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Die besten Filme schreibt das Leben selbst. Die Indie-Regisseurin Alex Levitin reist widerwillig nach Neuseeland, um den »geschmacklosesten Film aller Zeiten« zu retten, denn sie braucht das Geld. Es macht die Aufgabe nicht gerade leichter, dass sie an ihrem ersten Tag fast die örtliche Polizistin überfährt. Senior Constable Sam Keegan ist jedenfalls weder vom Film noch von der Hollywood-Crew begeistert, die in ihre Stadt eingefallen ist. Und schon gar nichts hält sie von der süßen Alex mit dem flotten Mundwerk und den lausigen Fahrkünsten. Doch als mysteriöse Vorfälle die Dreharbeiten gefährden, müssen sich die beiden Frauen zusammenraufen, um den Saboteur zu finden. Vor der atemberaubenden und zugleich chaotischen Kulisse des Filmsets lässt die Anziehungskraft zwischen Sam und Alex nicht lange auf sich warten. Eine humorvolle Lesben-Romanze über den Mut, auch ohne Drehbuch große Träume zu haben.
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Seitenzahl: 572
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Inhaltsverzeichnis
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen
Über Lee Winter
Danksagung
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Nichts als die ungeschminkte Wahrheit
Aus der Rolle gefallen
Requiem mit tödlicher Partitur
Widmung
Für meine Liebste. Danke für alles, was du für dieses Buch getan hast. Sogar für deine zahlreichen liebevoll-sarkastischen Kommentare. (Die Zeichnungen dazu haben geholfen.)
Wir haben es geschafft!
Kapitel 1
Schlechtester. Film. Aller. Zeiten.
Alex Levitin hatte soeben die wichtigste Regel Hollywoods gebrochen. Sie war zu spät. Und das nicht nur ein bisschen.
Ihr verbeulter, elegant vor sich hin rostender 97er Prius hatte natürlich ausgerechnet heute beschlossen, den Geist aufzugeben. Dann hatte ihr Taxifahrer darauf bestanden, eine »Abkürzung« zu nehmen und Alex’ präzise Wegbeschreibung zu ignorieren.
Sie stürmte durch die Türen des Lemontree Lounge and Grill und schaute sich suchend nach der Person um, die wahrscheinlich schon lange nicht mehr da war.
Die vergangene Woche hatte Alex damit verbracht, alles Erdenkliche über Starproduzentin Caroline Bassett in Erfahrung zu bringen. Sie wusste von ihrer Nussallergie, kannte ihre Schuhgröße und hatte gelesen, dass sie vor zwei Monaten die von ihr produzierte TV-Soap verlassen und stattdessen einen Job bei einem Filmstudio angetreten hatte, das gerade viele seiner Produzenten vor die Tür gesetzt hatte. Und jede Quelle sprach davon, dass Caroline Bassett selbst nach den Maßstäben von Hollywood ausgesprochen ehrgeizig war.
Alex’ Blick blieb schließlich an einer Frau hängen, die an einem Ecktisch saß. Sie war elegant gekleidet, hatte eine offensichtlich künstliche Bräune und sah aus, als würde sie sich ausschließlich von Luft ernähren.
Sie hat gewartet? Das war … überraschend.
Der teure Anzug stand Caroline Bassett gut. Zusammen mit dem perfekt frisierten, blonden Haar ließ er sie wie eine Hommage an konservative Nachrichtensprecherinnen mit ihren von Haarspray verklebten Frisuren wirken. Sie saß auf einem weiß getünchten Holzstuhl, in der einen Hand einen Cocktail, in der anderen ein iPhone.
Alex verlangsamte ihren eiligen Schritt. Mit den Händen strich sie über ihre schwarze Hose, als könnte sie damit den ersten Eindruck wegwischen, den ihre hoffnungslose und unprofessionelle Verspätung hinterlassen musste.
Ms. Bassett sah auf und ihre Lippen formten ein Lächeln, das so falsch war, als wäre es aufgemalt. Sie legte ihr iPhone auf der weißen Tischdecke ab.
»Alexandra.« Sie erhob sich und küsste die Luft neben Alex’ Wangen.
»Ms. Bassett, guten Tag.«
»Bitte, nennen Sie mich Caroline. Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen.«
Ist es das? Alex konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand von einem großen Studio ehrlich begeistert wäre, einen Termin mit einer relativ unbekannten Regisseurin wie ihr zu haben. »Es tut mir so leid, dass ich zu spät bin. Mein Auto –«
»Schon gut.« Caroline winkte ab. »Meine Zeit ist allerdings knapp bemessen. Ich fürchte, wir werden die Formalitäten überspringen müssen.« Sie hielt inne und sah zu den Personen am gegenüberliegenden Ecktisch. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass Cade und Byron ein Paar sind.« Sie klang fröhlich empört.
Alex drehte sich um und folgte ihrem Blick. Die besagten B-Promis küssten sich gerade stürmisch. »Oh …«
»Haben Sie unser Drehbuch erhalten?«, fragte Caroline, ihr Ton war scharf und ihr Blick plötzlich vollkommen auf Alex fokussiert. »Shezan – Herrin des Waldes«? Sie betonte das Wort »Herrin« dabei, als würde sie über einen Erotik-Thriller sprechen und nicht über einen geschmacklosen, zweitklassigen Streifen mit Hinterhof-Atmosphäre.
»Das habe ich. Ich muss gestehen, dass ich sehr überrascht war, Ihre Nachricht zu erhalten.« Alex hatte keine Ahnung, was genau an ihrem Portfolio aus liberalen, philosophischen Indie-Filmen irgendjemanden aus Hollywood auf die Idee hatte bringen können, dass sie die geeignete Regisseurin für dieses Projekt war.
Alex hatte noch nie ein schlechteres Drehbuch gesehen. Das lag nicht nur an der schmierigen männlichen Hauptfigur, der sinnlosen Gewalt oder den stumpfsinnigen Dialogen. Auch nicht daran, dass es vor dunkelhäutigen Amazonen im Lendenschurz nur so wimmelte, was dem Ganzen als reizenden Bonus noch einen rassistischen Beigeschmack verpasste. Das größte Problem hatte sie mit dem Ende. Der reuelose, abscheuliche Wilderer sollte mit der süßen Nymphe, die die Tiere des Waldes beschützt, gen Sonnenuntergang reiten?
Was. Zur. Hölle? Wie wurde dieser Film überhaupt finanziert? Und warum von einem so bedeutenden Studio?
Eine Kellnerin, Mitte zwanzig mit üppiger Oberweite, die den obersten Knopf ihrer Bluse gefährlich spannte, unterbrach sie. Auf ihrem Namensschild stand »Desire«, was darauf hindeutete, dass sie eine weitere arbeitsuchende Schauspielerin war. Es sei denn, das Restaurant hatte den Namen »Desiree« falsch geschrieben.
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen?« Desires Augen hafteten auf Alex, als wäre sie das schmackhafteste Häppchen auf der Speisekarte. »Oder etwas zu essen?« Sie deutete auf die Karte, die vor Alex auf dem Tisch lag.
Alex warf einen Blick auf die Liste an exotischen Gerichten, inklusive roher Rüben für achtzehn Dollar und Vorspeisen aus Tofu mit unaussprechlichen Beilagen.
Caroline verzog das Gesicht.
Oh, richtig. Hatte sie nicht gesagt, sie hätte es eilig? »Kein Essen, danke.«
Carolines Gesicht entspannte sich wieder.
»Haben Sie äthiopischen Orgánico-Kaffee?«, fragte Alex.
Desire strahlte sie an. »Wir haben siebenundvierzig Kaffeesorten, darunter auch diese.«
»Gut. Dann nehme ich eine Tasse. Schwarz, bitte.«
Der Blick der Kellnerin verweilte einen Moment zu lang auf Alex, bevor sie sich Caroline zuwandte. »Für Sie noch etwas, Ma’am?«
Caroline winkte wortlos ab.
Die Kellnerin nickte und verschwand.
Ein Schmunzeln umspielte Carolines Lippen. »Sie haben da einen Fan.«
»Oder sie hat ein Drehbuch, das ich lesen soll. Und einen festen Freund.«
»Zweifelsohne.« Carolines Lächeln erreichte diesmal sogar ihre Augen. »Ich dachte, dass Engländer nur Tee trinken?«
»Ich bin jetzt seit fünfzehn Jahren in Los Angeles. Ich habe mich angepasst.« Alex räusperte sich. »Genau wie Sie. Von TV-Soaps zu einem großen Filmstudio in nur fünf Jahren. Beeindruckend.«
»Ja«, stimmte Caroline zu. Ihr Lächeln wurde haifischartig und zeigte ihre Zähne. »Das bin ich.«
Alex musste über diesen Mangel an Bescheidenheit fast laut lachen. »Also, zurück zu Shezan … Meine erste Frage ist: warum ich?«
»Wir haben Ihre Arbeiten gesehen. Einfach wundervoll.« Carolines Miene wurde wieder so unecht freundlich wie zuvor. »Besonders dieser Klimawandel-Film. Mutig. Einfach brillant, Liebes. Hohe Kunst! Sie haben ganz schön für Aufsehen gesorgt.«
Kunst? Sicher doch. Sollten falsche Schmeicheleien nicht etwas subtiler sein?
Desire servierte den Kaffee verführerisch lächelnd, bevor sie mit einem koketten Hüftschwung wieder verschwand.
Eindeutig eine Schauspielerin.
Alex griff nach ihrer Tasse. »Verhandeln Sie noch mit anderen Regisseuren, oder nur mit mir?« Sie würgte einen Schluck des heißen Gebräus hinunter und wünschte, sie könnte sich davon überzeugen, den leicht angebrannten, bitteren Geschmack zu mögen. Sie hatte gelesen, dass der Export dieser Kaffeebohnen einem ganzen Dorf in Äthiopien aus der Armut herausgeholfen hatte. Deshalb weigerte sie sich aus Prinzip, diesen Kaffee zu hassen.
