Hard Frost - Jennifer Estep - E-Book
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Hard Frost E-Book

Jennifer Estep

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Beschreibung

Die Spartanerin Rory Forseti ist Mitglied von Team Midgard, einer geheimen Organisation an der Mythos Academy, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Schnitter des Chaos aufzuhalten. Doch als es während eines Schulausflugs zum Diebstahl eines mythologischen Artefakts kommt, fehlt von den Schnittern jede Spur. Wer konnte das Artefakt an sich reißen, ohne von den Sicherheitskameras oder den Wachen gesehen zu werden? Das gestohlene Artefakt ist überaus gefährlich. Wenn es Covington, dem bösen Anführer der Schnitter, in die Hände fällt, könnte er damit dunkle mythologische Kreaturen beschwören. Rory muss alles tun, um zu verhindern, dass Covington an das Artefakt gelangt – und die Welt damit ins Chaos stürzt ...

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Michaela Link

 

ISBN 978-3-492-99241-1

© Jennifer Estep 2017

Titel des englischen Originalmanuskripts: »Hard Frost«

Deutschsprachige Ausgabe:

© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2018

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Getty Images/CoffeeAndMilk; Getty Images/mammuth

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Cover & Impressum

1 – »Ich hasse Exkursionen.« …

2 – Zoe und ich sahen …

3 – Ich stand mit großen …

4 – Wir studierten die Fotos …

5 – Ich ging zu meinem …

6 – Ich trottete durch …

7 – Irgendwann wurde Brono …

8 – Dreißig Minuten später …

9 – Urplötzlich erlosch das Licht …

10 – Langsam hob ich Babs …

11 – Ich gesellte mich wieder …

12 – Die Rückfahrt zur Akademie …

13 – Schock zeichnete sich …

14 – Eine Minute später …

15 – Zoe und ich starrten …

16 – Ausnahmsweise einmal wachte ich …

17 – Ich drehte langsam den …

18 – Ich starrte Covington …

19 – Die beiden Ungeheuer …

20 – Zitternd atmete ich aus …

21 – Ich erwachte im Gras …

22 – Ian ging zum Besprechungsraum, …

23 – Als ich endlich …

24 – Trotz der vielen Gedanken …

25 – Auf dem Basilisken …

26 – »Nein!«, schrie ich …

27 – Ich bohrte den Dolch …

28 – »Ian!«, schrie ich …

29 – Zum dritten Mal …

30 – Trotz allem, was …

1

»Ich hasse Exkursionen.«

Ich sah meine Freundin Zoe Wayland an. »Warum sagst du das?«

Sie zuckte die Achseln. »Weil Exkursionen immer in Katastrophen enden.«

»Und warum sagst du das? Exkursionen sind toll. Sie bieten eine Abwechslung vom langweiligen Schultrott. Eine Gelegenheit, den Campus zu verlassen, an unbekannte Orte zu kommen, jede Menge coole Sachen zu sehen. Und das Allerbeste, eine Ausrede, bei den ganzen Unterrichtsfächern zu fehlen, die wir nicht mögen.«

Zoe schnaubte. »Für dich vielleicht, Spartanerin. Aber für mich sind Exkursionen immer ätzend.«

»Warum?«

Statt mir zu antworten, nahm Zoe eine Zange von ihrem Schreibtisch. Sie spielte ein paar Sekunden mit der Zange herum, bevor sie sie beiseitelegte und stattdessen nach einem Hammer griff. Schraubenzieher, Schraubenschlüssel, sogar eine kleine Lötlampe. Diese ganzen Werkzeuge und noch mehr stapelten sich auf der einen Seite ihres Schreibtischs, neben Schwertern, Dolchen und mehreren Pfeilen. Zoe war ein Genie, wenn es um Erfindungen ging, und sie liebte es, sich Waffen und allerlei Gerätschaften für das Team Midgard auszudenken, die wir in unserem Kampf gegen die Schnitter des Chaos einsetzen konnten.

Nacheinander nahm Zoe Werkzeuge und Waffen, irgendwelche Metallteile und ineinander verhedderter Drähte, als wolle sie das Durcheinander ordnen, aber dann legte sie alles wieder an die gleiche Stelle zurück.

Wann immer sie etwas in die Hand nahm, strömten hellblaue Magiefunken aus ihren Fingerspitzen und erloschen wieder. Walküren gaben immer mehr Magie ab, wenn sie aufgewühlt oder gerührt waren. Wenn sie so weit war, würde Zoe mir schon erzählen, was ihr zu schaffen machte.

Aber noch war sie nicht so weit. Sie rutschte herüber und begann, mit den Scheren, Bändern und Stoffballen auf der anderen Seite ihres Schreibtischs herumzuspielen. Kleider und Schmuck kreierte sie ebenso gern wie Waffen und Gerätschaften. Zoe schnappte sich ein durchsichtiges Plastikkästchen voller roter, herzförmiger Kristalle, mit denen sie oft ihre Entwürfe verschönerte. Sie schüttelte das Kästchen und ließ die Kristalle darin herumklappern, bevor sie den Behälter wieder auf ihren Schreibtisch stellte.

Schließlich seufzte sie und sah mich aus ihren haselnussbraunen Augen an. »Ich hasse Exkursionen, weil ich die nervige Veranlagung habe, auf Autofahrten mit Übelkeit zu reagieren. Jedes Mal.«

Ich zog die Brauen hoch. »Dir wird vom Autofahren übel?«

Sie sackte auf ihrem Stuhl zusammen. »Na ja, eher vom Busfahren. Ich weiß nicht, warum, aber immer wenn ich in einen Bus steige, um zu irgendeiner blöden Exkursion zu fahren, wird mir schlecht und ich muss mich übergeben, noch bevor wir ankommen. Du kannst Mateo fragen. Ich habe ihm über die Stiefel gekotzt, als wir im letzten Jahr zum Powder Skiresort gefahren sind. Alle im Bus haben gesehen, wie ich mein Mittagessen buchstäblich wieder ausgespuckt habe. Es war echt peinlich.«

»Nun, dann ist es ja gut, dass wir keine Exkursion machen und dass wir nicht mit dem Bus fahren.«

»O nein«, antwortete Zoe sarkastisch. »Wir erkunden nur ein paar unheimliche alte Tunnel, die unter der Mythos Academy liegen, der Schule der Kriegerkids, der mythologischen Ungeheuer und der Artefakte, die mythologische Ungeheuer beschwören. Was könnte da schon schiefgehen?«

Ich verdrehte die Augen. »Ach, komm schon. Wo bleibt deine Abenteuerlust?«

Sie seufzte wieder und rutschte noch tiefer in ihrem Stuhl herunter.

Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf meinen eigenen Schreibtisch und überzeugte mich davon, dass ich alles für unsere sogenannte Exkursion parat hatte. Eine Taschenlampe, eine Digitalkamera, ein Notizbuch, mehrere Stifte, zwei Wasserflaschen und ein paar Schokoladenkekse. Okay, okay, es war wahrscheinlich übertrieben, Proviant mitzunehmen, aber Zoe hatte recht. An der Mythos Academy wusste man nie, was alles passieren konnte, und wenn wir doch in den Tunneln festsitzen sollten, wollte ich nicht verhungern, bevor uns jemand rettete.

Ich war vielleicht nicht die Einzige, die Durst hatte, daher öffnete ich eine der Flaschen und goss eine ordentliche Portion Wasser in einen kleinen, grünen Topf auf meinem Schreibtisch. Er enthielt eine wunderschöne Blume mit zarten, weißen Kronblättern und einer herzförmigen, smaragdgrünen Blüte in der Mitte. Das Wasser versickerte in der Erde, und das Frostfeuer stellte sich auf und breitete die Blätter weit aus, als wolle es mir danken.

»Bitte schön«, säuselte ich und streichelte eins seiner samtigen Blütenblätter. »Da ist etwas Wasser für dich.«

»Habe ich dir schon mal gesagt, wie seltsam es ist, dass du mit dieser Blume redest?«, spottete Zoe.

»Hör nicht auf sie«, sagte ich immer noch an die Blume gewandt. »Sie ist bloß eifersüchtig, dass sie nichts genauso Hübsches auf ihrem Schreibtisch hat.«

Das Frostfeuer richtete sich vor Stolz noch weiter auf. Ich streichelte ein letztes Mal seine Blätter, dann schraubte ich meine Wasserflasche zu.

Ich stopfte den Proviant in meine grüne Umhängetasche und schaute um mich, um sicherzugehen, dass ich nichts vergessen hatte. Zoe und ich befanden uns im Hauptbesprechungsraum im Bunker, der unter der Bibliothek der Altertümer auf dem Campus der Mythos Academy in Snowline Ridge, Colorado, lag. Nur wenige Menschen wussten vom Bunker, da er das supergeheime Hauptquartier des Teams Midgard war, einer Gruppe von Schülern und Erwachsenen, die die Aufgabe hatten, einen neuen Kreis von Schnittern des Chaos zu bekämpfen.

Ein langer, rechteckiger Tisch beherrschte eine Seite des Raums. Die Stühle dazu waren zu den Monitoren gedreht, die den größten Teil einer Wand einnahmen. Zoes Schreibtisch stand zusammen mit meinem auf der einen Seite des Tischs in der Mitte, während sich auf dessen anderer Seite zwei weitere Schreibtische befanden.

