Haudegen - Hagen Stoll - E-Book

Haudegen E-Book

Hagen Stoll

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Beschreibung

Ihr Weg führte aus Ostberliner Plattenbauten an die Spitze der Albumcharts. Sie verbinden Rockmusik mit ebenso geradlinigen wie berührenden Texten. Sie tragen die Namen ihrer Fans als Tätowierung immer bei sich: Haudegen ist die deutschsprachige Rockband der Stunde. So packend Hagen Stoll und Sven Gillert Musik machen, so aufrichtig erzählen sie jetzt ihre eigene Geschichte – ein Buch über die Wucht des Lebens und die Kraft der Musik.

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Das Buch

Ihr Weg führte aus Ostberliner Plattenbauten an die Spitze der Albumcharts. Sie verbinden Rockmusik mit ebenso geradlinigen wie berührenden Texten. Sie tragen die Namen ihrer Fans als Tätowierung immer bei sich: Haudegen ist die deutschsprachige Rockband der Stunde. So packend Hagen Stoll und Sven Gillert Musik machen, so aufrichtig erzählen sie jetzt ihre eigene Geschichte – ein Buch über die Wucht des Lebens und die Kraft der Musik.

Die Autoren

Hagen Stoll, geboren 1975, startet als Joe Rilla sein Musikerleben und wird die Stimme vieler ostdeutscher Jugendlicher. Zusammen mit Sven Gillert, Jahrgang 1978, sind die beiden Jugendfreunde Haudegen.

Leo G. Linder, Jahrgang 1948, studierte ab 1972 Film und Philosophie an der Kunstakademie Düsseldorf sowie Geschichte und Spanisch. Von 1977 an arbeitete er als Kameramann, wechselte 1985 zur Regie und drehte zahlreiche Dokumentarfilme. Seit 1990 hat er 45 Bücher u.a. zu theologischen, historischen und politischen Themen publiziert. Der Autor und Regisseur lebt in Düsseldorf.

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Die Verlagsgruppe Random House weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.

Originalausgabe 09/2016

Copyright © 2016 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Sven Gillert

Redaktion: Ulla Mothes, Berlin

Satz: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-19041-5V001

www.heyne.de

INHALT

Vorwort

1. Der Urknall

2. Großvater sagt

3. Körpersprache

4. Ein kleiner, dicker Junge

5. Mein Fels in der Brandung versinkt

6. Wir vom Kraftsport

7. Ruhm und Ehre

8. Liebe und Tod

9. Daseinskampf

10. Die Barrikade

11. Wing Tsun

12. Gangsterjagd

13. Anruf von Hagen

14. Der Weg eines Kriegers

15. Entweder – oder

16. Haudegen sehen! Haudegen hören!

17. Turbulente Zeiten

18. Im Wunderland der Geldkoffer

19. Intrige

20. Fuzzis und Gummibärchen

21. Kleine Pannen, großes Pech

22. Der Anpfiff

23. Wir gegen den Rest

24. Roter Teppich

25. Schlicht, aber vor allem ergreifend

26. Platz sechs, auf Anhieb

27. Boykott der Sender

28. So fühlt sich Leben an

29. Unsere Krise

30. Der Süden, probeweise

31. Bentley Continental

32. Das große Knirschen

33. Atlantis in den Wolken

Nachwort

VORWORT

Vielen Dank, dass du dir dieses Buch gekauft hast. Wie unsere Musik spricht und steht auch dieses Werk für sich selbst. Aber vielleicht sollten wir erwähnen, dass Haudegen – Zusammen sind wir weniger allein an Hagens Bestandsaufnahme in der Wendezeit mit dem Titel So fühlt sich Lebenan unmittelbar anschließt.

Diesmal wird nun Sven die Kiste mit seinen Geschichten aufklappen und auspacken, und außerdem werden wir unsere gemeinsame Story als Haudegen erzählen. »Haudegen« ist ja nicht nur der Name unserer Band, sondern auch unsere Lebenseinstellung. Schon unsere Großväter nannten uns so – und hatten damit wohl auch ganz recht, denn ohne einen kräftigen Schuss Haudegen-Blut in den Adern wären wir in der Musikindustrie vermutlich unter die Räder gekommen.

Dass in den Tempeln der großen Plattenfirmen überhaupt jemand von uns Notiz genommen hat … Anfangs kamen wir uns jedenfalls vor wie zwei Eisbären, die Death Valley als Traumstandort für eine Eisdiele entdeckt hatten, bloß dass einfach keine Sau vorbeikam. Dann wollten uns plötzlich alle haben, die Industrie und die Medien, uns und unsere Geschichte und auch unsere Musik. Aber wussten sie, wen sie sich mit diesen beiden tätowierten Kanten aus Marzahn einhandelten? Kanten, die auch noch was zu sagen hatten?

Wahrscheinlich nicht. Und deshalb können wir heute von einer ziemlich turbulenten Achterbahnfahrt durchs sogenannte Showbusiness erzählen. Hinter den großen Bühnen glänzt nichts. Wo der rote Teppich endet, wird’s dunkel, und da wird mit härtesten Bandagen und allen Tricks gekämpft. Wenn wir trotzdem lieben, was wir tun, dann liegt es an den Emotionen, die unsere Musik weckt, und den Reaktionen, die wir erfahren. Dieses Buch ist daher keine gewöhnliche Bandbiografie.

Über die Jahre haben wir Zigtausende von Briefen erhalten, sind wir Zeugen vieler dramatischer Geschichten geworden. Wir sind um Rat in schwierigen Lebenslagen gefragt worden, wir haben Menschen in ihren letzten Lebensstunden begleitet, wir haben anderen eine zweite Heimat, eine Familie gegeben – womöglich die einzige, die sie haben. Zugegeben, wir sind auch nicht schlauer als andere, wir stehen auch manchmal ratlos da. Aber wir haben auch die Erfahrung gemacht, dass unsere Songs berühren und unsere Texte ins Schwarze treffen, unter die Haut gehen, die Herzen erreichen. Vielleicht, weil wir beide unsere eigenen Ketten immer wieder abschütteln. Weil wir vor Abenteuerlust nur so strotzen. Weil wir uns so frei fühlen wie die weißen Tauben aus unserem Song Atlantis in den Wolken. Und so gesehen verstehen wir dieses Buch als einen einzigen langen Haudegen-Song.

