Haveldorf - Jean Wiersch - E-Book

Haveldorf E-Book

Jean Wiersch

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Beschreibung

Man kennt sich, man hilft sich – so funktioniert das Leben in den Dörfern an der Havel. Dieses Gesetz gilt auch für Hauptkommissar Manzetti. Er soll den Rechtsmediziner Bremer bitten, ein Huhn zu sezieren, um eine Keulung aller Tiere auf einem Hühnerhof zu verhindern. Doch was als Rettungsaktion für Hühner beginnt, endet in Mordermittlungen. Geht in dem Nachbardorf ein Serienmörder um, der es auf Frauen mit roten Schuhen abgesehen hat? Manzetti und sein Team stoßen auf ein weiteres Gesetz im Dorf – das des Schweigens …

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Info

Jean Wiersch
Haveldorf
Brandenburg-Krimi
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie des Autors. Ebenso die Verquickung mit tatsächlichen Ereignissen. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2022
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelfoto © Adobe Stock - bahadirbermekphoto
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-249-2
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-250-8
www.prolibris-verlag.de
Der Autor
Jean Wiersch, Jahrgang 1963, gehört seit 1994 der Polizei des Landes Brandenburg an. Er lebt mit seiner Frau inmitten der Mark Brandenburg, am Ufer des wunderschönen Beetzsees. In der wasser- und waldreichen Region westlich von Berlin spielen auch seine bislang sieben Kriminalromane, die bereits im Titel einen deutlichen Bezug zu dem Fluss seiner Heimat tragen, der Havel: Havelwasser, Havelsymphonie, Haveljagd, Havelgeister, Havelbande, Havelgift, Havelreime und zuletzt Haveldorf.
1
Freitag, 13. August
Die Sonne brannte sich in Manzettis Haut, sie stand fast im Zenit über ihm. Es war einer jener Augusttage, die man früher nur im Süden erlebt hat, etwa in Afrika, wo der Passat mit heißem Atem das Land verdorrte.
Aber was hieß schon früher? Der Klimawandel war längst in dem Teil Deutschlands angekommen, der mit seinen vielen Seen zwischen Havel und Rhin lag und wo die Sonne im Hochsommer kein Erbarmen mehr kannte. Gnadenlos knallte sie vom Himmel, als hätte sie dabei denselben Spaß wie kleine Jungen, die mit der Lupe einen Strohballen auf des Großvaters Bauernhof anzündeten.
Und Milderung war nicht in Sicht. Frühestens für das Ende der kommenden Woche stellten die Meteorologen Temperaturen um die fünfundzwanzig Grad in Aussicht, auch wenn hier am Beetzsee niemand so recht daran glauben wollte, selbst Andrea Manzetti nicht. Aber der hatte sowieso andere Probleme, dachte nicht an Wetter, Klima oder dessen Wandel. In seinem Rücken tobte es, als hätte Luzifer höchst persönlich dort Einzug gehalten; noch dazu mit offener Feuerstelle. Wie sollte er das aushalten, lautete nur eine der Fragen, die sich ihm seit einigen Minuten aufdrängten. Ihm, der den Umgang mit Schreibtisch und Ledersessel gewohnt war; ein geachteter Kriminalist; seit Jahren Leiter der Mordkommission in Brandenburg an der Havel.
Die Antwort sollte ihm nicht schwerfallen, denn es war nicht auszuhalten, jedenfalls nicht in seinem Alter. Das hier war schwere körperliche Arbeit; grausame, von unzähligen Schmerzattacken begleitete Maloche. Und in dem Moment, da ein weiterer Stromschlag durch sein Kreuz fuhr, stellte Manzetti sich auch schon die nächste der drängenden Fragen. Musste das unbedingt heute sein? Hatte sie ausgerechnet an einem Tag, an dem das Thermometer erneut jenseits der Dreißiggradmarke hängengeblieben war, den kleinen gelben Zettel auf dem Küchentisch liegen lassen müssen?
Eine drängende Frage, auf die eine klare Antwort folgte. Natürlich hatte sie das gemusst; Kerstin, die Frau, die Manzetti seit mehr als drei Jahrzehnten über alles auf dieser Welt liebte, mit der er zwei wundervolle Töchter und eine hinreißende Enkelin umsorgte, genau diese Kerstin hatte ihn vor etwa einem Jahrzehnt bereits deutlich gewarnt. Obacht, hatte sie gesagt, gib Obacht, mein Lieber.