»Sie sind unsere erste Wahl.« Carolines Worte hätten wahrscheinlich bedeutend glaubhafter geklungen, wenn ihr Blick nicht die ganze Zeit unruhig durch den Raum gewandert wäre.
Sicher bin ich das. Alex fragte sich, wie viele andere dieses Angebot vor ihr abgelehnt hatten. Die Variety, für gewöhnlich die unparteiische Bibel der Branche, hatte Shezan – Herrin des Waldes schon aufgrund der ersten Presseankündigungen als den »schlechtesten Film aller Zeiten« bezeichnet. Und hilfreicherweise wurden in dem Artikel auch die vielen Regisseure und Drehbuchschreiber aufgelistet, die zunächst daran gearbeitet hatten und dann doch vom Set geflüchtet waren. Niemand bei klarem Verstand würde diesen Mist jetzt noch anrühren.
Alex war nur wegen des kostenlosen Mittagessens und des Networkings hier. Und bekam jetzt nicht einmal das Mittagessen. Aber es wäre kein kluger Schachzug gewesen, einem so bedeutenden Studio noch vor einem Treffen abzusagen. Sie hörte nur halb zu, als Caroline begann, ein Loblied auf Shezan zu singen.
Die Produzentin brachte sorgfältig platzierte Schlüsselwörter in ihrer Rede unter, wobei jedes mit einem Haken versehen war. Autonomie, aber in angemessenem Rahmen. Drehbuchumschreibungen erlaubt, aber nur nach Absprache mit dem Studio. Die Sets waren bereits gebaut und bereit zum Dreh, unter Verwendung der Visionen der vorherigen Regisseure. Und sie würde ein Mitspracherecht bei den Ausgaben bekommen, solange sie sich an das begrenzte Budget hielt.
»Wie begrenzt?«, fragte Alex neugierig.
Caroline murmelte eine Zahl, bevor sie sich einen Schluck ihres neonfarbenen Cocktails genehmigte.
Sicherlich hatte Alex sich verhört. »Ernsthaft?«
»Sie müssen verstehen, es ist keines unserer top-gelisteten Projekte.« Caroline tupfte ihre Lippen mit einer Papierserviette ab. Der Abdruck, den sie hinterließen, war rot wie Blut. »Sie würden natürlich trotzdem großzügig bezahlt werden. Aber aufgrund der Situation, dass die kreativen Köpfe, die dem Projekt vorher verschrieben waren, uns so unerwartet verlassen mussten … Na ja, wir haben bereits eine beträchtliche Summe in die Produktion gesteckt, die wir nicht mehr zurückbekommen werden.«
»Warum sind die anderen Beteiligten gegangen?«
»Das hat verschiedene Gründe.« Caroline zuckte mit den Schultern. »Wen interessiert das? Sie sind weg, und wir wollen Sie. Wir brauchen jemanden, der talentiert ist. Eine Person mit Engagement, die mit einem knappen Budget etwas Großartiges vollbringen kann. Jemand, dem es nichts ausmacht, an einem entfernten Ort wie Neuseeland zu drehen. Darum haben wir nach einem erfahrenen Indie-Regisseur gesucht.«
Es war offensichtlich, dass Caroline ihr nur Honig um den Mund schmieren wollte. »Es gibt viele Indie-Regisseure.«
»Ja, aber wir brauchen jemanden wie Sie, die ein frauenorientiertes Projekt mit Leben füllen kann.« Caroline sah aus, als würde sie darüber nachdenken, ob sie eine geballte Faust als Zeichen feministischer Solidarität in die Höhe strecken sollte, um ihr Argument besser zu verkaufen. »Und wir brauchen jemanden, der nicht nur den Film, sondern auch das kleine Imageproblem bewältigen kann, das Shezan im Moment hat.« Caroline rührte mit dem Strohhalm in ihrem Cocktail.
Kleines Imageproblem? Der »schlechteste Film aller Zeiten« hatte ganz sicher mehr als nur ein kleines Imageproblem.
»Ich will ganz ehrlich sein: Wir brauchen Ihr Talent und Ihr Auge fürs Detail. Sie sind die perfekte Person für uns.« Nackter Ehrgeiz brannte in Carolines Blick.
Obwohl Alex schon seit Jahren in L.A. war, hatte sie sich nie an diesen Anblick gewöhnt. Es war beunruhigend, wie ungeniert die Leute hier zeigten, dass sie nach ganz oben wollten. Alex hoffte, dass Caroline bei ihrem Aufstieg der Sonne nicht zu nahekam.
»Gemeinsam können wir das Unmögliche erreichen«, schloss Caroline und strich mit ihren kühlen, spindeldürren Fingern über Alex’ Hand. »Und ich will diesen Deal.« Ihr Haifischgrinsen blitzte erneut auf. »Sehr sogar.«
Alex nahm einen weiteren Schluck Kaffee und überlegte, wie ehrlich sie antworten sollte. Ehrlichkeit wurde in L.A. definitiv nicht sehr geschätzt. »Ich glaube Ihnen«, sagte sie schließlich. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie diesen Deal so sehr wollen, weil Sie neu in diesem Studio sind? Weil Sie ein paar schnelle Erfolge brauchen? Weil die Rettung des »schlechtesten Films aller Zeiten« vielleicht Ihr Durchbruch sein könnte? Das ist ein ehrgeiziges Unterfangen«, sagte Alex. »Und ich bin neugierig … War es als einzige weibliche Führungskraft des Studios auch Ihre Idee, eine lesbische, feministische Regisseurin mit ins Boot zu holen?«
»Hm.« Carolines Gesichtsausdruck verhärtete sich, aber ihre Lippen zuckten, als hätte sie Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken. »Wissen Sie, Alexandra, ich mag Sie. Sie sind clever. Clevere Frauen können es in dieser Stadt weit bringen. Natürlich bringen sie es noch viel weiter, wenn sie nicht offen zeigen, wie clever sie sind.«
»Ah. Habe ich gerade die vierte Wand durchbrochen, weil ich auf Ihr Spiel im Spiel hingewiesen habe?« Alex lächelte unwillkürlich.
Caroline lachte und hob eine makellose Augenbraue. »Ich sehe, Sie haben sich Ihre britische Art doch bewahrt.« Ihr Lachen war gezielt eingesetzt. »Sie kommen lieber gleich zum Punkt? Na gut: Also, wollen wir die Sache gemeinsam angehen? Wollen Sie auch einen ›schnellen Erfolg‹? Einen, den die Welt wahrnehmen wird? Großes Risiko, aber ein ebenso großer Gewinn möglich.«
Das Risiko war viel zu groß. Auch wenn Alex gerade ohne Projekt war und niemand aus der Indie-Filmszene ihr in letzter Zeit ein aufregendes Drehbuch geschickt hatte: Ihr Ruf war alles, was sie hatte. Nichts von dem, was sie heute gehört hatte, hatte sie davon überzeugen können, ihren guten Namen dafür aufs Spiel zu setzen. Trotz all der Erfahrung, die sie bei der Zusammenarbeit mit einem Hollywood-Studio sammeln könnte, mit diesem Film in Verbindung gebracht zu werden bedeutete augenblicklichen Rufmord.
Es gab keine nette Art und Weise, das auszusprechen. »Hören Sie, Caroline, ich weiß das Angebot sehr zu schätzen und auch, dass Sie an mich gedacht haben. Aber ich glaube nicht –«
Carolines Telefon klingelte schrill. Sie warf einen Blick auf den Bildschirm und erhob sich. »Entschuldigen Sie mich, ich muss diesen Anruf annehmen.« Sie ging, ohne auf eine Antwort zu warten, zur nahe gelegenen Theke.
Alex sah sich um. Die Gäste an den benachbarten Tischen waren zweifelsohne ausschließlich hier, um Geschäftsbeziehungen zu knüpfen und in Hollywood Karriere zu machen. Sie griff nach ihrem eigenen Handy und öffnete ihre E-Mails.
Eine neue Nachricht ihrer Ex-Freundin vermieste ihr augenblicklich die Laune. Sie las die E-Mail und ihr drehte sich der Magen um.
Verdammte …
Sie wählte die Nummer, die sie auswendig kannte. »Bettina!«
»Alex?« Die klare professionelle Stimme der Steuerberaterin hatte sie einst dahinschmelzen lassen. Diese Zeiten waren lange vorbei.
»Du … ich …« Alex fehlten für einen Moment die Worte. »Du hast doch immer behauptet, meine Finanzen seien ›fabelhaft‹. Und dass du alles für mich geregelt hast!«
»Was ist los?«, fragte Bettina mit ruhiger Stimme. »Atme erst mal tief durch und sag mir, was das Problem ist.«
Atmen? Ich geb dir gleich »atmen«!,dachte Alex zornig. »Du hast mir eine Forderung vom Finanzamt über 45.000 Dollar weitergeleitet!«
»Ach, das. Ja. Offenbar hat die Finanzbehörde ein paar Paragrafen im Steuergesetz geändert und das war mir vorher nicht bewusst.«
»Was? Ist das nicht dein Job?«
»Nicht ganz«, sagte Bettina in abschätzigem Tonfall. »Einige Richtlinien für individuelle Absetzungen im Zusammenhang mit unabhängigen Filmgesellschaften wie deiner wurden verschärft. Bestimmte Abschreibungen sind außerdem in eine neue Kategorie verschoben worden – und die Kriterien dafür erfüllst du nicht. Niemand hätte das vorhersehen können.«
»Vorhersehen? Bettina, es geht um 45.000 Dollar! So viel Geld habe ich nicht einfach herumliegen.«
»Kein Grund, hysterisch zu werden.«
»Hysterisch?«
»Außerdem ist dein Glas noch halb voll. Es hätte viel mehr sein können, wenn ich nicht noch ein paar Schlupflöcher für deine Ausgaben gefunden hätte. Einige meiner anderen Filmkunden hat es viel schlimmer getroffen.«
»Das ist so verdammt typisch. Weißt du überhaupt, was du tust?«
»Wenn das hier nur in Beleidigungen ausartet, lege ich auf. Darf ich dich daran erinnern, dass ich deine Steuern umsonst gemacht habe? Ich denke, jetzt, da wir nicht mehr zusammen sind, schicke ich dir die Rechnung.«
»Die ich zusammen mit deiner Telefonnummer schreddern werde.«
»Ach, wiedramatisch. Du arbeitest offensichtlich in der richtigen Branche. Und ich muss mir deine Beleidigungen nicht gefallen lassen.« Die Verbindung brach ab.