HAGEN

1. DER URKNALL

Svenne, wenn du erlaubst, moderiere ich deinen Auftritt als Buchautor und Lebensgeschichtenerzähler kurz an.Kurz? Du und kurz?Komm schon, Dicker. Einer muss den Faden der Geschichte ja wieder aufnehmen.Okay. Aber mach’s kurz.Alles klar.

Eins vorweg: Wir werden in diesem Buch natürlich von Haudegen erzählen, aber – Joe Rilla ist nicht tot. Ihr würdet sein Grab vergeblich suchen. Denn ich bin Joe Rilla, und ich lebe noch. Egal, was ich künstlerisch und musikalisch heute mache, ich bin es immer noch. Und ohne Joe Rilla würde es Haudegen nicht geben. Es ist wahr: Haudegen hat nichts mehr mit Rap zu tun, aber wenn ich in Interviews gefragt werde, was Haudegen für mich bedeutet, sage ich: Haudegen ist mein Hip-Hop. Ich habe mir durch Haudegen meinen Hip-Hop bewahrt, obwohl er jetzt ganz anders klingt. Und der alte Joe Rilla war mein Lehrmeister. So schreibe ich zum Beispiel alle Haudegen-Songtexte in Reimform, und – genau: Die Reimform kommt von Joe Rilla. Die verdanke ich ihm.

Also, Joe Rilla ist nie gestorben. Aber ich habe ihn weggesperrt, weil es Zeiten gab, in denen ich den Kerl nicht mehr mochte. Zeiten, in denen ich so niedergeschlagen war, dass ich ganz aufhören wollte. Die fünfzehn Jahre, die ich 2008 im Musikgeschäft auf dem Buckel hatte, reichten mir. Es war so viel vorgefallen, was rein gar nichts mit Musik zu tun hatte, und fast hätte ich mich wieder auf den Bock gesetzt und Tiefkühlpizza ausgefahren. Ich hatte keine Lust mehr auf die blödsinnigen Nazivorwürfe, die immer wieder aufkamen. Rap wurde mit Gewalt gleichgesetzt und Gewalt mit Nazis. Joe Rilla hatte sich zwar immer als Chronist seiner Umgebung gesehen und als Sprachrohr der Jugend aus Gettovierteln wie Marzahn verstanden, aber da wurde nicht lange gefragt, da hat auch keiner zugehört – ich kam aus Marzahn, ich hatte kurze Haare, ich passte ins Klischee, fertig war der Nazi. Ich hatte auch keine Lust mehr auf Konzerte. So satt, wie ich den ganzen Hip-Hop-Rummel hatte, habe ich mich auf der Bühne nur noch durch mein Programm gequält. Leider verdiente ich nach wie vor meinen Lebensunterhalt mit Konzerten. Ich konnte Joe Rilla deshalb nicht entlassen, er musste wohl oder übel weiterarbeiten, und ewig unvergesslich bleibt mir unser Auftritt in Neubrandenburg. Sven war damals schon dabei, als mein Backup-Rapper, aber selbstverständlich auch als mein Bodyguard.

Gebucht hatte uns der Zebra-Club in Neubrandenburg, und das Ungemach fing schon damit an, dass es der glatteste Winter aller Zeiten war. Wir schieben uns also über das Glatteis in Richtung Club, einer an den anderen geklammert, und je näher wir kommen, desto klarer zeichnet sich ein Bild ab, das uns überhaupt nicht gefällt. Zwar stehen da eine Menge Leute, aber normales Hip-Hop-Publikum ist das nicht; es sind Kuttenträger, nämlich Bandidos, deren Farben Gelb und Rot sich auch im Dämmerlicht dieses Winterabends durchsetzen. Wir werden also erwartet.

Natürlich ist uns mulmig. Das ist definitiv eine Übermacht, schätzungsweise hundertzwanzig bis hundertfünfzig Typen, alles breite Jungs. Wir hätten nicht den Hauch einer Chance. Nun gehört eine Gürteltasche zu unserer Grundausstattung. Die schnallen wir vorsichtshalber um, wann immer wir unter Leute gehen, und jede enthält einen Schlagring und einen Mundschutz, wie ihn Boxer benutzen. Nun denn … Wir den Mundschutz eingesetzt, den Schlagring übergezogen, die Hand in die Hosentasche gesteckt und uns kurz abgesprochen: Okay, hier gibt’s kein Zurück mehr, wenn wir fallen, dann fallen wir. Also ein breites Kreuz gemacht, den festen Blick aufgesetzt und überzeugenden Ganges da durch – gar nicht so einfach mit Glatteis unter den Füßen. Und keiner von denen sagt einen Ton. Keiner macht Platz, alle kieken bloß, ein einziger Spießrutenlauf, und als wir später auf die Bühne kommen, bietet sich uns ein skurriles Bild: im Hintergrund eine Handvoll echter Hip-Hop-Fans, dann zehn Meter gar nichts und vorn acht Reihen Bandidos mit verschränkten Armen und grimmigen Mienen.

Es wird eins der eigenartigsten Konzerte aller Zeiten. Wir ziehen unser Ding durch, und die Bandidos rühren sich nicht, die wackeln nicht mal mit dem Kopf – keine Emotion, keine Reaktion, das schlimmste Publikum, das man sich vorstellen kann. Den Mundschutz haben wir vorher rausgenommen, die Faust mit dem Schlagring bleibt allerdings in der Tasche, und wir denken die ganze Zeit: Na, wann geht’s denn jetzt los? Aber das Ende vom Lied ist: Wir absolvieren unser Programm ohne Rücksicht auf Verluste, und keiner stürmt die Bühne. Die wollen offenbar nur Präsenz zeigen. Hätten wir das Konzert abgesagt oder den Kopf eingezogen, wären wir unten durch gewesen, aber so müssen sie sich gesagt haben: Wat willste den beeden denn vorwerfen? Am Ende jedenfalls zaghaftes Klatschen von den Hanseln im Hintergrund – und von den acht Reihen im Vordergrund gar nüscht, nur Totenstille und miese Blicke.

Es folgt das Nachspiel am Bratwurststand. Komm, sagen wir uns, gehen wir raus, zeigen wir uns mal, wer sich versteckt, macht sich zum Opfer. Draußen wieder alles voller Bandidos, und am Imbisswagen El Presidente persönlich, Bratwurst kauend und ordentlich Senf im Bart. Ich habe gelacht – so sieht normalerweise kein Presidente aus. In Neubrandenburg vielleicht, aber sonst? Gut, wir bestellen unsere Bratwürste und kommen mit ihm ins Gespräch, umringt von einem Riesenpulk stabiler Kerle.

