aufgescheuchtes Huhn. Wie damals trug er sein langes schwarzes Haar zu einem kleinen Knoten auf dem Kopf. Seine samtigen, warmen Augen strahlten mich an und sein perlweißes Lächeln kontrastierte seine dunkle, glatte Haut. Er wirkte mit dem kleinen, dünnen Bart, den er jetzt um den Mund trug, männlicher und reifer. Seine Muskeln blitzten durch sein weißes Shirt hervor.

„Hey, kommt erst mal rein“, sagte er mit dieser gewohnten Unbefangenheit und Freundlichkeit in der Stimme, wie ich es schon damals von ihm gewohnt war.

Ich schluckte und folgte Lucy aus dem Flur heraus in Adnans Wohnung. Sofort schloss er seine Schwester in die Arme, die fröhlich seinen Namen quiekte.

Dann umarmte er auch mich.

Unter seinen Berührungen versteifte ich für einen kurzen Augenblick, wurde dann allerdings locker. Eine wohlige Wärme durchfuhr mich. Tief sog ich seinen Duft nach Koriander und Zimt ein. Schwebte ich gerade ein paar Zentimeter über den Boden? Es fühlte sich jedenfalls so an.

Adnan ließ von mir ab und schenkte mir ein süßes Lächeln, das ich, benebelt wie ich war, nicht erwidern konnte.

Nein, er ist nicht fett geworden, verfrüht kahlköpfig oder hat sonst irgendetwas von seinem tollen Aussehen von damals eingebüßt.Eher im Gegenteil.

Ich fühlte mich plötzlich in die Vergangenheit zurückkatapultiert: Ich war wieder fünfzehn und hing buchstäblich an seinen Lippen. Scheiße!

„Kommt, wir gehen ins Wohnzimmer. Wollt ihr einen Kaffee?“

Lucy und ich bejahten und Adnan führte uns raus aus dem langen Flur, hinein in seinen hallenartigen Wohnraum, der von körpergroßen viktorianischen Fenstern umgeben war, aus denen bereits vereinzelte Sonnenstrahlen fielen. Der Boden war mit einer Handvoll langflorigen beigen und braunen Teppichen ausgelegt, die eine warme Atmosphäre schafften. Ich blickte auf seine Wohnwand mit dem riesigen Flachbildfernseher und den vielen Bücherregalen und Vitrinen, worin Porzellantassen und Gläser zu finden waren. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein ebenso großes zum Bersten volles Bücherregal, das bis zur Decke ging. Es machte den Eindruck, als befände man sich in einer Bibliothek. Eine antikaussehnende Messing-Stehlampe stand neben dem Sofa. Weiter abseits ruhten Zimmerpalmen und ein Benjamin.

Lucy ließ sich direkt auf die schwarze Kunstledercouch plumpsen. Unruhig nahm ich vor mich hin schnaubend neben ihr Platz.

Etwa nach zwei Minuten kam Adnan mit zwei dampfenden Kaffeebechern zurück, stellte sie auf dem gläsernen Couchtisch ab und setzte sich anschließend direkt neben mich. Wieder musste ich schlucken, mein Herz klopfte wie verrück.

„Keine Sorge, Lena“, sagte er auf einmal sanft und legte eine Hand auf meine Schulter. „Wir werden schon gut miteinander klarkommen.“

Da ich keinen Ton rausbekam, nickte ich bloß, griff verzweifelt nach meinem Kaffeebecher und nippte daran. Dann endlich fand ich meine Sprache wieder: „Ähm, danke, dass ich für `ne Weile bei dir wohnen kann.“ Ich hoffte, dass meine Stimme nicht zu dünn klang. Um meine Aussage noch einmal zu unterstreichen, setzte ich ein kurzes Lächeln auf.

„Nicht der Rede wert. Ich zeig dir gleich dein Zimmer“, erwiderte er munter und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare, welche nach wie vor eine Faszination auf mich ausübten. Sie glänzten so kräftig und schön.

Ich lehnte mich zurück, so dass er und seine Schwester sich ansehen konnten, denn sie tauschten sich gerade über ihre letzten Arbeitsalltage aus. Aufmerksam hörte ich zu, hatte ich mich doch viel zu lange gefragt, wie genau es Adnan so ergangen war. Natürlich hatte ich es tunlichst vermieden, Lucy auszufragen. Oder vielmehr hatte ich es mir verboten. Er arbeitete in einer Uniklinik als Neurologe, hatte dort sogar eine Praxis mit geregelten Sprechzeiten. Kürzlich hatte er sogar seine Dissertation geschrieben. Gut, das mit seinem erlangten Doktortitel wusste ich. Das hatte Lucy wie der Rest ihrer Familie vor Stolz platzend, sehr, sehr oft erwähnt.

„So, ihr beiden gehört ins Bett, und ich muss jetzt zur Arbeit“, sagte er plötzlich und stand auf, verabschiedete sich mit einer innigen Umarmung von seiner kleinen Schwester. Lucy würde in ein paar Stunden wieder nach Duisburg zurückfahren. Ich bekam mit, wie die beiden tuschelten, ehe er sich mir wieder zuwandte. „Komm mit, ich zeig dir jetzt dein Zimmer.“

Derweil zog Lucy sich zum Schlafen in Adnans Zimmer zurück.

Ich staunte nicht schlecht über das äußerst helle und geräumige Zimmer, welches in den kommenden Wochen mir gehören sollte. Ein Boxspringbett stand am Fenster und war mit einer dicken, bunten Patchwork-Decke überzogen. Eine kleine Nachttisch-Kommode mit einer Flasche Wasser war zu sehen, sowie ein kleiner, schwarzer Sekretär mit einem Stuhl in der rechten Ecke.

„Das war früher einmal mein alter Schreibplatz. Wenn du willst, kannst du ihn für deinen Laptop nutzen oder sowas in der Art“, meinte er und zeigte mit dem Finger darauf.

„Ja, sehr gern“, erwiderte ich und musste lächeln. Das Eis schien allmählich zu brechen. Adnan war so lieb und hatte sich von seiner ganzen Art nicht großartig viel verändert, wenn ich es richtig beurteilen konnte.

„Fühl dich ganz wie zuhause oder besser ausgedrückt, es ist jetzt dein Zuhause“, sagte er und kratzte sich den Hinterkopf. „Ich hole eben noch dein Gepäck.“

Oh, Mann, meine Reisetasche hatte ich vollkommen vergessen bei all der Aufregung. Nicht, dass ich jetzt sonderlich viel bei mir hatte – die meisten meiner Sachen befanden sich noch immer bei Dennis in der alten Wohnung. Aber Adnan war sicher nicht mein Page.

„Ich hole die Tasche später, bevor Lucy fährt“, erklärte ich und nickte schnell. „Keine Widerrede. Ich habe gesehen, dass Lucy den Autoschlüssel auf den Garderobenschrank gelegt hat. Bin gleich zurück.“

„Danke“, sagte ich kleinlaut und setzte mich aufs Bett.

Nach zwei Minuten war Adnan bereits da, stellte die Tasche in einer kleinen Nische zwischen Türrahmen und Kleiderschrank ab.

---ENDE DER LESEPROBE---