Alex legte ihr Handy zurück auf den Tisch und starrte es finster an. Sie ging im Kopf ihre Möglichkeiten durch. Sie besaß nichts, was sie zu Geld machen konnte. Angesichts ihres nomadischen Lebensstils hatte Alex keinen Sinn darin gesehen, teuren Besitz anzuhäufen. Sie wohnte zur Miete. Ihre Bankkonten waren nicht gerade prall gefüllt. Auch wenn die Filme ihrer kleinen Produktionsfirma mittlerweile etwas mehr einbrachten, als sie gekostet hatten, wurden die Gewinne immer gleich in ihr nächstes Projekt investiert. Ihre Eltern kamen in London mit ihrer Rente selbst gerade so hin. Abgesehen davon, dass Alex sie oder irgendjemand anderen, den sie kannte, nie um Geld bitten würde.
In diesem Moment sah sie nur eine einzige Möglichkeit: Sie war gezwungen, einen Film zu drehen, der so unter ihrer Würde lag, dass ihr Ego und ihr Ruf sich davon vielleicht nie wieder erholen würden. O Gott.
So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Sie war mit dem Traum nach Hollywood gekommen, Filme zu drehen, die etwas bedeuteten. Was war die Botschaft von Shezan? Wie man halb nackte Frauen durch Ausdruckstanz demütigen konnte? Wie man auch heute noch mit unbewegter Miene Sätze sagte wie »Horch, Waldherrin, hüte dich vor dem Feuerstab des weißen Mannes«? Oder war der Film einfach eine wohlüberlegte Metapher dafür, dass weiße, machtvolle Männer immer gewinnen und es die Mühe daher gar nicht wert war, das System zu bekämpfen?
Alex rieb sich mit der Hand über die Stirn.
Aber was, wenn … sie das Unmögliche schaffen würde? Was, wenn Caroline recht hatte? Großes Risiko, aber ein ebenso großer Gewinn. Zumindest wenn sie damit Erfolg hatte.
Der Hauch einer Herausforderung regte sich in ihrem Innern. Was, wenn sie das schlechteste Drehbuch Hollywoods in einen herausragenden Film verwandeln konnte? Was würde das für ihren Ruf bedeuten? Dieses Projekt könnte das Aus, oder aber der Durchbruch ihrer Karriere sein. Außerdem war sie noch nie in Neuseeland gewesen. Vielleicht wäre es also ganz nett, etwas Neues zu versuchen.
Und hatte Caroline in ihrer E-Mail nicht geschrieben, dass Chloe Martin die Hauptdarstellerin des Films war? Wie es die bizarren Zufälle des Lebens so wollten, waren Alex’ beste Freundin Bess und Chloes beste Freundin Summer ein Paar. Alex hatte Shezans Star also schon hin und wieder getroffen.
Die Neuseeländerin war sympathisch, gelassen, amüsant und hatte einen trockenen Sinn für Humor. Das war schon mal eine Erleichterung. Auf Diven konnte Alex leicht verzichten – vor allem angesichts des Albtraums, den sie bei einem so minderwertigen Drehbuch sowieso schon vor sich hatte. Ein Drehbuch, das sie drastisch würde verbessern müssen, wenn sie das Projekt übernahm.
Also … eigentlich würde sie ihren Freundinnen einen Gefallen tun, wenn sie das Angebot annahm, oder nicht? Chloes Rolle könnte massiv aufgewertet werden, ganz zu schweigen von den armen Amazonen. Zum Teufel, Alex würde der gesamten Menschheit praktisch einen Dienst erweisen.
O Mann. Was redete sie sich da ein? Alex tippte mit einem Finger gegen ihre Tasse … Vielleicht könnte sie eine Liste erstellen. Es half ihr immer, mit Listen zu arbeiten. Sie begann, auf eine Serviette zu kritzeln.
Kontra:
Wenn ich es nicht schaffe, ist das mein Ende. Jeder würde es mitbekommen. Ganz Hollywood schaut zu. Und ich bekomme danach vielleicht keine zweite Chance.
Pro:
Chloe ist cool – kein Diven-Drama.
Wenn ich Erfolg habe, wird man mich als Genie bezeichnen.
Steuerschuld bezahlen … selbst, wenn der Film floppt.
Amazonen! (Nein, streich das. Du bist keine fünfzehn mehr.)
Beim letzten Punkt rollte Alex die Augen. Aber er erinnerte sie an etwas. Sie griff wieder nach ihrem Handy, um nachzusehen, wer die Kostüme für Shezan machte. Wen musste sie bestechen, um eine etwas weniger lüsterne Variante auf die Leinwand zu bekommen? Als sie den Namen las, musste sie zweimal hinschauen.
Erst kürzlich hatte das Studio Skye Storm an Bord holen können – die brillante Kostümbildnerin, mit der Alex bei einem ihrer ersten Filme, Göttliches Blut, zusammengearbeitet hatte. Nie zuvor war ihr eine begabtere, liebenswürdigere und auch exzentrischere Seele begegnet. Es war seltsam, dass Skye bei Shezan mitmachte, da sie sich mittlerweile ihre Projekte aussuchen konnte.
Aber dass Chloe und Skye an diesem Projekt beteiligt sein würden, beruhigte Alex etwas. Wenn bereits zwei so kreative, nicht dem Mainstream verfallene Köpfe involviert waren, konnten sie vielleicht tatsächlich etwas Originelles schaffen.
Alex schrieb Skyes Namen auf die Pro-Seite ihrer Liste. Dann betrachtete sie das Ergebnis für einen Moment.
Denke ich ernsthaft darüber nach, zuzusagen?
Caroline setzte sich wieder zu ihr und sah angemessen reumütig aus. »Entschuldigen Sie bitte. Studio-Bosse sind wie Kleinkinder. Sie wollen immer sofort deine gesamte Aufmerksamkeit.« Sie neigte ihren Kopf. »Also, Sie wollten gerade sagen, dass dieser Film nicht das Richtige für Sie ist?«
Alex schüttelte den Kopf. »Ich wollte eigentlich sagen, dass ich nicht glaube, dass ich mir eine passendere Herausforderung vorstellen kann als Shezan.« Sie lächelte. »Ich bin dabei. Keine Zweifel.«
Carolines Blick fiel auf die Serviette, auf die Alex ihre Liste gekritzelt hatte, und ihre Lippen zuckten.
»Nun ja, jetzt habe ich zumindest keine Zweifel mehr«, korrigierte sich Alex mit einem Grinsen.
»Ausgezeichnet.« Caroline gab der Kellnerin zu verstehen, dass sie die Rechnung haben wollte. Sie sah das Gespräch eindeutig als erfolgreich beendet an. »Ich lasse Ihnen innerhalb der nächsten Stunde den Vertrag schicken. Sie müssen so schnell wie möglich nach Neuseeland fliegen. Shezans Executive Producer, Quincy Blackman, ist schon seit einigen Monaten dort. Er wird da unten verrückt ohne einen neuen Regisseur, der die Dinge vorantreibt. Seien Sie ein Schatz und skypen Sie ihn an, um ihm die gute Nachricht zu überbringen und ihn von seinem Elend zu erlösen. Ich schicke Ihnen seine Kontaktdaten.« Caroline nahm die Rechnung entgegen und erhob sich. »Willkommen an Bord. Das Studio wird sich freuen.«
Alex nickte mit einem flauen Gefühl im Magen. Ihr Schicksal war besiegelt. Dann besann sie sich wieder auf ihre guten Manieren. Sie bedankte sich bei Caroline für die Tasse geschmacklich schlechten, aber moralisch guten Kaffees. Wie betäubt beobachtete sie Caroline, die zum Bezahlen an die Bar schritt. Es gab keinen Weg zurück mehr.
Ihr Handy erinnerte sie mit einem Piepen an ihren nächsten Termin. Schon so spät?
Die Zeit verfliegt, wenn man seine Seele verkauft.
~ ~ ~
Am nächsten Morgen war Alex unverschämt früh auf und gerade dabei, ihre Sachen in einen Koffer zu werfen, als ihr Handy klingelte. Sie wusste, ohne hinzusehen, wer am anderen Ende war. Elizabeth »Bess« Thornton – Alex’ beste Freundin, Britin und Amerikas ehemals meistgehasster Fernseh-Bösewicht – war die Einzige, die es wagte, zu dieser Tageszeit anzurufen. Bess liebte Multitasking am Morgen.
»Hallo, Bess.« Alex warf ihre robusten, braunen Stiefel in die Tasche. »Das ist sogar für dich eine unchristliche Uhrzeit.«
»Habe ich dich etwa geweckt? Das tut mir schrecklich leid.« Bess’ Stimme ertönte zwischen scharfen Atemzügen durch das Telefon. Im Hintergrund waren rhythmische Schritte auf einem Laufband zu hören.
»Diesmal nicht.« Alex hielt zwei Jacken vor sich. Die Dickere der beiden beförderte sie zu den Stiefeln in die Tasche. »Wo brennt es denn? Es ist nicht mal sechs Uhr.«
»Ich habe die Neuigkeiten von Skye gehört.«
Jetzt schon? Alex hätte es eigentlich wissen müssen. »Natürlich hast du es schon gehört.« Skye Storm war nicht nur eine exzellente Kostümdesignerin, sondern auch die Netzwerkkönigin von L.A. Eine der Nebenwirkungen der Beziehung zwischen Bess und Skyes Tochter Summer war es, dass Bess jetzt den ganzen Branchentratsch immer als Erste erfuhr.