Damals waren sie der Einladung des Maklers gefolgt, mit ihm das Anwesen zu begutachten, das seit einem halben Jahr am Ende der Dorfstraße von Ketzür zum Verkauf gestanden hatte. Ein schönes Haus und nur etwa fünfzig Meter vom Seeufer erbaut; mit herrlichem Ausblick, eine Pracht, hatte Manzetti sofort geurteilt. Aber als sie dem Makler vom Haus in den Garten gefolgt waren, da eben hatte Kerstin die Augen zusammengekniffen und ihn gefragt, ob er eine ungefähre Vorstellung von dem habe, was sie in diesem riesigen Areal erwarten würde? Sie und ihn und möglicherweise auch die beiden Mädchen. Obacht, mein Lieber. Doch er hatte sich nicht einschüchtern lassen wollen, er musste das Haus unbedingt kaufen.
Seither gab es nun diese gelben Zettel, die nicht größer als sein rechter Handteller waren und die sie gerne für ihre Botschaften an ihn benutzte. Heute lautete die: der Apfelbaum.
Und deshalb schlug der fast sechzigjährige Kriminalist in der Hitze des Tages den roten Spaten immer wieder und mittlerweile schweißgebadet in das nicht nachgeben wollende Wurzelwerk. Das alte Spalierobst war ein Gewächs, das schon seit Jahren den Blütenstand verweigerte, und so war es auf Kerstins Liste der verwunschenen Pflanzen geraten, was nichts anderes bedeutete, als dass es den Garten unverzüglich zu verlassen hatte.
Manzetti stützte sich in der Hoffnung auf den Spaten, dass sich seine Bandscheiben wieder beruhigten. Auch Mund und Rachen verlangten inzwischen nach Wiedergutmachung. Nur Wasser konnte das grausame Stechen im Hals lindern.
Als die Flasche seine spröden Lippen erreichte, nahm Manzetti im rechten Augenwinkel eine andere Bedrohung wahr; eine ganz feine Bewegung, ein Hauch nur. Der aber reichte aus, um ihn zur sprichwörtlichen Salzsäule erstarren zu lassen. Große Mengen Adrenalin schossen in seinen Körper. So in etwa, ging es Manzetti für den Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf, mussten sich die frühen Menschen gefühlt haben, wenn ihnen der heiße Atem des Säbelzahntigers im Nacken gesessen hatte.
Auch wenn die Quelle der gegenwärtigen Bedrohung nur einen Meter sechzig maß, war sie doch groß genug, um den ein Meter fünfundachtzig großen Manzetti an sofortige Flucht denken zu lassen, denn das Ungemach hatte nicht weniger als die Gestalt des Nachbarn angenommen, der einem Unheil verkündenden Schatten gleich über das Grundstück der Manzettis schlich. Nachbar Paul war ein alter Binnenschiffer, der seit mehr als zehn Jahren seine Rente genoss und der offensichtlich wieder unterwegs war, den Manzettis Zeit und Ruhe zu stehlen.
»Junge«, stöhnte Paul bereits auf Höhe des Kirschbaumes und aus einem für Manzetti beunruhigend angestrengten Gesicht. »Junge, wir haben ein Problem!«, rief Paul noch lauter als zuvor, obwohl er endlich neben Manzetti angekommen war.
Für den gab es nun keinen Zweifel mehr. Die Gefahr war nicht nur groß, sie war gigantisch, denn derartige Worte aus dem Mund von Nachbar Paul zerschlugen für gewöhnlich alle wohlfeilen Gedanken an einen geruhsamen Feierabend in Sekundenschnelle zu Kleinholz. Das wusste Manzetti nur zu gut; der Alptraum war also zur Realität geworden.
»So«, quetschte er deshalb hervor, »wir haben also ein Problem?«
Nachbar Paul nickte, während seine Hände eine Art Lockbewegung vollführten, die Manzetti glauben ließ, der alte Binnenschiffer dirigiere ihn an den Rand des Höllenschlundes.