Einer dieser Tische wies einen Laptop sowie zwei Tastaturen und zwei Monitore auf. Mehrere Miniatur-Footballbälle aus Schaumstoff, Fuß- und Tennisbälle waren zwischen das Computerzubehör gestopft. Dieser Schreibtisch gehörte Mateo Solis, dem Römer und Computerguru des Teams Midgard, einem unserer Freunde.

Streitäxte, Schwerter und andere Waffen sowie Bücher über Mythengeschichte, zwischen deren Seiten Notizzettel steckten, um bestimmte Textstellen zu markieren, bedeckten den zweiten Schreibtisch. Dieser Platz gehörte Ian Hunter, dem Wikinger, der neben meiner Wenigkeit der Krieger des Teams war.

Mein Blick wanderte zum hinteren Ende des Raums, wo sich mehrere Reihen von deckenhohen Regalen befanden. In vielen Regalen standen Bücher, aber es waren keine normalen Taschenbücher oder Hardcover. Nein, diese Bände waren alle extrem alt, mit zerlesenen Seiten, ramponierten Einbänden und ausgefransten Buchrücken. Viele davon sahen aus, als würden sie zu Staub zerfallen, wenn man sie aus den Regalen zog oder gar versuchte, darin zu lesen. Aber die Bücher – und das Wissen, das sie enthielten – waren viel gefährlicher, als es den Anschein machte.

Was auch für alle anderen Artefakte hier galt.

Waffen, Rüstungen, Schmuck, Kleidung und mehr lagen neben den Büchern in den Regalen. Goldene Schwerter, silberne Schilde, Diamantringe, Bronzesandalen. Hier war ein Artefakt schöner als das andere und jedes verfügte über irgendeine Magie, die es sehr, sehr mächtig machte.

Wie etwa die Panzerhandschuhe Maats, benannt nach der ägyptischen Göttin der Wahrheit. Sobald man die goldenen Panzerhandschuhe anlegte, konnte man sie nicht mehr ausziehen und musste alle Fragen, die einem gestellt wurden, wahrheitsgemäß beantworten. Oh, man konnte natürlich schon versuchen, sich der Magie des Artefakts zu widersetzen, aber für jede Lüge, die man erzählte, wurden die Panzerhandschuhe ein klein wenig heißer, bis sie schließlich in Flammen standen und einen bei lebendigem Leib verbrannten.

Aber das war nur einer von Dutzenden von Gegenständen, die einen verbrennen, gefrieren lassen oder sonst irgendwie zu Tode foltern konnten. Ganz zu schweigen von den Artefakten, die dazu führten, dass man Monster sah, die gar nicht da waren, sich in jemanden verliebte, den man hasste, oder die Verstand und Herz sonst irgendwie durcheinanderbrachten, sodass man seinen freien Willen verlor.

Ich lehnte mich zur Seite und spähte in einen der Gänge zu einem Regal an der Hinterwand. Mein Blick fiel auf einen Glaskasten, der ganz für sich allein stand. Im Gegensatz zu anderen Kriegern besaß ich keine verstärkte Sehkraft, also konnte ich die Vitrine von hier aus nicht deutlich erkennen, aber ich wusste genau, was sie enthielt: eine Schatulle aus poliertem Gagat, dessen Oberfläche von silbernen Ranken überzogen war, die sich um kleine, herzförmige, rubinrote Blumen schlangen.

Die Schmuckschatulle war vor einigen Wochen vom Team Midgard aus dem Cormac Museum geholt worden. Wir hatten Covington, den Anführer der Schnitter, daran gehindert, das Artefakt zu stehlen, aber uns war überhaupt nicht klar, worum es sich handelte, welche Magie es besaß oder was es enthielt. Trotzdem, etwas an der Schatulle machte mir echt Gänsehaut. Es genügte, in ihre Richtung zu schauen, und ich fing an zu zittern und fragte mich, was so Besonderes an dem Artefakt war, dass Covington bereit gewesen war zu töten, um es in seinen Besitz zu bringen …

»Nun, was mich betrifft, ich freue mich auf unser Abenteuer, Rory.« Eine Stimme mit einem melodischen irischen Akzent unterbrach meine Gedanken.

Ich schaute zum Stuhl rechts von mir. Ein silbernes Schwert in einer schwarzledernen Scheide stand auf der Sitzfläche, aber es war keine gewöhnliche Waffe. Nein, in den Griff dieses Schwerts war ein Frauengesicht eingelegt: eine zierliche Augenbraue, die runde Wölbung eines Auges, ein hoher Wangenknochen, eine scharfe Hakennase, herzförmige Lippen und ein geschwungenes Kinn. Das Schwert richtete den Blick auf mich und ich schaute in sein tiefes, dunkles, smaragdgrünes Auge.

»Danke, Babs«, sagte ich. »Es ist schön zu sehen, dass wenigstens eine es aufregend findet, Karten von den Tunneln anzufertigen.«

Zoe schnaubte. »Babs ist dein Schwert. Sie geht dorthin, wo du hingehst, daher muss sie alles, was du tust, aufregend finden.«

Babs rümpfte die Nase. »Hör nicht auf sie, Rory. Es wird ein Riesenspaß, die Tunnel zu kartografieren. In der Tat erinnert es mich an eine Zeit vor Jahren in Cypress Mountain, als einer meiner früheren Krieger gerade einen Fenriswolf durch den Wald verfolgte …«

Und schon redete sie über dieses längst vergangene Abenteuer. Babs, nun ja, sie plapperte gern. Für mich war sie eine liebenswerte Schrulle, aber Zoe warf mir einen vielsagenden Blick zu, nahm einen silbernen Dolch von ihrem Schreibtisch und drückte auf den blauen Stein, der in den Griff eingelassen war, sodass blau-weiße Elektrizitätsfunken an der Klinge auf- und abzischelten. Zoe warf mir einen weiteren beredten Blick zu und teilte mir damit wortlos mit, dass sie Babs mit ihrem Elektrodolch einen Stromschlag verpassen würde, wenn das Schwert nicht endlich die Klappe hielt.

»Also schön«, sagte ich mitten in Babs’ Geschichte hinein. »Ich bin bereit. Was ist mit euch?«

»Bereit!«, zirpte Babs.

Zoe seufzte erneut, stand aber auf. Sie griff sich ein blaues Glitzerstirnband aus dem Chaos auf ihrem Schreibtisch, um sich damit ihr gewelltes, schwarzes Haar aus dem Gesicht zu halten. Dann holte sie aus dem Durcheinander von Gegenständen eine Puderdose hervor und tupfte sich ein wenig Puder auf die Nase, obwohl ihre mokkabraune Haut bereits makellos war. Für einen letzten Touch zog sie den Reißverschluss des blauen Overalls, den sie über ihren gewohnten Sachen trug, hoch. Rote Kristallherzen formten den Schriftzug Walkürenpower auf der Brusttasche.

»Bereit«, murmelte sie.

Ich beäugte ihren strapazierfähigen Overall. »Wir gehen durch die Tunnel und kartografieren sie. Wir haben nicht vor, uns durch die Wände zu graben.«

Zoe stemmte die Hände in die Hüften und noch mehr blaue Magiefunken strömten aus ihren Fingerspitzen. »Und ich gehe nicht das Risiko ein, mir meinen neuen Kaschmirpullover schmutzig zu machen oder Spinnweben auf meine Jeans zu kriegen. Kapiert, Spartanerin?«

»Kapiert, Walküre.« Ich grinste. »Also, lasst uns zu unserer Exkursion aufbrechen.«

Sie stöhnte. »Du musstest es so nennen, nicht wahr? Jetzt ist schon der Wurm drin.«

»Kotz mir nur nicht auf die Stiefel, und alles wird gut«, neckte ich sie.

Zoe warf mir einen düsteren Blick zu, aber ihre Lippen verzogen sich zu einem verlegenen Lächeln. Ich grinste zurück.

Was auch geschah, sie würde immer meine Freundin sein.

 

Ich schob mir die Tasche mit meiner Ausrüstung über die Schulter und hakte Babs’ Schwertscheide an meinen Gürtel, während Zoe den Elektrodolch in ihrer Tasche verstaute. Dann verließen wir den Besprechungsraum und gingen durch einen langen Gang in den hinteren Teil des Bunkers.

An einer Tür hing ein Schild mit der Aufschrift Treppenhaus, aber statt die Tür zu öffnen, ging ich zu einem Bücherregal an der Wand und drückte auf einen kleinen, silbernen Knopf daneben. Ein grünes Licht blitzte auf und scannte meinen Daumenabdruck. Einige Sekunden später erlosch das Licht, das Bücherregal fuhr knarrend zur Seite und gab den Blick auf einen steinernen Gang frei.

Aufregung überkam mich. Schon immer hatte ich Krimis wie die Bücher von Nancy Drew, die Sherlock-Holmes-Abenteuer und die alte Scooby-Doo-Zeichentrickserie geliebt. Meine absoluten Lieblingsgeschichten waren solche, in denen es um Dinge wie Geheimgänge und versteckte Fächer ging. Seit ich von den Tunneln erfahren hatte, war ich scharf darauf gewesen, sie zu erkunden. Heute hatte ich Zoe endlich dazu überreden können, mitzukommen.

