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3 Herzen in einer Brust - Liebesroman Tabata leidet an einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung. Gleich 3 Persönlichkeiten gestalten ihr Leben, was ihren Alltag nicht gerade einfacher macht. Denn die Welt da draußen soll davon nichts mitbekommen. Alles läuft gut, sogar die neue Arbeit in einem Club macht ihr ausgesprochen viel Spaß. Sie scheint endlich den Absprung geschafft zu haben. Doch dann taucht Jakob auf, der Sohn ihres Chefs. Ein Blick in seine smaragdgrünen Augen genügt, um ihr Herz höher schlagen zu lassen. Doch hat so eine Liebe eine Chance? Werden ihre anderen Persönlichkeiten ihn akzeptieren und wie reagiert Jakob selbst darauf, wenn er von ihrer Krankheit erfährt? Unerwartet muss sie sich ihrer Vergangenheit stellen ...
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Tabata
Jakob
Tabata
Roxie
Jakob
Tabata
Roxie
Tabata
Jakob
Katja
Tabata
Jakob
Tabata
Jakob
Roxie
Tabata
Jakob
Tabata
Roxie
Jakob
Tabata
Jakob
Tabata
Roxie
Jakob
Tabata
Jakob
Roxie
Jakob
Roxie
Jakob
Roxie
Jakob
Roxie
Jakob
Roxie
Jakob
Roxie
Jakob
Roxie
Jakob
Roxie
Jakob
Tabata
Epilog - Jakob
Nachwort
Widmung
Danksagung
Über die Autorin
Impressum
Edition Paashaas Verlag
Titel: 3 Herzen in einer Brust
Autor: Christiane Fischer
Originalausgabe April 2022
Covermotive: Pixabay
Covergestaltung: Michael Frädrich
Lektorat: Renate Habets, Manuela Klumpjan
Printed: BoD GmbH, Norderstedt
© Edition Paashaas Verlag, Hattingen
Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-104-5
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d–nb.de abrufbar
Christiane Fischer3 Herzen in einer Brust
Ich hielt mir hustend ein Schaltuch vor den Mund und starrte auf die züngelnden, hohen Flammen, die gerade den Wandschrank zerfraßen. Der beißende Rauch drang in meinen Hals und brannte unerträglich. Hitze erfasste meine Glieder. Sie glühten, als würden sie schmelzen.
Adrenalin schoss wie eine Droge durch meine Venen.
Ich fühlte mich befreiter denn je. Es war ein Kick, ein Rausch.
„Verreck hier, du Dreckschwein!“, schrie ich ihm zu und verspürte Genugtuung und Erleichterung.
Wo immer er sich jetzt gerade aufhielt, er würde es nicht mehr aus diesem Haus schaffen. Das war auch gut so.
Ich schulterte meinen Rucksack und drehte mich ein letztes Mal um. Die Flammen griffen nun die Wendeltreppe an, fraßen sich durch die Wände und hinterließen nichts als Schutt und Asche.
Bedrohliches Knacken ließ mich zusammenzucken.
Ich musste hier raus!
Mit einem Satz hechtete ich zur Tür und drückte die Klinke herunter. Die Nacht war sternenklar. Kälte legte sich wohltuend um meinen Körper. Ich atmete tief durch, lief in den Garten und schloss für einen Moment meine Augen.
Dann warf ich einen Blick auf unser Zuhause, das langsam, aber sicher dem Erdboden gleich gemacht wurde. Ich fühlte eine tonnenschwere Last von meinen Schultern weichen.
Es war ein Befreiungsschlag und ein Sprung ins Ungewisse zugleich.
Ich grinste selbstzufrieden und rannte, so schnell ich konnte, in den Wald.
Konzentriert war ich in meine Germanistik-Lehrbücher versunken. Ich hatte in der letzten Zeit zu viele Vorlesungen verpasst und musste somit eine Menge Stoff nachholen.
Als ich an meinem Kaffeebecher nippte, klingelte es. Träge verließ ich das Wohnzimmer und öffnete die Tür.
„Hallo, Tabata!“ Es war Onkel Frank, der mich mit einem ernsten Gesichtsausdruck bedachte.
„Hallo! Komm doch rein.“
Wortlos ließ er sich auf meinem Sofa nieder. Ein Schatten huschte über sein Gesicht. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Mein Magen verkrampfte sich augenblicklich.
„Tabata, wir müssen reden. Es geht um deinen Stiefvater. Setz dich.“
Meine Atmung beschleunigte sich. „Das ist momentan ein ganz schlechter Zeitpunkt, ich muss für die Uni pauken“, stellte ich klar und zwirbelte nervös an einer Haarsträhne. Meine Muskeln spannten sich an, während ich mich neben meinem Onkel setzte und ihm einen verstohlenen Seitenblick zuwarf.
Onkel Frank kam näher an mich heran, hielt meine Hand fest, die auf einmal zitterte, und schlug ein Bein über das andere.
„Er kann dir nichts mehr antun“, redete er beschwichtigend auf mich ein.
„Ich will trotzdem nicht über Peter reden. Du weißt, wenn ich irgendwelche Flashbacks bekomme, verliere ich die Kontrolle und Roxie ist da.“
Onkel Frank seufzte. „Auf die hätte ich jetzt sicher keine Lust. Das letzte Mal, als ich dich besucht hab, hat sie mich pöbelnd aus der Wohnung geworfen. Aber das muss ich jetzt in Kauf nehmen. Was ich dir zu sagen habe, ist wichtig. Es geht um …“
„Stopp! Das ist unfair, kannst du nicht wenigstens diese Klausur noch abwarten?“ Wenn ich heute wieder wegtrete, wird Roxie meine Klausur verhunzen. Das kann ich mir nicht erlauben!