»Und du hast nicht einmal darüber nachgedacht, zuerst mit mir zu reden?«, fragte Bess. »Warum nicht? Wir sind doch Freundinnen?«
»Langsam, Liebes. Ich habe den Vertrag doch erst gestern Abend unterschrieben!«
»Vertrag?« Das rhythmische Laufen hörte abrupt auf. »Alex? Drehst du etwa einen neuen Film?«
»Warte, rufst du nicht wegen Shezan an?«
Das erschrockene Geräusch bei der Erwähnung dieses Namens war wahrscheinlich kein gutes Zeichen. »Nein! Ich rufe an, weil Skye erzählt hat, dass viele Leute aus der Branche wütend auf Bettina sind, weil sie ihre Steuern vermasselt hat. Da habe ich angenommen, dass du auch betroffen bist. Was hat das mit Shezan zu bedeuten? Ist das nicht dieses fürchterliche Tarzan-Sheena-Plagiat, das alle zerreißen? Das Ding, in dem Chloe die Hauptrolle spielt?«
Alex zuckte zusammen. »Na ja, man könnte es auch als ›Neuinterpretation‹ betrachten.«
»Oh, ja, sie interpretieren die Ideen eines anderen Menschen neu und machen es viel schlimmer.«
»So schlimm ist es nicht.«
»Nicht so schlimm …« Bess atmete tief ein. »Du behauptest also, dass es nicht nur um hübsche Mädchen geht, die in Lederbikinis herumhüpfen?«
»Eigentlich sind es keine Bikinis. Es sind eher knappe, dünne Leder-Lendenschürze …«
»Und bei so was hast du unterschrieben? Wirklich?«
»Was soll ich dazu sagen?« Scheiße. Alex seufzte. »Ja?«
Ein tiefer Atemzug war die Antwort. Dann vernichtendes Schweigen. Und schließlich: »Mein Gott, Alex, wieso?«
»Es ist eine Herausforderung.« Sie hoffte, dass sie in Bess’ Ohren überzeugender klang als in ihren eigenen. »Ich will herausfinden, ob ich einen Film, den alle schon abgeschrieben haben, in etwas Sehenswertes verwandeln kann. Wenn mir das gelingt, wird jeder darüber sprechen. Außerdem mache ich das ja nicht im Alleingang. Skye wird die Amazonenkostüme in beeindruckende, würdevolle Symbole verwandeln. Und es könnte sogar Spaß machen, eine etwas andere Art Film auszuprobieren.« Das klang doch plausibel, oder?
»Alexandra, du drehst Indie-Meisterwerke über intensive, emotionale Erfahrungen unter Verwendung esoterischer Gesellschaftsmetaphern. Spaß ist es nicht, was dich inspiriert.«
Das Gute und das Schlechte an besten Freundinnen war, dass sie einen so gut kannten. »Okay! Das ist nicht der einzige Grund, warum ich das mache.«
»Also hat Bettina doch deine Finanzen vermasselt?«
»Ja. Und jetzt habe ich eine Steuernachzahlung am Hals, die nur Shezan retten kann.«
»Aber deshalb habe ich angerufen. Warum bist du nicht zu mir gekommen?« Bess klang verletzt.
Damals, als sie zusammen gewesen waren, hatte Bess auch manchmal diesen bestimmten Tonfall angestimmt, wenn sie Alex unterschwellig finanzielle Hilfe anbieten wollte.
Alex’ Bauchgefühl sagte ihr das Gleiche wie damals. »Sieh mal, du bist meine beste Freundin. Und genau deshalb bin ich nicht zu dir gekommen.« Alex wollte, dass Bess ihre Abneigung gegenüber Almosen verstand. »Geldangelegenheiten sind kompliziert und sie schaffen eine unschöne Dynamik. Menschen verhalten sich anders, wenn es um Geld geht. Ich will so was nicht zwischen uns.«
»Das muss nicht sein. Geld ist einfach …« Bess schien nach der richtigen Wortwahl zu suchen. »…ein Werkzeug, das Probleme verschwinden lassen kann. Und ich habe mehr als genug davon. Ich würde dir gern helfen, wenn du mich nur lässt.«
»Nein, Bess. Es ist nicht so, dass ich dein Angebot nicht zu schätzen weiß, aber es wäre seltsam. Für mich. Ich würde jedes Mal daran denken, dass ich dir etwas schuldig bin, wenn ich dich sehe. Auch wenn es nur ein Darlehen ist, ich müsste trotzdem immer wieder daran denken. Das will ich nicht. Ich liebe unsere Freundschaft so, wie sie ist – auf Augenhöhe. Ich würde lieber hundert Filme wie Shezan drehen, bevor ich auch nur einen Cent von dir annehme.«
»Ich wünschte wirklich, du würdest mich helfen lassen.« Bess seufzte. »Aber ich verstehe dich.«
»Danke. Und es ist besser so, vertrau mir. Außerdem, wenn mein wagemutiger Plan aufgeht und ich aus diesem Müll am Ende etwas Gutes mache, könnte es sogar die beste Entscheidung meines Lebens gewesen sein.« Alex bemühte sich, besonders selbstbewusst zu klingen.
»In Ordnung. Wenn du dir wirklich sicher bist?«
Sicher? Nicht mal annähernd. »Ja. Absolut. Aber danke für dein Angebot, Liebes.«
»Okay.« Bess klang besänftigt. »Falls du deine Meinung änderst, brauchst du nur Bescheid zu sagen.«
»Ich weiß. Aber es wird schon werden. Ein einziger Film und alle meine Probleme sind gelöst.« Wie einfach das klang. Dabei war das Leben nie so einfach.
»Na schön. Behalte Chloe und Skye da draußen in der Wildnis im Auge. Du weißt, wie nahe sich die beiden Chaoten stehen.«
»O Mann.« Alex lachte bei der Vorstellung, dass sie zusammen für Aufruhr sorgen würden. Skye hatte Chloe praktisch adoptiert und sie bereits für allerlei Trubel eingespannt. »Wahrscheinlich komme ich ergraut und um zwanzig Jahre gealtert nach L.A. zurück.« Alex fuhr sich mit der Hand durch ihre kurzen, roten Haare.
»Wenn jemand damit gut aussehen könnte, dann du.« Bess’ Stimme klang liebevoll. »Ich lasse dich jetzt in Ruhe.« Sie verabschiedeten sich.
Es war schön, zu wissen, dass Bess an sie glaubte. Sie hatte keine Zweifel daran, dass Alex es schaffen würde, diesen unmöglichen Plan in die Tat umzusetzen. Wenn Alex selbst nur genauso davon überzeugt wäre.
Kapitel 2
Verloren am Ende der Welt
Dreizehn anstrengende Stunden war Alex in einem Flugzeug eingepfercht gewesen, dessen Unterhaltungsprogramm nur aus zuckersüßen Familienfilmen bestand. Und gleich darauf durfte sie einige Stunden hinter dem Steuer eines Mietwagens verbringen. Keine idealen Voraussetzungen, wenn man bedachte, dass sie eine unsichere Fahrerin war – vor allem auf fremden Straßen. Wenigstens gab es in Neuseeland nicht so viele Menschen, die sie gefährden konnte.
Wird schon schiefgehen.
Am Wegesrand sah sie dicke Gräser, riesige, zackige Farne und massive, hoch aufragende Bäume mit moosbedeckten Stämmen vorbeiziehen. Die Vegetation umschloss die Straße so dicht, dass sie wie ein leuchtend grüner Tunnel wirkte. Nur kurviger, als es erlaubt sein sollte.
Und es war kalt. Alex hatte nicht damit gerechnet, dass Neuseelands überraschend eisiges Klima durch ihre Jacke und ihr Flanell-Hemd dringen könnte. Es fühlte sich an, als läge eine kalte Hand flach auf ihrem Brustkorb. Sie fror trotz eingeschalteter Heizung. Nicht zum ersten Mal überlegte sie, ob sie den Umweg zur nächstgelegenen Stadt in Kauf nehmen sollte, um sich Thermokleidung zu besorgen. Wenn sie nur den Hauch einer Ahnung hätte, wo die nächstgelegene Stadt war. Leider war sie gerade ein wenig desorientiert. Um ehrlich zu sein, sie hatte sich komplett verfahren.
Irgendwo auf dem Weg vom Auckland International Airport war sie falsch abgebogen. Sie hatte es schon nach zwei Minuten aufgegeben, das verwirrende GPS verstehen zu wollen, und lieber beim Tanken nach dem Weg gefragt. Man hatte ihr gesagt, sie solle einfach an der Kreuzung nahe der Molkerei rechts abzubiegen.
Mysteriöserweise war sie nie an einer Molkerei vorbeigekommen. Das einzige Geschäft, das sie auf der ganzen Strecke gesehen hatte, war ein winziger Lebensmittelladen. Mit der Landkarte im Handschuhfach hatte sie es schließlich bis hierher geschafft, aber jetzt wusste sie nicht mehr weiter.
Alex schaute sich noch einmal um, sicher, dass sie all das schon einmal gesehen hatte. Die Wegweiser sahen verdächtig nach denen aus, die sie bereits vor einer halben Stunde passiert hatte. Wie konnte das sein? Alex war ein Fan von Logik. Listen und Problemlösungsstrategien waren ihre Spezialität. Normalerweise.
Ihr Blick fiel auf einen riesigen, knorrigen Baum, der unheilvoll in den Himmel ragte. Okay, diesen Baum erkannte sie definitiv wieder. Verdammt! Sie war im Kreis gefahren.