»Wer sind wir, Paul?«, fragte er mit großem Unbehagen. »Du kannst unmöglich mich meinen, denn bis eben hatte ich noch kein Problem.«
Dem Gesicht von Paul war abzulesen, dass er dieser Behauptung nicht den geringsten Glauben schenkte. Gelassen blickte der alte Nachbar auf Manzettis Spaten und das sich hartnäckig in den Boden krallende Spalierobst. Dann zog er die Augenbrauen zusammen und fragte: »Sicher? Bist du dir ganz sicher, dass du kein Problem hast?«
Manzetti folgte dem Blick des Nachbarn, als könnte er dort, wohin Paul gerade schaute, so etwas wie eine Antwort finden. Aber da war nichts, rein gar nichts, wenn er einmal von dem Apfelbäumchen absah. »Ja«, antwortete er deshalb, und es klang, als sei er sich dessen sehr sicher. »Ich habe kein Problem und ich kann auch überhaupt keines gebrauchen.«
Doch Paul sah das wie fast immer, wenn er bei den Manzettis auftauchte, ganz anders. »Und was ist das da?«, fragte er, den scharfen Blick aus seinen grauen Augen noch immer auf das Apfelgewächs gerichtet. »Junge, das da solltest du lieber mit einem Traktor aus dem Boden ziehen. Wenn du so weitermachst, hast du spätestens morgen ein Problem, das ich nicht am eigenen Leib erleben möchte. Nämlich eines mit deinem Rücken.« Paul verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, die die Erwähnung des Wortes Schmerz vollkommen überflüssig machte. »Aber das ist dann wirklich nur dein Problem, du Stadtkind.«
Paul machte einen wohl inszenierten und deshalb mächtigen Schritt nach vorn, postierte seinen kurzen und schweren Körper so, dass Manzetti ihm nicht entfliehen konnte, und drückte seinen fleischigen Zeigefinger einem Dolchstoß gleich zwischen die Rippen des Hauptkommissars. »Und von dem anderen Problem, weswegen ich eigentlich gekommen bin, von dem sind du, ich und der Freddi betroffen, wenn du es ganz genau wissen willst.«
Manzetti spitzte sofort beide Ohren. Hatte Paul gerade behauptet, er sei wegen eines Problems gekommen, das ihn und irgendeinen Freddi betraf? Das durfte auf keinen Fall passieren. Nur das nicht. Wollte er sein Wochenende retten, und das seiner Familie, musste Manzetti schleunigst, und wenn es ging, genau in diesem Augenblick verhindern, dass der alte Zausel von einem Nachbarn ihn in eine seiner abenteuerlichen Geschichten hineinzog. In dreißig Sekunden würde es dafür zu spät sein.
»Vergiss es, Paul. Ich werde nicht wieder auf irgendeines deiner Märchen hereinfallen. Außerdem siehst du ja, dass ich von Kerstin einen Auftrag erhalten habe. Und damit basta«, polterte Manzetti los, um Paul mit allem Nachdruck von einem seiner Hirngespinste abzubringen.
Paul versank für etwa fünfzehn Sekunden in tiefes Schweigen. Dann deutete er mit dem Zeigefinger auf das Apfelspalier und fragte: »Das da? Ist das der Auftrag deiner Frau?«
»Ja«, antwortete Manzetti, zog den Spaten aus dem Boden und tat, als würde er umgehend seine Arbeit wieder aufnehmen wollen. Vielleicht, ging es ihm durch den Kopf, würde Paul so die Lust an der Unterhaltung verlieren und wieder verschwinden.
Aber der dachte nicht daran. Paul holte tief Luft und fragte in väterlichem Ton: »Was ist los bei euch, Junge? Willst du mir das vielleicht erzählen?«
Manzetti fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. »Warum? Was soll denn los sein bei uns?«, fragte er und wirkte dabei ein wenig hilflos.
Paul strich sich mit dem Zeigefinger über die Nase. Ein Zeichen, dass er angestrengt nachdachte. »Liebt sie dich noch?«
»Wer? Kerstin?«, fragte Manzetti.
»Sie liebt dich nicht mehr, stimmt’s? Willst du darüber reden?«
»Paul! Wie kommst du denn darauf?«, protestierte Manzetti und rammte den Spaten mit Wucht kurz vor Pauls linkem Fuß in die Erde. »Was fällt dir eigentlich ein? Kerstin soll mich nicht mehr lieben? Wo hast du das denn her? Das ist absoluter Blödsinn!«
Paul hob die Hände und zog gleichzeitig den Kopf zwischen die Schultern. »Das habe ich nirgendwo her, mein Junge. So etwas sieht man doch. Dazu brauche ich keine alte Frau, die mir mit einer schwarzen Katze auf der Schulter aus der Hand liest. Dafür genügt ein bisschen Lebenserfahrung nach Ketzürer Art.«
Manzetti geriet jetzt so richtig in Rage. Er stand kurz davor, ins Italienische zu wechseln und Paul mit einem Schwall der übelsten sizilianischen Flüche zu überschütten. »Stupido, Paul. Gerade du willst die nötige Lebenserfahrung haben? Soweit ich weiß, warst du nie verheiratet.«
Innerlich schmunzelnd nickte Paul. »Ja, das war ich weiß Gott nicht, aber Lebenserfahrung hab ich trotzdem. Und zwar jede Menge.«
»Und deshalb glaubst du, beurteilen zu können, wenn meine Frau mich nicht mehr liebt?«
»Korrrrrekt«, schnurrte Paul, während sich in Manzetti immer deutlicher die Befürchtung breitmachte, dass er auch dieses Rennen gegen seinen Nachbarn wieder verlieren würde.
