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Sexualität berührt direkt und indirekt alle Lebensbereiche. In diesem Artikel soll einerseits die jüngere Geschichte der Sexualität in Deutschland und insbesondere die Veränderung moralischer Werte bis heute betrachtet werden und andererseits soll in diesem Zusammenhang die Entwicklung der Prostitution mit ihren unterschiedlichen Facetten auf diesem Hintergrund beleuchtet und der sich hieraus ergebende Zusammenhang deutlich gemacht werden. In kaum einem Gebiet gibt es so viele Mythen, Urteile und Vorurteile wie auf dem Gebiet der weiblichen Sexualität. Frauen fühlen sich in der Rolle als Sexualobjekt zuhause. Es ist ein Muster, das sie kennen. Frauen gelten als das sittsame Geschlecht. Sexuell offensive Frauen gelten schnell als anrüchig, denn sie verstoßen gegen ungeschriebene Gesetze. Die Heilige gilt schlechthin als die triebfeindliche Frau im Gegensatz zur Hure, der triebfreundlichen Frau. Die gegensätzliche Betrachtungsweise von Frauen als Heilige und Huren existiert vielfach in der Vorstellungswelt von Frauen aber vor allem in der der Männer. Der Titel polarisiert und provoziert und ruft vermutlich sehr unterschiedliche Emotionen hervor, je nach Betrachtungsweise, was durchaus beabsichtigt ist. Mit einer Betrachtung aus der jeweiligen Zeitperspektive, soll das Thema Sexualität so aus einer anderen, eher ungewöhnlichen Sichtweise betrachtet werden. Der Umgang mit Sexualität wird abschnittsweise und ausschnittsweise einerseits aus Sicht der allgemeinen sexualpolitischen Entwicklung und andererseits im Zusammenhang stehend mit dem sogenannten horizontalen Gewerbe betrachtet.
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Seitenzahl: 158
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Einleitung
1.
Nachkiegssexualität – Männermangel / Frauenüberschuss
1.1 Das Liebesideal der Nachkriegszeit war die Kameradschaft
1.2 Ehe auf Zeit – Bratkartoffelverhältnis
1.3 Ungebundenes Sexualleben
1.4 Formen der Nachkriegsprostitution
1.4.1. Überlebensprostitution
1.4.2. Besatzungsprostitution
1.4.3. Straßenprostitution
1.4.4. Autoprostitution
1.4.5. Lokal- und Bordellprostitution
2.
Die prüden 50er Jahre
2.1. Wiedererstarken einer strengen Sexualmoral
2.2. Benimm-Knigge war Pflichtlektüre
2.3. Viginität galt als Ideal – Rufmord und »Verlust der Ehre«
2.4. Absolute Tabuthemen der Fünfziger Jahre
2.5 Der Kinsey – Report
2.6. Prostitution als Markenartikel
2.6.1. Animierlokale mit Séparées, Striptease, Kabarett, Clubs etc.
2.6.2. Autobahnprostitution, Prostitution mit dem eigenen Auto, Messeprostitution
2.6.3. Der Mord an Rosemarie Nitribitt
2.6.5. Call-Girls und Party-Girls
3.
Die 60er Jahre und die »sexuelle Revolution«
3.1. Die Pille
3.2. Die Sexwelle
3.3. Studentenbewegung
3.4. Die neue Frauenbewegung
3.4.1. Kinderläden und antiautoritäre Erziehung
3.5. Prostitution als Konsumartikel
3.5.1. Schrittmacherfunktion und Prostitution
4.
Die 70er Jahre – Einstellungswandel
4.1. Die Stern Aktion
4.2. Frauenhäuser und Frauenberatungsstellen
4.3. Frauenbücher und Frauenforschung
4.3.1. Neue Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Sexualität
4.4. Wichtige Gesetzesänderungen
4.5.Sexuelle Liberalisierung und Prostitution
4.5.1. Prostitution Konsumgut für Jeder-Mann
4.5.2. Luxusprostitution – Angebot für gehobene Ansprüche
4.5.3. Hostessen, Masseusen, Fotomodelle und Gesellschafterinnen
4.5.4. Clubs, Saunen, Wohngemeinschaften und Studios
4.5.5. Reizverstärkung contra Inflation
4.5.6. Peep-Shows
4.5.7. Telefon-Sex
5.
Die 80er Jahre – Jahrzehnt der Extreme, der Hoffnung und der Angst
5.1. AIDS – die neue Seuche des Jahrhunderts
5.2. AIDS und Prostitution
5.3. Trend zu neuen, alten Werten
6.