Zoe spähte in den Tunnel. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass du einen herrlichen Sonntagnachmittag darauf verschwenden willst, durch diese unheimlichen Tunnel zu latschen. Ich könnte ein Nickerchen machen. Eine neue Waffe erfinden. Mir stundenlang irgendeine Fantasysendung reinziehen. Du weißt schon, etwas, das Spaß macht.«

»Das hier wird jede Menge Spaß machen. Außerdem geht es nicht nur darum, die Tunnel zu erkunden.« Ich zog einen Stift und ein Notizbuch aus meiner Tasche. »Es geht auch darum, sie zu kartografieren. Ich will wissen, wohin jeder einzelne Tunnel führt und wo auf dem Campus sich die geheimen Eingänge befinden.«

»Warum? Es ist nicht so, als wüssten die anderen Mythos-Schüler von den Tunneln. Das Team Midgard – wir – sind die Einzigen, die von ihrer Existenz wissen.«

»Covington kennt sie wahrscheinlich«, sagte ich mit scharfer Stimme. »Was bedeutet, dass ich sie ebenfalls kennen muss.«

Bei meinem harschen Ton zuckte Zoe zusammen, aber Mitgefühl und Verständnis traten in ihre Züge.

Covington war der oberste Bibliothekar an der Akademie von Colorado gewesen, bis er sich als Schnitter des Chaos zu erkennen gegeben hatte. Als sei das noch nicht schlimm genug, hatte Covington auch meine Eltern ermordet, Rebecca und Tyson Forseti, als sie sich von den Schnittern hatten lossagen wollen.

Ich war so wütend auf meine Eltern gewesen, dass sie ihre Beteiligung an der bösen Gruppe verheimlicht und mir nie erzählt hatten, dass sie Schnitter-Assassinen waren, und vor allem, dass sie nicht die noblen, ehrlichen Spartanerkrieger waren, für die ich sie immer gehalten hatte. Aber herauszufinden, dass Covington sie getötet und ihnen die Schuld für seine Verbrechen in die Schuhe geschoben hatte, war hundert Mal schlimmer. Er hatte mir meine Eltern genommen, bevor ich auch nur die Chance gehabt hatte, sie zu fragen, warum sie Schnitter gewesen waren.

Bis vor wenigen Wochen hatte ich gedacht, dass Covington im Gefängnis säße, doch dann fand ich heraus, dass er der geheimnisvolle Sisyphus war, der Anführer einer neuen Gruppe von Schnittern, die die Macht in der mythologischen Welt übernehmen wollten. Covington hatte versucht, mich dazu zu bringen, mich ihm anzuschließen und ein Schnitter zu werden. Er hatte behauptet, es sei mein spartanisches Schicksal. Als ich ablehnte, hatte er ein Artefakt – einen juwelenbesetzten Apate-Ring – eingesetzt, um mich gegen meinen Willen zum Schnitter zu machen. Mit Babs’ Hilfe war es mir gelungen, die Magie des Artefakts abzuwehren. Aber das Überraschende war, dass meine Eltern mir ebenfalls geholfen hatten, obwohl sie schon tot waren.

Ich schüttelte meinen Arm und ein silbernes Bettelarmband glitt an meinem rechten Handgelenk hinab. Ein silbernes Herzmedaillon sowie zwei andere Anhänger hingen an der Kette – eine winzige, silberne Pfeife und ein silbernes Frostfeuer mit einem herzförmigen Smaragd in der Mitte.

Meine Eltern hatten mir das Armband im vergangenen Jahr zu meinem sechzehnten Geburtstag geschenkt. Das Herzmedaillon enthielt ein Foto von uns dreien. Ich hatte das Geschenk geliebt und das Armband jeden Tag getragen – bis ich herausfand, dass meine Eltern Schnitter waren. Ich war so wütend und unglücklich über ihren Verrat gewesen, dass ich das Armband abgerissen und auf ihr Grab geworfen hatte, doch meine Tante Rachel hatte es mir irgendwann zurückgegeben.

Nachdem ich dem Team Midgard beigetreten war, hatte ich mir wieder angewöhnt, das Armband zu tragen als eine Erinnerung daran, dass ich kein Schnitter zu sein brauchte und dass ich meinen eigenen Lebensweg wählen konnte. Doch meine Eltern hatten noch ein Geheimnis gehabt. Sie hatten mir nicht erzählt, dass das Armband eigentlich Freyas Armband war, ein mächtiges Artefakt, das den Träger vor der Magie anderer beschützte. Es hatte mich vor Covington und seinem verderbten Ring gerettet. Er mochte meine Eltern ermordet haben, aber sie hatten mich trotzdem, so gut sie konnten, vor ihm beschützt. Dafür würde ich ihnen immer dankbar sein.

Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die Kühle des Armbands an meinem Handgelenk, das sich wie ein Ring aus hartem Frost anfühlte, der meine Haut küsste. Ich ließ diese Kühle, diesen Frost, in meinen Geist sickern und insbesondere in mein Herz, bis es meinen Zorn darüber, dass Covington immer noch da draußen war und die Fäden seiner Verschwörung gegen mich und das Team Midgard zog, einfror. Ich würde den Bibliothekar zur Strecke bringen und eines Tages meine Rache bekommen, aber heute war nicht dieser Tag, und das musste ich akzeptieren. Als ich mich wieder beruhigt hatte, öffnete ich die Augen und schaute zu Zoe hinüber.

»Covington war hier lange Zeit oberster Bibliothekar«, sagte ich mit leiserer Stimme. »Linus Quinn und Takeda glauben nicht, dass er etwas über den Bunker oder die Tunnel weiß, aber ich würde mich nicht darauf verlassen. Es sähe Covington ähnlich, zu versuchen, sich durch die Tunnel in den Bunker zu schleichen und die Schmuckschatulle und andere Artefakte zu stehlen. Ich will vorbereitet sein auf alle krummen Dinger, die er sich einfallen lassen könnte. Die Kartografierung der Tunnel ist eine Möglichkeit, sich vorzubereiten.«

Verständnis und Mitgefühl traten erneut in Zoes Züge und blaue Magiefunken tropften wie Tränen von ihren Fingerspitzen, beinahe so, als weine ihre Walkürenmagie über meinen offensichtlichen Schmerz.

»Ich stimme Rory zu«, meldete Babs sich von ihrem Platz an meinem Gürtel zu Wort. »Es kann nicht schaden, herauszufinden, wohin die Tunnel führen. Außerdem macht es bestimmt Spaß. In der Tat erinnert es mich an den Tag, an dem ich in der Kanalisation von Ashland war und einem abscheulichen Nemeischen Pirscher gefolgt bin …«

Das Schwert fing an, über ein anderes Abenteuer zu faseln, das es erlebt hatte, aber Zoe und ich hörten gar nicht hin.

»Bitte«, sagte ich leise. »Ich muss das tun. Auch wenn eine Kartografierung der Tunnel dumm und nutzlos erscheint. Ich muss einfach irgendetwas tun, statt nur herumzusitzen und darauf zu warten, dass Covington zuschlägt. Sonst werde ich noch verrückt.«

Sie nickte. »Du brauchtest nur zu fragen.« Zoe zog den Reißverschluss ihres Overalls noch ein wenig höher und streckte die Hand aus. »Gib mir die Kamera. Ich werde Fotos machen, während du deine Schatzkarte zeichnest, wichtige Stellen mit einem X markierst und all so etwas.«

Ich grinste und reichte ihr die Kamera. Dann betraten wir zusammen den Tunnel.

Das Bücherregal fiel hinter uns zu und für einen Moment war alles pechschwarz. Ich trat vor und die Beleuchtung in der steinernen Decke flammte auf. Die durch Bewegung aktivierten Lampen schalteten sich jeweils ein, wenn wir näher kamen, und wieder aus, wenn wir an ihnen vorbeigegangen waren. Nach ungefähr fünfzehn bis zwanzig Metern zweigte ein Tunnel nach rechts ab. Ich blieb stehen und zeichnete ein X auf meine Karte.

Wir gingen einen Tunnel nach dem anderen entlang, um zu sehen, wohin sie führten. Durch fünf Haupttunnel gelangte man in die fünf Hauptgebäude auf dem oberirdischen Hof der Mythos Academy – in das mathematisch-naturwissenschaftliche Gebäude, das für Englisch und Geschichte, den Speisesaal und die Sporthalle. Und natürlich führte der Tunnel, von dem aus wir aufgebrochen waren, zurück zum Bunker und in die Bibliothek der Altertümer, dem letzten Gebäude auf dem Hof.

Jeder Tunnel endete an einer Tür. An jeder einzelnen drückte ich den silbernen Knopf und benutzte meinen Daumenabdruck, um sie zu öffnen und festzustellen, wo wir gelandet waren. Ich wusste bereits, dass der Sporthallentunnel in Takedas Büro endete, da er uns diesen Weg schon früher gezeigt hatte, aber die anderen geheimen Eingänge überraschten mich. Ein Eingang war in einem Versorgungsraum des mathematisch-naturwissenschaftlichen Gebäudes, einer in einem Arbeitszimmer im Gebäude für Englisch und Geschichte und einer in der kaputten Tiefkühltruhe in der Küche des Speisesaals.

