Haveljagd - Jean Wiersch - E-Book

Haveljagd E-Book

Jean Wiersch

4,9

  • Herausgeber: Prolibris
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Werner Michaelis, ehemaliger Chefredakteur, will seinen alten Schulfreund besuchen - und findet ihn und seine Frau tot in ihrem Bett. Der Ehemann hält die Waffe noch in der Hand. Erweiterter Suizid, nennt es die Polizei. Michaelis glaubt nicht an Selbstmord und beginnt zu recherchieren. Er stößt auf eine heiße Spur, die auch Kommissar Manzetti überzeugt, sich an den Ermittlungen zu beteiligen. Noch ahnen beide nicht, in welches kriminelle Netz übelster menschlicher Ausbeutung sie eingedrungen sind... Jean Wiersch greift erneut in der bekannt spannend-unterhaltsamen Weise ein brisantes gesellschaftliches Thema auf.

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Seitenzahl: 300

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Jean Wiersch

Haveljagd

Brandenburg Krimi

Prolibris Verlag

Handlung und Figuren sind frei erfunden. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.

1

Werner Michaelis hielt den Fahrradlenker krampfhaft umklammert, als müsste er ihn gegen eine Jugendgang verteidigen. Dabei wollte er nur verhindern, dass sein Vorderrad, durch die vielen Rillen im Pflaster der Steinstraße irregeführt, so mir nichts dir nichts in die Straßenbahnschienen rutschte, was mit ziemlicher Sicherheit zum Sturz geführt hätte.

Nur nicht nach links oder rechts in die Auslagen der Geschäfte sehen, forderte er mit strenger Stimme von sich selbst, sondern immer schön geradeaus, besser noch, nur einen Meter weit. Jedenfalls wollte er das tun, solange der Streifenwagen hinter ihm herschlich. Bestimmt warteten die bloß darauf, dass er die Nerven verlor und auf den Gehweg abbog, was ihn sofort zehn Euro gekostet hätte. Dein Freund und Helfer.

Aber kurz vor dem Steintorturm, er hatte die holprige Straße fast hinter sich, setzte sich der Streifenwagen plötzlich neben ihn, und der Beifahrer ließ sein Fenster herunter.

»Warum fahren Sie denn nicht auf dem Gehweg? Ist viel sicherer als auf der Holperpiste hier, und sonntags früh um sieben ist doch sowieso niemand da, den Sie stören könnten.« Dann winkte der Polizist freundlich, und sein Kollege gab Gas.

Na prima, dachte Michaelis. Hätte euch das nicht schon in Höhe des Kinos einfallen können? Da hätte es sich wenigstens noch gelohnt, jetzt aber musste er sowieso abbiegen.

Menschenleere Straßen. Er fuhr zum Theaterpark, dort über die kleine Brücke, die durch die Initiative einiger Mitglieder der Brandenburger Symphoniker in neuem Glanz erschien. Endlich hielt er vor dem Haus in der Grabenstraße, in dem er seit über zehn Jahren sein Zuhause hatte.

In der Glasfläche der Eingangstür betrachtete er sein Spiegelbild, das heute Morgen so ganz anders aussah, als noch gestern Abend. Eine kleine Veränderung nur, aber mit großer Wirkung. Rechts neben der Nasenwurzel leuchtete ein tiefviolettes Veilchen, mit dessen Betrachtung er sich nicht weiter aufhalten wollte.

Im Hausflur lehnte er das Fahrrad gegen die Wand. Dann nahm er hinter sich Schritte wahr, und als er sich umdrehte, sah er auf den letzten Stufen der Treppe die alte Frau Meier aus dem dritten Stock. Eine ehemalige Schaffnerin, längst pensioniert, aber immer noch mit jener Freundlichkeit ausgestattet, von der sie durch ihr Berufsleben getragen worden war.

»Das ist aber hier kein Fahrradschuppen«, quakte sie, raffte den Morgenmantel vor der Brust zusammen und zog mit der anderen Hand das Brandenburger Wochenblatt aus dem Briefkasten. »Je oller, je doller«, setzte sie noch mit einem Blick auf sein lädiertes Auge hinzu, bevor sie wieder im Treppenhaus verschwand.

»Ich wünsche Ihnen auch einen guten Morgen, Frau Meier«, rief er ihr nach. Und nun? Eigentlich war er hundemüde, aber der Alten war alles zuzutrauen, auch, dass sie sich in zehn Minuten an seinen Ventilen vergriff. Also schob er das Rad auf den Hof und stellte es in den Fahrradständer.

