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Mysteriöser Harz – sagenumwobener Kyffhäuser Harz und Kyffhäuser bergen nicht nur massive Geschichte, sondern auch reichhaltige Geschichten, die seit über eintausend Jahren von Mund zu Mund, von Dorf zu Stadt, und von Tag zu Tag weitergegeben werden. Mario Junkes erzählt vom Brocken und von Hexen, von Burgen und Zwergen, von Räubern, Kirchen, dem Teufel und Geistern, von einem Adler auf dem Hübichenstein, einem Kaiser auf dem Kyffhäuser, und einem mittendrin. Die spannendsten Sagen aus der Region hat er für Sie gesammelt und im Gewand seiner eigenen schönen Sprache zu neuem Leben erweckt.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Lieber lesender Mensch nah und fern,
Ihre Anwesenheit bereitet mir große Freude. Ihr ergebener Autor freut sich darauf, Sie mit auf eine neuerliche Reise zu nehmen. Heute führt uns der Weg zum höchsten Gebirge Norddeutschlands und dessen kleinem Bruder. Auf geht's zu Harz und Kyffhäuser.
Die inneren Kräfte unserer Erde und die Turbulenzen damaliger Zeit hatten den alten Superkontinent Pangaea ermüdet. Pangaeas Teile Gondwana und Laurussia erkannten einander. Der Harz war geboren. Dies ereignete sich vor gut 315 Millionen Jahren. Ungefähr so lange wie die Person vor uns an der Supermarktkasse braucht, bis das Kleingeld aus der Tasche gefischt ist, um dann doch mit Karte zu zahlen. Ungefähr so lange wie eine Webseite lädt, wenn man es gerade eilig hat. Aber wie lange ist das wirklich her? Stellen Sie sich vor, 315 Millionen Jahre seien ein Jahr. Genau jetzt wäre also der 31. Dezember um genau eine Sekunde vor Mitternacht.
Dieses Jahrtausend begann vor zwei Sekunden. Tick, tack, tick, tack. Y2K. Deutschlands Wiedervereinigung, blühende Landschaftsfantasie, Andi Brehmes Elfer – all das geschah vor drei Sekunden. Waldemar Cierpinski holte vor vier Sekunden zum zweiten Mal Marathon-Gold in Moskau. Vor fünf Sekunden war Neil Armstrong der erste Mensch auf dem Mond.
Vor rund sechs Sekunden war Yuri Gagarin der erste Mensch im All. Ebenso schwang vor rund sechs Sekunden Walter Ulbricht ganz ohne Absicht seine Traufel und zog eine sprichwörtliche Mauer mitten durch den Harz. Helmut Rahn schoss vor sieben Sekunden das Siegtor gegen Ungarn.
Liebe lesenden oder zuhörenden Kinder. Fragt doch mal Eure Erwachsenen, wie das war, als normale Menschen den halben Harz nicht betreten durften. Warum gab es dort Dinge wie ein »Militärisches Sperrgebiet«, und warum durfte man nicht im Brockengarten spielen? Das war, weil der Möchtegernmittelstürmer und Spielführer Adolf Hitler vor knapp acht Sekunden in Berlin das letzte seiner Millionen Eigentore geschossen hatte, während sowjetische Soldaten auf dem Brocken die russische Flagge hochzogen. Zum Glück sind wir Menschen heute friedlicher. Meistens jedenfalls.
Außerdem vor acht Sekunden: Erich Klöckner erreicht mit einem Segelflugzeug die Stratosphäre – bei lauschigen minus sechsundfünfzig Grad Celsius. Vor neun Sekunden wurde der Zwergplanet Pluto zum ersten Mal gesehen. Der erste Weltkrieg endete vor etwas über zehn Sekunden. Die ersten olympischen Spiele der Neuzeit fanden vor gut zwölf Sekunden statt. Vor gut dreizehn Sekunden – sie brauchte keine Autobahn, um Geschichte zu schreiben – unternahm Bertha Benz in Deutschland die erste Fernfahrt der Welt mit dem Auto und ihren beiden Kindern. Vor gut achtzehn Sekunden flog die Adler von Nürnberg nach Fürth – fuhr in Deutschland die erste Lokomotive. Vor fünfzig Sekunden schlug der Eislebener Martin Luther seine Thesen an. Vor knapp eineinhalb Minuten starb Kaiser Friedrich I. Barbarossa. Jesus wurde vor knapp dreieinhalb Minuten geboren. Vor rund acht Minuten bauten die Ägypter Pyramiden. Die letzte Eiszeit endete um zwanzig vor zwölf, alles noch am 31. Dezember. Das war mal ein Silvester, nicht? Was sich hier alles ereignet hat.