Ein Kloß hatte sich in meiner Kehle gebildet. Ein Anflug von Panik befiel mich.
Wenn ich jetzt mit Onkel Frank über Peter spreche, werde ich mich Roxie beugen müssen und wäre für die nächsten Stunden nicht mehr Herr über meinen Körper. Dann wird sie ihn nämlich übernehmen. Nein, nicht heute! Ich will ich bleiben!
„Kind, du musst wieder zur Therapie gehen.“ Eindringlich sah Onkel Frank mich an.
Ich schüttelte schnell den Kopf. „Mir kann sowieso keiner helfen. Ich hab die Nase voll von Aufarbeitungsgesprächen!“ Meine Stimme wurde lauter. Mist, ich muss mich wieder beruhigen.
Onkel Frank seufzte. „Ich wünschte, ich könnte dir helfen, Tabata.“
Ich schnaubte bitter, schenkte ihm ein versöhnliches Lächeln. „Du hast mir schon so oft geholfen.“
„Tabata, denk daran, du kannst an deiner Kontrolle arbeiten. Bei Doktor Rockwoll lernst du, besser mit der Persönlichkeitsspaltung umzugehen.“
Ich stieß Luft aus. „Roxie ist sehr stark, viel stärker als ich.“
„Ich weiß, dass es eines Tages besser sein wird, Schatz.“
Ich nickte stumm und starrte auf den Wohntisch, auf dem meine Lehrbücher ausgebreitet herumlagen. Ich musste weiter büffeln. Das Studium in Germanistik anzufangen, war meine bisher beste Entscheidung gewesen. Schon immer hatte die deutsche Sprache mich fasziniert, und ich brannte dafür, sie in all ihren Facetten kennenzulernen.
„Ich habe morgen einen wichtigen Geschäftstermin in München. Das heißt, ich muss heute Abend losfahren“, sagte Onkel Frank ruhig und legte eine Hand auf meiner Schulter. Ich schaute auf.
„Ich weiß nicht, wann ich das nächste Mal wieder in Essen sein werde. Bitte, lass uns heute reden.“
Ich schluckte, sprang auf.
„Wenn du versuchst, tief und entspannt durchzuatmen, kannst du die Kontrolle behalten“, fügte er schnell hinzu.
„Nein, das ist nicht so einfach!“ Meine Augen füllten sich mit Tränen. „Ich will endlich mein eigenes Leben führen und nicht ständig an die Vergangenheit zurückerinnert werden. Kannst du das nicht verstehen?“
Onkel Frank blickte zu Boden. „Ja, ich kann dich verstehen, Kind. Aber …“
„Nichts aber!“ Ich spürte ein Brennen unter meiner Haut, Wut stieg in mir auf. Ich versuchte tief durchzuatmen, aber ich war zu verspannt.
„Bitte, Tabata, beruhig dich.“ Onkel Franks Stimme hatte einen flehenden Charakter angenommen.
Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ ich fluchtartig meine Wohnung.
Hallo, Roxie und Katja,
wer auch immer von euch beiden diesen Brief liest, wir müssen vorsichtig sein! Wegen dir, Roxie, haben wir nun Hausverbot im Flashbacks bekommen. Ich habe durch Tobey erfahren, dass du den Laden ganz schön aufgemischt hast. Warum hast du dich dermaßen volllaufen lassen und sogar einen Tisch nach einem Gast geworfen??? Was genau ist passiert? Ich fass´ es einfach nicht! Ich dachte, du wolltest mich beschützen! Du hast mal zu mir gemeint, du wolltest die große Schwester sein, die ich niemals hatte. Machen das große Schwestern? Mit Tischen werfen und mich in missliche Lagen bringen? Ich bin momentan mehr als sauer auf dich, Lieblingsschwester! Ich habe sogar eine Anzeige wegen Körperverletzung für uns abgefangen. Der Typ hat zwar ‘ne Beule am Kopf, doch sieht dank meines Gebettels und den tausend Entschuldigungen davon ab. Unsere Lieblingsbar haben wir auch verloren …
Katja, du warst eine ganze Zeit nicht mehr da. Es liegt wohl daran, dass Roxie die dominantere von uns dreien ist. Falls du das hier zu lesen bekommst, ich habe dein Springseil wiedergefunden. Es liegt in der untersten Nachttischschublade. So, ich mache mich jetzt für die Arbeit fertig.
Bis dann, Mädels! LG Tabata
Hallo, Tabata,
dieser blöde Kerl wollte uns an die Wäsche, und ich habe dir geschworen, dass dir nie wieder ein Mann Leid zufügt. Wo ist nun schon wieder dein verdammtes Problem?? Ich schaffe das, wozu du nie imstande sein wirst, du brauchst mich!
Katja kommt momentan nicht raus – ich glaube, sie ist genervt von unserem Zickenkrieg …
LG Roxie
Liebe Roxie,
ich bin froh darüber, wieder die Kontrolle zurück zu haben. Ich bitte dich, erscheine nicht, wenn ich in der Arbeit bin! Das ist meine dritte Arbeitsstelle innerhalb von sieben Monaten, und ich möchte sie diesmal gern behalten. Oder, falls du wirklich auftauchen musst, um mir zu helfen, dann benimm dich, bitte, und lass es nicht auffallen, dass ich nicht mehr da bin. Ich habe keinen Bock, von meinen Arbeitskollegen blöd angestarrt zu werden, geschweige denn, dass über mich getuschelt wird oder man aufgrund meines „derben“ Tonfalls nicht mehr mit mir reden will …
Bis bald, Tabata
PS: Falls du nicht auf mich hörst, werde ich wieder Sitzungen bei Doktor Rockwoll beantragen!