Plötzlich stieg ihm der Geruch abgebrannter Holzkohle und alten Fettes in die Nase, und ein Blick hinter den Mauervorsprung offenbarte, woher der kam. Dort stand Olivers Grill. Sein Nachbar in der kleinen Pension im vierten Stock war der einzige, der hier regelmäßig zu Barbecue-Abenden einlud. Michaelis hielt seine Hand über die Asche und konnte deutlich die Restwärme spüren. Also lag Oli, der Vollzeitmusiker, noch nicht lange im Bett und würde frühestens am späten Nachmittag, vielleicht aber auch erst am Abend aus seinem Zimmer geschlichen kommen. Und da die alte Julemann auf Mallorca weilte, würde er also mit Lotte ganz allein beim Frühstück sein.

Oben in der Pension bog er gleich in die Küche ab, wo Lotte am Herd stand. Vor ihr brutzelten Zwiebeln und Schinkenspeck in einer Pfanne und erfüllten den Raum mit einem so herrlichen Duft, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Sie drehte sich um und musterte ihn vom Herd aus, als wäre er ein Fremder.

»So sah mein Felix auch immer aus, wenn er morgens von seiner Stromerei nach Hause kam.«

»Guten Morgen, Lotte«, sagte er und warf die Jacke auf den nächsten Stuhl. »Wer ist Felix?«

»Guten Morgen, Herr Michaelis. Felix? Das war mein Kater und der konnte im hohen Alter auch nicht mehr akzeptieren, dass die Jungen kräftiger sind.«

Michaelis setzte sich an den großen Küchentisch und befühlte sein rechtes Auge. »Was soll das heißen?«, fragte er provokant.

»Dass Sie sich etwas mehr in Acht nehmen sollten, wenn Sie den jungen Röcken nachsteigen. Sonst fehlt Ihnen wie meinem Felix bald ein Ohr, vom Schwanz ganz zu schweigen.«

»Danke für den Rat«, sagte er, während er die Hände über seinem Schoß faltete.

»Sie widersprechen nicht, also wieder so ein junges Ding.«

Darauf ging er jetzt besser nicht ein.

»Und ist sie auch noch verheiratet?

»Was?« Er tat so, als hörte er schlecht.

»Ob sie verheiratet ist?«

Michaelis hob eine Hand und betastete noch mal sein Veilchen, das immer noch ordentlich wehtat. »Warum sind Sie immer so voreingenommen, Lotte. Und wie kommen Sie eigentlich darauf, dass sie verheiratet ist?«

Lottes Blick landete auf seinem blauen Auge.

»Also gut, sie ist verheiratet«, gab er zu. »Aber es war ihre freie Entscheidung.«

Sie nickte und starrte dann plötzlich mit zusammengezogenen Augenbrauen auf seine nackten Füße, und er wusste sofort, was ihr nun schon wieder durch den Kopf ging. Keine Chance, meine Liebe, sagte er sich. Nicht im Sommer, und außerdem sind sie frisch gewaschen. Trotzdem zog er die Füße unter den Stuhl.

»Wie heißt denn die Glückliche?«, fragte sie jetzt und lehnte sich neben dem Herd gegen die Arbeitsplatte.

Michaelis zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, musste er zugeben. Irgendwie war in der letzten Nacht nicht die Zeit für ausgiebige Gespräche gewesen. »Das ist doch auch nicht wichtig, aber sie will sich von ihrem Mann trennen.«

Lotte zog die Stirn kraus.

»Hat sie jedenfalls gesagt«, behauptete er, nachdem er ihren Blick ausgemacht hatte.

»Und der sieht das anders, oder wie?«, behauptete Lotte mit aufgeblasenen Wangen und zog jeden Buchstaben so lang wie nur möglich.