Als wir endlich mit den fünf Haupttunneln durch waren, bedeckten alle möglichen Linien, Kringel und Xe meine Karte und ich summte eine fröhliche Melodie vor mich hin.

»Du hast viel zu viel Spaß bei dieser Sache«, nörgelte Zoe.

Ich grinste. Sie verdrehte die Augen, hob aber ihre Kamera und machte ein Foto von mir.

Mehrere weitere Nebentunnel zweigten von den fünf Haupttunneln ab und führten vom Hof weg und weiter auf den Campus. Wir kartografierten auch diese. Die Tunnel schlängelten sich über das ganze Gelände und führten zu allen möglichen Orten – zu den Mädchen- und den Jungenwohnheimen, zu Schuppen voller Gartengeräten und anderem Zeug. Ich hatte das Gefühl, als erkundeten wir ein cooles, unterirdisches Spinnennetz, und konnte es gar nicht erwarten zu schauen, wohin der nächste Tunnel führte.

Zwei Stunden später hatten wir alle Tunnel und geheimen Eingänge verzeichnet, bis auf einen besonders langen Gang, der den Campus zu verlassen und in die Stadt Snowline Ridge zu führen schien. Ich hätte gerne weitergemacht, um zu sehen, wo dieser Tunnel mündete, aber Zoe brummelte unzufrieden vor sich hin wegen all der Lauferei, die wir bereits hinter uns gebracht hatten. Also machten wir uns stattdessen auf den Weg zurück zum Bunker.

Wir kamen zu einer großen Kreuzung, die ich für das Zentrum des Spinnennetzes hielt und von der aus die fünf Haupttunnel zu den verschiedenen Bereichen des Hofs führten. Zoe ging vor mir her um die Ecke und betrat den Tunnel, der uns in die Bibliothek zurückbringen würde. Sie sah über die Schulter zu mir nach hinten und öffnete den Mund, wahrscheinlich um zu sagen, wie froh sie sei, dass wir endlich fertig waren, doch da stolperte sie über etwas, taumelte vorwärts und stieß gegen die Wand. Ihre Beine flogen unter ihr weg und sie setzte sich heftig auf den Hintern.

»Zoe! Geht es dir gut?« Ich eilte zu ihr.

»Alles in Ordnung«, antwortete sie. »Nur mein Stolz hat eine Schramme abgekriegt. Hilf mir bitte hoch.«

Sie ergriff meine Hand und ich zog sie auf die Füße. Zoe schaute um sich, bis ihr Blick auf einem Haufen loser Ziegelsteine landete, die an einer der Wände lagen.

»Blöde Steine«, murrte sie.

Zoe trat mit dem Stiefel dagegen, woraufhin einer der Ziegelsteine zu Splittern zerfiel. Zoe glaubte nicht, dass sie die gleiche magische Kraft besaß wie andere Walküren, aber ich vermutete, dass sie viel stärker war, als ihr klar war.

Ich hockte mich hin und starrte auf den Haufen Ziegelsteine. »Sieht so aus, als hätte jemand diese Ziegelsteine absichtlich aus der Wand gebrochen. Siehst du, da hat jemand den Mörtel von den Steinen gekratzt.«

»Warum sollte jemand Steine aus der Wand reißen?«, fragte Babs.

»Vielleicht weil der Betreffende etwas dahinter verstecken wollte«, antwortete ich.

»Ein versteckter Schatz?« Zoe merkte auf. »Also, das wäre cool.«

Mein Herz klopfte vor Aufregung. Die Entdeckung eines versteckten Schatzes wäre der perfekte Abschluss für unsere Erkundung der Tunnel. Ich hakte Babs’ Scheide von meinem Gürtel und lehnte das Schwert an die Wand, damit es sehen konnte, was vor sich ging. Ich besaß nicht Zoes Walkürenkraft, aber die Ziegelsteine waren nicht sehr schwer. Ich räumte sie aus dem Weg und legte eine dunkle Stelle frei, die etwa die Ausmaße eines großen Buchs hatte. Dann beugte ich mich vor, leuchtete mit meiner Taschenlampe in das Loch und begriff … dass es nur ein leerer Hohlraum war.

Ich bewegte das Licht hin und her, aber es befand sich nichts in der Wand. Es war eine leere, hohle Stelle ohne irgendwelche versteckten Schätze. Enttäuschung machte sich in mir breit. Ich seufzte, aber ich griff nach den Ziegelsteinen und schob sie wieder in die Wand, sodass sie nicht mehr im Weg lagen und wir nicht wieder über sie stolpern würden.

Ich hatte gerade den letzten Ziegelstein zurückgeschoben, als in der Ferne ein lautes Knarren erklang.

Sofort war ich auf den Füßen und stellte mich neben Zoe.

»Hast du das gehört?«, flüsterte sie.

Ich nickte. Wir spähten in die Tunnel und versuchten auszumachen, woher das Geräusch gekommen war.

»Hey!«, rief eine leise Stimme. »Hier entlang!«

Zumindest dachte ich, dass die Stimme das sagte. Die seltsamen Echos in den Tunneln überlagerten sich und verzerrten alles, sodass es schwer war, die Worte genau zu verstehen oder zu erkennen, wem die Stimme gehörte. Trotzdem vermutete ich, dass meine düstere Vorhersage von vorhin sich bereits bewahrheitet hatte und Covington hier war. Dass er von den Tunneln wusste und versuchte, durch sie in den Bunker zu schleichen und Artefakte zu stehlen, allen voran die Schmuckschatulle.

Eine Abfolge durchdringender, gleichmäßiger, dumpfer Aufschläge erscholl und bestätigte meinen Verdacht. Ich war vielleicht nicht in der Lage gewesen, die verzerrten Worte zu verstehen, aber dieses Geräusch kannte ich. Schritte, und das von mehr als einer Person.

Es waren noch andere in den Tunneln – und sie kamen in unsere Richtung.

2

Zoe und ich sahen uns einen Moment lang an. Dann verfielen wir beide jäh in Aktivität.

Zoe ließ meine Kamera fallen, zerrte ihren Elektrodolch aus der Tasche und hob die Waffe in Angriffsposition. Ich sprang zur Seite, schnappte mir Babs von ihrem Platz an der Wand und zog das Schwert aus seiner Scheide.

»Schnell!«, flüsterte ich Zoe zu. »Wir müssen aus diesem Tunnel raus in einen anderen!«

Sie nickte und eilte in den Tunnel, der zum mathematisch-naturwissenschaftlichen Gebäude führte. Direkt in dessen Eingang blieb sie stehen und hockte sich hin, um sich kleiner zu machen. Ich warf Babs’ Scheide beiseite und wollte mich schon zu Zoe gesellen, aber sie deutete mit dem Finger in Richtung Decke.

»Das Licht!«, zischte Zoe. »Wir müssen das Licht ausschalten!«

Die Lampen, die in die Tunneldecke eingelassen waren, brannten immer noch hell und beleuchteten uns, und da sie durch Bewegung aktiviert wurden, leuchteten sie weiter, solange wir nicht still saßen. Ich suchte den Tunnel mit den Augen nach etwas ab, das ich nach den Lampen werfen konnte, um sie kaputt zu machen, aber ich entdeckte etwas noch Besseres – einen Lichtschalter.

Ich hätte ihn beinahe übersehen, da er in dem gleichen Grauton wie die Steine gehalten war, aber der Schalter befand sich im Bibliothekstunnel, nur wenige Schritte entfernt von der Stelle, wo ich die losen Ziegelsteine in die Wand zurückgeschoben hatte. Ich eilte hinüber und drückte auf den Schalter.

Das Licht erlosch mit einem leisen Klicken und tauchte den Bibliothekstunnel und den Rest der Kreuzung in Dunkelheit.

»Rory!«, zischte Zoe abermals. »Wo bist du?«

»Hier drüben beim Lichtschalter«, flüsterte ich. »Ich werde mich in den Tunnel zum Gebäude für Englisch und Geschichte schleichen. Bleib du im mathematisch-naturwissenschaftlichen Tunnel. Auf diese Weise können wir sie von zwei Seiten gleichzeitig angreifen.«

»Verstanden«, flüsterte sie zurück.

Ich tastete mich an der Wand entlang, bis ich zur Tunnelöffnung kam, dann schlüpfte ich hinein und ging in die Hocke. Zoe und ich verstummten, aber die anderen redeten weiter und ihre angespannten, besorgten Stimmen hallten von den Wänden wider.

»Was ist passiert?«

»Warum ist das Licht ausgegangen?«

Ich konnte nicht ausmachen, wie viele andere Personen es waren, aber ich schätzte mindestens zwei, vielleicht mehr, falls Covington seine Schnitter mitgebracht hatte. Normalerweise würde es mich nicht weiter beunruhigen, mich einem Haufen Bösewichte zu stellen, da das in der Mythos Academy ziemlich normal war, vor allem für eine Spartanerin wie mich. Aber sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte im Dunkeln nichts sehen und ich konnte nicht gegen etwas kämpfen, das ich nicht sah …

Moment mal. Ich konnte etwas sehen.