Hi Tabi,
danke, dass du mein Springseil aufgehoben hast! Ich habe heute achtundvierzig Sprünge damit geschafft. Ich möchte gern Reitunterricht nehmen, weil ich das einfach total cool finde. Wärst du damit einverstanden?
Gruß, Katja
Liebe Katja,
nein, das geht nicht! Ich habe neben dem Studium und der Arbeit in der Küche keine Zeit und erst recht kein Geld, einem Reitverein beizutreten. Ich kann mich noch genau an den Tanzunterricht erinnern, für den du in meinem Namen einen Vertrag abgeschlossen hast und aus dem ich erst nach einem halben Jahr rauskam, ganz zu schweigen von deinem Bravo-Zeitschriften-Abo! Du bist viel zu selten hier, um einen Unterricht besuchen zu können. Sei bitte vernünftig!
Deine Tabata
Roxie,
ich bring dich um!!!
Was fällt dir ein, unsere Haare blau zu färben? Hast du sie noch alle? Ich sehe jetzt aus wie ein Punk ... Wie soll ich nur heute so zur Arbeit? Du hast mir versprochen, keinen Ärger mehr zu machen! Ich will meine blonden Haare zurück!
***
Verzweifelt beäugte ich meine Haare im Badezimmerspiegel. Sie waren azurblau wie die einer Fee oder einer Punkerin. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Es war ein eigenartiges Gefühl, diese Haarfarbe an mir zu sehen.
Einzelne dicke Haarsträhnen glitten an meinen Schultern herab. Mit Zeigefinger und Daumen griff ich sie mir und zog daran, als gehörten sie zu einer Perücke, die ich jederzeit herunterreißen könnte. Doch sie waren wirklich in meiner Kopfhaut verankert.
„Roxie, ich bring dich um!“
Wütend klopfte ich gegen den Spiegel und hoffte, sie würde mich hören, ganz tief in mir drin, wo sie gerade schlummerte.
Ich atmete tief durch, streifte mein Nachtshirt ab und sprang unter die Dusche. In den warmen Wasserstrahl gehüllt, seifte ich mich großzügig mit dem Duschgel ein, das nach Waldbeere duftete. Entschlossen griff ich mir das Shampoo und verarbeitete es in meinen Haaren, ließ es vom Wasser ausspülen und hoffte, der Farbton würde zumindest verblassen.
Ich verliere die Kontrolle! Ich schloss meine Augen, ließ den Kopf in den Nacken fallen.
Langsam stieg ich aus der Dusche, wickelte mich in ein Badehandtuch und lief ins Schlafzimmer. Schnell zog ich mir Unterwäsche an und schlüpfte in meine weiße Bluse mit dem Spitzeneinsatz und meine schwarze Stoffhose. Nervös warf ich einen Blick in den Spiegel meines Wandschranks.
Zu meinem Bedauern war der Farbton unverändert geblieben: azurblau und hellleuchtend.
Ich seufzte, zerzauste missmutig meine Mähne, die selbst aus zehn Meter Entfernung unübersehbar bleiben würde.
Schwermütig schlurfte ich in die Küche. Sie bestand aus einer kleinen Küchenzeile, einer Spüle und einem Herd. In der Ecke zum Fenster stand ein kleines Tischlein mit zwei Klapphockern.
Die Wohnung war recht winzig, doch sie war mein Zuhause, ein richtiges Zuhause – ein Privileg für mich. Seit zwei Jahren lebte ich nun schon in Essen und war froh, hier ein neues Leben führen zu können. Nach dem Tod meiner Mutter hatte mein Stiefvater das Sorgerecht für mich zugesprochen bekommen. Ich war damals fünfzehn Jahre alt.
Mit dem Zeigefinger fuhr ich unter meine Bluse, strich über die Narbe auf meiner Schulter. An dieser Stelle hatte ER immer seine Zigaretten ausgedrückt.
Diese Hölle liegt hinter mir, das ist es, was zählt! Mit allem anderen werde ich schon irgendwie fertig.
Ich schaltete die Kaffeemaschine an und ließ den Kaffee durchlaufen.
Als ich einen Blick in mein Wohnzimmer warf, stachen mir sofort der leere Pizzakarton und die Pepsi-Flaschen ins Auge. Auf dem Boden verteilt lagen überall Krümel.
Toll! Roxie hat hier drin gestern Nacht eine Fressorgie veranstaltet, und ich kann alles wieder aufräumen …
Eigentlich hatte ich es ihr zu verdanken, dass mein altes Leben mich nicht zerstört hatte. Sie war meine zweite Persönlichkeit. In der Psychologie spricht man auch von gespaltener Persönlichkeit oder dissoziativer Persönlichkeitsstörung, wohingegen ich das Wort zweite Hälfte bevorzugte. Roxie war aus meiner größten Not heraus entstanden, wie ein rettender Engel sozusagen. Immer, wenn ER mich geschlagen hatte, kam sie zum Vorschein. Ich konnte schlafen, bekam nichts mehr von alldem mit. Sie war im Gegensatz zu mir stark genug, all das ertragen zu können.
Später stieß dann auch noch Katja zu uns, „das dritte Puzzleteil“. Sie war gekommen, weil ein Teil von mir niemals das unbeschwerte, verspielte Mädchen hatte sein können wie sie. Mir war es nicht vergönnt gewesen.
Ich seufzte, hob den Karton und die Flaschen auf und stopfte alles in den Hausmüll. Um die zerwühlte Couch und den eingerollten Teppichläufer würde ich mich später kümmern.