»Scheint dir zu schmecken«, sage ich.

»Wieso?«

»Weil du offensichtlich vorhast, von dem Senf was mit nach Hause zu nehmen.«

Er stutzt. Er versteht nicht. »Wat seid ihr denn für Vögel? Ihr seid doch von den Rot-Weißen?«

»Nee«, sage ich, »wir sind Dienstleister. Wir sind für die Unterhaltung zuständig. Uns kann jeder buchen.«

»Ja? Ach so. Wenn ick euch buchen würde, würdet ihr dann auch kommen?«

»Je nachdem, was zwischen Daumen und Zeigefinger passt.«

»Na, denn.«

Vereinzeltes Lachen … Kurzum, das Chaos blieb aus, die Schlagringe kamen nicht zum Einsatz, aber die Nummer war von Anfang bis Ende brisant. Wir haben unablässig auf jede Bewegung, auf jeden Blick, auf jedes Handy geachtet, denn wenn sie anfangen zu filmen, hat deine Stunde geschlagen … Und ich war mittlerweile einfach zu alt für diese Scheiße.

Aber Joe Rilla war unschuldig. Unschuldig und obendrein so lebendig wie eh und je, denn zu Hause in meinem Kellerstudio schmurgelte ein neues, halbfertiges Joe-Rilla-Album, wo ich ganz starke Geschichten zu Songs verarbeitet hatte – wie die wahre Geschichte eines jungen Kerls aus Leipzig, der Tommy heißt und sein Geld mit Flaschensammeln verdient. Der hatte das Einsammeln von Flaschen zu seinem Beruf gemacht. Jeden Morgen stand er um sechs auf, lief zwölf Stunden lang durch die Straßen seiner Stadt, fischte überall die leeren Flaschen raus und redete darüber, als wär’s das Normalste von der Welt. Und verdiente nicht mal schlecht dabei. Was sollte jetzt damit geschehen? »Pass auf, Svenne«, habe ich gesagt, »dieses Album mache ich noch fertig, aber nur aus finanziellen Gründen. Damit ich zur Not eine Durststrecke überstehe. Und dann ist Schluss.«

Lkw und Tiefkühlpizza mussten also noch warten. Ich suchte mir fünfzehn Titel aus, die ich teils zu berappen und teils zu besingen gedachte. Damals war noch unvorstellbar, dass ich mich jemals als Sänger bezeichnen würde, aber wenigstens an die Hooks, an die Refrains, wollte ich mich diesmal singenderweise heranwagen – ein Versuch, ein Experiment. Eines Tages saßen Sven und ich wieder unten im Studio. Ich hatte einen Track auf meinem Mischpult, den ich mittelmäßig fand, mit dem ich nicht zufrieden war. Ich sang also den Refrain neu ein und wollte zwischendurch von Sven wissen: »Dicker, wat sagste dazu, wie findste det?«

Und an diesem Tag antwortete Sven, mein Bodyguard mit dem Fünfundfünfziger-Bizeps: »Nich so dolle. Ick würd det anders singen. Janz anders.«

Spaßeshalber werfe ich ihm den Teleskoparm mit dem Mikrofon zu, Sven tut den Mund auf – und den Rest kennt ihr. Es folgt der Moment, den ich heute als Urknall von Haudegen bezeichnen würde, nämlich Svens Coming-out als glockenheller, engelreiner Tenor und mein eigenes ungläubiges Staunen – »Dicker, det is doch nicht dein Ernst?« – und mein Entschluss, den Rap auf der Stelle in die Tonne zu kloppen und in Zukunft nur noch zu singen.

Wobei mir das Bedürfnis zu singen gar nicht neu war. Schon lange vorher hatte ich gesagt: Ich würde gern tauschen. Wenn mir jemand den Deal Rap gegen Gesang angeboten hätte, ich hätte bedenkenlos zugegriffen – okay, nimm du meinen Rap, ich nehme deinen Gesang. Heute weiß ich: Ich hatte nie den Mut gehabt, allein zu singen. Wahr ist allerdings auch, dass es zu zweit mehr Spaß macht; im Duett zu singen ist einfach noch schöner. Jedenfalls war ich in diesem Augenblick fertig mit Rap. Ich wollte nichts mehr von Hip-Hop wissen, ich wollte nichts mehr von Joe Rilla wissen, ich wollte nur noch eins: singen. Was Sven nicht duldete.

Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich in dem magischen Moment, als ich Svens Stimme zum ersten Mal auf einer Gesangsspur unter meiner hörte, die Arbeit an diesem Album sofort abgebrochen. Aber Sven kannte das ganze Material, weil er täglich mit mir im Studio saß, und er mochte es. Er liebte es. Und er hatte das Feuer, das mir fehlte. Er hatte Blut geleckt. »Dicker«, sagte er, »du musst diese Arbeit abschließen. Versprich’s mir! Es ist nicht unsere Art, etwas halbfertig liegenzulassen.« Womit er recht hatte.

»Aber danach singen wir, okay?«

»Claro.«

Und so entstand das erste Joe-Rilla-Album, auf dem gesungen wird. Und das erste Album, auf dem Sven zu hören ist, in jedem Stück, immer einen Akkord höher. Es entstand gewissermaßen als eine Liebhaberei, damit wir’s haben, für alle Fälle, für alle Zeiten, denn veröffentlicht wurde es nie.

Im Grunde ist es die erste Haudegen-Platte, weil Sven einen so großen Anteil daran hat. Es ist auf jeden Fall das erste Gemeinschaftswerk von Sven und mir, und lange Zeit wollte ich es mit der Welt nicht teilen, weil diese Musik allein Sven und mir gehören sollte. Und wenn ich sie mir heute anhöre, finde ich: Sie ist immer noch genauso gut und genauso wahr wie damals. Es ist meine stärkste Platte als Joe Rilla, und wer weiß – vielleicht hole ich sie eines Tages doch noch mal raus. Aber nicht, um Geld damit zu verdienen, sondern aus Liebe zur Musik. Mir ist ja bekannt, dass es da draußen Menschen gibt, die den alten Rilla immer noch mögen, die es schade finden, dass es ihn nicht mehr gibt, und ich freue mich beinahe darauf, Joe Rilla eines Tages mit einem freundschaftlichen Stoß in die Rippen aus seinem Dauerschlaf zu wecken und zu sagen: »Hier, Leute, den schenke ich euch jetzt!« Man muss in der heutigen Zeit ja keine CD mehr machen, es reicht völlig, etwas als Download bereitzustellen. Jedenfalls gibt es tolle Songs auf diesem namenlosen letzten Album, aber – es ist halt Rap, und damit waren wir jetzt durch. (Sorry, Sven, ich brauche doch etwas länger.)