Und schon bog Paul mit erhobenem Zeigefinger auf die Zielgerade ein. »Ich sage nur Traktor, wenn du verstehst, was ich meine. Würde sie dich und deinen Rücken nämlich noch immer lieben, dann hätte sie dich zu mir geschickt, um meinen Traktor zu holen … Aber so?«
So war er, Nachbar Paul, genau so. Ein Schlitzohr vor dem Herrn, raffiniert bis unter die Schwanzspitze. Und wie aus dem Nichts hängte der alte Gauner seinem Nachbarn Manzetti wieder einmal einen goldenen Haken zum Anbeißen hin. »Junge, was ist? Hast du die Sprache verloren?«
»Nein«, sagte Manzetti und nun biss er an. »Kann ich deinem Gerede entnehmen, dass ausgerechnet du mir deinen Liebling überlassen willst?« Er zog den Spaten wieder aus dem Boden.
Paul antwortete nicht sofort. Er presste nur die Lippen aufeinander.
»Was denn nun?«, stocherte Manzetti ungeduldig nach. »Gibst du mir den Trecker oder gibst du ihn mir nicht?«
»Das kommt drauf an«, sagte Paul.
»Worauf? Worauf kommt das an?«
»Auf das Problem, mein Junge, das Problem vom Freddi. Wenn du uns hilfst, zieh ich dir morgen in aller Früh deine Äppel aus der Erde, bevor du auch nur einen Fuß aus dem Bett gekriegt hast.«
Manzetti hing nun fester denn je am Haken. Und er wusste das. Paul hatte mit seinem Angebot so heftig an der Angelschnur gerissen, dass es kein Entkommen mehr gab.
»Prego«, lenkte Manzetti ein. »Wer ist dieser Freddi und was hat er für ein Problem?«
2
Als Zeichen des Sieges streckte Paul den Daumen der rechten Hand gen Himmel. »Der Freddi ist Freddi Mahlow, der Hühnerbauer«, erklärte er und schwang die Arme in die Höhe, als könnte er nicht glauben, dass ein Mann, der bereits seit zehn Jahren in Ketzür lebte, keine Ahnung hatte, von wem hier die Rede sein mochte. Doch Manzetti wusste es wirklich nicht, auch wenn er noch so intensiv darüber nachsann.
»Den musst du doch mittlerweile kennen, Junge. Jeder hier kennt den Freddi und seine Hennen.«
Jetzt dämmerte es Manzetti. Er kannte Freddi Mahlow zwar nicht persönlich, jedenfalls nicht so, wie man Freunde oder Nachbarn kennt, aber er wusste, wen Paul meinte. Mahlow war der Hühnerbauer aus dem Nachbardorf, an dessen Straßenstand Kerstin einmal in der Woche Eier kaufte. Die waren frisch, schmeckten besser als alle anderen aus Bodenhaltung, von frei laufenden oder sonst wie mit Superlativen versorgten Hühnern und sie hatten immer ein bisschen Hühnerkacke an der Schale. Als hätte Freddi Mahlow das aus Gründen der besseren Vermarktung eigens so arrangiert.
»Was ist mit ihm?«, wollte Manzetti wissen. »Hat man ihm etwa eine Handvoll Eier geklaut und ich soll den Diebstahl jetzt aufklären? Das ist nicht dein Ernst, Paul. Er stellt seine Eier mit einer Kasse des Vertrauens unbewacht an die Landstraße. Da muss er es aushalten, wenn mal einer vergisst, die zwei Euro in die Schale zu werfen.«
Pauls Gesicht schwoll erneut an, färbte sich wie eine überreife Tomate. »Papperlapapp«, raunzte er. »Stell dich nicht so an. Manchmal redst wie die Bessarabier.«
Nachbar Paul, dessen Familie gegen Kriegsende aus Pommern gekommen war und der aus einem schwer zu definierenden Neid heraus nicht gut auf andere Kriegsflüchtlinge zu sprechen war, beugte seinen fleischigen Oberkörper nach hinten, dass ihm vorne am Hosenbund das Hemd über den Kugelbauch rutschte und Manzettis ungetrübten Blick auf einen tiefen Bauchnabel freigab, der aussah wie das Tor zum Hades. Dann hielt der alte Binnenschiffer beide Hände als Trichter vor den Mund.
»Freddi, komm her. Ich hab’s dir doch gleich gesagt, dass der Junge uns helfen wird. Alles eine Frage der Beziehung, wenn du verstehst, was ich meine.«
Manzetti neigte den Kopf zur Seite und starrte zur Hausecke. Das also war er, Bauer Mahlow. Ein spindeldürres, rothaariges Männchen, bei dem die knochigen Finger nur unwesentlich dicker waren als die Bartstoppeln in dem eingefallenen Gesicht. Und diese knochigen Finger umschlangen den Hals einer seiner Hennen.
Manzetti gelang es nicht, den Blick von dem Federvieh loszureißen. Dabei war es nur ein Huhn, ein stinknormales Huhn, und es war nicht zu erwarten, dass das Tier gleich Kerstins Blumen bescharren würde. Die Mahlowsche Henne war nämlich mausetot.