»Sieht wohl so aus«, antwortete er und betastete erneut sein Veilchen. »Was ist daran so komisch?«

Ein Funken von Optimismus zuckte in ihren Augen auf, unterstützt von einem anerkennenden Nicken. »Was daran komisch ist? Sie sind fünfundsechzig, wenn ich mich nicht irre … und da könnte man doch erwarten, dass sie nicht die gleichen Fehler machen wie mein Felix.« Dann hielt sie einen Lappen unter fließendes Wasser, kam zu ihm an den Tisch und drückte ihm das feuchte Tuch aufs Auge. »Festhalten, dann geht die Schwellung vielleicht noch zurück … Hat er Ihnen das verpasst?«

Das musste ja so kommen. Als ob die Situation nicht schon peinlich genug war. Aber er war selbst schuld. Er hätte ja nur leise an Lotte vorbeigehen müssen, bis in sein Zimmer, wo er ungestört geblieben wäre. Aber der Hunger hatte ihn einen anderen Weg nehmen lassen.

»Ja«, sagte er. »Er hatte wohl keine Freude mehr an der Dienstreise und kam früher zurück, als erwartet.« Mehr wollte er dazu nicht sagen, und auch Lotte schien mit dem Thema durch zu sein, denn sie ging zum Herd zurück, nahm die große gusseiserne Pfanne und löffelte eine ordentliche Portion Rührei auf einen Teller.

»Danke, das reicht.« Mit der freien Hand schob er erst die Pfanne weg und begann dann, mit der Gabel das goldgelbe Rührei in seinen Mund zu schaufeln.

»Schmeckt’s?«, fragte Lotte und setzte sich ihm gegenüber.

Nein, bitte nicht, ging es ihm durch den Kopf. Nicht heute und nicht beim Frühstück. Aber Lottes Augen brachten zum Ausdruck, dass es mal wieder so weit war, und so wischte sie sich die Hände an der Schürze ab und griff in die Kitteltasche.

»Herr Michaelis«, begann sie wie zu jeder Monatsmitte. »Sie zahlen seit Jahren den gleichen Betrag für Ihr schönes Zimmer, aber das Leben verteuert sich fast von Stunde zu Stunde. Da müssen wir mal ernsthaft drüber reden. Wie soll ich sonst mein Auskommen haben?«

»Von mir nicht. Ich bin jetzt Rentner«, warf er mit vollem Mund ein.

»Und was soll das nun wieder heißen: Sie sind jetzt Rentner?«

»Da reicht’s eben hinten und vorne nicht mehr.«

»Dass ich nicht lache«, tönte sie. »Sie werden als ehemaliger Chefredakteur des Märkischen Kuriers schon eine ordentliche Rente beziehen. Außerdem habe ich erst gestern wieder gelesen, dass Sie noch immer Kommentare für die Zeitung schreiben. Das machen Sie doch auch nicht umsonst, oder?« Sie wackelte mit dem ausgestreckten Zeigefinger vor seinem unverletzten Auge. »Erzählen Sie mir bloß nichts … Sie dürfen Ihr Geld nur nicht immer für diese Weibsbilder ausgeben.«

»Mach ich doch gar nicht«, warf er ein, aber so schnell gab Lotte nicht auf.

»Nein? … Wenn ich sehe, wie viel Sie mit den Damen telefonieren, da geht ja schon ein Vermögen drauf. Und die eine oder andere werden Sie auch mal mit kleinen oder großen Aufmerksamkeiten verwöhnen müssen, damit sie dort landen, wo Sie eigentlich hinwollen.« Dann stand sie plötzlich auf und ging zu der kleinen Pinwand, an der alle wichtigen Nachrichten hingen. »Apropos telefonieren. Ein Herr hat gestern für Sie angerufen. Sie möchten sich bitte unbedingt bei ihm melden. Es sei dringend, hat er gesagt.« Sie legte den Zettel vor ihn auf den Tisch. »Hier ist seine Nummer.«

»Und wie hieß dieser Herr?« Michaelis ging in Gedanken schnell eine Liste von Männern durch, die wussten, dass er hier in Lottes Pension wohnte, und die Lotte nicht persönlich kannte.

»Seinen Namen hat er nicht genannt. Er sei Lehrer und ein alter Schulfreund von Ihnen.«

Michaelis starrte Lotte an. Ein Lehrer? Wer konnte das sein?