An jedem anderen Tag würde Alex das nicht so viel ausmachen und sie würde einfach die wunderschöne Landschaft bewundern. Aber ein Filmset wartete auf sie. Irgendwo im Nirgendwo. Auf dem angemieteten Ackerland eines Farmers am Rande des kleinen Dorfes Ika Whenu, in der Nähe der nur unwesentlich größeren Stadt Te Aroha. Das war ihr Ziel. Falls sie jemals aus dem Mangatarata-Wald herausfinden würde. Und es sah aus, als wäre es ein großes Falls. Sie würde anhalten und noch mal auf die Karte schauen müssen.
Alex erinnerte sich daran, dass es in etwa einer Meile eine kleine Einbuchtung gab. Dort könnte sie anhalten, um sich neu zu orientieren und –
Oh, Scheiße. Da! Genau da! Alex stieg auf die Bremse. Sie war geradewegs an der Haltebucht vorbeigefahren.
Fluchend legte sie den Rückwärtsgang ein und rangierte hinein. Dann schaltete sie den Motor ab und atmete tief durch. Als sie sich umschaute, bemerkte sie, dass es sich eigentlich nicht um eine Einbuchtung handelte, sondern um die Abzweigung zu einem kleinen Pfad, der in den dichteren Wald hineinführte.
Plötzlich erklang lautes Geräusch und etwas Schwarzes schoss aus dem Gestrüpp hervor. Ein Motorrad hielt direkt auf die Seite ihres Autos zu.
Nein! Alex riss die Augen auf. Ihre Hände umklammerten das Lenkrad. Eine halbe Sekunde vielleicht, keine Zeit, einen Zusammenstoß zu verhindern.
Sie zog die Schultern hoch und bereitete sich auf den Aufprall vor.
Im letzten Moment wich das Motorrad scharf aus. Der Fahrer riss es in die Seitenlage und verfehlte knapp die Motorhaube ihres Autos. Die Maschine rutschte durch Dreck und Gestrüpp, bis sie mit einem lauten Schleifen von Metall auf Asphalt mitten auf der Straße liegen blieb.
Ach du Scheiße!
Alex riss ihre Tür auf und rannte auf die in schwarzes Leder gekleidete Person zu, die unter dem Motorrad eingeklemmt lag. »Es tut mir so leid!«, rief sie. »Ich wusste nicht, dass das hier eine richtige Straße ist.« Was für eine blöde Ausrede.
»Jetzt weißt du es.« Die Stimme war tief, klang verärgert, aber eindeutig weiblich. Die Antwort deutete auf Unmut und Schmerz hin. »Das hier ist die Forestry Road, von der aus Wege für Motorräder durch den Maramarua-Wald führen.« Sie sah an Alex vorbei zum Auto. »Du hast die Ausfahrt blockiert, durch die man wieder auf die Hauptstraße gelangt.«
»Entschuldigung, ich kenne mich hier nicht aus.« Alex musterte das liegende Motorrad und seine Fahrerin. »Bist du verletzt?«
»Das weiß ich, sobald ich wieder aufrecht stehe.« Die Frau versuchte, sich unter dem Motorrad herauszuwinden. Ihr Gesicht verzerrte sich unter dem offenen, schwarzen Retro-Helm und sie keuchte leise. »Mein Bein klemmt fest. Kannst du die Maschine vorn etwas anheben, während ich …« Sie hielt mitten im Satz inne und sah Alex zum ersten Mal richtig an. »Ach, vergiss es.«
»Was?«
»Du bist so groß wie ein Spatz. Die Maschine würde dich wahrscheinlich erschlagen. So wie mich gerade fast.«
Alex sah an sich hinab. Ihre dünne, schwarze, maßgeschneiderte Hose und das weiße Hemd ließen sie tatsächlich etwas fragil wirken. Und okay, sie hatte von Natur aus eine eher schmale Statur. Auch ihr streberhaftes, schwarzes Brillengestell half vermutlich nicht dabei, sie kräftiger wirken zu lassen. Aber wenn man genau hinsah, konnte man Muskeln entdecken und … Wem mache ich eigentlich etwas vor? Ein Kameramann hatte Alex mal gebeten, seine Ausrüstung zu halten, während er ein Kabel wechselte. Selbst die hatte sie fast zu Boden gerissen.
Aber Adrenalin war doch sicher ein Faktor? Konnten Menschen in einer Krisensituation nicht erstaunliche Kräfte entwickeln? Das hatte sie irgendwo gelesen. Wildentschlossen griff Alex nach dem Lenker, sah die Frau an und sagte: »Täusch dich nicht in mir. Ich bin immer für eine Überraschung gut. Bereit?«
Mit einem skeptischen Blick entgegnete die Frau: »Ich habe wohl keine Wahl.« Sie biss sich auf die Lippe, stützte ihre Arme gegen das Motorrad und nickte.
Alex konnte das schaffen. Sie würde es schaffen! Sie zog mit aller Kraft an der Maschine.
Erstaunlicherweise setzte sich das Motorrad in Bewegung. Es hob sich fast zehn ganze Zentimeter.
Ha! Von wegen Spatz!
Zu ihrem Entsetzen gaben dann leider ihre Muskeln nach. Der Lenker begann, zu rutschen. Ihre Kraft verließ sie wie die Luft einen angestochenen Ballon. »Nein … neinneinnein … Scheiße! Achtung!«
Der Metallkoloss fiel zurück auf die Hüfte und die Oberschenkel der Frau. Der Schmerz stand ihr ins Gesicht geschrieben und sie stöhnte laut auf.
So viel zum Thema Adrenalin.
Sprachlos sahen sie sich gegenseitig an.
»Du hast recht«, sagte die Frau schließlich. »Das war in der Tat eine Überraschung.«
»Es tut mir wirklich leid!«
»Alles muss man selbst machen.« Ruckhaft drückte sie ihre Arme durch und biss vor Anstrengung die Zähne zusammen. Dieses Mal hob sich die Maschine fast dreißig Zentimeter vom Boden ab.
Mein Gott. Trotz des eisigen Blicks sprang Alex wieder zum Lenker, um zu helfen. Gemeinsam hoben sie das Motorrad so weit an, dass die Frau sich befreien konnte.
Einen Moment lang lag sie benommen neben ihrem Motorrad und atmete erst einmal tief durch. Dann fiel ihr Blick auf die verbeulte Maschine. Sie stand auf.
»Was machst du da?«, fragte Alex alarmiert und hob die Hände zu einer »Stopp«-Geste.
»Ich muss mein Bike von der Straße holen, bevor es einen Unfall gibt.« Und sie fügte trocken hinzu: »Noch einen.« Ihr Gesichtsausdruck wurde hart. »Ist es eigentlich eine Angewohnheit von dir, aus dem Nichts auf Kreuzungen aufzutauchen? Ich habe dich vorbeifahren sehen und dachte, der Weg sei frei, aber in der nächsten Sekunde warst du wieder da und ich konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen.« Sie kniete sich hin und verzog für einen Augenblick noch einmal leidend das Gesicht.
»Bist du sicher, dass du dich überhaupt bewegen solltest?« Alex durchforstete ihre Tasche nach ihrem Handy. »Ich rufe die 911 an.«
»911? Das wird in Neuseeland sicher viel bringen.« Die Frau stützte sich auf dem Boden ab. »Also bist du Amerikanerin? Du klingst britisch.«
»Geboren in London, aber ich lebe in L.A.«
Ihr Gegenüber antwortete nicht. Sie beugte sich ein Stück nach vorn und holte tief Luft. Dann übergab sie sich.
»O Gott! Du hast innere Blutungen!«, schrie Alex. Sagen sie das nicht im Fernsehen immer? »Wie lautet denn die verdammte Notrufnummer hier? Oder die der Polizei? Die wissen sicher, was zu tun ist.«
»Es nützt nichts, bei der Polizei anzurufen.« Die Frau richtete sich etwas unbeholfen auf und wischte sich mit der Rückseite ihres Handschuhs über den Mund. »Die arbeiten heute nicht.« Vorsichtig verlagerte sie ihr Gewicht auf das verletzte Bein und zog eine Grimasse.
»Was?« Alex sah an ihr hoch. Gott, war die Frau groß. Sicher um die ein Meter achtzig. Breite Schultern, eine aufrechte, militärisch stramme Haltung und kein Kilogramm zu viel.
Die Frau nahm ihren Helm ab und fuhr mit einer Hand durch ihr kinnlanges, dunkelblondes Haar. Der schlichte Schnitt passte zu ihrem Gesicht mit der starken Kieferpartie und den hohen Wangenknochen. Sie war ungefähr so alt wie Alex, Ende dreißig. Dann schob sie ihre Sonnenbrille nach oben in ihre Haare und sah Alex durch stahlblauen Augen an. Der intensive Blick schien Alex bis ins kleinste Detail zu durchdringen.
Alex wusste nicht genau, wie eingeschüchtert sie sein sollte.
Die Frau machte – offensichtlich unter Schmerzen – einen Schritt auf sie zu.
Alex sprang ihr sofort zur Seite und legte einen Arm stützend um ihre Taille. »Hey, lass mich helfen. Und warum arbeitet die Polizei heute nicht?«
»Das nächstgelegene Revier ist geschlossen.« Sie warf Alex einen entnervten Blick zu und schob ihren Arm beiseite. »Nicht anfassen. Es geht mir gut. Ich muss nur eine Sekunde durchatmen.«
»Du hattest einen Unfall. Und du hast dich übergeben!«
»Na und?« Sie atmete tief durch und rieb sich mit einer Hand über den Oberschenkel. Nach einem Moment sah sie tatsächlich etwas besser aus.
Okay, vielleicht ging es ihr wirklich gut. Zumindest wenn die Definition von »gut« war, dass man aufrecht stehen konnte.
»Erbrechen ist ein schlechtes Zeichen«, beharrte Alex.