»Gib sie ihm, Freddi«, forderte Paul und winkte den schüchternen Bauer näher heran.
Und Mahlow gehorchte aufs Wort. Er legte das Huhn auf den Rasen, während er Manzetti ansah, als hielte er ihn, den Halbitaliener, für eine alte germanische Gottheit, Odin etwa, dem man bisweilen ein Opfer darzubringen hatte. Dann zog der Bauer sich wieder zur Hausecke zurück.
Paul holte unterdessen tief Luft und zeigte auf die Henne. »Junge, das da ist unser Problem«, behauptete er.
Manzettis Blick hing wie festgenagelt an dem toten Huhn.
»Paul, du willst mir doch wohl nicht erklären, dass ich … dass ich wegen eines … Paul!«
»Was Paul? Die Leute im Amt behaupten, dass alle Tiere auf Freddis Hof getötet werden müssen. Sie sagen, dass die krank sind. Aber sieh dir die Henne doch mal an!« Paul hob das Huhn vom Boden auf und schwenkte es bedrohlich dicht vor Manzetti hin und her. »Nun, schau selbst. Wo ist die denn krank, bitte schön?«, fragte er und drückte mit seinen wulstigen Fingern an dem toten Tier herum, was dieses veranlasste, schmatzende Geräusche aus dem Schnabel zu entlassen, die Manzetti sofort in die Ohren fuhren und in seinem Gehirn die Erinnerung an verwesendes, übel riechendes Fleisch hervorriefen. Ein Geruch wie bei der Obduktion einer mehrere Tage alten Leiche, der ihm für gewöhnlich den Magen umdrehte.
Aber dann kam er plötzlich, der rettende Gedanke. Die Lösung konnte nur heißen, Paul und Freddi Mahlow auf der Stelle mit dem roten Spaten vom Grundstück zu jagen, egal wenn es das Aus für den Trecker bedeutete. Und er würde Paul, begleitet von einem phänomenalen Urschrei, das tote Federvieh bis auf die Dorfstraße hinterherwerfen.
Aber wie mit allen spontanen Eingebungen war es auch mit dieser. Manzetti wurde schon eine Sekunde später klar, dass das so nicht ging. Jedenfalls nicht hier in Ketzür, einem Dorf mit gut zweihundertfünfzig Einwohnern, wo man für solche Taten der Nichthilfeleistung leicht am Marterpfahl enden konnte. Außerdem würde er dann den Traktor des Nachbarn nicht nur heute nicht, sondern wahrscheinlich nie wieder zu Gesicht bekommen.
Er schob Pauls Hand und damit auch das tote Huhn von sich weg und sah den alten Binnenschiffer mit wehleidigem Blick an. »Paul, was soll ich denn machen, deiner Meinung nach? Ich bin Kriminalist und kein Tierarzt«, sagte er und hoffte auf Pauls Einsehen.
Aber das hatte der nicht. »Du bist kein Arzt, nein«, sagte Paul. »Aber dein Freund, der Doktor ist doch einer, oder etwa nicht?«
Manzetti runzelte die Stirn. »Du meinst doch nicht etwa Bremer?«, fragte er und ließ sogar ein leises Lächeln zu, als ihm das Bild eines gerupften Huhns auf einem der Seziertische in Bremers rechtsmedizinischem Institut in den Sinn kam. Das würde der nie tun, war sich Manzetti sicher. »Paul, der Doktor, den du meinst, ist zwar Arzt, aber kein Veterinär. Bremer ist Rechtsmediziner, untersucht also tote Menschen, die Opfer von Verbrechen geworden sind. Aber um Himmels willen doch keine Hühner.«
Pauls Gesichtszüge sprachen Bände. Er kriegte sich allmählich wieder ein und tat so, als habe er nicht gerade eine Abfuhr erlitten. »Was denn nun, Junge? Rufst du den Doktor an oder muss ich mich um alles selbst kümmern?«
Es war zwecklos. Manzetti schüttelte zwar noch immer den Kopf, griff aber dennoch in seine Hosentasche und holte das Handy heraus. Bei genauerer Betrachtung blieb ihm wohl keine andere Wahl, aber der Gedanke, dass er während der bevorstehenden Untersuchung Zaungast sein würde, versprach eine kleine Portion Spaß. Er wählte Bremers Nummer und hatte fünf Sekunden später den Doktor am Ohr.
Paul quittierte Manzettis braves Einlenken wie immer, wenn er gewonnen hatte, mit seinem breiten pommerschen Grinsen und einem andächtigen Zug aus dem silbrig glänzenden Flachmann, seinem ständigen Begleiter. Der aufsteigende Rülpser war Ausdruck erhabensten Seelenfriedens. Und er ermutigte sogar das klapprige rothaarige Männchen von der Hausecke, näherzutreten, bevor Pauls silberglänzendes Utensil leer sein würde.