Ein schwaches, silbernes Licht leuchtete in diesem Tunnel, gerade eben hell genug, um die Wände auszumachen. Ich schaute mich um und fragte mich, ob an der Decke eine Notbeleuchtung angebracht war oder ob Zoe ihr Telefon fallen gelassen hatte. Es kostete mich ein paar Sekunden zu begreifen, dass das Leuchten von mir ausging – oder vielmehr von meinem Schwert.

Babs’ Klinge erstrahlte in einem schwachen, silbernen Licht. Ich bewegte das Schwert hin und her und fragte mich, ob ich es mir nur einbildete, doch das Leuchten blieb, schwach, aber stetig. Also lehnte ich das Schwert an die Wand und rutschte ein Stück zurück, damit ich es besser sehen konnte.

»Babs«, flüsterte ich. »Warum leuchtest du?«

Ihr grünes Auge bewegte sich nach unten und sie untersuchte ihre eigene Klinge. »Hm. Nun, das ist neu. Ich glaube nicht, dass ich je zuvor im Dunklen geleuchtet habe.« Ihr halbes Gesicht hellte sich auf. »Aber es gefällt mir. Dieser silbrige Schimmer macht wirklich das Beste aus meinen Gesichtszügen, findest du nicht auch? Es ist so viel schmeichelhafter als all das andere grelle Licht hier unten …«

»Konzentration, Babs, Konzentration.«

Einen Moment lang schmollte sie wegen meiner Unterbrechung, bevor sie wieder auf ihre Klinge herunterschaute. »Nun, ich weiß es nicht. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass du meinen Fluch aufgehoben hast?«

Als mir Babs vor einigen Wochen in der Bibliothek der Altertümer zum ersten Mal aufgefallen war, hatte ich keine Ahnung gehabt, dass das Schwert verflucht gewesen war und dass jeder Krieger, der es ergriff, nur drei Kämpfe damit bestreiten konnte, bevor er starb. Doch ich hatte den Fluch aufgehoben, weil ich Babs trotzdem benutzt und mich geopfert hatte, um meine Freunde im Cormac Museum vor ein paar Typhon-Chimären zu retten. Ich liebte Babs. Sie war jetzt meine Waffe und außerdem eine meiner besten Freundinnen, deshalb hatte ich gedacht, dass ich alles über sie wusste. Aber sie hatte recht. Das Leuchten war definitiv neu.

»Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich jetzt die Waffe eines Champions bin«, fuhr Babs fort. »Vielleicht hat Sigyn mir ein wenig zusätzliche Magie verliehen, als sie dich gebeten hat, ihr Champion zu sein.«

Champions waren Krieger, die hier im Reich der Sterblichen für die Götter und Göttinnen arbeiteten. Gwen Frost, meine Cousine, diente Nike, der griechischen Göttin des Sieges, sodass man sagen konnte, dass es den Familien Frost und Forseti gegeben war, Champion zu werden. Gwen hatte Loki besiegt, den bösen nordischen Gott des Chaos, und jetzt war es an mir, zur Heldin zu werden, da ich für Sigyn, die nordische Göttin der Hingabe, arbeitete.

Sigyn hatte mich beauftragt, Covington aufzuhalten und seinen mysteriösen, bösen Plan zu vereiteln. Es war eine Aufgabe, eine Berufung, die ich mit Freuden angenommen hatte. Natürlich wollte ich mich an Covington rächen, weil er meine Eltern ermordet hatte, aber als Spartanerin, als wahre Kriegerin, wollte ich auch andere Menschen beschützen. Niemand sollte den Schmerz, das Unglück und den Kummer durchmachen müssen, die ich erlebt hatte. Die beste Art, das zu erreichen, war, Covington und seine Schnitter aufzuhalten.

»Jepp, Sigyn hat mir wahrscheinlich ein wenig zusätzliche Magie verliehen. Das muss es sein«, befand Babs. »Sieh dir meine Runen an. Eigentlich sind sie es, die an mir leuchten.«

Sie hatte recht. Eine Reihe von Runen war in ihre Klinge geritzt und jede einzelne schimmerte wie ein schwacher Stern. Für alle anderen sahen die Runen wahrscheinlich aus wie zufällige Kratzer, da nur ein Champion imstande war, die Worte auf seiner eigenen Waffe zu lesen, aber ich konnte mühelos jeden einzelnen Buchstaben und die Worte, zu denen sie sich zusammensetzten, erkennen – Hingabe ist Kraft.

Vielleicht war es eine Botschaft von Sigyn, dass Covington hier war, dass ich all meine Kampfkünste und meine Heilmagie einsetzen musste, um ihn zu besiegen. Entschlossenheit durchströmte mich. Ich streckte die Hand aus, um wieder nach Babs zu greifen, und in dem Moment wurde mir klar, dass das Schwert nicht das Einzige war, das leuchtete – auch mein Armband tat es.

Die silberne Kette und die daran befestigten Anhänger schimmerten genau wie Babs’ Klinge. Hier musste Freyas Magie am Werk sein. So oder so, wenn ich das Schimmern sah, dann konnten es auch die anderen Personen im Tunnel sehen, wer immer sie auch waren, daher zog ich den Ärmel meines Shirts über das Armband, um es zu verdecken. Außerdem schnappte ich mir Babs und hielt sie hinter mein rechtes Bein, um das Leuchten ihrer Klinge so gut wie möglich zu dämpfen.

Dann hielt ich nach einer anderen Waffe Ausschau.

Wenn Covington eine Gruppe von Schnittern hergebracht hatte, dann würde ich alles brauchen, was ich in die Finger bekommen konnte, um sie zu besiegen. Dank Babs’ Licht konnte ich meine Tasche sehen, die im Tunnel der Bibliothek lag. Zoe hatte ihren Elektrodolch, aber ich hatte mir gar nicht erst die Mühe gemacht, irgendwelche Dolche in meine Tasche zu packen. Ich brauchte keine richtige Waffe wie andere Krieger. Als Spartanerin besaß ich die angeborene, magische Fähigkeit, mir jede Waffe – oder irgendeinen anderen Gegenstand – greifen zu können und automatisch zu wissen, wie ich damit jemanden töten konnte. Diese Fähigkeit war es, die Spartaner zu herausragenden Kriegern und enorm gefährlich machte.

Mein Blick flog zu meiner Tasche und deren Inhalt, der sich auf dem Boden verteilt hatte, als ich alles fallen gelassen, mir Babs geschnappt und das Licht ausgeschaltet hatte. Mir boten sich drei Möglichkeiten – die Digitalkamera, die Zoe benutzt hatte, das Notizbuch, das meine Karte der Tunnel enthielt, oder der Stift, mit dem ich geschrieben hatte.

Die Kamera konnte ich jemandem über den Kopf hauen, aber das Plastik würde dabei zerbrechen, und nach diesem einen Schlag wäre die Kamera unbrauchbar. Das Notizbuch konnte ich zusammenrollen und damit jemandem ins Gesicht stechen, aber es war zu dünn und zu leicht, um großen Schaden anzurichten. Ich hatte keine Zeit, den Draht aus dem Buchrücken zu ziehen, um ihn zu einer Waffe zu machen.

Blieb also der Stift.

Ich machte einen Satz vorwärts, schnappte mir den Stift vom Boden und ging dann wieder in Position. Ich warf den Stift in der Hand ein paarmal hoch, um ein Gefühl für Gewicht, Stärke und Balance zu bekommen. Im Gegensatz zu meinem Fotoapparat und dem Notizbuch war der Stift aus Metall, was bedeutete, dass er sich im Kampf ein wenig länger halten würde. Er war zwar nicht annähernd so spitz und stark wie Zoes Elektrodolch, aber er würde genügen müssen. Meine Finger schlossen sich fester um den Stift. Ich würde schon damit zurechtkommen. So war das bei uns Spartanern.

»Rory!«, zischte Zoe wieder aus dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Tunnel. »Was ist los?«

»Ich mache mich nur bereit für den Kampf«, flüsterte ich zurück. »Behalte deine Position bei, sie kommen.«

Wir verstummten beide.

Die anderen hatten ebenfalls aufgehört zu reden, aber ihre Schritte wurden lauter und schneller und sie kamen näher, als hätten sie ihr Tempo erhöht und joggten jetzt auf uns zu. Ich schaute um die Ecke des Tunnels zum Gebäude für Englisch und Geschichte. Am anderen Ende des Bibliothekstunnels erschien ein kleines Licht, obwohl der schwache Schein und die Art, wie es auf- und abhüpfte, mich auf den Gedanken brachten, dass es ein Telefon war, das jemand hielt, und keine Taschenlampe.

»Hey!«, rief einer von ihnen. »Ich sehe eine Tasche! Und noch ein paar andere Sachen!«

»Das sehe ich auch! Sie müssen hier unten sein!«, pflichtete ein anderer dem ersten Sprecher bei.