Die 90er Jahre – Aufbruch, Umbruch – Lustlosigkeit
6.1. Überblick
6.2. Null-Bock-Generation und Love Parade
6.3. Selbstoptimierung – der Körper wird zum Kultobjekt
6.4. Pornokonsum und neue Zwänge
6.5. Zunahme der Lustlosigkeit
6.6. Verhandlungsmoral contra Dampfkesselprinzip
6.7 Formen der Prostitution in den 90er Jahren
7.
Die 2000er Jahre – Trends im neuen Jahrtausend
7.1. Neosexualitäten und die neue sexuelle Revolution
7.2. Neosexuelle Revolution
7.2.1. Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung (Dissoziation)
7.2.2. Entkörperung des Sexuellen
7.2.3. Wandel von Beziehungen
7.2.4. Vervielfältigung der Beziehungs- und Lebensformen (Diversifikation)
7.2.5. Zerstreuung (Dispersion)
7.3. Prostitution im neuen Jahrtausend
7.3.1. Sexarbeitslobby, Selbsthilfevereine und Beratungsstellen
7.4. Die gesetzliche Regelung
7.4.1. Das Prostitutionsgesetz (ProstG)
7.4.2. Das Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG)
7.5. Und dann kam Corona
7.5.1. Auswirkungen und Folgen der Pandemie im Bereich der Prostitution
7.6. Profiteure der Prostitution
7.6.1. Die Freier
7.6.2. Sonstige Profiteure
7.7. Hintergründe und Folgen von Prostitution
7.7.1. Körperliche Folgen der Prostitution
7.7.2. Psychische Folgen der Prostitution
7.8. Die Alternative – das Nordische Modell
7.8.1. Die Säulen des Nordischen Modell
7.8.2. Länderübersicht
7.8.3. Ergebnisse
8.
Fazit – Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Verzeichnis Quellen- und Anmerkungen
Bildquellennachweis
Sexualität berührt direkt oder indirekt alle Lebensbereiche. Die individuelle Gestaltung dieses Bereiches wird zum einen von der ganz persönlichen Lebensgeschichte, aber auch von gesellschaftlich vorgegebenen Bedingungen, wie den jeweils vorherrschenden moralischen Werten geprägt. Es zeigen sich in ihr sowohl patriarchalische als auch kapitalistische Seiten. Sexualität ist somit Schlüssel zur Lebens- und Sinnfrage schlechthin.
Sexualität ist auch heute noch, mit vielen Tabus verbunden, trotz vermeintlich vieler Freiheiten und durch ein starkes emotionales Engagement gekennzeichnet.
Die Heilige gilt schlechthin als die als triebfeindliche Frau im Gegensatz zur Hure, der triebfreundlichen Frau. Die gegensätzliche Betrachtungsweise von Frauen als Heilige und Huren existiert vielfach in der Vorstellungswelt von Frauen aber vor allem in der der Männer. Der Titel polarisiert und provoziert und ruft vermutlich sehr unterschiedliche Emotionen hervor, je nach Betrachtungsweise, was durchaus beabsichtigt ist. Mit einen kleinen Zeitreise der besonderen Art, soll das Thema Sexualität so aus einer anderen, eher ungewöhnlichen Perspektive betrachtet werden.
Klischees und Zuschreibungen von Frauen waren und sind:
auf der einen Seite die Heilige, die unbefleckte, jungfräuliche, asexuelle, saubere, brave, wertvolle und geachtete Frau, die Wohltäterin, die treue Ehefrau, die Märtyrerin, die geachtete Mutter und Hausfrau… und im Gegensatz hierzu auf der anderen Seite die Hure, die Sexspezialistin, die verruchte, triebhafte, schamlose, ungehemmte Ehebrecherin, die Hetäre, die Mätresse, die Sexgöttin, der Vamp, aber auch die schmutzige, sündige und minderwertige Frau, die Schlampe, das Flittchen, das gefallene Mädchen, das Freudenmädchen, das Amiliebchen, das Escortgirl, die Animierdame, die Prostituierte, die Nutte, die Domina, die Sexsklavin, und die Sexarbeiterin und die Zwangsprostituierte, die ….
Frauen bekommen die Rolle der Verführerin zugeschrieben, ob bei ehelichen Verfehlungen oder in der Prostitution, sie sind meistens die Schuldigen, sie erfahren eine Abwertung während Männer moralisch unbefleckt bleiben. Ihnen wurde und wird lediglich ein starker Sexualtrieb1 nachgesagt. Männer die mit vielen Frauen Sex haben, werden auch heute noch als toller Hecht, Kavalier oder augenzwinkernd als Herzensbrecher betrachtet. Sie erfahren durch ihr Handeln eher eine Aufwertung.