3
Bremer hockte noch einige Minuten bewegungslos hinter dem Steuer seines Autos, tief in Gedanken versunken. Sein Blick fiel durch die Windschutzscheibe, traf aber nicht die riesigen Pappeln, die dicht an dicht das Seeufer säumten und bei Wind mit abertausenden Blättern rauschten wie ein Wasserfall, sondern verschwand irgendwo im Nichts. Und wie immer, wenn er bei den Manzettis in Ketzür auftauchte, schob er ein Kräuterbonbon in seinem Mund von einer Seite auf die andere, hin und her, her und hin.
Er hatte begründete Zweifel an der gegenwärtigen Zurechnungsfähigkeit seines Freundes Manzetti. Ein ausgewachsener Hauptkommissar, einer der erfahrensten Mordermittler der Brandenburger Polizei, sagte er sich, solch ein Mensch hatte wirklich verlangt, dass er, der Leiter des rechtsmedizinischen Instituts, ein totes Huhn obduzieren möge. Das war wahrlich nicht zu fassen.
Mit argwöhnischem Kopfschütteln kletterte Bremer schließlich aus seinem Auto, nahm Metallkoffer und Rucksack heraus und betrat das Grundstück der Manzettis. Wie er dem Hauptkommissar später gestand, beherrschte ihn dabei nur ein Gedanke: dass ihn hoffentlich niemand sah. Denn kurz vor der Pensionierung sollte er aufpassen, worin er sich verwickeln ließ. Zu schnell war ein Ruf ruiniert und Beinamen wie Der Quincy vom Hühnerhof würden die Runde machen und erfahrungsgemäß die eigene Karriere um viele Jahre überdauern. Und genau darauf hatte Bremer überhaupt keine Lust.
Missgelaunt schlich er an der Garage der Manzettis vorbei und blieb plötzlich, als er am Carport angekommen war, wie vom Schlag getroffen stehen. Dort, wo sonst dunkle Rattanmöbel zu einer Sitzgruppe aufgestellt waren, stand nun eine Biertischgarnitur, auf deren Bank Manzetti neben Nachbar Paul saß. »Es ist wirklich nicht zu glauben«, spottete Bremer. Vor den beiden lag das Huhn auf dem Tisch, festgezurrt wie auf der Streckbank der spanischen Inquisition.
»Hallo, Doktor«, rief Paul wie ein entzücktes Kind und nickte in Richtung des toten Vogels. »Wir haben es schon mal festgebunden, wie du siehst. Wir wollen doch keine Zeit verlieren.«
Bremer stellte Koffer und Rucksack ab. Am liebsten, das war seinem finsteren Blick zweifelsfrei zu entnehmen, hätte er auf dem Hacken kehrtgemacht und die Flucht ergriffen. Aber wo wollte er hin? Paul war längst aufgestanden und hatte ihm den Rückzug an der Garage vorbei mit seinem mächtigen Körper abgeschnitten.
Wie ein bissiger Hund nahm Bremer deshalb Manzetti ins Visier. »Ihr habt sie doch nicht mehr alle«, behauptete er mit boshaftem Unterton. »Wenn das jemand sieht, macht er daraus vielleicht eine Riesengeschichte und wir gehen womöglich wegen Sodomie alle in den Knast.«
Paul, der noch immer seine Stellung hielt, kratzte sich unbeholfen an der Nase. Er wirkte wie ein kleiner Junge, der gerade nicht verstand, wovon die Erwachsenen hier sprechen. »Was ist denn Sodomie, mein Junge?«, fragte er und suchte Manzettis Blick.
Der aber winkte nur ab. »Sex mit Hühnern«, gab er dann doch zu verstehen und suchte seinerseits den Blick von Bremer, allerdings vergebens.
Paul trat ein paar winzige Trippelschritte vor. »Sex mit Hühnern also.« Er sah zu Bremer. »Aber Doktor, das Huhn ist doch tot. Ich meine …«
»Schluss jetzt«, fauchte Bremer. Er hatte die Nase gestrichen voll. Für ihn war das hier nicht mehr als ein affiges Schmierentheater. »Ihr bindet das Viech sofort los und vergrabt es irgendwo im Garten. Und dann …« Bremer sah Manzetti erneut scharf an, »… und dann will ich nie wieder in solche Schweinereien verwickelt werden. Mich muss doch der Teufel geritten haben, dass ich überhaupt hergekommen bin.«
Paul ließ sich von dem kleinen Wutanfall nicht aus der Fassung bringen, obwohl er eine gewisse Ahnung davon bekam, dass ihm dieses Mal anders als vor einer halben Stunde bei Manzetti die Felle davonschwimmen könnten, denn der Doktor war mit einem furchtbaren Donnerknallen aufgetaucht. Und er brodelte noch immer. Und die Felle durften Paul auf keinen Fall davonschwimmen; bloß das nicht. Wie stünde er schließlich da vor Freddi Mahlow. Also stellte Paul sich dicht neben den Rechtsmediziner und legte ihm beschwichtigend eine Hand auf den Unterarm.