Meine Armbanduhr verriet mir, dass es fast halb elf war. Meine Doppelschicht im MonoTono würde gleich anfangen.
Ich arbeitete dort als Küchenhilfe und hatte mich von meinem Chef dazu breitschlagen lassen, Monas Schicht heute Abend zu übernehmen.
Heute würde Herr Neuhaus´ Sohn von seinem Jahr aus den USA zurückkehren. Ihm zu Ehren wollte mein Chef eine Party schmeißen.
Auf dieses ganze Trara hatte ich überhaupt keinen Bock, aber das zusätzliche Geld konnte ich gut gebrauchen.
Ich schüttete mir schnell meinen letzten Schluck Kaffee in die Kehle und verließ die Wohnung.
***
Das MonoTono war ein angesagter Szeneclub mitten in der Altstadt. Er bot kulinarische Vielfalt und eine Bar mit Tanzfläche in einem und sprach somit unterschiedliche Menschengruppen an. Von außen glich die Fassade mit ihren roten Backsteinen einem Zechengebäude. Dieses besaß große, ovale Fenster, die an eine Kirche erinnerten.
Ich betrat die menschenleere Halle. Die Sohlen meiner Chucks quietschten dumpf. Tageslicht fiel großflächig auf den graumelierten Boden. Normalerweise war der Club bei Tag geschlossen, abends geöffnet. Die Willkommensfeier für Neuhaus‘ Sohn würde allerdings schon am Nachmittag beginnen.
Ich marschierte auf die Küche zu, die sich am Ende des langen Ganges hinter der Tanzfläche befand. Mit einem unbehaglichen Grummeln im Bauch legte ich eine Hand auf die Türklinke, zögerte dann aber, sie herunterzudrücken und krallte mich krampfhaft an dem Türrahmen fest. Es nützte alles nichts. Ich schluckte, zwirbelte nervös meine Haare.
Gleich werden alle blau sehen.
An der Spüle erblickte ich Elvira, die mir bestens gelaunt zunickte. Ihre wirren schwarzen Locken tanzten dabei auf und ab.
„Hey, Tabata!“, rief sie und grinste mich breit an. „Interessante Haarfarbe!“
Blut stieg mir in die Wangen.
„Hi.“ Mehr brachte ich nicht hervor.
„Wow! Lass dich mal genauer ansehen“, redete sie auch schon weiter und lief mit großen Augen auf mich zu.
Auch die Blicke meiner restlichen Kollegen waren auf mich gerichtet. Ich wollte jetzt einfach nur weg.
Deborah, Anita und Lukas, die damit beschäftigt waren, Töpfe und Besteck zu sortieren, liefen mir entgegen.
Ehe ich mich versah, wurde ich von ihnen umkreist, als wäre ich ein Marsmännchen oder so etwas. Genauso fühlte ich mich auch.
Lukas pfiff wie ein Bauarbeiter zwischen den Zähnen. Sein gegeltes schwarzes Haar glänzte im Schein der Deckenbeleuchtung ölig.
Eine Hand hatte er in die Hüfte gestemmt und grinste mich schelmisch an.
„Mensch, Tabata, bist du jetzt der Punkszene beigetreten?“, rief Deborah und sah mich mit einer Mischung aus Verwunderung und Anerkennung an.
Ich biss mir auf die Unterlippe. Ich war ja schon immer ein Freak, jetzt sehe ich auch genauso aus!
„Kommt, lasst die Arme doch mal in Ruhe!“, ergriff Anita das Wort. Sie schlang einen Arm um meine Schulter und warf mir einen wissenden Blick zu, denn meine zusammengepressten Lippen und meine hochgezogenen Brauen sprachen Bände!
„Los, Leute, wir haben Tabatas Haare lange genug bewundert. An die Arbeit!“ Elvira klatschte laut in die Hände und warf einen prüfenden Blick in die Runde, bevor jeder von uns sich seine Küchenschürze schnappte und loslegte. Als Küchenchefin hatte sie das Sagen.
Anita sollte Zwiebeln, Karotten und Paprika für die Frühlingssuppe hacken. Lukas holte frische Petersilie aus dem kleinen Kräutergarten, wusch sie und hackte sie fein. Deborah schnitt das Kalbfleisch, und ich schälte die Kartoffeln. Die Soße wurde derweil von Elvira zubereitet.
Meine Haare hatte ich inzwischen zu einem Zopf zusammengebunden, pustete mir missmutig eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schaute auf den Berg von Kartoffeln, den ich noch abzuarbeiten hatte.
„Wie viele Leute kommen eigentlich gleich zur Feier?“, fragte ich Anita, die neben mir stand und mit einem Sparschäler eine Karotte bearbeitete.
„Ich weiß nicht genau, ich glaube, so ungefähr achtzig Mann.“ Sie warf mir einen kurzen Seitenblick zu.
Die schwarze Kajalfarbe um ihre Augen war leicht verlaufen.
„Was, so viel?“ Ich hob eine Augenbraue.
„Ja, neben dem Chef und Jakob kommt noch ein ganzer Hofstab, Verwandte, Bekannte und Geschäftspartner von Herrn Neuhaus.“ Herr Neuhaus hatte diesen Club vor ein paar Jahren aufgekauft und existierte hauptberuflich für seine selbstgegründete Investment-Firma, die ihn steinreich gemacht hatte. Das MonoTono war im Grunde nur ein kleiner Zeitvertreib für ihn.
Anita fuhr sich mit der Zungenspitze über ihre spröden Lippen. Ihre feuerroten Haare knallten mit meinen blauen Haaren um die Wette. Sie war flippig und wechselte ihre Haarfarbe mal gern von honiggelb zu pechschwarz. Wahrscheinlich war sie die Einzige, die meine Haarfarbe klasse fand.