So, der Urknall … Ich war total perplex. Ich hatte ja keine Ahnung gehabt. Wir hatten vor der Tür gestanden, wir hatten in der Vergangenheit hauptsächlich Türsteher-Erfahrungen ausgetauscht, und beim Rap war Sven irgendwann mein Backup-Rapper geworden, da hatte er meine Texte gedoppelt, wenn mir die Luft ausging, aber das hatte nichts mit Gesang zu tun. Und jetzt rückte er aus heiterem Himmel mit dieser glasklaren, hohen Stimme raus! Wir haben tierisch gelacht an diesem Tag, und nach langer Zeit war auch ich wieder mal richtig glücklich. Wir zwei und singen! Eigentlich ein Unding. Typen wie uns gibt’s in unserer Gegend zwar wie Sand am Meer, aber die stellen sich nicht auf die Bühne und singen, schon gar nicht im Duett, der eine hoch, der andere tief. Später hieß es dann auch verschiedentlich in der Musikindustrie, wenn wir beide das erste Mal vor einem der großen Bosse erschienen, mit unseren kurzen Haaren, komplett zutätowiert und die Sonnenbrillen im Nacken: »Aber, die Musik auf dieser CD – die ist schon von euch?« Natürlich mit höflich gedämpftem Zweifel in der Stimme, aber wir sahen auch tatsächlich aus wie Knalltüten. Singen wäre das Letzte gewesen, was du von diesen Typen erwartet hättest. Dann eher Golfen. Dass genau diese Kombination irgendwann die Magie von Haudegen ausmachen sollte, dass dieser Widerspruch das überzeugende Argument für eine Plattenfirma sein könnte, daran haben wir in diesem Moment nicht im Traum gedacht. Stattdessen sind wir so vorgegangen, wie wir’s seit jeher gemacht hatten: einfach ins kalte Wasser springen. Einfach anfangen. Aber nicht mit Singen. Denn was zum Teufel sollten wir überhaupt singen? Beziehungsweise: Wie sollte sich unsere Musik in Zukunft anhören? Mit anderen Worten: An welchen Musikstil wollten wir uns halten?

Und jetzt ging es los, mit einer langen und intensiven Suche. Im Grunde hatten Sven und ich mit dieser Suche schon begonnen, nachdem der Bandidos-Stress vorüber war. Da hatte ich nämlich das Bedürfnis, für mich selbst zu analysieren, woran meine Müdigkeit lag und was in unserem Fall unter Erfolg, was unter Misserfolg zu verstehen wäre. So kamen wir auf unsere Herkunft und unser Schicksal, aus Marzahn zu stammen, und fühlten uns plötzlich wie zwei Stecknadelköpfe, die wie irre herumrudern, während ihnen einer von oben zuschaut und sich kaputtlacht, wie sich die zwei da unten abstrampeln. Wir sind jeder Gehirnzelle auf den Grund gegangen. Wir haben in unserer Vergangenheit gerührt, unsere Gegenwart durchleuchtet und über die Zukunft nachgedacht, haben Thesen aufgestellt und tagelange Gespräche geführt und gar nicht gemerkt, wie die Zeit verging. Was ist uns wichtig, was unwichtig? Wie wird einer wahrgenommen, warum wird er wahrgenommen? Wie kann man sich vor Missverständnissen schützen? Was bedeutet die Musik für uns, und wohin soll die Reise für uns zwei tätowierte singende Marzahner Stecknadelköpfe nun gehen?

Und so, indem wir uns durch die Nebelschwaden unserer Vergangenheit tasteten, kamen wir auf die populäre DDR-Band Karat. Ich erinnerte mich, früher mit meinem Vater zusammen beinahe andächtig Karat-Platten gehört zu haben. Sven erinnerte sich, mit seinem Großvater alte Ostplatten gehört zu haben. Uns fielen Liedermacher ein, Reinhard Mey zum Beispiel, Konstantin Wecker, Klaus Lage, Herbert Grönemeyer. Wir sind bei YouTube reingegangen, haben uns diese Recken aus alten Tagen angehört, haben die ganzen prähistorischen Nummern aus den Siebziger- und Achtzigerjahren rausgekramt. YouTube war unsere Jukebox, und wo wir hängenblieben, regelmäßig hängenblieben, das waren die Liedermacher. Ich erinnere mich, dass wir immer wieder auf einen Titel von Reinhard Mey zurückkamen, den er für seine Kinder geschrieben hatte: Sei wachsam. »Sei wachsam, präg dir die Gesichter ein. Sei wachsam, fall nicht auf sie rein …« Das hatte Tiefe, das war schön, ernst und ehrlich, alles zugleich. Und irgendwann – da war noch lange nicht an Haudegen zu denken – schauten wir uns an und fragten uns: Wo sind eigentlich die Liedermacher unserer Tage? Alle ausgestorben? Warum kommt da nichts nach? Von denen, die wir im Internet gefunden haben, ist einer älter als der andere – wo sind denn die Poeten der heutigen Zeit? So festigte sich in unseren Köpfen allmählich die Erkenntnis: Ja, genau! Uns fehlen die Poeten! Uns fehlen die Liedermacher! Uns fehlt jemand, der einfach mal über seine Frau spricht, die ihm morgens einen Zettel auf den Küchentisch legt, und der Inhalt dieses Zettels wird zum Song … Und nun lichtete sich der Nebel. Jetzt wurde uns klar: Wir wollen Liedermachermusik machen. Eine Gitarre würde uns reichen. Eigentlich ein Bluesansatz. Oder ein Jazzansatz. Und als wir an diesem Punkt angelangt waren, sind wir ein zweites Mal ins kalte Wasser gesprungen und haben es einfach ausprobiert, haben uns Texte von Hannes Wader abgeschrieben und diese Texte eingesungen. Zweistimmig. Ganz provisorisch. Nur um zu hören, wie es klingen könnte. Und es klang geil.