Die Schritte wurden immer lauter und schneller. Die Schnitter kamen jetzt mit vollem Tempo auf uns zugerannt und weniger als eine Minute später stürmten zwei schattenhafte Gestalten am mathematisch-naturwissenschaftlichen Tunnel vorbei, wo Zoe sich versteckt hielt. Ich packte Babs und meinen Stift fester und machte mich zum Angriff bereit.

Eine Sekunde später rasten die beiden Gestalten an der Öffnung des Englisch-Geschichte-Tunnels vorbei, in dem ich mich versteckte. Mit lautem Gebrüll stürmte ich vorwärts und griff sie an.

 

Einen Moment lang dachte ich, Zoe hätte ebenfalls gebrüllt. Es klang beinahe so, als hätte sie das Wort »Stopp« gerufen, obwohl ich keine Ahnung hatte, warum sie das sagen sollte.

Der Schatten vor mir wirbelte herum und ich fand mich mitten im Kampf wieder.

Zuerst schlug ich mit meinem Stift um mich und versuchte, ihn dem Schatten in die Kehle zu rammen. Aber der Schatten war schneller als erwartet. Er blockte den Schlag ab und hielt mir die Handgelenke fest.

Normalerweise konnte ich, wenn ich mit jemandem kämpfte, sehen, was der andere tun würde, bevor er es wirklich tat. Ich konnte erkennen, wie heftig ein Gegner mich schlagen würde, wie oft, sogar aus welchem Winkel er auf mich zielen würde. Es war meine spartanische Magie, die sich zeigte. Die Beteiligung an einem Kampf war für mich wie eine Hauptrolle in meinem persönlichen Actionfilm – der Vorteil lag immer bei mir, da ich der anderen Person immer ein paar Schritte voraus war.

Doch hier in der Dunkelheit konnte ich nicht so gut sehen wie sonst, was diese spezielle Fähigkeit einschränkte. Trotzdem, ich war in viele Kämpfe verwickelt gewesen, daher konnte ich abschätzen, was der Mann als Nächstes tun würde. Und tatsächlich, er bog mein Handgelenk nach hinten und versuchte, mich dazu zu bringen, den Stift fallen zu lassen, daher kam ich ihm entgegen und gab meine improvisierte Waffe frei. Er lockerte für eine Sekunde seinen Griff und gab mir damit genug Zeit, vorzupreschen und ihm den Ellbogen in den Magen zu rammen. Der Atem entwich seinen Lungen mit einem lauten Uff! und ich wirbelte herum und entzog mich seinen langen Armen.

Der Mann erholte sich schnell und stürzte sich wieder auf mich. Ich hörte das schwache Zischen einer Waffe, die die Luft durchschnitt, und hob Babs in Verteidigungsposition.

Klirr!

Unsere Waffen krachten gegeneinander und übertönten alles andere. Und dann entbrannte der Kampf erst richtig.

Hin und her ging es in dem Tunnel. Mit jedem Angriff und Gegenangriff verzeichnete ich alles, was ich über den Mann erfuhr. Er war groß und schnell, aber er besaß nicht die Supergeschwindigkeit eines Römers. Dafür war er außerordentlich stark, was mir verriet, dass er ein Wikinger war. Wegen der schummrigen Dunkelheit konnte ich nicht genau sagen, welche Art von Waffe er benutzte, aber sie wirkte massig und schwer. Wahrscheinlich eine Axt. Wikinger zogen diese Waffen im Allgemeinen Schwertern vor.

Ungeachtet der Tatsache, dass der Mann versuchte, mich in Stücke zu hacken, grinste ich, als er herumwirbelte und unsere Klingen wieder und wieder aufeinanderkrachten. Das war noch so etwas Verrücktes an den Spartanern. Es kam mir völlig natürlich vor, um mein Leben zu kämpfen, als sei es etwas, das ich tun sollte, als mache es einen großen Teil von mir aus. Ich würde niemals etwas anderes sein können als eine Kriegerin.

Das machte mir größere Sorgen, als ich zugeben mochte. Spartanerin hin oder her, ich wollte nicht mein ganzes Leben damit verbringen, gegen Schnitter zu kämpfen. Selbst Krieger brauchten gelegentlich eine Pause und selbst der beste Krieger konnte auf dem Schlachtfeld sterben. Ein geglückter Schlag, ein einziger Moment des Zögerns oder der Ablenkung, mehr brauchte es nicht, um einen ins Grab zu schicken. Aber ich schob meine Sorgen beiseite, denn wenn ich diesen Kampf gewinnen wollte, musste ich mich konzentrieren.

Der Typ war gut, ein würdiger Gegner für meine spartanischen Kampfkünste, und es erforderte mein ganzes Geschick, ihn daran zu hindern, mich in Streifen zu schneiden. Ich hatte seit langer Zeit nicht mehr gegen jemanden gekämpft, der so begnadet war wie er, und das würde es umso befriedigender machen, ihn zu besiegen. Ich lächelte wieder, noch glücklicher als zuvor, doch dann kam mir ein anderer, beunruhigender Gedanke.

Ein hochgewachsener, starker Wikinger, der eine Axt benutzte und ein großer Krieger war? Kämpfte ich womöglich gegen …

Das Licht flammte auf und ich erstarrte überrascht. Der Typ, gegen den ich kämpfte, erstarrte ebenfalls. Wir beide blinzelten und blinzelten und versuchten, unsere Augen dazu zu bringen, sich an das grelle Licht zu gewöhnen, das jetzt die Tunnel durchflutete. Ich starrte den Typen vor mir an und er erwiderte meinen Blick.

Er war groß und muskulös und schwang eine riesige Axt, die er schon zum nächsten Schlag über die Schulter gehoben hatte. Er trug schwarze Jeans und Stiefel und sein Bizeps trat deutlich unter dem Ärmel seines dunkelgrauen T-Shirts mit Knopfleiste hervor, als er jetzt die Waffe sinken ließ.

Die Tunnelbeleuchtung brachte die honigfarbenen Strähnen in seinem zerzausten, dunkelblonden Haar, seine perfekten Wangenknochen, seine gerade Nase und sein markantes Kinn zur Geltung. Man kombiniere den muskulösen Körper mit seinem guten Aussehen und er war absolut zum Anbeißen, doch ich konzentrierte mich wie immer auf seine Augen. Sie waren von einem hellen, durchdringenden Grau und glänzten so strahlend wie die scharfe Schneide seiner Axt. Seine Augen hatte ich schon immer geliebt, von unserer ersten Begegnung an …

Ian Hunter betrachtete mich mit einer Mischung aus Überraschung, Erleichterung und Erheiterung. Nach ein paar Sekunden räusperte er sich und schaute demonstrativ nach unten. Zuerst fragte ich mich, was er da anstarrte, aber dann begriff ich, dass ich ihm Babs’ Schneide nur zwei Zentimeter vor die Kehle hielt.

»Hallo, Rory«, begrüßte Ian mich mit tiefer, donnernder Stimme. »Meinst du, du könntest dein Schwert jetzt bitte senken?«

3

Ich stand mit großen Augen wie erstarrt da und versuchte, die Tatsache zu verarbeiten, dass ich gerade Ian Hunter angegriffen hatte, ein Mitglied des Teams Midgard.

Es war schlimm genug, meinen Teamkameraden zu attackieren, aber was es noch um ein Vielfaches schlimmer machte, war die Tatsache, dass ich ernsthaft in Ian verknallt war. Und ich hatte ihn nicht nur angegriffen. O nein. Ich hätte ihm beinahe seinen verdammten Kopf abgeschlagen, weil ich irrtümlicherweise angenommen hatte, er sei ein Schnitter.

Gut gemacht, Rory. Wirklich gut.

Heiße Röte überzog meine Wangen und trotz der kühlen Luft brannte mein Gesicht. Ganz zu schweigen von dem Schreck und der Verlegenheit, die mein Herz zum Hämmern brachten. Aber zumindest konnte das außer mir niemand sehen oder fühlen.

»Rory?«, fragte Ian. »Ist alles okay? Du guckst so komisch.«

Ich stolperte rückwärts, weg von ihm, und ließ mein Schwert fallen. »Ja, sicher«, murmelte ich. »Tut mir leid. Ich dachte, du wärst ein Schnitter.«

Ian grinste, was ihn nur noch großartiger aussehen ließ. »Keine Sorge.« Er boxte mir sachte gegen die Schulter. Na ja, sachte für einen Wikinger. »Verwechslungen und heimliches Anschleichen unter Teamgefährten sind nur Spiel und Spaß, richtig?«

»Teamgefährten«, murmelte ich und massierte mir die Schulter, während mir schwer ums Herz wurde. »Richtig.«

»Ich bin nur froh, dass Rory dich angegriffen hat und nicht mich«, ertönte eine weitere Stimme.

Ian und ich drehten uns um und sahen Mateo Solis, ebenfalls Mitglied des Teams Midgard, im Tunnel hinter uns stehen. Mateo war um etliche Zentimeter kleiner als Ian mit seinen eins achtzig und mit dem schlanken Körperbau eines Läufers viel schmaler gebaut. Sein dunkelbraunes Haar und seine Augen glänzten in der Beleuchtung, die seine Haut ebenfalls aussehen ließen wie polierte Bronze.