»Mein Magen hat einfach gekrampft. Ich habe bei der letzten Pause zu viel Wasser getrunken. Das ist alles. Du schaust zu viel Fernsehen.«
Das stimmte. Summer und Bess’ ehemaliges Krankenhaus-Drama Choosing Hope war ihr heimliches Vergnügen. Trotz des hohen Suchtfaktors war die Serie aber so miserabel, dass sie definitiv nicht die Basis für Alex’ medizinische Schlussfolgerungen sein sollte. Ein Themenwechsel war vielleicht angebracht. »Es ist ein Unding, dass die örtliche Polizei einfach so geschlossen ist.«
»Ist es das?«
»Natürlich!« War diese Frau verrückt? »Wie inkompetent sind die hier bitte?«
»Lass mich raten: Wo du herkommst, sind die Polizeireviere rund um die Uhr besetzt?« Sie zog eine Augenbraue nach oben.
»Natürlich.« Dachte die Frau, dass Kriminelle sich den freien Tag der Polizei über zurückhalten würden?
»Da hast du aber Glück, dass sich jederzeit jemand um alle deine kleinen Probleme kümmern kann.«
Kleine Probleme? Alex starrte sie wütend an. »Kriminalität ist jawohl kaum ein kleines Problem.«
»Ich schätze, das hängt vom Verbrechen ab.« Die Frau legte ihren Helm vorsichtig auf den Boden und klopfte den Staub von ihrer Lederhose ab.
»Wenn das Polizeirevier geschlossen hat, soll ich dann einen Krankenwagen rufen?«
»Nein. Es geht mir gut.«
Alex sah zurück zur Straße und auf das umgestürzte Motorrad. »Geht es der Maschine auch gut?«
»Ich weiß es nicht.« Das Gesicht der Fremden zeigte Sorge. Sie ging vorsichtig zu ihrem Motorrad und besah sich den Schaden. Verärgerung löste den sorgenvollen Gesichtsausdruck ab, als sie es behutsam aufrichtete und an den Straßenrand schob. »Weißt du, wie lange ich gespart habe, um mir die hier leisten zu können?« Sie schüttelte den Kopf. »Drei Jahre. Das ist eine Triumph Tiger XCX. Sie ist mein …« Sie hielt inne und setzte eine neutrale Miene auf. »Sie ist mir wichtig.«
»Es tut mir so leid«, sagte Alex. »Wirklich.«
»Du wiederholst dich.«
»Ich kann nicht anders. Sich zu entschuldigen ist ein beliebter Zeitvertreib von uns Briten.« Sie grinste die Frau an, begegnete allerdings nur einem gleichmütigen Blick. Alex betrachtete das Motorrad. Es hingen keine Teile daran hinunter und auch die Räder schienen noch an der richtigen Stelle. Die Kratzer und Beulen auf dem schwarzen Lack waren allerdings ein unschöner Anblick. »Ich komme natürlich für den Schaden auf. Ich hätte besser aufpassen müssen, wo ich stehen bleibe.«
»Und ob du dafür aufkommen wirst.« Die Finger der Frau fuhren unruhig über die Maschine, strichen über jede Unebenheit, hielten bei jedem Kratzer und jeder Beule inne. »Du hast großes Glück, dass das Revier heute geschlossen hat. Das ist rücksichtsloses Fahrverhalten wie aus dem Lehrbuch. Das würde dir eine Geldstrafe in den Tausendern oder bis zu drei Monate Haft einbringen.«
Wie bitte? »Woher sollte ich wissen, dass aus einer winzigen Seitenstraße mitten im Nirgendwo plötzlich Motorräder aus dem Gebüsch geschossen kommen?«
»Unwissen schützt vor Strafe nicht.« Die Frau ging zur Vorderseite von Alex’ Auto und warf einen Blick auf das Nummernschild. »Ein Mietwagen. Also, wer bist du und wohin schicke ich die Rechnung, Ms. …?«
»Levitin. Alex Levitin.« Alex kramte ihren Ausweis hervor.
Die Frau musterte ihn, als ob sie sich alle Details einprägen wollte, und nickte dann.
»Und du bist?«
Sie legte den Kopf schief. »Sam Keegan.«
»Okay, Sam Keegan, du kannst die Rechnung oder deine Versicherungsdaten zu meinem Filmset schicken. Es besteht aus einem Haufen Wohnwagen, die auf dem Grundstück eines Bauernhofs stehen. Das ist in der Nähe von …« Alex zog ihr Notizbuch aus der Tasche und zeigte auf den Ortsnamen Ika Whenu. »Eik-a Wen-uu.«
»Man spricht es I-ka Fe-nuu aus.« Sam warf ihr einen abschätzigen Blick zu. »Es ist respektlos, wenn du nicht einmal den Namen richtig aussprechen kannst. Die Einheimischen werden kein gutes Haar an dir lassen, wenn sie das mitbekommen.«
Alex knirschte mit den Zähnen. Wunderbar. »Brauchst du die genaue Adresse?«
»Nein, ich weiß, wo das Set ist. Jeder weiß das. Ihr Filmleute seid nicht gerade unauffällig. Und viele Einheimische sind begeistert, dass Hollywood hier an unserem Ende der Welt seine Zelte aufgeschlagen hat.« Ihre Stimme triefte vor Verachtung.
»Du aber nicht? Was hast du gegen Filme?«
»Nichts, normalerweise. Aber bei dem hier? Was könnte ich wohl gegen so einen ausbeuterischen Film haben, der unsere einheimischen Frauen in Kostüme steckt, die sie billig aussehen lassen und für die sie von jungen und dummen Männern beleidigt werden? In den letzten drei Monaten gab es wegen dieses frauenverachtenden Films mehr Kneipenschlägereien als je zuvor.«
Oh, Mist. Alex hob den Kopf. »Soweit ich weiß, bringt die Produktion der Stadt auch eine Menge Geld. Es kann also nicht nur schlecht sein.«
»Geld ist nicht alles. Obwohl ich mir sicher bin, dass der selbstgefällige Bastard, der für diesen Film verantwortlich ist, glaubt, dass es so ist. Das würde eine Menge erklären.«
Alles klar. Jetzt war wohl kaum der richtige Zeitpunkt, zu erwähnen, dass Alex der nächste selbstgefällige Bastard sein würde, der Shezan verantwortete. »Kannst du mir sagen, wie ich von hier zum Set komme? Deshalb habe ich angehalten. Ich wollte einen Blick auf die Karte werfen, weil ich mich total verfahren habe. Ich suche den Weg schon seit einer halben Ewigkeit.«
»Wie lange bist du denn schon unterwegs?« Sam lief steif zu Alex’ Mietwagen und schaute in den Innenraum.
»Zwei Stunden. Oder vielleicht drei.«
Sam drehte sich mit einem ungläubigen Blick zu ihr um. »Das ist lächerlich. Man braucht nur anderthalb Stunden vom Flughafen zum Set. Und da drin ist ein Navi.« Sie klopfte an die Scheibe der Fahrertür. »Komm schon.« Sie musterte Alex misstrauisch. »Niemand ist so desorientiert.«
Im Ernst? »Tja, ich bin anscheinend die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Ich wollte zuerst nach Mangatarata fahren, einen Wald, den grünen Flecken auf der Karte nach zu urteilen, und von dort aus die Straße nach Ika Whenu nehmen. Ich bin allen Schildern gefolgt, komme aber immer wieder hier raus.«
»Touristen.« Sam lachte ungeniert.
Alex schaute sie finster an und wartete.
»Du wolltest also nach Mangatarata. Aber du bist wahrscheinlich am Schild nach Maramarua links abgebogen. Das ist nicht dasselbe. Bieg bei der nächsten Kreuzung rechts statt links ab. Links gelangt man nur auf einen langen Rundweg.«
Soviel zu ihrem Auge fürs Detail. »Die Namen sind schon eine Herausforderung«, verteidigte sich Alex. »Danke. Wenn ich dich nicht getroffen hätte, würde ich wahrscheinlich für immer hier am Arsch der Welt festsitzen.«
Sams Gesichtsausdruck wurde eisig. »Weißt du, für manche Leute ist ›der Arsch der Welt‹ ihr Zuhause. Für mich zum Beispiel.«
»So habe ich es nicht gemeint.«
»Natürlich nicht. Hier draußen ist nicht Mittelerde. Wenn du das sehen willst, musst du die Hobbiton-Tour in Matamata mitmachen. Ja, noch ein langer Name mit ›M‹. Wie sollst du das bloß finden?« Sie lachte über ihren Scherz. Sam zuckte plötzlich zusammen und legte ihre Hand auf ihre Hüfte.
»Du bist verletzt! Lass mich dich ins Krankenhaus bringen.«
»Ich komme schon zurecht. Es ist nichts weiter. Ich mache mir mehr Sorgen um Tiger.«
Alex runzelte die Stirn. »Was?«
»Mein Motorrad.« Sam hob ihren Helm vom Boden auf und setzte sich auf die Maschine.
»Oh. Natürlich «, entgegnete Alex. »Hier gibt es nirgendwo Tiger. Das weiß ich doch. Man müsste sie schon wie im Film mit dem Computer einfügen.« Oh, Scheiße. Ich rede Blödsinn.
Sam setzte sich ihren Helm auf. »Viel Glück für deinen Film.« Sie schloss den Kinnriemen. »Noch eine letzte Warnung? Dieser Artikel aus der Variety ist in aller Munde. Und um dir die Frage zu ersparen, ja, wir haben hier draußen sogar Internet.«
Das klang gar nicht gut.
»Die nennen deinen Film ›toxisch‹.« Sam musterte sie neugierig. »Du scheinst das Honorar wirklich zu brauchen. Ist es das wert?«
Alex bedachte sie mit ihrem unheilvollsten Blick, der Statisten in der Vergangenheit das Fürchten gelehrt hatte. »Vielleicht bin ich ja davon überzeugt, dass man aus dem Film etwas Gutes machen kann. Wenn die richtigen Leute sich dafür einsetzen.«
»Mit Sicherheit.« Sam lachte. »Weißt du was? Ich wette, das Ergebnis wird so beeindruckend sein wie deine Fahrkünste.«
»Zum letzten Mal, das war ein verdammter Unfall!« Alex stemmte die Hände in die Hüften.