Danach gab es kein Halten mehr. Wir waren so fleißig, dass ich bis heute nicht begreife, wie dermaßen viele Songs zusammenkommen konnten. Es floss nur so. Es platzte aus uns heraus. Ich schrieb die Texte, Sven machte die Melodien. Es gibt Plug-ins, wo du Gitarrenakkorde abspielen kannst. Als Produzent wusste ich, wie’s ging, und habe die Schleifen mit den Akkorden laufen lassen, während Sven mit dem Kopfhörer auf den Ohren zu meiner Linken saß und vor sich hinsummte. Ich, ebenfalls den Kopfhörer auf, schrieb derweil an meinem Text. Nach einer Viertelstunde nahm ich den Kopfhörer ab. »Dicker, was hast du?«

»Pass auf.«

Lautsprecher aufgedreht – und da war Svens Melodie; ich auf mein Blatt geguckt – und da waren die Worte zu seiner Melodie. »Geil, lass uns das aufnehmen.«

Also das Mikro rangezogen, den Kopfhörer aufgesetzt, den Refrain aufgenommen und gedoppelt und Sven das Mikro rübergeschmissen und auf Aufnahme gedrückt, alles ein Aufwasch – und innerhalb von Minuten hatten wir ein Songlayout fertig; wir waren ja Profis im Recorden. Es ging gar nicht darum, unsere musikalischen und dichterischen Einfälle nach allen Regeln der Kunst sauber aufzunehmen, es ging bloß ums Skizzieren, wie beim Wild Style im Graffiti, also noch keine Outlines, noch keine Präzision, alles bloß als Entwurf und Kostprobe. Dann haben wir den fertigen Song in einen Ordner gepackt und uns gleich das nächste Lied vorgenommen. Ich habe auf meinem Rechner immer noch ganz alte Songs, die vermutlich nie veröffentlicht werden, die aber unglaublich stark sind und genau aus dieser wilden Anfangszeit stammen.

Hatten wir Vorbilder für unsere Musik? Hatten wir nicht. Vorbilder sind für mich ein rotes Tuch. Vorbildern rennst du hinterher. Ich renne nicht gern hinterher. So wie ein anderer zu sein ist nicht mein Ding. Aber es gibt Sänger, die mich extrem inspirieren, von denen ich profitiere, so wie Klaus Lage, den ich mir tätowiert habe. Ich kann guten Gewissens sagen, dass mich dieser Mensch mit seiner Kunst seit Kindertagen begleitet. Aber ich möchte nicht so sein wie er. Ich möchte so sein, wie ich bin; ich möchte auch nicht erleben, eines Tages mit meinem Vorbild verglichen zu werden.

Wen gab’s noch? Mit den Toten Hosen konnte ich nie viel anfangen. Die waren mir zu schmuddelig, zu anti. Ich mag diese Antihaltung nicht. Das war ja schon mit dem Hip-Hop mein Problem: Entweder du findest die ganze Welt zum Kotzen, oder du hast im Hip-Hop nichts zu suchen. Ich aber möchte mir vorbehalten, von Fall zu Fall einverstanden zu sein. Diese Grundattitüde des Dagegenseins, diese Trotzphase bis ins hohe Alter hinein, das ist doch kindisch. Ich habe damals versucht, den Johnny-Cash-Mythos auf mich wirken zu lassen, um herauszufinden, warum die Leute ihn so vergöttern. Ich hab’s aber nicht in den Kopf gekriegt. Unvorsichtigerweise hatte ich mich vorher mit der CD eines Amerikaners namens Ski King befasst, auf der er Johnny-Cash-Nummern singt. Danach haben mich die Originale von Johnny Cash deprimiert – Ski King hat sie um ein Vielfaches besser gesungen. Natürlich kriegt man Ärger, wenn anderen so was zu Ohren kommt. Doch, sage ich, Ski King hat diese Titel mit viel mehr Tiefe gesungen. Ich hätte mir gewünscht, sie wären von Ski King gewesen, waren sie aber nicht.

Es gab weitere, die mir am Herzen lagen. Brent Smith von Shinedown zum Beispiel, auf den ich zurückkommen werde. Oder Billy Idol, dem ich seine Antihaltung immer nachsehen konnte, weil sie mit dieser selbstverständlichen Lockerheit rüberkam. Idol war für mich der erste Punk, der es schaffte, die Leute zu bewegen. Er war schon cool, aber eben nicht aufgesetzt cool, und seine Platten haben bis heute einen Stammplatz im CD-Wechsler meines Autos.

Jedenfalls schoss das Pflänzchen Haudegen auch deshalb so rasch in die Höhe, weil wir unsere Gehirne vorher mit einer Unmenge guter Musik gedüngt hatten, und so arbeiteten wir Tage, Wochen, Monate bei mir im Keller, wie entfesselt, wie berauscht. Die Schwiegermutter machte Kaffee und brachte ihn runter, und nach nur fünf Tagen hatten wir bereits zwei Dutzend Songs zusammen. Dann, nachdem sich eine Menge balladesker Sachen in unserem Rechner stapelten, hatten wir Lust, etwas Rockiges zu machen, – und rumms! – kamen Stücke raus wie DerStoff, aus dem die Träume sind, Old-School-Titel, die ich immer noch krass finde. Jetzt legten wir uns verschiedene Ordner an, je nach Genre, einen mit balladesken Nummern, einen mit rockigen, einen mit akustischen, und so ging es gut und gern zwei Jahre lang weiter, bis … Aber das soll für den Augenblick genügen.

Wir waren jedenfalls ein unschlagbares Team. Wir waren gierig. Wir haben nicht an Erfolg gedacht, wir haben uns nicht als die kommenden Stars gesehen, wir haben nur unsere neue Freiheit genossen, haben sie im wahrsten Sinne des Wortes ausgekostet, und trotzdem war mir schon damals bewusst: Was da entsteht, ist einzigartig. Als Künstler brauchst du ja immer Unverwechselbarkeit. Die Leute müssen denken: »Wow, das ist ja mit nichts zu vergleichen.« Und ich ahnte: Zwei Typen wie wir, die auf die Bühne rausgehen und anfangen zu singen, das gibt’s noch nicht – nicht in Deutschland, nicht auf der ganzen Welt. Zwei singende tätowierte Möbelpacker? Das können nur wir, sonst keiner. Vergiss den Lkw, habe ich mir gesagt, vergiss die Tiefkühlpizza – Hagen Stoll ist wieder da! Und war Sven tierisch dankbar. (Sorry, Sven, aber ich brauche noch etwas länger.)