* * *
Nun zurück in die Gegenwart. Mein inniger Dank gilt den vielen Sagen-Sammlern der Vergangenheit, insbesondere Professor Heinrich Pröhle, dessen hervorragende Arbeit maßgeblich zu diesem Werk beigetragen hat. Schon er muss festgestellt haben – vor gut 160 Jahren – dass Harz und Kyffhäuser ebenso reich an Sagen und Legenden sind wie an gastfreundlichen Menschen.
Schön, dass Sie da sind. Bleiben Sie gesund.
Trier, im Januar 2021
Ihr Mario Junkes
Die wütende Faust an den Harzboden kracht,
Von unten wärmt teuflisches Trommeln die Socken.
Entstanden sind Auen und Täler und Brocken.
Die Mächte des Guten zusammengebracht
Bewahren das Licht und verscheuchen die Nacht.
In der letzten Nacht des April fand eine schauerliche Zusammenkunft auf dem höchsten Berg des Harzes statt: Der Teufel lud seine Hexen- und Zauberdiener zum wichtigsten Hexensabbat auf dem Brocken ein. Es war die Versammlung aller Versammlungen auf dem Blocksberg. Nach dem letzten Schlag der Zwölf zu Mitternacht kamen aus allen Himmelsrichtungen die teuflischen Genossen auf Mistforken und Besen, auf Gänsen und Ziegenböcken, als Katzen und Mäuse verwandelt herbeigeflogen. Waren alle beisammen, so tanzte die ganze Gesellschaft ausgelassen um ein loderndes Feuer, bis man erschöpft war. Dann begab sich der Fürst der Finsternis zur Teufelskanzel, wo er über den angeblich allmächtigen Gott, über dessen Lehre und die braven, folgsamen, hörigen, willenlosen Engel lästerte, auf dass die ganze Schar in der Hölle verschmoren oder ihr kümmerliches Dasein an einen ähnlich tristen Ort fristen müsse. Dann bat der Regent der Unterwelt die Anwesenden zu einem teuflischen Mahl, das traditionell auf dem Hexenaltar zubereitet wurde. Die Zutaten waren des Teufels, die Zubereitung war in des Wortes wahrstem Sinne teuflisch, und die Hexe, welche als letzte den Blocksberg erreicht hatte, war der Ehrengast.
Es gab keine Ausflüchte. Die Letzte würde die Erste sein, und wegen Vernachlässigung teuflischer Etikette nach einer letzten, glühenden Umarmung mit dem Höllenfürsten in Stücke gerissen und den hungrigen Gästen als Hauptspeise kredenzt. Sobald sich jedoch der Morgen ankündigte – oder weil wieder ein übereifriger Hahn zu früh krähte – zerstreute sich die Hexenarmee hastig in alle Himmelsrichtungen. Die Menschen um den Brocken herum schützten sich in diesen Tagen, indem man drei Kreuze an Türen und Ställen anbrachte. So wurden böse Geister und Zaubereien an Unschuldigen unterbunden.
In der Walpurgisnacht tanzten die Hexen den Schnee auf dem Brocken weg. Junge Männer stellten ihren Mädchen Besen vor die Tür, um diese dann am Morgen danach mit deren Hexenritt zu necken. Man ritt aber auch auf Bäumen und Butterfässern, auf Ziegenböcken und Pferden in der Mainacht zum Brocken. Deshalb hieß es am ersten Mai in Wernigerode:
»Wenn ich dir meinen Fuchs nicht geborgt hätte, lägst du jetzt noch am Renneckenberg.«
Oder man rief den Leuten zu:
»Höre, wann willst du mir mein Geld bezahlen?«
Wurde dann gefragt, welches Geld man meine, so hieß es:
»Weißt du nicht mehr, dass du noch oben auf dem Brocken lägst, wenn ich nicht deine Zeche für dich bezahlt hätte?«
* * *
Im Harz erzählte man sich, dass in der von manchen auch Wolpersnacht genannten Mainacht stets die Spitzen vom Weißdorn abspringen würden. Schuld daran soll der Brockenbesuch gewesen sein.
* * *
Schneider Dankemeier aus Hüttenrode setzte sich am 1. Mai nachts zwischen elf und zwölf Uhr hinter den Gasthof Fischer. Dankemeier hatte sich einen Kranz aus Tausendgüldenkraut aufgesetzt. Es kamen drei Frauen vorbei, eine auf einem Ziegenbock, die zweite auf einem Esel und die dritte auf einer Gans.