»Genau wie dein Film.« Sam startete ihre Maschine. Tiger stotterte kurz und sprang dann an. Sam gab testweise Gas. Für das, was das Motorrad durchgemacht hatte, klang es halb so schlimm. Die Erleichterung war ihr anzusehen. »Wenn du augenblicklich umkehren und zum Flughafen zurückfahren würdest, statt bei diesem stinkenden Haufen Pekapeka-Scheiße mitzumachen, könnte ich dich wahrscheinlich respektieren.« In einem übertrieben freundlichen Tonfall fügte sie hinzu: »Das ist übrigens eine lokale Fledermausart. Nur zur Info für die Leute, die sich nicht die Mühe machen, lokale Namen zu lernen.«
Richtig, das war also das Problem. »Es tut mir leid, dass du und deine Maschine etwas abbekommen habt, aber jetzt kannst du gern einfach abhauen!« Alex schnaubte wütend.
Sam lachte trocken. »Weißt du, das ist bislang das Einzige, bei dem wir einer Meinung sind.« Sie musterte Alex ein letztes Mal, rückte ihre Sonnenbrille zurecht und grinste sie an. »Du siehst so empört aus. Richte deinem Chef aus, dass er sich um meine Rechnung kümmern soll. Ich bin sicher, er wird begeistert sein. Wie lange bist du jetzt in Neuseeland? Ein ziemlicher Rekord, innerhalb der ersten drei Stunden einen Unfall zu verursachen.« Sie ließ den Motor kurz aufheulen, winkte dann hochnäsig wie die Queen und dröhnte davon.
Alex schluckte buchstäblich ihren Staub.
Wie gern hätte sie sich ihrer Wut voll und ganz hingeben. Das hätte die Situation so viel einfacher gemacht. Wenn sie nur nicht so fasziniert vom Anblick des davonbrausenden Batgirls gewesen wäre.
Verdammt sexy, dachte sie grimmig.
Kapitel 3
Noch mal auf Anfang
Shezans Executive Producer, Quincy Blackman, empfing Alex wie eine verloren geglaubte Tochter. Er war über fünfzig und sein zurückweichender Haaransatz und die kahle Stelle an seinem Hinterkopf zeigten, dass er seine Blütezeit schon überschritten hatte. Seine rötliche Haut war von zu viel Sonneneinstrahlung faltig geworden, obwohl Alex bezweifelte, dass Neuseeland schuld an diesem Umstand war, so kalt, wie es hier draußen war. Bevor er sie zur Begrüßung umarmte, konnte sie die Verzweiflung in seinen Augen sehen. Ja, er wurde hier draußen definitiv verrückt.
Das Set war einen kurzen, aber matschigen Spaziergang vom Parkplatz entfernt, vorbei an einem riesigen Maori-Sicherheitsmann.
»Der erste Regisseur, Mitchell Finch, war zehn Wochen hier, bevor er wegen Drehbuchproblemen das Handtuch geworfen hat«, sagte Quincy. »Der zweite, Bud Mackay, hat nur einen Monat durchgehalten und ist dann mitten in der Nacht heimlich auf und davon. Seine Kündigungs-E-Mail hat er von einem Zwischenstopp in Denpasar aus geschrieben. Das war ein wunderbarer Start in den Tag für mich. Ich hoffe, die Last-Minute-Fluggebühren haben ihn ruiniert.« Er schüttelte resigniert den Kopf. »Und hier sind wir auch schon.«
Ein Dutzend Wohnwagen für Mitarbeiter, Besetzung und Produktion standen auf dem Grundstück eines Farmers, nur wenige Kilometer von den prächtigen Wairere Falls Wasserfällen entfernt, die die Hauptkulisse ihres Films waren. Alex hatte sie recherchiert, als sie auf ihren Flug nach Neuseeland gewartet hatte. Zumindest die Szenerie des Films war schlicht atemberaubend.
»Die ehemaligen Regisseure haben am Set ihren Stempel hinterlassen. Wir haben drei permanente Drehorte: das Zelt des Wilderers, das Amazonen-Dorf und Shezans Baumhaus. Mitchell bestand darauf, das Set der Heldin direkt neben den Wasserfällen zu bauen, was nicht ganz einfach ist wegen den Touristen auf Wanderungen und der launischen Natur. Ganz zu schweigen davon, dass es bis dahin eine zwanzigminütige Wanderung ist, die wir bei schlechtem Wetter durch den Schlamm schaffen müssen. Mit der gesamten Ausrüstung. Frag mich lieber nicht, wie oft es hier unten regnet. Wir mussten ein Vermögen in wetterfeste Ausrüstung und Regenschirme investieren.«
»Das ist ein Scherz, oder?« Alex sah ihn entsetzt an. »Sie haben kein Duplikat in einem schönen trockenen Studio in Auckland bauen lassen, um die Nahaufnahmen in einer kontrollierbaren Umgebung drehen zu können?«
»Der Schnitt wird zwar in Auckland gemacht, aber Mitchell war der Auffassung, dass seine Kunst nur durch Realismus lebt.« Quincy zuckte mit den Schultern. »Wir sind hier am Set übrigens alle per Du. Stecken immerhin schon seit Wochen gemeinsam im Schlamm fest.«
Alex nickte. »Realismus in allen Ehren, aber wie hat er die Umgebungsgeräusche ausgeblendet? Die Wildtiere? Den Wasserfall? Nieselregen? Ganz zu schweigen von der Schwierigkeit, mit Schauspielerinnen in durchnässten Kostümen zu drehen?«
»Na ja, wir haben diese Probleme nicht wirklich gelöst, bevor Mitchell oder Bud abgehauen sind. Wie auch immer, morgen zeige ich dir unsere weiter entfernt liegenden Sets. Heute ist es dafür zu spät. Hier draußen wird es früh dunkel.«
Alex sah sich um. Die Weide, auf der das Produktionsteam seine Zelte – oder vielmehr das Zelt des Wilderers – aufgeschlagen hatte, war zuvor offensichtlich für Nutztiere gedacht gewesen. Zumindest wenn die Misthaufen, denen sie konstant ausweichen musste, irgendein Indiz waren.
»Es tut mir leid, dass dich niemand vom Flughafen abholen konnte«, sagte Quincy, als er sie zu dem riesigen Zelt mitten auf der Wiese führte. »Ich musste ein paar Einheimische interviewen. Und die Produktionsassistenten sind unterwegs und kaufen sämtliches Sperrholz, das sie finden können. Frag lieber nicht. Ein Windstoß und schon war das Büro der Wildhüter auf halbem Weg nach Hawaii. Ich konnte also niemanden entbehren.«
»Ja, das war wirklich Pech für mich. Ich hatte auf dem Weg hierher einen Unfall mit einem Motorrad.« Sie musste unwillkürlich an das Feuer in den Augen der Blondine denken. »Meine Schuld.«
Quincy blieb wie angewurzelt stehen. »Bitte sag mir, dass du nicht in der ersten Stunde deines Aufenthalts hier einen Einheimischen plattgemacht hast.«
»Ganz so schlimm ist es nicht. Sie atmet und fährt noch. Sie weiß, wo ich arbeite, und sagte, sie würde meinem Chef ihre Rechnung schicken. Damit bist du also informiert.«
»Wie schlimm war es?« Er klang besorgt.
»Motorrad und Fahrerin haben ein paar Kratzer abbekommen, und sie hat es nur um Haaresbreite verhindern können, mein Auto anzufahren. Musste sich mit ihrem Bike hinwerfen, um den Aufprall zu vermeiden. Ich habe versprochen, dass wir für jedweden Schaden aufkommen werden. Ich wollte noch vor Ort einen Krankenwagen rufen, aber sie hat sich geweigert.«
»Ich … verstehe.« Quincy seufzte erschöpft. »Es läuft also schon alles aus dem Ruder, noch bevor meine dritte Regisseurin einen Fuß ans Set gesetzt hat. Gott, womit habe ich das verdient?«
»Deckt die Versicherung nicht alles ab?«
»Überlass das mir. Ich werde dafür sorgen, dass der Mist erledigt wird. Konzentrier dich einfach auf die Fertigstellung dieses gottverdammten Films, damit ich endlich nach Hause gehen kann, um in Frieden, auf trockenem Boden und im Sonnenschein einen Nervenzusammenbruch zu erleiden.«
»War das deine offizielle Begrüßungsansprache?«
»Kommt hin.«
»Du bist wirklich schlecht in so was«, kommentierte Alex trocken.
Quincy sah aus, als müsste er doch beinahe lachen.
Sie erreichten das Zelt. Die rustikale Konstruktion sah aus, als sei sie aus Leder. Schon mal nicht schlecht. Solide. Allerdings sah alles etwas zu neu aus.