Ich fuhr zusammen, als die Pendeltür energisch aufgestoßen wurde und mir ein Wortschwall von Herrn Neuhaus entgegenkam: „Mein Junge, wir haben wirklich noch viel zu besprechen.“
Ich schaute auf zu meinem Chef, der wie gewohnt ein makelloses Hemd mit Krawatte trug. Mit einer Hand rieb er sich über die grauen Bartstoppeln. Neben ihm stand ein junger Mann, der etwa ein Kopf größer war als er.
Sofort stachen mir die langen, hellbraunen Dreadlocks ins Auge, die ihm bis zu den Schultern baumelten. Er trug eine verwaschene, weite Jeans und ein rotkariertes Hemd. Ich hatte ihn mir ehrlich gesagt ganz anders vorgestellt.
Mir stockte der Atem, als sein Blick an mir hängen blieb oder wohl eher an meinen blauen Haaren. Warum das geschah, wusste ich selbst nicht genau und es überraschte mich.
O Gott! Ich falle wirklich überall auf wie eine Leuchtreklame.
Für einen Moment verspürte ich ein eigenartiges Kribbeln in der Magengegend.
Seine Augen waren smaragdgrün, die Oberarme muskulös und so gebräunt, wie sie nach einem einjährigen Aufenthalt in Miami sein sollten.
Rasch senkte ich den Blick und starrte verschüchtert auf die Arbeitsplatte.
„Hallo zusammen, das ist Jakob, mein Sohn! Die meisten von euch, die schon länger hier beschäftigt sind, kennen ihn bestimmt noch“, hörte ich Herrn Neuhaus sagen.
„Hey!“, erklang eine andere Stimme, die Jakob gehören musste.
Schnell schaute ich wieder auf.
Er tauschte gerade einen kurzen Blick mit seinem Vater, ehe er sich der Belegschaft zuwandte.
„Hey, Leute, ich freu mich echt, wieder in Deutschland zu sein!“ Er grinste breit und fuhr sich mit einer Hand über seine Dreads.
Hatte er vorher auch so ausgesehen, oder hatte er sich diesen Style in den USA zugelegt? Ich würde bei der nächsten Gelegenheit einfach mal Anita fragen.
Dad musterte mich mit strenger Miene und krausgezogener Stirn, bevor er die Küchentür hinter uns zufallen ließ. Missbilligend schnaubte er auf und schüttelte seinen Kopf.
„Mitkommen!“, stieß er mit gebieterischem Ton hervor und sah mich auffordernd an.
Ich seufzte tief, steckte beide Hände in die Hosentaschen und verließ mit ihm den langen Flur. Nach ein paar Metern blieb mein Vater stehen. Wir fanden uns in dem kleinen Korridor zwischen Personalraum und Büro wieder. Weil es in diesem Bereich keine Fenster gab, war es hier dämmrig.
Lediglich der Schein der Messingstehlampe spendete etwas Licht. Der blaue Viskoseteppich stach mit seinen goldenen Applikationen in Form eines Wabenmusters im Halbdunklen hervor.
„Was ist?“, fragte ich, stemmte beide Hände in die Hüften und hob eine Braue nach oben. Irgendwie hatte ich seine ständigen Kommandos kein Stück vermisst! Der Abstand zu meinem Vater hatte mir ganz gutgetan. Miami war schon zu meiner neuen Heimat geworden. Die Zeit dort hatte mich geprägt, mich selbstständiger werden lassen, denn zuvor war ich immer bloß in meinem Elternhaus gewesen. Dennoch: Ich hätte wirklich nicht für immer in den USA bleiben können. Ich hatte Pläne und Ziele hier in Deutschland.
Mein Vater rieb sich nachdenklich über seinen Schnäuzer. „Was soll überhaupt diese blöde Frisur? Wie aus dem Busch gekommen schaust du aus.“
„Wenigstens habe ich noch Haare zum Frisieren“, konterte ich und deutete mit dem Kopf auf seine Geheimratsecken. Herausfordernd funkelte ich ihn an, beide Arme vor der Brust verschränkt. Kyle, mein Kumpel aus Miami, hatte mein Haar vor einigen Wochen so verfilzt.
Auf meine Dreadlocks war ich ausgesprochen stolz, denn dieser Style war ein Lebensgefühl, das einfach zu mir passte.
Dad verkniff das Gesicht zu einer Grimasse, seine Augen waren bloß noch kleine Schlitze. „Du hast mich gerade vor meinem gesamten Personal blamiert, ist dir das klar?“ Seine Stimme wurde lauter. „Ich musste gute Miene zum bösen Spiel machen. Was soll dieses Hippie-Getue, he?“, knurrte er und sah mich unnachgiebig an.
O Mann, immer noch derselbe Spießer!
„Ich bin eben kein Baujahr Neunzehnhundertzwieback wie du, die Welt hat sich inzwischen weitergedreht. Das gilt auch für Mode und Frisuren, Dad!“
„Nicht frech werden, ja! Und hör auf, mich ständig Dad zu nennen! Das Jahr in Amerika ist dir wohl nicht bekommen. Vater oder Papa, aber nicht dieses amerikanische Zeug!“, wetterte er und winkte verächtlich ab, als ob er eine Fliege verscheuchen wollte.
Mit einer raschen Armbewegung packte er mich am Arm und schleifte mich ins Büro.
Ich fühlte mich wie ein kleiner, dummer Schuljunge, der ins Rektor-Zimmer gezerrt wurde. Mit geweiteten Augen starrte mein Vater mich an, nachdem er die Tür hinter uns geschlossen hatte.