Fehlte nur noch ein Name für dieses Gespann. Wie sollten wir uns nennen? Für mich war klar, dass ich mich von Joe Rilla lösen musste. Ich verband mit diesem Namen nichts Positives mehr. Ich wollte unter meinem bürgerlichen Namen Musik machen, ich wollte wieder Hagen Stoll sein, aber es schien uns nicht ratsam, als die »Hagen Stoll und Sven Gillert Combo« an die Öffentlichkeit zu gehen, und »Gesangsverein Marzahn« hätte die Sache nicht besser gemacht; es sollte schon ein cooler Name sein. Irgendetwas, mit dem wir auf Abstand zu der seelenlosen Plastikwelt des modernen Musikbusiness gehen könnten, ein Name, mit dem wir eine wärmere und menschlichere Welt betreten würden. Nun redeten wir ja sowieso ständig über unsere Vergangenheit, und irgendwann kamen wir auf unsere Großväter zu sprechen. Welche Bezeichnungen oder Ausdrücke für einen waschechten Kerl waren damals, zu deren Zeit, im Schwange?

Als Erstes fiel uns Wüterich ein. So ein germanischer Wüterich, der im Todeskampf noch einmal alles abrasiert und mitnimmt. Dann kamen wir auf Berserker, den keltischen Zwillingsbruder des Wüterichs. Aber Berserker war schon vergeben, und Wüterich fanden wir dann doch zu wütend. Groß, stark und kämpferisch sollte er allerdings klingen, der gesuchte Name, und so kamen wir auf Svens Großvater (der seinerseits problemlos als Berserker durchgegangen wäre) – wie hatte der seinen Enkel früher genannt? Steppke? Ein Altberliner Begriff, nicht schlecht, aber zu kindlich, zu nett, zu harmlos. Dann fiel uns ein: Mein sanftmütiger Opa Ludwig, aber auch Svens rabiater Großvater, beide hatten uns gelegentlich als »Haudegen« betitelt. »Du bist mir schon ein richtiger kleiner Haudegen«, diesen Satz, von einem anerkennenden Großvaterblick begleitet, hatten wir plötzlich im Ohr.

Wir sofort Haudegen gegoogelt. Fehlanzeige. Nichts zu finden. Haudegen war frei … Also Haudegen? Das klang nach Zillezeit, das klang nach einem Kerl im besten Alter, der sich nichts erzählen lässt, der weiß, wie das Leben schmeckt und auch mal auf den Tisch haut, das klang … na ja, irgendwie nach uns beiden. Wir also das Wort ausgedruckt, uns auf Anhieb ins Schriftbild verliebt und im nächsten Moment entschieden: Unserem Haudegen geben wir Schwert und Flügel mit auf den Weg – das Schwert für den ewigen Kampf und die Flügel für die Freiheit, die das natürliche Element des echten Haudegens ist. Und jetzt gab’s kein Halten mehr. Namen erfinden und schützen lassen, Logo erfinden und uns tätowieren lassen, alles ging innerhalb einer Woche über die Bühne.

Damit hatten wir’s. Das war die Geburtsstunde von Haudegen. Ja, alles klar, sie hat sich etwas hingezogen, diese Geburtsstunde, aber ich wollte unsere Aufbruchsstimmung schildern, das Schönste, was es gibt, dieses Hochgefühl, wenn ein neuer Tag, ein neues Leben anbricht und nach einer finsteren Zeit sinnloser Quälerei plötzlich der große Traum doch noch in Erfüllung zu gehen verspricht … Mein Svenne guckt schon so. Der lässt seine blauen Augen schon seit Längerem auf mir ruhen, das ist kein gutes Zeichen. Er hat allerdings recht. Denn Haudegen ist das Produkt einer Freundschaft, von nun an fließen zwei Leben ineinander, und bevor wir unsere Geschichte gemeinsam fortsetzen, im Duett sozusagen, soll Sven erst mal aus seinem Leben erzählen. Denn durch die geschilderten, olsenmäßig fabelhaften Ereignisse ist seine Lebensgeschichte genauso zur Vorgeschichte der Haudegen-Story geworden wie meine eigene,

Also, Svenne, hau rein!

SVEN

2. GROSSVATER SAGT

Womit soll ich anfangen?Warum nicht mit deiner Geburt? Na schön.

Ich war unbeabsichtigt. Meine Mutter ist nur sechzehn Jahre älter als ich, da kann man sich denken, dass keine Absicht vorlag. Was aber die Sache noch kritischer machte: Obendrein war ich nicht gerade willkommen. Mein Großvater, das Familienoberhaupt, konnte meinen Erzeuger nicht leiden und wollte darum erst mal nichts von mir wissen. Mein Erzeuger war allerdings auch eine Pfeife – Scheiße bauen und Mädels flachlegen, das war sein Ding. Einmal habe ich ihn gesehen, als Kind, da lungerte er vor unserer Haustür herum, ein großer, kräftiger Kerl in Jeansklamotten, die Ärmel hochgekrempelt, tätowiert bis an den Hals, ein echter Weiberheld.

»Wer issn det?«, frage ich meine Mutter.

Sie: »Den musst du nicht kennen.« Und als ich nachbohre: »Ein schlechter Mann.«

Sie lässt ihn stehen, aber ich will’s jetzt wissen. »Isser det?«, frage ich sie.

Und meine Mutter stöhnt: »Ja, det isser.«

Ich bin ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Wir sehen haargenau gleich aus.

Ein Schlägertyp. Mein Großvater hatte bald heraus, wer meiner Mutter den Bauch gemacht hatte, und von Stund’ an war ich ihm ein Dorn im Auge, obwohl es mich noch gar nicht gab. Der Rest der Familie schwieg dazu, niemand hätte ihm zu widersprechen gewagt. Wer sich nicht fügte, bekam von meinem Großvater eins aufs Maul, bis er’s kapierte.