»Das Zelt des Wilderers«, sagte Quincy. »Bühnenbild und Requisite sind gerade damit fertig geworden. Sie sind ziemlich stolz darauf.«
Alex warf einen kritischen Blick auf das Zelt. »Wie lange lebt der Wilderer schon hier?«
»Sechs Monate oder so. Vielleicht etwas länger.«
»Scheint mir ein langer Aufenthalt für einen Wilderer oder irgendeine Art von Jäger zu sein. Läuft es nicht normalerweise so, dass sie töten und dann weiterziehen?«
»Liebe widersetzt sich jeder Logik?«, schlug Quincy als Erklärung vor. »Zum Teufel, woher soll ich das wissen? Ich habe das Drehbuch nicht geschrieben.«
Richtig. »Also, sechs Monate … dann sollten wir es vielleicht noch etwas bewohnter wirken lassen. Vor allem die Befestigungsheringe und die Eingangs-Klappe. Sie müssten von Schlamm und Staub bedeckt sein.«
»Okay.« Quincy winkte eine junge Frau heran, die ihnen gefolgt war. »Das ist deine Produktionsassistentin, Alice. Lass sie einfach wissen, wenn du etwas brauchst.« Er lachte. »Ich werde eure Namen sicher ständig durcheinanderbringen.«
»Hallo«, sagte Alex und musterte die zierliche Frau. Sie wirkte wie eine blonde Maus in Turnschuhen. »Ich glaube, wir sind uns schon mal begegnet.«
»Ja«, bestätigte Alice. »Ich war bei einem deiner früheren Filme dabei. Sonnenflecken. Ich freue mich, wieder mit dir zu arbeiten.«
»Danke, ebenso.«
»Also dann.« Quincy warf den beiden Frauen einen ungeduldigen Blick zu und öffnete die Zeltklappe. »Wollen wir?«
Alex sah sich langsam im Zelt um. Sie wollte alles ausgiebig auf sich wirken lassen. Alles war in neutrales Blau gehalten. Ein paar Gewehre waren gegen Holzkisten gelehnt. Sie ging an einem alten, braunen Lederstuhl am Eingang vorbei. Er war auf die Zeltwand ausgerichtet, an der Fotos vergangener Jagden hingen. An der gegenüberliegenden Seite des Zelts standen zwei Betten; eines für den Wilderer, eines für seine neunzehnjährige Tochter. Daneben eine verblasste Sichtschutzwand.
»Und?« Quincy warf ihr einen hoffnungsvollen Blick zu.
»Nein.« Alex atmete tief durch. »Die Farben müssen tiefrot oder braun sein, um Kraft und Blut zu symbolisieren. Das ist sein Lebensinhalt. Und der Stuhl darf nicht in diese Richtung zeigen. Er ist Wilderer. Er würde nie mit dem Rücken zum Eingang sitzen, weil er dann angreifbar wäre. Und diese Fotos?« Sie zeigte auf ein Bild des Schauspielers, der den Wilderer spielte, den Arm um die Schultern seiner Tochter gelegt, einer blonden Frau mit strahlenden Augen. Beide lächelten sich liebevoll an. »Auf keinen Fall«, sagte Alex. »In seinem Leben dreht sich alles um Trophäen. Er hat seine Tochter hierhin mitgeschleift, damit sie ihm dabei zusieht, wie er Tiere abschlachtet, um sich mächtig zu fühlen. Ihr habt das Drehbuch gelesen; Ihr wisst, wie er mit ihr spricht. Für ihn ist die Tochter auch nur eine Trophäe. Das Foto müsste ihn in dominanter Position zeigen und sie als Untergebene.«
Alice schrieb alles in Windeseile mit.
Quincy betrachtete Alex nachdenklich. »Sonst noch etwas?«
»Das Offensichtlichste ist die Zeltgröße. Wie sollen wir hier drei Schauspieler, zwei Kameramänner, eine Person fürs Make-up, eine für die Frisur, einen Tonassistenten, einen Kabelhelfer und mich unterbringen? Warum ist die Seitenwand nicht abnehmbar, damit wir die Krankamera einsetzen können? Ist das nicht Standard?«
»Na ja, Mitchell wollte –«
»Realismus.« Alex seufzte.
»Genau.« Quincy nickte.
»Ich hätte lieber einen leichteren Zugang. Können wir das bitte ändern? Und können wir das Zelt angesichts der Wetterbedingungen so wasserdicht wie möglich machen?«
Quincy nickte. »Natürlich.«
Alice machte sich eine weitere Notiz.
Alex’ Blick blieb an etwas unter dem Bett hängen. »Der Schraubenzieher ist kein Requisit, nehme ich an?«
Alice lief schnell hin und steckte ihn ein. »Entschuldigung.«
»Reden wir über die Tierköpfe «, sagte Alex mit Blick auf die Jagdtrophäen an der Wand.
»Du musst doch zugeben, dass er solche Trophäen sammeln würde«, warf Quincy ein.
»Eine Giraffe, ein Zebra und ein … Schneeleopard. Was stimmt da nicht?«
Quincy blinzelte sie an.
»Wo leben diese Tiere? Nicht am selben Ort, so viel ist sicher.«
»Er reist eben«, sagte Quincy. »Die sind von früheren Jagden.«
»Er würde aber nie alle seine Trophäen mit sich herumschleppen. Er würde sie bei sich zu Hause aufbewahren. Das hier ist einfach nicht praktisch für einen Mann, der viel unterwegs ist. Alice, könntest du ein paar glaubwürdigere Raubtiere auftreiben?«
»Ähm, was für welche denn?«
»Je furchterregender, desto besser.«
»Aber …« Alice hielt kurz inne, schüttelte dann aber den Kopf. »Ach, egal.«
Alex schaute sie an. »Nein, sag es ruhig.«
»Wo genau soll der Film denn spielen? Darüber stand nichts im Infoblatt, das wir alle bekommen haben.«
»Wartet, das wissen wir nicht?« Alex starrte den Produzenten fassungslos an. »Das wurde nicht schon zwei Regisseure zuvor erörtert?«
Alice und Quincy tauschten unsichere Blicke aus.
»Ja, darüber ist man sich nicht ganz einig geworden.« Quincy kratzte sich am Nacken »Also halten wir es so vage wie möglich … irgendein Fantasieort zu irgendeiner Fantasiezeit.«
»Das funktioniert so nicht. Wir müssen es dringend ›unvage‹ werden lassen. Und wir müssen in allem regional-kohärent sein, sonst werden wir zum Gespött der Leute. Noch mehr als ohnehin schon. Das wird auch für unsere Kostümbildnerin eine große Hilfe sein. Und kulturelle Authentizität kann dazu beitragen, dass wir den Ruf als schlechtesten Film aller Zeiten loswerden.«
Alice nickte, den Stift im Anschlag.
»Beginnen wir vielleicht zuerst mit einem Land«, sagte Alex. »Wenn es Amazonen gibt, grenzt das die Möglichkeiten ja ein.«
»Die Sache mit den Amazonen ist nur ein Hintergrunddetail«, warf Quincy ein. »Es könnte irgendein beliebiger Stamm sein.«
Alex blickte von Alice zu Quincy. »Im Ernst?«
Quincy zuckte mit den Schultern. »Ist doch im Grunde egal, oder nicht? Irgendwelche Bewohner des tiefsten und dunkelsten Dschungels eben.«
Das war sicher nicht egal, wenn der Film nicht länger ein völlig unglaubwürdiges, künstliches Gebilde sein sollte. »Also schön, neuer Plan. Alice, ich möchte, dass du ein paar Nachforschungen anstellst und einen Wald oder Dschungel findest, der der Flora hier am ehesten entspricht. Ähnliche Bäume, Sträucher und so weiter. Verstanden? Und wenn du den gefunden hast, wird das unser Schauplatz sein. Dann suchst du nach einem Raubtier aus diesem Wald, besorgst eine künstliche Trophäe davon und wirfst den Rest hier weg.« Alex deutete an die Wand mit den Tierköpfen. »Und außerdem … eine Giraffe? Wie kann irgendein Möchtegern-Macho stolz darauf sein, eine schreckhafte, vegetarische Bohnenstange zu erlegen, die keiner Fliege etwas zuleide tun würde?«
»Er ist aus gutem Grund unser Bösewicht«, begründete Quincy. »Er ist einfach ein Arschloch.«
Alex lachte kurz auf. »Netter Versuch. Alice, würdest du bitte die Giraffe entsorgen?«
»Okay, was noch?«, fragte Quincy.
»Hunde. Irgendwo muss ein Bild von seinem Hund hängen. Irgendeine große, kräftige Rasse. Er liebt seinen Hund.«
»Tut er das?«
»Ja.« Alex grinste. »Mehr als seine Tochter.«
»Bastard«, sagte Quincy.
Diesmal kicherte sogar die mausartige Assistentin.
»Und präpariert auch die Gewehre mehr, okay?«, fuhr Alex fort. »Sie sehen aus wie Requisiten, die letzte Woche erst ausgepackt wurden. Sie müssen gebraucht, aber gut gepflegt wirken. Das Einzige, was der Mann mehr liebt als seinen Hund, sind seine Waffen.« Alex klatschte in die Hände. »Gut, das war’s fürs Erste.«
Sie verließen das Zelt und Alex gab Alice mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie mit dem Abarbeiten der Liste anfangen konnte.
»Du hast ein gutes Auge fürs Detail«, sagte Quincy, als Alice gegangen war.
»Zumindest meistens.« Wenn ich nicht gerade Motorradfahrerinnen im Weg stehe. »Was gibt es noch für fertige Sets?«
»Hier in der Gegend? Das einzige, was wir noch hatten, war das Wildhüter-Büro. Aber wie gesagt …«
»Auf halbem Weg nach Hawaii.« Alex seufzte.
»Genau.« Quincy deutete auf den grün bewachsenen Berg hinter ihnen, der bis in die tief stehenden Wolken hineinragte. »Dort oben ist unsere schönste Szenerie. Man muss die Wasserfälle mit eigenem Auge gesehen haben, um sich ein Bild zu machen. Ich habe einen der besten Kinematografen für das Projekt gewinnen können. Er ist perfekt. Weiß, wie man das schwache, durch das dichte Laub dringende Licht hier im Regenwald am besten in Szene setzt.«
»Und er hat für Shezan unterschrieben? Wenn er so gut ist, warum macht er dann nicht etwas …« Lohnenswertes? Exzellentes? » … anderes?«
»Er ist seit Kurzem im Ruhestand. Ich habe ihn überzeugt, noch einen letzten Streifen zu drehen. Ich hatte einfach Glück. Der Mann war nach zwei Monaten zu Hause schon zu Tode gelangweilt.«
»Ah.«