»Doktorchen«, säuselte er wie eine altgriechische Sirene, »sieh doch mal. Der Junge kann eigentlich gar nichts dafür. Ich habe das eingerührt. Ich ganz allein. Der Junge hat mir doch nur einen Gefallen getan, weißt du. Nachbarschaftshilfe sozusagen. Davon leben wir hier auf dem Dorf. Ohne das geht es nicht. Einer für alle und alle für einen. Es gehört sich einfach so. Unsereins kennt das nicht anders.«
Die Alternative ist der Marterpfahl auf dem Dorfplatz, ging es Manzetti derweil durch den Kopf; vor aller Leute Augen.
Paul wartete unterdessen einen Augenblick und versuchte, in Bremers Gesicht irgendeine Regung auszumachen. Ein Verdrehen der Augen vielleicht, das Öffnen des Mundes, um tief einzuatmen und mit einem Stöhnen Ja zu dem gegenwärtigen Unterfangen zu sagen. Aber der Doktor tat nichts von dem. Er blieb eiskalt und ungerührt wie eine strenge Erzieherin in einem abgelegenen katholischen Internat, die angefleht wird, den Sechzehnjährigen entgegen den Hausregeln den Discobesuch im nächsten Ort zu erlauben.
»Doktorchen«, versuchte Paul es erneut, »schau mal. Es geht doch hier gar nicht um das Huhn an sich. Es geht doch hier einzig und allein um den Bauer. Dem Freddi Mahlow wollen sie alle seine Tiere töten, weil die angeblich krank sind. Aber guck dir das Huhn doch mal an.« Paul drehte sich um und zog Bremer mit festem Griff bis direkt vor die Biertischgarnitur. »Sieht so ein krankes Huhn aus?«, fragte er, das Säuseln in höchste Frequenzen treibend. »Es ist, es war kerngesund, ich würde zum Beweis sogar sofort von der Keule abbeißen.« Paul sah Bremer mit feuchten Augen an, aber der reagierte noch immer nicht. Also musste er noch einen Gang höher schalten, und Manzetti wusste, dass der Nachbar jetzt dem sprichwörtlichen Fass den Boden ausschlagen würde.
»Aber wer bin ich denn schon?«, seufzte Paul herzergreifend. »Ein Niemand, ein alter Seemann, dem man, taucht er im Amt auf, kaum Glauben schenkt. Dagegen bist du, ein weltweit …« Paul betonte das Wort weltweit, als trüge er eine Ode auf die Globalisierung vor, »… ein weltweit anerkannter Wissenschaftler – dein Urteil können auch die im Amt nicht übergehen.«
Bremer blickte abwechselnd von Paul zu Manzetti und wieder zurück. Offensichtlich war der alte Seebär wirklich bis zu Bremers weicher Seele durchgedrungen, denn der Doktor machte einen Schritt zur Seite, sah auf die Henne und fragte: »Und warum geht ihr nicht einfach zu einem Tierarzt? Man sieht doch mit bloßem Auge, dass mit der Henne was nicht stimmt. Von wegen kerngesund.«
Im Geiste rieb sich Paul bereits die Hände. Jetzt hatte er ihn, den Doktor. Es war ihm gelungen, Bremer in ein Gespräch zu verwickeln, was nichts anderes bedeutete, als dass er den Doktor am Haken hatte. Nun musste er, wie vorhin bei Manzetti, nur noch die Sehne anrucken.
»Die Zeit, Doktorchen, die Zeit«, antwortete Paul geschwind. »Die sitzt uns einfach im Nacken. Und na ja, ganz fit scheint das Tierchen wirklich nicht gewesen zu sein. Aber Vogelgrippe hat es nicht gehabt. Das aber behaupten die vom Amt und deshalb wollen sie schon morgen alle Tiere abholen und verbrennen. Außerdem sind die Amtsärzte doch alle korrupt«, behauptete Paul wahrheitswidrig, aber voller Überzeugung. »Die stecken da alle unter einer Decke. Aber ein Mann wie du, so ein richtiger Haudegen …«, er boxte Bremer ganz leicht gegen den Oberarm, »so einer aus festem Schrot und …«
»Das reicht jetzt, Paul!« Manzetti hatte sich erhoben und stand nun direkt neben Paul, um Bremer von des Nachbarn verbaler Fesselung zu befreien.