Frauen und Mädchen bekommen schon sehr früh von ihren Müttern beigebracht wie sie sich zu kleiden, zu schminken und zu benehmen haben. Konservativ eingestellte Mütter beobachten und kontrollieren ihre Töchter sehr genau und bringen sie mit Tadel und Verboten, auch schon bei kleinen Abweichungen, wieder auf den »Pfad der Tugend«. Selbst traumatische Erlebnisse werden negiert, denn der Ruf der Familie darf nicht beschädigt werden. Er ist nicht selten ein höheres Gut als die Unversehrtheit des eigenen Kindes. Opfern von Missbrauch z.B. wird dann unterstellt, sie hätten sich falsch verhalten, sonst wäre das nicht passiert.
Genau dies beweisen die folgenden Zitate von Patientinnen aus meiner Praxis: Frau W.: »Als ich mit 12J. anfing mich zu schminken und meine Mutter dies entdeckte, hat sie mich als Schlampe, Nutte und Hure beschimpft und die Sachen aus dem Fenster geschmissen«. Ich durfte fortan kein Kleid mehr tragen, weil das »die Männer provozieren« und ich sonst eine »Vergewaltigung heraufbeschwöre« und mich »selbst dem Wolf zum Fraß« vorwerfen würde.
Fr. L.: »Als ich den Eltern (mit 37J.) sagte, dass ich jahrelang von unserem Nachbarn missbraucht worden bin, da haben sie mich als Nutte und Hure beschimpft und rausgeschmissen.«2
Das sexualideologische Frauenbild und seine Veränderungen im Wandel der Zeit, soll mit Blick auf die jüngere Geschichte der Sexualität betrachtet werden. In diesem Zusammenhang kann uns die parallele Betrachtung der Entwicklung der heterosexuellen Prostitution3 in Deutschland, von der Nachkriegszeit bis heute, Aufschluss geben.
1 Schmidt, Gunter: Abschied vom Trieb, in: Das neue DER DIE DAS Über die Modernisierung des Sexuellen, Gießen, Psychosozial-Verlag, 2014, S. 33
2 Aufzeichnung aus Patientenprotokollen der Autorin
3 Ich beziehe mich in erster Linie auf die weibliche heterosexuelle Prostitution (Trans-Frauen eingeschlossen).
Als Deutschland im Mai 1945 bedingungslos kapitulierte, übernahm der alliierte Kontrollrat der vier Siegermächte die oberste Regierungsgewalt. Deutschland lag in Schutt und Asche.
Abbildung 1: Bauhilfsarbeiterinnen wurden sie offiziell genannt. Aber als »Trümmerfrauen« sind sie in die Geschichte eingegangen. © picture alliance / dpa / Wolfgang Etzold
Fünfundzwanzig Millionen Menschen irrten als Flüchtlinge, Evakuierte, Kriegsgefangene oder befreite Häftlinge durchs Land. Mehr als elf Millionen davon waren Vertriebene, unzählige Familien waren zerrissen. Wohnungselend, Hunger, Krankheit und eine steil ansteigende Kriminalität beherrschten im Restdeutschland das Klima. Lebensmittel waren rationiert. Pro Kopf gab es 1.100 Kalorien täglich. Für Nichtgemeldete gab es nicht mal das und wer nicht hungern oder frieren wollte, musste sich regen. Jedes freie Plätzchen nutzte man um Gemüse oder Tabak anzupflanzen. Plünderungen von Lebensmittelvorräten waren an der Tagesordnung. Alles drehte sich um die Nahrungsbeschaffung. Alles und jeder lebte in irgendeiner Form vom Schwarzmarkt. Hamsterfahrten aufs Land oder der Verkauf von allem was nicht satt machte – Klaviere, Tafelsilber, Eheringe etc. – in Ruinen oder auf Bahnhöfen war üblich. Ein Treffpunkt für Verwahrloste oder verwaiste Jugendliche und Kinder, Entwurzelte und Kriminelle war in vielen Städten der Bahnhof. Er war der Hauptumschlagplatz für die »schwarze Goldwährung« die Zigarette. Alles und jeder lebte in irgendeiner Form vom Schwarzmarkt. »Oben war nun wer Butter oder Speck produzierte oder hamsterte…«.4
Abbildung 2: Anfang Achtundvierzig Rückblick auf die erste Frankfurter Messe nach dem Krieg und das Jahr 1948, Ausstellung in der Kongreßhalle 24.08.-01.09, 1985, Hrg. Messe Frankfurt GmbH, Brönner Verlag, Frankfurt, S.85