Man darf sich meinen Großvater nicht wie einen Großvater vorstellen. Der hatte zu Hause das letzte Wort. Der regierte mit harter Hand. Wenn man Glück hatte, schlug er mit dieser Hand nur auf den Tisch. In seinen guten Jahren – und damals war er in seinen besten Jahren – war dieser Mann knapp zwei Meter groß, wog hundertvierzig Kilo und hatte Oberarme wie ein Steinsetzer, dazu Riesenpfoten und ein kantiges Gesicht. Seine Handflächen, aber auch seine Finger waren mit einer dicken Schicht harter Hornhaut überzogen, und wenn deine Hand zur Begrüßung in seiner verschwand, hast du um deine Hand gefürchtet. Er liebte seine Familie. Aber verträglich war er nur, solange jeder nach seinen Regeln spielte. Wer sich nicht daran hielt, bekam diese Hände zu spüren.

Es hatte Zeiten gegeben, da war er für irgendwelche Firmen irgendwohin gefahren und hatte irgendwelche Leute zusammengeprügelt, damit sie ihre Rechnungen bezahlten – das war damals normal, es herrschte ein viel rauerer Umgangston, wenn jemand sich nicht an die Abmachungen hielt. Auch später hatte er hier mal eine Keilerei, da mal eine Keilerei, und wenn Ebbe in der Brieftasche war, fragte er sich: Bei wem könntest du noch Geld eintreiben? Um an Cash zu kommen, beteiligte er sich auch als Preisboxer an Hinterhofboxkämpfen. Er verfügte über einen ganz ordentlichen rechten Haken, und so entschied er die Sache oftmals in den ersten zwei Runden für sich und hatte wieder Kohle.

Einmal habe ich ihn nach dieser Wahnsinnsnarbe gefragt, die von links nach rechts quer über seine Nase verläuft. »Da wollten se mir die Neese abschneiden«, sagte er.

»Warum denn?«

»Na«, sagte er, »weil ick den Kampf verlieren sollte. Ick sollte gegen einen boxen, den sie von ganz unten nach ganz oben befördern wollten, der musste halt alle Kämpfe gewinnen, und weil se sich bei mir nich’ sicher waren, sollte ick mir rechtzeitig geschlagen geben. Aber ick verliere keenen Kampf. Nicht auf diese Art.«

Da haben sie meinen Opa in einer dunklen Gasse zusammengefaltet und ihm bei der Gelegenheit die halbe Nase abgeschnitten. Die hing tatsächlich runter. Er ist damit ins Krankenhaus gefahren und hat sie sich wieder annähen lassen.

Mein Großvater war schon ein Alphatier. Eigentlich der Urhaudegen. Wenn der einen Raum betrat, wussten alle Bescheid. Und dieser Mensch wollte nun nichts von mir wissen. Dann kam der 12. März 1978. Es war einer der kältesten Winter, die wir je hatten, Berlin versank im Schnee. An diesem Tag wurde ich in Friedrichshain geboren, im selben Krankenhaus wie Hagen, nur drei Jahre später. Mit meinen zwölf Pfund war ich vermutlich das schwerste Baby von ganz Berlin, und mit diesem Brocken im Arm stapfte meine blutjunge Mutter nun nach Hause, also dorthin, wo mein Großvater nach seiner Nachtschicht im Gaswerk im Bett lag und schlief. Sie war eben die Tochter ihres Vaters, sie traute sich das, und daheim angekommen ging sie aufs Ganze. Sie schlich mit mir ins Schlafzimmer, legte mich neben meinem Großvater auf dem Kopfkissen ab und ging wieder raus, blieb aber mit meiner Oma hinter der Tür stehen und behielt das Bett, den Großvater und mich durch den Türspalt im Auge. Ein tollkühnes Manöver, und was passiert? Großvater wird wach, dreht sich zu mir um, sieht mich, hebt mich auf, kommt mit mir auf dem Arm aus dem Schlafzimmer und übergibt mich meiner Oma. »Der darf bleiben«, sagt er. »Der hat mich angelächelt.«

So kam es, dass ich bei ihnen blieb. Bei meinen Großeltern vorerst, aber auch später immer wieder für längere Zeit, denn meine Mutter war halt sehr jung, sie musste Geld verdienen und fing gerade eine Ausbildung an. Meine Versorgung und Erziehung lagen also im Wesentlichen in den Händen meiner Großeltern, worüber ich heute sehr froh bin, denn auf diese Weise hatte ich gleich eine große Familie und eine total verrückte Familie und mit Sicherheit den verrücktesten Großvater der Welt. Mein Vater spielte überhaupt keine Rolle. Der hatte mich gezeugt und sich dann vom Acker gemacht, wie es mein Großvater vermutet hatte. Ich glaube, er hat später seine Packung gekriegt. Mein Großvater muss ihn in irgendeinem Hinterhof erwischt und mit dem Knüppel verdroschen haben.

Meine Großeltern hatten mehr Platz als meine Mutter in ihrer neuen Einzimmerwohnung in der Chodowieckistraße, wo der Flur als Kinderzimmer herhalten musste. Ganz ungefährlich war der Aufenthalt im Haus meiner Großeltern allerdings nicht. Praktisch jede Familienfeier artete in eine Schlägerei aus, und es wurde viel gefeiert. Natürlich war immer jede Menge Alkohol im Spiel – auch mein Großvater hat ordentlich gebechert, Schnäpse mit Vorliebe, braune und klare. Eines Tages – ich kann kaum älter als ein Jahr gewesen sein – hatte er seine beiden Brüder Ralph und Detlef zu Besuch. Dieser Ralph war zwar schmächtiger als seine Brüder, aber genauso unfein wie der Rest der Verwandtschaft. An diesem Tag nun kam es zwischen meinem Großvater und seinem Bruder zum Streit, und Ralph rannte wutentbrannt auf die Straße, wo er einen Pflasterstein auflas und gegen eins unserer Fenster feuerte. Und traf. Es war das Fenster, hinter dem ich in meinem Kinderbett schlief. Der Stein, eine richtige Klamotte, verfehlte mich nur knapp. Auf der Höhe meines Kopfes war das Holz des Gitterbettes gesplittert, und die Scherben der zersprungenen Scheibe lagen überall herum, auch in meinem Bett.