Aber Paul ließ sich nicht aufhalten und schob den Hauptkommissar brachial beiseite. »Doktorchen, der Freddi erwartet es von mir. Kannst du uns nicht helfen? Bitte.«
Bremer stand noch ungefähr zehn Sekunden wie eine Gipsfigur da, bückte sich dann und griff nach Koffer und Rucksack. »Na gut«, gab er schließlich nach. »Aber ihr bringt den Tisch in den Keller. Ich möchte nicht, dass uns jemand bei diesem Zirkus beobachtet.« Als Bremer ein paar Schritte gegangen war, drehte er sich noch einmal um, als hätte er etwas vergessen. »Und ich will eine ganze Flasche Gin«, knurrte er. »Das kriege ich nüchtern nicht hin.«
»Kein Problem«, versprach Paul, eilte zu dem alten Bretterzaun, der sein Grundstück von dem der Manzettis trennte, und schob eine Latte zur Seite. »Hier«, jubelte er und präsentierte eine Flasche ohne Etikett. »Selbstgebrannt. Garantiert fuffzig Prozent. Ein Genuss, wenn ihr wisst, was ich meine.«
4
»Und, was denkst du?« Manzetti hockte auf der Freitreppe zur Terrasse und reichte ein Glas Barolo nach unten.
Bremer, der zwei Stufen tiefer schon darauf lauerte, griff in freudiger Erwartung zu. »Ich bin mir nicht sicher, aber nach Vogelgrippe sieht es nicht aus.«
»Wonach dann? Hast du schon eine Ahnung?«
Bremer schlürfte den ersten Schluck mit vor Glück glänzenden Augen, wie es gediegene Weinverkoster mit spitzen Lippen tun, den Rest aber, den kippte der Rechtsmediziner einfach in sich hinein. »Ich weiß nicht«, sagte er und reichte das leere Glas wieder die zwei Stufen nach oben. »Hätte man mir einen Menschen mit einer derart verfärbten Mundhöhle auf den Seziertisch gelegt, ich ginge von einer Bleivergiftung aus. Aber bei Hühnern? Ich habe da wenig Erfahrung. Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein Bauer seine Tiere vergiftet. Schließlich lebt er von denen, oder?«
»Wollen wir in mein Arbeitszimmer gehen?« Manzetti hatte im Geist bereits seinen Computer gestartet, um Bremer den Zugang zum Internet zu verschaffen. »Du könntest mal nachsehen.«
Bremer nahm sein erneut gefülltes Glas in Empfang und blickte hinein, als könnte er in der tiefroten Flüssigkeit den Weg zur Lösung seines Problems ablesen. »Wir haben es verlernt, zu denken, Andrea. Heute schauen wir lieber bei Google nach und nehmen alles so hin, wie es dort irgendjemand reingestellt hat, beschweren uns aber gleichzeitig, dass wir von den Internetmachern manipuliert werden. Und das Internet ist oft genauso überflüssig wie ein Taschenrechner, wenn es darum geht, fünf und fünf zusammenzuzählen. In diesem Fall brauche ich das Internet nicht. Ich nehme die Henne nachher mit und untersuche sie in meinem Labor.« Bremer hob das Glas mit dem blutroten Barolo über den Kopf. »Salute, mein Lieber ... Wenn ich genauer nachdenke, dann ist es eine Bleivergiftung. Vertrau mir.«
Auch Manzetti hob das Glas, wenn auch nicht ganz so pathetisch wie Bremer. »Wie kommst du darauf? Eben warst du dir noch nicht sicher und nun doch?«
»Ja, ja. Es ist diese bläuliche Verfärbung. Sieht aus wie Blei und ist es auch.« Bremer trank noch einen Schluck, bevor er seinen Vortrag begann, wie immer das Produkt eines klaren, analytischen Verstandes, über den der Mediziner schon als Kind verfügt hatte. Und dem konnten auch die Hektoliter Wein und Schnaps nichts anhaben, die in einem langen Leben nicht nur die Leber dieses Mannes passiert hatten.
»Von einer Bleivergiftung sprechen wir, wenn es zur Aufnahme von metallischem Blei oder Bleiverbindungen kommt. Blei ist für die meisten Lebewesen schädlich. Wohl auch für Hühner, nehme ich an. Beim Menschen, das haben Untersuchungen ergeben, beeinträchtigen hundertfünfzig Mikrogramm Blei pro Liter Blut schon den IQ.« Jetzt musste Bremer kurz auflachen und sah zu Manzetti. »Wenn das übrigens stimmt mit dem IQ, dann leidet ein Großteil der Menschheit seit Jahren an einer beachtlichen Bleivergiftung … Aber zurück zu unserem Fall. Außerdem führt eine Bleivergiftung zu Darmkrämpfen und zur Verengung der Blutgefäße. Dadurch erscheint die Haut blass und der Blutdruck steigt an.«
»Und wie kann ein Huhn Blei aufnehmen?«