Ein junger Bursche setzte sich auf einen Kreuzweg, um in der Mainacht die Hexen auf den Brocken ziehen zu sehen. Er machte sich einen Kranz um den Kopf und hatte sich über und über mit braunem Dust und Baldrian umwunden. Die Hexen kamen auf Enten und Gänsen herbei, ritten auf Ofengabeln und Mistforken, und zuletzt kam die oberste Hexe. Sie fasste den jungen Burschen ins Auge, lachte und sprach:
»Härrest du nich Daust un Faldrian, sau woll ik Düwel mit dik de Klange gahn.«
»Ohne Dust und Baldrian wärst du arm dran, Dummian.«
An Walpurgisnacht blieb ein Bräutigam lange bei seiner Braut. Schließlich sagte sie ihm, sie müsste sofort zum Brocken. Er wolle auch mit, sprach der Bräutigam. Sie gingen zusammen auf den Hof. Dort stand schon ein großer Ganter und wartete auf das Mädchen. Das setzte sich auf, und der Bräutigam setzte sich dahinter. Nicht lange, und sie waren auf dem Brocken. Dort waren so viele Menschen, dass der Bräutigam schier verwundert war. Allerdings war er todmüde von dem Ritt, und so wies ihm seine Braut ein schönes Gardinenbett, darin sollte er sich niederlegen und schlafen. Als er am Morgen erwachte, lag er auf der Erde in einem alten Pferdegerippe.
Eines anderen Bräutigams Braut und deren Mutter waren beide Hexen. Nun kam der Tag, an welchem die Hexen zum Brocken wanderten. Mutter und Tochter gingen auf den Heuboden. Dort standen drei kleine Gläser und sie tranken aus den ersten beiden. Plötzlich waren die beiden mitsamt ihren Gläsern verschwunden. Der Bräutigam war ihnen nachgegangen und nippte einmal an dem dritten Glas. Mit einem Mal war er auf dem Brocken und sah, wie Braut und Mutter mit den Hexen um den Teufel herum tanzten. Nachdem alles vorbei war, befahl der Teufel, dass jede aus ihrem Glas trinke. Das taten sie und waren gleich in alle vier Himmelsrichtungen verschwunden. Der Bräutigam stand allein auf dem Brocken und fror. Sein Glas hatte er nicht mitgenommen und musste deshalb den Rückweg zu Fuß antreten. Nach einer langen und beschwerlichen Reise kam er endlich wieder bei seiner Braut an. Doch die war sehr böse, ebenso wie die Mutter, dass er aus dem Glas getrunken hatte. In ihrem Zorn verwandelten Mutter und Tochter den Bräutigam in einen Esel. Der arme Kerl war nun ein leibhaftiges Grautier.
Betrübt zog er von einem Haus zum anderen und schrie sein I-aah. Es erbarmte sich ein Mann, nahm ihn in seinen Stall und legte ihm Heu vor, doch der Esel wollte es nicht fressen. Da wurde er mit Schlägen aus dem Stall getrieben. Nach langem Umherirren kam er wieder zum Haus seiner Braut und schrie kläglich. Die Braut sah ihren vormaligen Bräutigam, wie er mit gesenktem Kopf und herabhängenden Ohren vor der Türe stand. Sie bereute ihr Tun und sprach zum Esel, wenn ein Kind getauft würde, solle er sich vor die Kirchtür stellen und sich Taufwasser über den Rücken gießen lassen, dann würde er wieder verwandelt. Am nächsten Sonntag wurde ein Kind getauft, und der Esel stellte sich vor die Kirchtür. Als die Taufe vorbei war, wollte der Küster das Taufwasser wegschütten, aber der Esel stand ihm im Wege. Geh, alter Esel, sprach der Küster, aber der Esel ging nicht, da wurde der Küster ärgerlich und goss ihm das Wasser über den Rücken. Nun war der Esel erlöst, ging zu seiner Braut, heiratete und lebte glücklich mit ihr.
Beim Hexenaltar, wo auch das Hexenwaschbecken stand, sah man am ersten Mai Besen, Katzen, Hunde und Menschen mit Fackeln tanzen. Unter dem Hexenaltar befand sich ein unterirdischer Gang. Manchmal schien eine Art Licht aus dem Gang hervor. Niemand traute sich, dort hineinzugehen.
Wenn die Hexen zum Brocken zogen, kamen sie an der Hippelwiese am Beerberg bei Hasserode vorbei. Die Hammerschmiede der umliegenden Hütten pflegten an diesem Tag bereits vormittags zur Hippelwiese zu gehen. Eines Jahres gingen ein halbes Dutzend Leute schon früh am Tage hin, und es war bereits Musik zu hören. Als die Bergwerker ankamen, sahen sie lauter Katzen. Spielend, saufend, fressend. Die Leute erzählten es nachher ihrem Steiger. Prompt erschienen die Katzen in der Hütte, wütend, fauchend, krallend. Die Raubtiere wollten die sechs Leute zerreißen, weil diese ihr Geheimnis verraten hatten. Die Hüttenleute mussten sie mit glühenden Stangen vertreiben.