Mateo trug dunkelblaue Laufschuhe und eine Khakihose sowie ein dunkelblaues T-Shirt auf dem Lochness Pride stand, was, wie ich annahm, irgendeine Footballmannschaft in Cloudburst Falls, West Virginia, war, denn der Name der Kleinstadt stand am unteren Stoffrand. Zudem zeigte es ein Bild des Ungeheuers von Loch Ness – oder zumindest eines seiner Tentakel –, das einen Football über eine Brücke warf. All die seltsamen Sportnamen und Mannschaftslogos würde ich wohl nie verstehen. Warum sollte das Loch-Ness-Ungeheuer jemals Football spielen?

Mateo grinste Ian und mich an, dann schüttelte er den Kopf. »Ich schätze mich glücklich, dass Zoe uns erkannt und mich aus eurem epischen Duell herausgehalten hat.«

Zoe schnaubte. »Und Rory und Ian können sich beide glücklich schätzen, dass ich den Lichtschalter gefunden habe, bevor sie sich gegenseitig in Stücke zerteilen konnten.«

»Wir hatten nur ein wenig Spaß. Das tun Wikinger und Spartaner nun mal. Richtig, Rory?« Ian zwinkerte mir zu und ließ mich auf diesem Wege wissen, dass es in Ordnung war und er das Gleiche getan hätte, wären unsere Positionen vertauscht gewesen.

Meine Verlegenheit ließ ein wenig nach und ich erwiderte sein Grinsen. »Es ist genau das, was Wikinger und Spartaner tun.«

Zoe stemmte die Hände in die Hüften. Blaue Magiefunken zischten aus ihren Fingerspitzen und fielen auf den Boden. »Nun, jetzt, da wir alle wieder Freunde sind, warum erzählt ihr uns nicht, warum ihr gedacht habt, es sei eine gute Idee, sich an uns heranzuschleichen?«

»Wir haben uns nicht herangeschlichen«, protestierte Mateo. »Du hast mir erzählt, dass du und Rory die Tunnel kartografieren geht. Das war kein Geheimnis. Du jammerst schon seit Tagen deswegen.«

Ich sah Zoe an. Sie hatte mir gegenüber nichts davon gesagt, dass sie die Tunnel nicht erkunden wollte. Zumindest nicht bis heute Nachmittag. Sie hielt den Blick starr auf Mateo gerichtet, zuckte jedoch zusammen und weitere Magiefunken sprühten aus ihren Fingerspitzen. Schuldig im Sinne der Anklage.

»Wir haben euch gerufen«, sagte Ian. »Habt ihr uns nicht gehört?«

»Bei uns kamen nur verzerrte Worte und das Geräusch von Schritten an, daher wussten wir nicht, dass ihr es wart«, antwortete ich. »Warum seid ihr uns überhaupt gefolgt? Wir waren gerade auf dem Weg zurück in die Bibliothek.«

Ians Gesichtsausdruck wurde ernst. »Takeda hat uns geschickt. Er hat eine neue Mission für uns und will, dass alle in den Bunker kommen.«

Ich verkrampfte mich. »Geht es um Covington? Hat das Protektorat ihn endlich gefunden?«

Ian warf mir einen mitfühlenden Blick zu. Er wusste, wie sehr ich mir wünschte, Covington zu finden, aber er schüttelte den Kopf. »Takeda hat nichts gesagt, doch es schien wichtig zu sein. Also, kommt mit. Wir müssen zurück und herausfinden, was los ist.«

Ich schnappte mir meine Tasche und den Rest meiner Sachen vom Boden. Dann gingen wir alle vier durch den Bibliothekstunnel zurück in den Bunker.

Zehn Minuten später saßen wir an unseren gewohnten Plätzen am Besprechungstisch, mit Mateo und Ian auf der einen und Zoe und mir auf der anderen Seite. Babs, wieder in ihrer Scheide, lehnte auf einem Stuhl neben mir.

Schritte ertönten in einem der Flure und zwei Erwachsene traten ein. Einer war ein Mann von Anfang dreißig mit schwarzem Haar, dunkelbraunen Augen und von schlanker Statur. Er trug anthrazitgraue Sneakers und einen Jogginganzug in derselben Farbe. Um seinen Hals hing eine silberne Pfeife, die sein Outfit als Sporttrainer komplett machte.

Außerdem kam eine Frau von Ende zwanzig herein, mit den gleichen langen, glänzenden, schwarzen Haaren und grünen Augen wie ich, obwohl ich immer gefunden hatte, dass sie viel hübscher war. Sie trug eine weiße Kochjacke über einer weiße Hosen und Sneakers, was sie als Mitglied des Mensateams auswies.

Hiro Takeda, ein Samurai und der Anführer von Team Midgard, flüsterte Rachel Maddox, Spartanerin und meine Tante, etwas zu, woraufhin sie in leises, fröhliches Lachen ausbrach.

Es war lange her, seit ich sie das letzte Mal so hatte lachen hören.

Tante Rachel war die jüngere Schwester meiner Mutter und hatte mich nach dem Tod meiner Eltern bei sich aufgenommen. Sie war entsetzt gewesen zu erfahren, dass Rebecca und Tyson Forseti Schnitter waren, und hatte zusammen mit mir unter all den unangenehmen Konsequenzen leiden müssen, die die Taten meiner Eltern nach sich gezogen hatten. Die Trauer, die unbeantworteten Fragen, die zornigen Blicke und die hasserfüllten Bemerkungen der Schüler, Professoren und Angestellten der Akademie. Tante Rachel hatte das alles geschultert und noch viel, viel mehr.

Takeda lächelte Tante Rachel an und ihr ganzes Gesicht leuchtete auf, als sie sein Lächeln erwiderte. Hm. Die beiden hatten sich nicht besonders gemocht, als ich Team Midgard vor einigen Wochen beigetreten war, aber das Eis war langsam geschmolzen und jetzt waren sie … nun, ich war mir nicht ganz sicher, was sie waren, aber wenn sie einander glücklich machten, dann war ich ebenfalls glücklich. Tante Rachel verdiente jemand Besonderen nach all dem Kummer, dem Schmerz und dem Elend, das meine Eltern über sie gebracht hatten.

Takeda nickte uns zu und nahm seinen Platz an der Stirnseite des Tischs ein. Dann legte er den Stapel mit Ordnern, die er bei sich hatte, auf den Tisch und fing an, sie durchzublättern.

Tante Rachel schob sich auf den Stuhl neben Babs, dann beugte sie sich zu mir vor und sah mich an. »Wie war es in den Tunneln? Habt ihr etwas Interessantes gefunden?«

Ihr Blick war warm und ihre Stimme hell und neckend. Sie wusste, wie sehr ich Geheimnisse liebte und wie aufgeregt ich bei dem Gedanken gewesen war, die Tunnel zu erkunden. Sie hatte mich heute Morgen sogar mit einem neuen Karma-Girl-Notizbuch überrascht, damit ich darin die Karten von den Tunneln festhalten konnte.

»Es war echt toll. In den Tunneln gibt es viel mehr Verzweigungen, als ich dachte, und du wirst nicht glauben, wohin einige davon führen. Hast du gewusst, dass es einen geheimen Eingang in der kaputten Tiefkühltruhe der Speisesaalküche gibt?«

»Wirklich? Den musst du mir mal zeigen.« Tante Rachel drückte meine Hand. »Es freut mich, dass du dich heute amüsiert hast.«

Ich erwiderte ihre Geste. »Freut mich auch.«

Takeda legte den letzten seiner Ordner beiseite und signalisierte, dass es an der Zeit sei, anzufangen. Ich drückte noch einmal Tante Rachels Hand, dann drehten wir uns zu dem Samurai um.

Takeda nahm ein Gerät, das wie eine Fernbedienung für einen Fernseher aussah, vom Tisch. »Wie ihr alle wisst, hat das Protektorat seit dem Kostümball im Herbst versucht, eine neue Gruppe von Schnittern aufzuspüren.«

Das Protektorat war in der mythologischen Welt die Polizei. Seine Angehörigen jagten Schnitter des Chaos und sperrten sie ein. Außerdem kümmerten sie sich um Verbrechen, die sich auf die Schüler der Mythos Academy, auf ihre Familien und andere Krieger rund um die Welt auswirkten.

Takeda drückte auf einen Knopf auf der Fernbedienung. Fotos von verschiedenen Bibliotheken, Museen und Lagerhäusern tauchten auf den Wandmonitoren auf, darunter mehrere Aufnahmen des Cormac Museums, in dem im Herbst der Kostümball stattgefunden hatte. »Bisher war es das Ziel dieser neuen Gruppe von Schnittern, mächtige Artefakte zu stehlen. All das ist unter der Leitung von Covington, dem Anführer der Schnitter, und seiner rechten Hand, Drake Hunter, geschehen.«

Takeda drückte auf einen weiteren Knopf und abermals tauchten zwei Fotos auf den Monitoren auf.

Auf dem ersten Foto war ein relativ kleiner Mann mittleren Alters mit haselnussbraunen Augen und Haaren sowie einem eine Spur dunkleren braunen Ziegenbärtchen zu sehen. Covington lächelte und seine Zähne leuchteten weiß in seinem rötlichen Gesicht, aber er kniff die Augen zusammen und sein Lächeln wirkte eher raubtierhaft als freundlich.