Während den Männern im Krieg fast überall Bordelle (mit Jüdinnen oder Fremdarbeiterinnen, die dort als Zwangsprostituierte Dienst taten) zur Abreaktion ihrer sexuellen Bedürfnisse zur Verfügung standen, erwartete man von den Frauen zu Hause jahrelange Enthaltsamkeit. »Die sexuellen Erlebnisse der Männer während der Kriegszeit zählen nicht, ihren Frauen aber gestehen sie solche Erfahrungen nicht zu, sie sollen dem männlichen Bild der hehren, keuschen Frau entsprechen. In einer Welt brüchiger Moral- und Wertvorstellungen, in der geplündert, gestohlen und organisiert wird, soll die Frau gefälligst für die Moral einer heilen Welt geradestehen«.5
In den 3 Westzonen gab es über 7 Millionen mehr Frauen als Männer. Die Ehe auf Zeit wurde propagiert, man sprach vom Bratkartoffelverhältnis, weil viele Paare, die sich in den Wirren der Nachkriegszeit gefunden hatten ohne zu heiraten zusammen lebten, auch, weil die Frau möglicherweise sonst ihre Witwenrente nicht mehr bekommen hätte. Der Mythos vom starken Mann, der in der Nazizeit verherrlicht wurde, war zerstört. Der Niederlage an der Front, folgte oft eine Niederlage am heimischen Herd, weil die Frauen durch ihre Erfahrungen im Krieg ein neues Selbstbewusstsein entwickelt hatten. Die heimkehrenden Männer waren misstrauisch, befürchteten Untreue und verstanden deren Selbstständigkeit nicht. Sie forderten von den Frauen eine Rückkehr zum alten Rollenbild, weshalb es oft zu Konflikten zwischen den Geschlechtern kam.
Das Liebesideal in der Notzeit der Nachkriegszeit war die Kameradschaft. Man sprach von einer Verrohung der Sitten, einer Krise von Ehe und Familie, insbesondere bedingt durch den »temporären Autoritätsverlust« des Mannes.
Der Verlust von 3 Millionen Männern führte zu einem Männermangel und einem erheblichen Frauenüberschuss. Ehefrauen wurden aufgefordert Toleranz zu üben, der »überschüssigen« Frauen wegen. Die Ehe auf Zeit wurde propagiert. Das Bratkartoffelverhältnis – ein Zusammenleben ohne Trauschein, was bis dahin als moralisch verwerflich galt, wurde geduldet.
Da viele Frauen keine Aussicht hatten zu heiraten oder des Wartens überflüssig waren, führten sie vielfach ein ungebundenes Sexualleben. Die Zahl der unehelich geborenen Kinder stieg gegenüber der Vorkriegszeit auf das Doppelte, trotz Erleichterung der Abtreibung (sie betrug 1938 8% und 1946 16%. In Bayern sogar 22%6
Erst mit der Währungsreform 1948 (und dem Marshallplan, einem wirtschaftlichen Hilfsprogramm der USA) wurde die Grundlage für eine Normalisierung geschaffen. Am 20.05.1948 bekam jeder Bürger 40 DM und 1 Monat später nochmal 20 DM ausbezahlt.
Vier Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation wurde dann das neue Gesetzeswerk, das für Recht und Ordnung sorgte, das Grundgesetz unterzeichnet und am 23. Mai 1949 verkündet. Dieses Datum gilt auch als Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland.
Abbildung 3: Frieda Nadig, Elisabeth Selbert, Helene Weber und Helene Wessel (von links) sind die vier Mütter des Grundgesetzes. Foto: Bestand Erna Wagner-Hehmke, Stiftung Haus der Geschichte, Bonn
Das Grundgesetz wurde von 61 Männern und 4 Frauen erarbeitet. Die Juristin und Abgeordnete Elisabeth Selbert war bei den Frauen federführend, sie kämpfte um die Aufnahme eines Satzes im Grundgesetz, der das Leben aller Frauen in unserer Gesellschaft verändern sollte: in Artikel 3 Absatz 2 heißt es: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt«.7 Im Oktober 1949 kam es dann zur Teilung Deutschlands und zur Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Ein neuer Zeitabschnitt begann.