»Hat er nichts weiter erwähnt?«

»Nein. Nur, dass Sie ihn anrufen sollen. Er sei auch nicht in Berlin, sondern in Brandenburg, in seiner Datsche.«

Ah, der gute alte Kurt. Kurt Becher. Sein alter Kumpel aus gemeinsamen Schulzeiten. Aber was konnte der so Dringendes wollen? »Hat er nicht mal etwas angedeutet?«

Lotte schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat nicht gesagt, was er wollte. Aber er klang irgendwie merkwürdig. So, als ginge es ihm nicht gut. Ich glaube, er hat sogar ein wenig geschnauft.«

Michaelis stand auf und wandte sich zum Flur. Lotte, die wohl glaubte, er würde in sein Zimmer verschwinden, war ihm dabei dicht auf den Fersen. Am Stuhl neben der Tür bremste er ab und angelte aus seiner achtlos hingeworfenen Jacke das Handy. Aus dem Speicher wählte er Kurts Nummer.

Nichts, nur die Mailbox.

»Hat er wirklich nichts gesagt?«

Lotte, die ihn von jeher besser behandelte als die anderen beiden Dauergäste, bekam einen nachdenklichen Zug um ihren Mund. »Das wird doch nichts Schlimmes bedeuten, oder?« Sicherlich machte sie sich mittlerweile Sorgen, denn seit er hier bei ihr wohnte, war sie nahezu den ganzen Tag damit beschäftigt, ihn um jeden Preis vor Schaden zu bewahren. Jedenfalls so gut das eben bei einem wie ihm ging.

»Wie oft hat er denn angerufen?«, fragte er und ging wieder zum Tisch zurück.

»Fünf Mal.«

Gerade, als er etwas lauter werden wollte, fiel sein einäugiger Blick wieder auf das Handy. Es blinkte bläulich, und da fiel ihm ein, dass er es ja gestern, als er auf die Klingel der schönen Frau gedrückt hatte, auf lautlos umgestellt hatte. »Mist«, fluchte er und zappte sich durch das Menü des Telefons. »Bei mir hat er auch fünf Mal angerufen.«

***

In seinem Zimmer zog er sich schnell ein anderes Poloshirt an, nachdem er sich mit einem Deostick den Anschein von Frische gegeben hatte. Dann wählte er die Nummer der Taxizentrale.

»Michaelis, mein Name. Einen Wagen bitte in die Grabenstraße vor die Theaterklause.« Er gab als Adresse immer die Klause an, die sich im Nachbarhaus befand. Das fanden die Leute leichter. Die Frau in der Taxizentrale wies ihn mit den knappen Worten eines Feldwebels an, möglichst auf dem Bürgersteig zu warten, denn vom Neustädtischen Markt bis in die Grabenstraße sei es ja nur ein Katzensprung und Zeit sei schließlich Geld.

Dann griff er sich sein Portemonnaie und rannte die Treppen hinunter. Da das Taxi doch nicht so schnell war, nutzte er die nächsten Minuten für einen seiner aromatischen Zigarillos.

Kurt und er hatten sich nach dem Abitur leider völlig aus den Augen verloren, und erst vor ein paar Jahren mehr durch Zufall den Kontakt wiederhergestellt, der dann vor geraumer Zeit wieder einzuschlafen drohte. Alle Nachfragen hatten in der spärlichen Erklärung gemündet, dass Kurt trotz seiner vielen Termine bestimmt mal wieder die Zeit für ein Treffen finden würde. Vielleicht war dieser Zeitpunkt gestern nun gekommen.

Trotzdem hatte er ein merkwürdiges Gefühl im Bauch, das er weder benennen, geschweige denn erklären konnte. Dabei freute er sich auf die beiden, auf Kurt und Eva, auf das Wiedersehen nach langer Zeit und auf die Möglichkeit, mit Kurt über Gott und die Welt zu philosophieren.

Er sah die beiden schon vor sich, wie sie ihn von der Terrasse ihrer Datsche aus anstrahlen würden, wie Eva sich, ähnlich Lotte, die Hände an der Schürze abwischen und wie ihm bei der Umarmung der Duft nach frischem Pflaumenkuchen in die Nase steigen würde, der gewiss noch vom Backen in ihrem Haar haftete.

Als das Taxi endlich neben ihm hielt, öffnete er die Beifahrertür und stieg ein. »An den Bohnenländer See, nach Butterlake«, sagte er zu dem hageren Fahrer, der unangenehm nach Knoblauch roch. »Da muss es ein paar Wochenendhäuser geben.«

»Jibt et«, sagte der Mann und wandte sich ihm zu. »Dreie, wenn set jenau nehm.«

Michaelis nickte und hielt kurz den Atem an, denn der Taxifahrer entblößte beim Reden nicht nur fehlende Zähne, nein, er roch mittlerweile so intensiv, als habe er die Knoblauchzehe noch im Mund.