Das zweite Foto zeigte einen großen, muskulösen Typen mit goldenem Haar von ungefähr Anfang zwanzig. Er war einige Jahre älter als meine Freunde und ich, die wir alle siebzehn waren. Die Augen des Typen waren von einem durchdringenden Blau und er hatte die gleichen tollen Wangenknochen, die gleiche gerade Nase und das gleiche markante Kinn wie Ian. Die Ähnlichkeit zwischen ihnen war unübersehbar. Auf dem Foto sprach Drake gerade in sein Handy und schaute mit funkelndem Blick zur Seite.

Ich verkrampfte mich und Ian tat das Gleiche. Ich hasste Covington dafür, dass er meine Eltern ermordet hatte, aber Ians Situation war noch schlimmer als meine. Drake, sein älterer Bruder, hatte versucht, ihn für die Schnitter zu rekrutieren, aber bei Ians Weigerung hatte Drake versucht, ihn zu töten.

Meine Eltern mochten gelogen haben, was ihre Tätigkeit bei den Schnittern betraf, aber zumindest wusste ich, dass sie mich geliebt und versucht hatten, die böse Gruppe zu verlassen. Außerdem hatten sie mich niemals so verraten, wie Drake Ian verraten hatte. Diese Art von Verrat, diese Art von Grausamkeit, zerschnitt einem das Herz in hundert scharfkantige Stücke, die man nie wieder recht zusammenfügen konnte, wie sehr man sich auch bemühte.

»Hat das Protektorat herausgefunden, wo Drake und Covington sich verstecken?«, knurrte Ian. Seine grauen Augen glühten förmlich vor Zorn und er hatte die Hände auf dem Tisch zu Fäusten geballt.

Ich wusste genau, wie er sich fühlte. Meine Hände waren ebenfalls zu Fäusten geballt, obwohl ich meine unter dem Tisch behielt.

»Bedauerlicherweise nicht«, antwortete Takeda mitfühlend. »Aber wir glauben zu wissen, wo sie sich morgen möglicherweise aufhalten.«

Zoe runzelte die Stirn. »Was soll das denn heißen?«

»Wir haben einen speziellen Gast, der uns über eine Telefonkonferenz zugeschaltet wird. Ich lasse sie das Ganze erklären.« Takeda drückte auf einen weiteren Knopf auf der Fernbedienung. Die Fotos von Covington und Drake verschwanden und der große Monitor in der Mitte wurde schwarz. »Miss Cruz? Sind Sie da?«

Er drückte weiter auf Knöpfe, aber nichts geschah. Nach mehreren Sekunden räusperte Mateo sich betont und streckte die Hand aus. Takeda übergab ihm seufzend die Fernbedienung. Mateo drückte auf mehrere Knöpfe und eine Live-Aufnahme von einem Mädchen erschien auf dem mittleren Monitor.

Sie war ziemlich hübsch, mit blondem Haar, schwarzen Augen und bernsteinfarbener Haut. Sie trug einen rosafarbenen Pullover und befand sich anscheinend gerade in ihrem Wohnheimzimmer, denn die Wände hinter ihr waren ebenfalls rosa, genauso wie alle Möbel.

Daphne Cruz war mit meiner Cousine Gwen Frost befreundet und die entschlossene Walküre hatte Gwen und dem Rest ihrer Freunde geholfen, Loki in der Schlacht um die Mythos Academy auf dem Campus in Cypress Mountain in North Carolina zu besiegen.

»Hallo?«, sagte Daphne. »Hallo? Hallooo?«

Ich beugte mich vor und winkte. »Hi, Daphne. Kannst du uns jetzt sehen?«

Sie lächelte. »Ah, da seid ihr ja. Hey, Rory. Rachel. Alle anderen, die ich nicht kenne.«

Alle murmelten ihre Hallos und Daphne schaute in die Mitte ihres Bildschirms. »Takeda, richtig?«

Er nickte. »Der bin ich. Danke, dass Sie sich Zeit für uns nehmen. Warum erzählen Sie den anderen nicht, was Sie herausgefunden haben?«

Sie lehnte sich auf ihrem rosa Stuhl zurück. »Nun, seit Gwen vor ein paar Wochen aus Colorado zurückgekommen ist und uns erzählt hat, was mit Covington passiert ist, haben wir uns von hier aus mit dem Ganzen beschäftigt und versucht, in Erfahrung zu bringen, wo er vielleicht als Nächstes zuschlagen wird. Da die Schnitter Artefakte gestohlen haben, hat Gwen mich gebeten, eine Datenbank mit allen bekannten Artefakten zu erstellen.«

»Ich arbeite an etwas Ähnlichem, aber es war ziemlich überwältigend«, warf Mateo ein. »Weißt du, wie viele Artefakte es da draußen gibt? Hunderte, wenn nicht Tausende.«

»Genau«, antwortete Daphne. »Darum bin ich auch zu dem Schluss gekommen, das Ganze etwas einzugrenzen. Also habe ich ein Programm geschrieben, das alle bekannten Informationen über Artefakte sucht und analysiert, um festzustellen, welche davon die gefährlichsten und mächtigsten sind und sich deshalb möglicherweise auf dem Wunschzettel der Schnitter befinden. Das alles ist sehr technisch und langweilig.«

»Ich finde nicht, dass es langweilig ist«, widersprach Mateo aufgeregt. »Ich finde es toll und du bist eine Technikgöttin.«

Daphne lächelte und zuckte die Achseln, als sei es keine große Sache, aber einige prinzessinnenrosa Magiefunken knisterten um sie herum und verrieten mir, dass sie das Kompliment zu schätzen wusste.

Sie war jedoch nicht die Einzige, die Magie verströmte. Einige blaue Funken zischelten neben mir in der Luft, verursacht durch Zoe, die in einem schnellen, ärgerlichen Rhythmus mit den Fingern auf den Tisch klopfte. Sie musterte stirnrunzelnd Mateo, der das Kinn in die Hand gestützt hatte und mit einem verzückten, träumerischen Gesichtsausdruck auf den Monitor – und Daphne – starrte. Seltsam. Es machte beinahe den Eindruck, als sei Zoe angesichts von Mateos Faszination für das Mädchen eifersüchtig.

»Wie dem auch sei«, fuhr Daphne fort, »ich habe einige Artefakte gefunden, die in Bibliotheken und Museen in der Nähe von Snowline Ridge aufbewahrt werden und die für die Schnitter vielleicht von Interesse sein könnten. Takeda habe ich bereits eine Liste mit diesen Gegenständen gemailt.«

Er nickte zum Zeichen, dass er die Informationen erhalten hatte.

»Aber es gibt ein Artefakt, das den Eindruck macht, als wäre es genau Covingtons Ding. Es heißt Selkets Schreibfeder.«

Daphne drückte eine Taste auf ihrem Laptop. Auf den anderen Wandmonitoren erschienen Fotos, die alle das Gleiche zeigten: eine altmodische, große, schwarz glänzende Schreibfeder.

»Stammt diese Feder von einem Schwarzen Rock?«, fragte Tante Rachel.

Schwarze Rock waren riesige mythologische Vögel, die die Schnitter häufig in der Schlacht einsetzten und auch, um auf ihnen von einem Ort zum anderen zu fliegen. Ich studierte die Feder. Sie sah auf jeden Fall so aus, als könnte sie von einem der Vögel stammen, vor allem da kleine, dunkelrote Streifen um die schwarze Feder herumliefen, als seien die Ränder in Blut getaucht worden. Rockfedern hatten das gleiche unheimliche Muster.

Takeda schüttelte den Kopf. »Bedauerlicherweise ist das nicht die Feder eines Rocks. Sie stammt von etwas viel, viel Schlimmerem.«

Daphne drückte auf einige weitere Tasten und mehrere Nahaufnahmen der Schreibfeder erschienen.

Ian blinzelte zu den Bildschirmen hinüber. »Einen Moment mal. Was ist das da unten an der Feder? Das Schreibende sieht aus wie eine Art … Kreatur.«

Übelkeit stieg in mir auf und ich beugte mich vor, um mir die Fotos genauer ansehen zu können. Ian hatte recht. Die schwarze Feder war nicht einfach am unteren Ende zugeschnitten wie ein Gänsekiel, den man früher zum Schreiben verwendet hatte, sondern war dort mit einer silbernen mythologischen Kreatur versehen, die große Ähnlichkeit mit einem Schwarzen Rock hatte.

Sie bestand in etwa aus der gleichen vogelartigen Gestalt und den Flügeln eines Rocks, aber ihr Kopf sah eher aus wie der eines Hahns mit einem scharfzackigen Kamm. Statt in Federn schien der Schwanz der Kreatur in eine Klapperschlange auszulaufen und endete in einem einzelnen Stachel an der Stelle, an der die Tinte aus der Feder fließen sollte. Ein kleiner Rubin glitzerte im Auge der Kreatur. Ihr Schnabel war weit geöffnet, als wolle sie etwas verschlingen.

Ich schauderte.

Es war keine Kreatur – das hier war ein Monstrum.

»Das ist ein Selket-Basilisk«, flüsterte Tante Rachel.

Ende der Leseprobe