Ich wich seinem durchdringenden Blick aus, visierte einen Stuhl vor dem Schreibtisch an und ließ mich genervt darauf fallen. Ein Bein ließ ich auf und ab wippen, während ich meinen Vater dabei beobachtete, wie er sein Jackett auszog und an den Mantelstock hängte.
Schnurstracks kam er näher, strich sich mit den Fingerspitzen sein Hemd glatt.
Als er mich vom Flughafen abgeholt hat, war er noch nicht so verkniffen drauf. Ich hab wirklich gedacht, er hätte sich gebessert. Fehlanzeige!
„Hör zu, Junge, du bist nun 22 Jahre alt, und allmählich wird es Zeit, Verantwortung zu übernehmen.“ Vaters Gesichtszüge wurden weicher. Er schnappte sich den Drehstuhl hinter dem Schreibtisch und saß mir wie bei einem Vorstellungsgespräch gegenüber. Dann holte er tief Luft, ehe er weitersprach. „Ich habe dir dieses eine Jahr in den USA gelassen. Du solltest Spaß haben, neue Eindrücke gewinnen. Aber nun bist du wieder zurück aus deinem Langzeiturlaub. Es ist an der Zeit, dein BWL-Studium fortzusetzen, um eines Tages das Familienunternehmen zu übernehmen.“
Nicht schon wieder die gleiche Leier! Ich halte immer noch nichts von seiner blöden Investment-Firma!
„Papa, das ist nicht mein Weg! BWL ist nichts für mich, genauso wenig wie von neun bis siebzehn Uhr an einem Bürostuhl festgekettet zu sein und Unterlagen zu wälzen“, stellte ich genervt klar und merkte, dass auch ich plötzlich lauter geworden war. Dabei schabte ich nervös mit dem Fuß an dem Stuhlbein.
Mein Vater hüpfte wie von der Tarantel gestochen vom Stuhl auf und blickte auf mich herab. „Und was willst du stattdessen werden? Zirkusclown? Oder hast du immer noch die Flausen mit deiner komischen Band im Kopf?“ Abwertend stieß er die Luft aus. Sein Gesicht war inzwischen puterrot geworden, und eine Zornesader trat auf seiner Stirn hervor.
Das sind keine Flausen, sondern ernstzunehmende Pläne, dachte ich bloß, sagte jedoch nichts. Stattdessen stand ich ebenfalls auf.
„Ganz ruhig, denk an deinem Blutdruck“, sagte ich beschwichtigend und fasste an Vaters Schulter.
„Ach, Papperlapapp!“, rief dieser und schüttelte meine Hand weg. „Wir haben diese Diskussion bestimmt schon einhundert Mal geführt, Jakob. Du bist noch jung, weißt noch nicht, was wirklich gut für dich ist!“
Ich verdrehte die Augen, setzte mich auf die Tischplatte und seufzte tief. „Ich bin kein Kind mehr!“ Durchdringend sah ich meinen Vater an.
Dieser wurde wieder ruhiger und ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen. Sein verkniffenes Gesicht wurde glatt.
„Dann beweise es mir endlich, übernimm Verantwortung!“
„Dad? Äh, Papa, lass mich dir bitte heute Abend etwas zeigen.“ Mein alter Herr wirkte halbwegs versöhnlich gestimmt. Oder war es nur eine Taktik? Jedenfalls nickte er kommentarlos.
***
In der Party-Lounge des Clubs hingen überall an der Decke verteilt Luftballons und Willkommens-Banner mit den Aufschriften „Willkommen zurück“ und „Welcome“.
Wow, da hat mein Alter sich wirklich viel Mühe gegeben.
Ganz rechts außen stand ein etwa zwei Meter langes Buffett mit Braten, Suppe, Auflauf, Brot und Käse.
Eine Menschentraube war bereits vor der Bühne versammelt.
Ich warf einen kurzen Blick aus dem Fenster und erkannte nichts als Dunkelheit draußen. Gesprächsfetzen streiften meine Ohren, Musik drang aus den Boxen und füllte den Raum mit Jazz-Klängen.
Ich erspähte meinen Cousin, den ich schon Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte, in der Menge. Meine Tante war ebenfalls da, wie auch viele Freunde und Bekannte. Mann, tat das gut, sie alle unter einem Dach versammelt zu haben! Ich würde bestimmt gleich Gelegenheit finden, die meisten von ihnen persönlich zu sprechen, doch nun musste ich mich konzentrieren.
Mein Vater stand bereits auf der Bühne und hieß die versammelte Gesellschaft willkommen. Derweil schlich ich mich hinter die Bühne und stellte zu meiner Freude fest, dass meine Band dort bereits auf mich wartete.
Aufgeregt lief ich auf meine Bandmitglieder zu.
„Hey, Jakob!“, rief David und warf mir lässig ein High Five entgegen.
„Hey, Leute, seid ihr bereit, den Laden hier aufzumischen?“
Verwegen sah ich zu meinem Bro hinüber. Joe grinste mich schelmisch an und fuhr sich mit einer Hand über seine Glatze.
„Dein Paps wird sicher nicht begeistert sein“, warf er ein und legte die Stirn in Falten.
Ich winkte ab. „Er wird hoffentlich endlich verstehen, was meine wahre Passion ist und dass er all die Jahre auf das falsche Pferd gesetzt hat.“ Zielstrebig griff ich mir meine E-Gitarre vom Ständer in der Ecke und hängte sie mir um.
Joe kam auf mich zu, dicht gefolgt von Isaak, dessen wilde Afromähne auf und ab tanzte wie Zuckerwatte, die man von links nach rechts schwenkt.