Als Michaelis mit flinken Augen die Tür nach dem elektrischen Fensterheber absuchte, machte sich der Taximann offenbar große Sorgen.

»Nich, datt se Jenickstarre kriegn. Dett jeht schnell bei offene Fenster. Dett wees ick aus eijene Erfahrung, wa.«

Um nicht noch mehr Erläuterungen zu provozieren, beschloss Michaelis, sich fortan nicht mehr zu bewegen und bloß keine Fragen zu stellen. So würde er die 10 Kilometer lange Fahrt überstehen können.

Nach zwanzig Minuten konnte er endlich aus dem Taxi flüchten. Nur raus hier. Er hatte die einzelnen Münzen in die Hand des Mannes gezählt, ohne einen Cent Trinkgeld zu geben, selbst auf die Gefahr hin, dass ihn von hier draußen niemand mehr abholen würde. Dann zog er auf der menschenleeren Straße sein Handy aus der Hosentasche und wählte erneut Kurts Nummer. Wie bei allen anderen Versuchen klingelte es sechs Mal bis die Mailbox ansprang.

Er orientierte sich nach rechts, wo er nur zwanzig Schritte hinter einem weißen Flachbau das Blockhaus schon sehen konnte. Aus der Entfernung wirkte es sehr idyllisch. Kurt hatte die Natürlichkeit des Holzes nicht mit bunter Farbe überpinselt, und so verschwand das Häuschen für den oberflächlichen Betrachter fast zwischen den Bäumen des umliegenden Waldes.

Michaelis ging weiter, und obwohl es erst August war, knirschten unter seinen Schuhen Tausende gefallener Kastanienblätter. Als er nach oben sah, erkannte er das ganze Ausmaß. Kein einziger Baum trug mehr sein Laub. Das Werk von Miniermotten.

In Steinwurfweite vom Blockhaus hielt er nach irgendwelchen Bewegungen Ausschau. Vielleicht frühstückten Kurt und Eva ja auf der Terrasse? Aber außer einer am Boden hüpfenden Elster war nichts Lebendiges zu sehen. Ihn umfing ein seltsames Gefühl und er drehte sich um, suchte den Wald ab, ohne zu wissen wonach. Zu viele schlechte Filme, dachte er.

Dann sah er wieder zur Blockhütte. Schon aus der Entfernung konnte er erkennen, dass die Tür des Sommerwohnsitzes seines Freundes einen Spaltbreit offen stand.

War das ein Indiz dafür, dass sie zu Hause waren?

Nur wenige Meter vom Haus entfernt blieb er erneut stehen und atmete tief durch. Sicher waren sie nur kurz eine Runde um den See gegangen, was vielleicht eine halbe Stunde dauern würde. Weit konnten sie jedenfalls nicht sein, denn hinter dem Blockhaus lugte die Frontpartie eines blauen Fords mit Berliner Kennzeichen hervor.

Dann lauschte er, ob aus dem Blockhaus nicht doch leises Klappern oder Gesprächsfetzen zu ihm drangen. Aber es blieb immer noch ungewöhnlich still. Nur die Elster gab aus sicherer Entfernung ihren Unmut über seine Störung kund.

Mit einem großen Schritt trat er auf die Terrasse. »Kurt?«

Nichts. Und wieder rief er: »Kurt? Hier ist Werner. Werner Michaelis. Seid ihr zu Hause?«

Mit den ausgestreckten Fingern tippte er gegen die Holztür, bis sie quietschend nach innen pendelte. »Kurt?«

Es war gerade erst acht. Vielleicht hatten sie sich wirklich nach dem Frühstück zu einem Spaziergang aufgemacht, was zu Kurt passen würde, denn schon in den Zeiten ihres gemeinsamen Internatsbesuches war er mehr als gesundheitsbewusst gewesen. Aber nicht nur das. Kurt war auch ein penibler Hund gewesen, was die anderen Mitschüler schon mal zur Weißglut bringen konnte. Und dazu passte eben nicht, dass er bei der eigenen Abwesenheit die Tür offen stehen ließ. Auch nicht einen Spaltbreit.

»Hallo. Ist hier jemand? Kurt, wo steckst du denn?«

Michaelis trat mit dem rechten Fuß auf die Schwelle und überlegte kurz. Sein alter Kumpel würde es ihm sicherlich nicht übel nehmen, wenn er im Haus auf dessen Rückkehr wartete. Unter Umständen hatte Eva sich gegen ihren Mann durchgesetzt und die Tür einfach offen gelassen. Quasi als Einladung.