Bergmann Frick aus Clausthal-Zellerfeld suchte mit seinen Töchtern am Brocken nach Beeren. Man wurde von der Nacht überrascht, zündete ein Feuer an und legte sich nieder. Die Mädchen schliefen fest, der Bergmann aber wachte. Nach einer Weile sah Frick jemanden mit einer Laterne daherkommen. Er rief in die Richtung des Lichts und es traten drei Männer zum Feuer, die ihm während der Nacht Gesellschaft leisteten. Am nächsten Morgen geboten sie ihm, selbst seinen Töchtern nicht zu sagen, dass sie bei ihm gewesen wären. Der Bergmann gab sein Versprechen und hielt es sein ganzes Leben.
An Fricks Todestag kam ein Mann ins Haus, bedauerte seinen Tod und fragte die Töchter, ob ihr Vater etwas von den drei Männern gesagt hatte, welche in der Nacht am Brocken bei ihm gewesen waren. Die Töchter wussten nichts davon. Der Mann gab ihnen den Lohn für ihres Vaters Wort. Er stellte einen großen silbernen Krug auf den Tisch. Der einen Schwester solle der silberne Krug gehören und der anderen, was sich darin befinde. Damit ging der Mann wieder hinaus. Die beiden Schwestern schauten hinein. Im Krug lagen lauter feine Gulden.
Zwei Venediger kamen in Bad Harzburg an ein kleines, am Waldrand liegendes Häuschen. Dort baten die beiden um ein Nachtlager. Der Mann erlaubte ihnen zu bleiben, gab ihnen Abendbrot und führte sie am nächsten Morgen zum Brocken. Dort deckte der erste Venediger an einer Stelle den Rasen auf und der andere pflückte die Köpfe aller gelben Blumen ab. Der erste wiederum brachte nassen Grand aus der Höhle, der andere hatte unterdessen Feuer angemacht. Man gab Grand und die gelben Köpfe in einen Tiegel und schmolz davon Luppen – den groben Guss der hohen Öfen, der erst nachher ins Feine gearbeitet wird. Der Mann bat sie um ein paar Stücke. Die Venediger aber sagten, für dieses Jahr wäre es zu spät. Im nächsten Jahr würden sie ihn wieder abholen, dann solle er ihnen Bescheid sagen, ehe sie in die Grube stiegen. Darauf brachte er sie wieder nach Bad Harzburg, und sie blieben für die Nacht in seiner Wohnung.
Abends war im Haus ein kleine Gesellschaft, darunter ein Schneidemüller, der im oberen Zimmer wohnte. Es wurden Geschichten und Märchen von Gespenstern erzählt. Der Sägemüller aber tönte groß, er fürchte sich vor gar nichts. Da sagte der eine Venediger, er solle mit ihm in seine eigene Wohnung gehen. Wie er wisse, sei dort eine Fensterscheibe entzwei, da würde gleich etwas hereinkommen, wovor er sich fürchte wie jeder andere Mann. Sie gingen beide hinauf. Der Venediger stellte ihm einen Stuhl mitten in die Stube. Er selbst setzte sich an den Tisch. Der Sägemüller solle sich nicht rühren, nicht sprechen, sondern nur auf die Fensterscheibe achten.
Der Venediger begann zu lesen. Schon bald kam eine Art Schlangenkopf zu der Fensterscheibe herein, wurde immer länger und kam langsam auf den Schneidemüller zu. Der Venediger las so lange, bis der Schlangenkopf ungefähr noch eine Handbreit vom Gesicht des Schneidemüllers entfernt war. Als der Schneidemüller einer Ohnmacht nahe war, beschwor der Venediger die Schlange wieder zurück. Als sie ganz fort war, fragte er wieder, ob der Schneidemüller nun noch immer behaupte, dass er keine Furcht hätte. Der sprach, dass er in seinem Leben nicht wieder so reden wolle. Der Venediger sagte, man solle es am wenigsten tun, wenn man in Gesellschaft fremder Menschen wäre. Man könne nie wissen, was der eine oder der andere alles tun könne.
Am Brocken lebte ein Köhler namens Ringeling. Jede Nacht erschien ein schwarzes Männchen in seiner Köte. Nach einer Weile wurden es zwei, dann drei, immer mehr, bis es schließlich zwölf waren. Der Platz war eng geworden in der kleinen Köte. Ringeling musste rücken, immer weiter rücken, bis er auf der Großknechtsbank saß. Schließlich sprach der Köhler die Geister unverwandt an:
»Ihr zwölf schwarzen Geister und Jesus war der Meister.«
Im nächsten Augenblick waren sie fort und sie kamen nie mehr wieder.