Als mein Großvater den Knall hörte, kam er ins Schlafzimmer gerannt und sah die Bescherung: Die zersplitterte Scheibe, die Scharte des Steins an meinem Bett, die Glasscherben, den Pflasterstein, mich. Er drückte mich meiner Oma in den Arm – »Guck mal, ob dem Bengel was fehlt« – lief runter, erwischte seinen Bruder und verabreichte ihm die Tracht Prügel seines Lebens. Verdrosch ihn auf offener Straße und jagte ihn danach zum Teufel. Das ging nun doch zu weit. Über diesen Menschen wurde bei uns nie wieder gesprochen. Meine Familie hatte ihn für immer aus der Liste der Lebenden gestrichen.

Eine selten ungnädige Reaktion. Aber diesmal gab mein Großvater kein Pardon, weil ich sein Liebling war. Ich hatte es nämlich in kürzester Zeit sozusagen vom Tellerwäscher zum Millionär gebracht, will sagen: Vom ausgestoßenen Ungeborenen zur Nummer eins auf Großvaters Bestenliste. Was nicht allein an meinem Lächeln lag, sondern … Aber dafür müsste man das altertümliche Machtgefüge meiner Familie kennen. Also: Meine Großeltern hatten fünf Kinder, meine Mutter, meine Tante Jacqueline und meine drei Onkel, nämlich die Zwillinge Mario und René sowie Enrico. Enrico war der Jüngste, nur acht Jahre älter als ich, während meine Mutter das älteste der Kinder war, die große Schwester, weshalb sie den höchsten Rang von allen Kindern bekleidete und damit gleich nach meinem Großvater und meiner Oma kam. Das heißt: Wenn meine Mutter ein Machtwort sprach, konnten nur noch Großvater oder Großmutter ein Veto dagegen einlegen. Da gab es eine klare Hierarchie, die keiner angezweifelt hätte, die instinktiv von allen respektiert wurde – bei uns war der Instinkt sowieso entscheidend. So funktionierte das im Hause Gillert, und deswegen hatte ich als Sohn meiner Mutter eine Sonderstellung in der Familie; ich war sozusagen der Liebling aller.

Jacqueline, Mario, Enrico, René? Das waren natürlich ausgefallene Namen. Die gingen alle ins Italienische oder Französische. Meine Mutter heißt Cornelia, sogar was Römisches. Und in der Tat: Mein Großvater hat immer mit einem Auge nach Frankreich geschielt und mit dem anderen wohl nach Italien geblinzelt, weil meine Familie aus dem romanischen Kulturkreis stammte. Die Gillerts waren nämlich Hugenotten und irgendwann aus Frankreich eingewandert. Kein Wunder, dass wir keine englischen Bulldoggen hatten, sondern französische.

Im Übrigen geriet der gesamte Nachwuchs meinem Großvater nach. In späteren Zeiten sind dann auch fast alle mit dem Gefängnis in Berührung gekommen, das war der Preis für ihren Lebensstil. Ich erinnere mich: Wenn wir uns am Strand versammelten und meine Onkel sich auszogen, war unser Strandabschnitt leer – die waren nämlich alle in irgendeinem Knast tätowiert worden. Sie hatten riesige Drachen oder ähnliches Getier auf dem Rücken, und dieser Anblick an einem sozialistischen Strand … Da war Panik angesagt. Nur meiner Mutter blieb der Knast erspart. Wobei man wissen muss, dass auch sie nicht die Vornehmste war. Von ihren Proportionen her war sie zwar keine überwältigende Erscheinung, aber sie war aus Kruppstahl, hatte Pfeffer im Arsch und konnte ihren Standpunkt lautstark deutlich machen. Alle Übrigen aber …

Die Zwillinge zum Beispiel saßen wegen Körperverletzung und Diebstahl ein. Einmal haben sie sich an Volkseigentum vergriffen, indem sie sich Zutritt zu einem Neubau verschafften, sämtliche Thermostate und Wandboiler ausbauten und das ganze Zeug vor demselben Haus munter auf der Straße verkauften. Das ging natürlich nicht lange gut. Sie sind beide gleichzeitig ins Gefängnis eingerückt, auch noch auf denselben Flur, und bis heute erzählt René: »Der Mario, der war vielleicht eine Pfeife im Knast …« Während Mario behauptet: »Der René, der war doch eine Pfeife im Knast …« Die Zwillinge waren eben verrückte Typen. Immer ging es zwischen ihnen darum, wer der Krassere von beiden war. Im Suff wurde René leider ein anderer Mensch, dann ging selbst für unsere Verhältnisse reichlich viel Gewalt von ihm aus. Aber Alkohol hat bei uns immer eine Rolle gespielt; nur meine Mutter hat nie gesoffen. Sie war die Vernünftige in der Familie.

Für mich als Kind war das Gefängnis jedenfalls ein Ort, wo unsereins ab und zu hinmusste. Nur mein Großvater konnte sich alles erlauben, obwohl er dem sozialistischen Menschenbild definitiv in keiner Weise entsprach – ein Wunder in einem Staat, der sich sonst nichts gefallen ließ, aber dazu mehr im nächsten Kapitel. Alles in allem sind bei uns laufend einschneidende Sachen passiert. Gewalt war bei uns ausgesprochen diskutabel. Mein Großvater hat daheim öfter mal Schellen verteilt, richtig in die Schnauze gehauen, um seinen Status zu bekräftigen. Aber da wächst du rein, das kommt dir nicht komisch vor. Wenn ich heute Brutalität und Gewalt sehe, sind sie für mich nicht schlimm. Nun ja, was heißt: Nicht schlimm? Aber ich bin damit aufgewachsen und durch Gewalt kaum aus der Fassung zu bringen. Wenn Waffen im Spiel sind, bekommt jedes Handgemenge natürlich eine andere Dimension, aber Zeuge von Gewalt zu werden, ist für mich normal. Und meine eigene Geschichte hat sich später genau in diese Richtung entwickelt: Zu Gewalt kann man bedenkenlos greifen, man tut nichts Böses damit, die gehört eben dazu – komm mir noch einen Schritt näher, und du kriegst eine geklatscht! Du willst es nicht anders? Na schön, dann knallt’s … Allerdings – und deshalb habe ich mich immer als etwas Besonderes betrachtet: Ich besaß schon als junger Mann die Fähigkeit, mich von außen zu beobachten. Ich habe Situationen von einem neutralen Standpunkt aus einschätzen können und deswegen sofort geschnallt, wann es riskant wurde. Ich habe einen Riecher für Gefahr.

ENDE DER LESEPROBE