„Jo, Mann, cool, dass du endlich zurück bist!“ Joes weiße Zähne traten hervor und bildeten einen deutlichen Kontrast zu seiner dunklen Haut. Er klopfte mir lässig auf die Schulter und ließ sich auf dem silberfarbenen Hocker vor mir nieder. Seine Gitarre klemmte er sich zwischen die Füße und zupfte spielerisch daran herum.
Ich kannte ihn und Isaak seit meiner Schulzeit. Schon damals hatten wir zusammen Musik gemacht. Später hatten wir bei einer Studentenfeier David kennengelernt und schließlich unsere Band Unleash gegründet.
Vor meinem Jahr in die USA hatten wir viele Gigs an Land ziehen können und uns eine kleine Fangemeinde aufgebaut. In den Essener Clubs und Pubs waren wir im Laufe der Zeit sogar gefragte Künstler geworden.
Als ich Deutschland den Rücken zukehrte, hatten sie zu dritt die Leute bei der Stange gehalten, was gar nicht so einfach gewesen war, denn ich war der Leadsänger.
„Sicher, dass du den Text von Hard Little Girl noch kennst?“ Isaak warf mir einen grimmigen Blick zu. Er hatte mir meinen Rückzug ins Amiland immer noch nicht verziehen, fühlte sich nach wie vor von mir im Stich gelassen.
Doch ich hatte dieses Jahr Abstand gebraucht. Es war eine gute Gelegenheit gewesen, dem Thronerbe-Gequatsche meines Vaters zu entgehen, wenn auch nicht langfristig.
„Sicher kann ich den Text noch! Ich hab dort drüben auch regelmäßig alle unsere Songs geübt“, stellte ich angesäuert klar und blitzte ihn trotzig an.
Isaak schnaubte, wandte sich wieder von mir ab und äugte hinter den Vorhang.
Die autoritäre Stimme meines Vaters ertönte übers Mikrofon. Er redete über das MonoTono, verriet, wie er damals diesen pleitegegangenen Zechenclub aufgekauft und etwas Gewinnbringendes geschaffen hatte. Typisch Papa! Nach seiner kleinen Anekdote würde er seinen verlorenen Sohn präsentieren und wusste noch nichts von dem, was ihn und alle anderen in Kürze erwarten würde.
„Ey, mach dir keinen Kopf, der fängt sich früher oder später wieder.“ David zwinkerte mir aufmunternd zu. Beide Hände hatte er in die Jackentaschen gestopft und lief ungeduldig auf und ab wie ein Tiger im Käfig, der endlich raus wollte.
Ich seufzte. „Ihr wisst genau, wie wichtig mir die Band ist. Ich bin zurück und nun wieder regelmäßig am Start, klar?“
David lachte auf. „Jo, Bro, alles cool.“
„Ob alles so cool ist, wird der Auftritt zeigen“, schleuderte mir Isaak entgegen, nachdem sein Kopf wieder zurück hinter den Vorhang gewandert war.
Ich zwirbelte an einer meiner Dreads herum und beobachtete Joe. Er hatte sich Kopfhörer in die Ohren gedrückt und lauschte den Klängen von The Weeknd. Das tat er jedes Mal vor einem Gig, um sein Lampenfieber in Schach zu halten, wie er mir einmal erklärt hatte.
Als Dad meinen Namen aussprach, riss es mich aus meinen Gedanken. Das war unser Stichwort.
Jeder von uns begab sich auf Position.
Joe und ich hielten unsere E-Gitarren bereit, Isaak hockte sich ans Schlagzeug, und David schnappte sich den Bass.
„…hier ist er, mein Sohn Jakob!“
Der Vorhang ging auf, ich blickte noch in das verdutzte Gesicht meines alten Herrn, dann legten wir los.
Sofort war ich schon in der Musik versunken, die mich wie ein warmer Schutzschild umhüllte. Der Bass vibrierte, das Schlagzeug schlug einen entspannten Beat. Melodisch stimmte ich mit ein und wartete auf meinen Gesangspart. Das Knurren des Basses ging in einen hohen Ton über, der in meinem Brustkorb widerhallte.
Hard little girl you´re so hard to find
Hard little girl you were not that kind
I think about you all the time
Your hair smells like rain, sunshine and flowers
Hard little girl you are on my mind
Leidenschaftlich zupfte ich an den Saiten meiner geliebten Fender, die pulsierende und röhrende Klänge ausstieß, die in mir vibrierten, mich mit Energie betankten. Ich lauschte dabei Joes kraftvoller Stimme im Background.
Mein Vater war inzwischen von der Bühne verschwunden. O nein! Hoffentlich bekommt er keinen Herzkasper!
Ich musste die Gedanken an ihn erstmal beiseiteschieben, ehe ich noch patzen würde.
Es war ein geiles Gefühl, endlich wieder vereint mit meinen Jungs auf einer Bühne stehen zu können.
***
„Was hast du dir dabei gedacht? Bist du jetzt ganz aus der Art geschlagen?“, herrschte mein Vater mich an.
Er hatte mich für ein weiteres Gespräch in den Korridor zu den Personalräumen gezogen. Steine lagen in meinen Magen. Warum musste er bloß immer so reagieren? Konnte er nicht einmal sagen: ‚Du hast das toll gemacht, Junge‘?
Der kleine Hautlappen unter seinem Kinn züngelte auf und ab, während mein Vater mich nach wie vor mit einem vernichtenden Blick bedachte.
„Ich wollte dir zeigen, wofür ich brenne.“
Er lachte auf. „Wofür du brennst? Ich dachte gerade auch, ich brenne – vor Wut! Du weißt genau, dass ich dir nie die Erlaubnis erteilt habe, in meinem Club zu spielen!“
Ich runzelte die Stirn. „Ja, genau. Du hast es uns nie erlaubt, alle anderen angesagten Clubs schon.“ Intensiv sah ich meinen Vater an.