Also trat er ein und stand direkt im Wohnzimmer. Er versuchte, sich zu orientieren, denn hier war er das erste Mal. Bislang hatten sie sich immer in Berlin getroffen, wo es ungleich größere Möglichkeiten gab, ihre Gespräche mit Kunst und Kultur zu verquicken. Sein Blick folgte einem Halbkreis. Schön hatten sie es hier. Das Wohnzimmer, an das sich zur Linken eine nicht sehr große, offene Küche anschloss, war geschmackvoll eingerichtet und die Accessoires verrieten unverkennbar Evas weibliche Handschrift. Kurt hätte nie und nimmer alte Puppen mit Tonköpfen und weißen Schürzen in die Sofaecken gesetzt.

Er lauschte wieder angestrengt in die Stille und setzte einen weiteren Sinn ein. Intensiv sog er die Luft durch die Nasenflügel, aber auch das brachte ihn nicht weiter. Nicht einmal den Restduft von Frühstückskaffee nahm er wahr.

Konnte es so etwas in einem bewohnten Haus überhaupt geben? Plötzlich befiel ihn eine leichte Beklemmung.

»Kurt?«

Michaelis hielt den Atem an, wie immer, wenn er hochkonzentriert war. Langsam wanderte sein Blick zu den anderen beiden Türen, von der eine zum Bad führen musste, was der kleine pinkelnde Junge aus Messing verriet.

Und die andere?

Das musste die Schlafzimmertür sein, er klopfte vorsichtig mit den Fingerknöcheln gegen das Holz. Als wieder nichts passierte, probierte er es noch einmal, etwas kräftiger als zuvor, bis die Tür endlich aufschwang. Sie quietschte, wenn auch nicht so laut, wie die Eingangstür, und die leichte Beklemmung wurde von einem Stechen in der Brust abgelöst, das mit gesteigertem Puls plötzlich Besitz von ihm ergriff.

In dem Raum war es relativ dunkel. Die lichtdichten Rollos ließen kaum einen Sonnenstrahl herein und der schummrige Schein aus dem Wohnzimmer reichte lediglich aus, um die Umrisse eines Schranks und des Doppelbetts erkennen zu können. Seine Finger strichen über die kalte und leicht feuchte Wand, bis sie nach unendlichen Sekunden einen Lichtschalter ertasteten.

Als würden sich zwei riesige Hände um seinen Hals schließen, spürte er plötzlich, wie ihm die Luft wegblieb. »Jesus«, entfuhr es ihm und er schloss unwillkürlich die Augen, um nicht sehen zu müssen, was er doch sah. »Jesus!«

Kurt lag auf dem Rücken im Bett, neben ihm Eva. Beide trugen ihre Tageskleidung und beide bewegten sich nicht. Nicht einmal Kurts Brustkorb hob und senkte sich. Als Michaelis an das Fußende des Bettes trat, erkannte er im Licht der Deckenlampe die Ursache für ihre Starre.

Kurt und Eva hatten einen dunkelroten, fast schwarzen Punkt auf der Stirn.

2

»Das hat mir gerade noch gefehlt.« Dr. Bremer stand an einen riesigen Baum gelehnt und wartete auf seinen Einsatz. Er sah ziemlich genervt aus.

»Was hat Ihnen gerade noch gefehlt? Sie waren doch hoffentlich schon wach?« Manzetti reichte Bremer die Hand. »Es ist bereits neun Uhr dreißig, und das dürfte auch für ein Wochenende keine unchristliche Zeit mehr sein.«

»Da haben Sie natürlich Recht. Aber für solche Dinge hier«, Bremer zeigte mit der rechten Hand auf die Blockhütte, »ist es immer die falsche Zeit.«

Manzetti sah Bremer ganz genau an und versuchte dann, dessen Geruchsnote zu bestimmen. Rasierwasser war das nicht, was vom Gerichtsmediziner herüberwehte. »Bremer, sind Sie gestern irgendwo versackt?«

Der Arzt drehte seinen Kopf weg und hielt dem Hauptkommissar ungelenk ein Bonbon hin, das er zuvor aus der Seitentasche seiner braunen Kordjacke geangelt hatte. »Wieso?«

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