„Es war die einzige Möglichkeit, jemals von dir gehört zu werden!“
„Pah! Aus gutem Grund wollte ich deiner Spinnerei keinen weiteren Nährboden geben. Ich dachte, dieses Jahr im Ausland hätte endlich einen Mann aus dir gemacht, aber vor mir steht dasselbe unreife Bürschchen wie vorher. Und immer noch verkehrst du mit diesem Gesocks; diesen beiden Schwarzen und diesem Pumuckl! Wahrscheinlich hast du dir deshalb diese Affen-Frisur gemacht, weil du deinen Afrika-Freunden ähnlich sein wolltest!“
In mir begann es zu brodeln. Zitternd rieb ich mir die Hände und musste für einen Augenblick dem hasserfüllten Blick meines Alten ausweichen. Ich fixierte die blaugesprenkelte Wandtapete um uns herum und versuchte, tief ein- und auszuatmen. Das konnte nicht wahr sein! Immer noch steckte derselbe Hass in ihm. Erneut sah ich in das Gesicht meines Vaters, das wie in Stein gemeißelt zu sein schien.
„Hör endlich mit deinen rassistischen Sprüchen auf, klar? Das sind meine Freunde. Sie haben mir immer zugehört, im Gegensatz zu dir!“
„Das sind irgendwelche Afrikaner, Kriminelle! Was würde nur deine Mutter dazu sagen, wenn sie noch …“
Ein tiefer Schmerz durchzog mich. Er war pechschwarz und hatte Stacheln. „Sei still!“ Mit einem Mal klang meine Stimme drohend. „Wie kannst du es nur wagen, Mama da mitreinzuziehen? Sie war der gutherzigste und toleranteste Mensch auf der ganzen Welt!“
Wie sehr wünschte ich mir in diesem Moment, dass sie da wäre und mir Mut und Kraft gab. Wie sehr ich sie jeden Tag vermisste!
Mein Vater trug weiterhin seine kalte Maske aus Verachtung.
„Allerdings, du bist genauso ein Tagträumer wie deine Mutter. Gutherzig, ja, das war sie. Gutherzig und vor allem naiv“, zischte mein Vater und ließ endlich wieder eine Regung auf seinem Gesicht zu. Eine kleine Zornesader trat zum Vorschein, die ich so sehr hasste. Die ich im Laufe der Jahre immer einmal wieder zu Gesicht bekommen hatte, wenn er mich tadelte oder kritisierte.
Sein Schnurbart zuckte einmal kurz auf, ehe er weitersprach. „Du musst endlich begreifen, dass du keine fünfzehn mehr bist! Und ich bin nicht deine Mutter, die dich verhätschelt.“
Ein erneuter Schmerz schlug in mir auf. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und versuchte, mich krampfhaft wieder zu beruhigen. Doch ich schaffte es einfach nicht. „Du warst doch nie für uns da! Deine Karriere war dir doch immer wichtiger als deine Familie!“
Mein Vater schenkte mir bloß ein arrogantes Lächeln und schob sein verrutschtes Hemd tiefer in seine Hose. „Einer musste ja das Geld reinbringen. Dank mir hat es euch nie an etwas gefehlt!“, gab er zurück und durchbohrte mich mit seinem drohend scharfen Blick.
Nichtsdestotrotz hielt ich diesem stand, schob mein Kinn vor. „Doch, hat es. Und soll ich dir auch verraten an was?“
Ich kam näher auf meinen Vater zu. Bis auf den Lichtschein der Stehlampe in der kleinen Nische war es dunkel im Flur. Stimmengewirr der Gäste war im Hintergrund zu hören. Sie fragten sich wohl, was los war. Ich sah in die glanzlosen, dunklen Augen meines Vaters.
„Liebe.“
Mit diesen Worten verließ ich aufgebracht den Flur und steuerte den Ausgangsbereich an.
Ich meinte, eine Stimme hinter mir zu hören und sowas wie „Hey, wo willst du denn hin?“
Mittlerweile drang laute Musik aus den Boxen und verschluckte Worte. Es hatte wie Joe geklungen. Doch ich reagierte nicht darauf. Ich wollte einfach nur weg, weit weg von meiner eigenen Willkommensfeier. Es war bloß eine Farce! Ich hatte wirklich gedacht, nach meiner Rückkehr nach Deutschland würde sich das zerrüttete Verhältnis zu meinem Vater gebessert haben, doch es hatte sich rein gar nichts verändert. Rasch riss ich die Tür auf und bemerkte fast schon zu spät, dass ein Mädchen auf den Treppen hockte.
In letzter Sekunde stoppte ich. Um ein Haar hätte ich ihr ins Kreuz getreten.
Erschrocken fuhr sie herum. Ich hatte sie zuvor bereits in der Küche gesehen. Ihre blauen Haare waren unverkennbar. Irgendwie gefiel mir ihr Look.
„Tut mir leid, wollte dich nicht erschrecken“, sagte ich und sah in ihre großen karamellfarbenen Augen.
Mit einem Satz erhob die Fremde sich.
„Schon gut, nichts passiert“, entgegnete sie mit sanfter Stimme, schenkte mir ein flüchtiges Lächeln und setzte sich wieder hin.
Auf einmal hatte ich es nicht mehr so eilig. Irgendetwas an dieser Frau faszinierte mich. Ich setzte mich zu ihr.
Ich atmete tief ein und aus, legte den Kopf in den Nacken und blickte zum pechschwarzen Sternenhimmel hinauf. Angestrengt versuchte ich, nicht zu Jakob zu schauen.