1.4.1. Überlebensprostitution
Die Widersprüchlichkeit der Moral nahm in der Nachkriegszeit z. Teil sonderbare Formen an. So gab es die Negierung von Ehe und Familie und auch das genaue Gegenteil. Prostitution aus Not oder das »Essen anschlafen« gehörte in den ersten Nachkriegsjahren fast zum Alltag. Sex für Naturalien, jeder wusste davon und dennoch war es ein Tabu – trotzdem gab es beim Schlangestehen für Lebensmittel z.B. einen Erfahrungsaustausch – man sprach von »Schandschuhen« und dem »Majorszucker«.8 Frauenwohngemeinschaften und Großfamilien zerfielen wieder, als die Männer heim kehrten. Die Jagd nach dem Mann nahm viele Formen an. »Ein Königreich für einen Mann« – ganz gleich wie er ist! Jede andere Frau ist eine gefährliche Rivalin im Kampf um den Mann. Drum heran an den Mann mit allen Mitteln der Verführung! Koste es was es wolle, das »gemütliche Eigenheim« oder gar die Persönlichkeit… Und der Mann? Nun, der sitzt als begehrte Mangelware auf seinem Thron und läßt sich die besten Angebote vorführen«9
Es gab eine Verflechtung zwischen realem Hunger und dem Hunger nach Leben. Tanzlokale der Amerikaner, Briten und Franzosen boten die Möglichkeit der Überlebensfreude Ausdruck zu geben. »Sie tanzt. Will vergessen. Die dumpf kalten Zimmer, Vaters hilfloses Gebrüll, Mutters ausgemergeltes Gesicht. Will die Wörter vergessen, Rationierung, Entnazifizierung, Kollektivschuld.«10
1.4.2. Besatzungsprostitution
Beliebt bei den Frauen waren vor allem die Amerikaner, denn die hatten alles was begehrt war: Lebensmittel, Zigaretten, Süßigkeiten, Strümpfe, Seife usw.
Es gab ein Zug von Mädchen, die den Soldaten folgten. Man sprach von Berufsbräuten, Ami-Liebchen und Ami-Huren.
In der Nähe von Truppenübungsplätzen entstand eine besondere Form der Prostitution, die Besatzungsprostitution. Dor gab es dann alsbald viele Lokale und Bars, wo Frauen sich als Animiermädchen, Barmädchen, Taxigirls und Callgirls des Soldaten zur Verfügung stellten. Kuppelei, d.h. die Duldung einer Übernachtung von unverheirateten Paaren im eigenen Haus, was nach wie vor unter Strafe stand, wurde geduldet, ebenso, wie wechselnde Verlöbnisse, d.h. wenn sich das Paar ein Heiratsversprechen gegeben hatte, wurde unter diesem Deckmantel vieles erlaubt. Man sprach von Sittenverfall, weil auch »scheinbar ordentliche bürgerliche Familien«, Zimmer für monatlich 200DM und mehr vermieteten, was damals ein horrender Preis war. Nicht selten wurden auch von den Eltern wechselnde Verlöbnisse toleriert. Allgemein betrachtete man aber die Verhältnisse mit größtem Argwohn. Man strafte die Frauen mit Verachtung und bewunderte sie zugleich – wegen ihres anscheinend sorglosen Lebenswandels.
Eine Heirat zwischen einer Deutschen und einem Amerikaner war verboten und eine Auswanderung nach Übersee d.h. Amerika gab es nur selten.11
Das Besatzungsverhältnis und die sogenannte Berufsbraut betrachtete man als ein Charakteristikum der Nachkriegszeit. Man sah hierin eine neue, verschleierte Form der Prostitution.
1.4.3. Straßenprostitution
Von den professionellen Prostituierten wurde der Straßenstrich bevorzugt. Die Frauen sprachen die Männer an oder ließen sich ansprechen und nahmen, nachdem man sich handelseinig geworden war, die Männer mit, in ihre Stundenhotels oder in der Nähe gelegene Absteigequartiere. Viele Absteigequartiere wurden im Tag-Nacht-Rhythmus genutzt. Der übliche Mietpreis lag Ende der vierziger Jahre bei 20DM pro Tag. Oft wurden Zimmer auch stundenweise vermietet.
1.4.4. Autoprostitution
Die Autoprostitution entwickelte sich als eine besondere Form des Straßenstrichs und wurde zur lukrativsten Form der Prostitution der Nachkriegsgeschichte. Der Geschlechtsverkehr wurde im Kundenauto ausgeübt, auf einem entlegenen Platz. Diese Form der Prostitution war und ist eine der gefährlichsten, da die Frauen dem Kunden völlig ausgeliefert sind. Allerdings war diese Form auch eine der lukrativsten, weil sie der Frau gestattete, in relativ kurzer Zeit eine gewisse Anzahl von Freiern zu bedienen. Anfangs waren vor allem die Amerikaner die Kunden. Viele Frauen fuhren am »pay day«, dem Zahltag, an dem der Sold ausgezahlt wurde, in die Nähe von Kasernen, um dort ihrem Gewerbe nachzugehen. Nach einer lukrativen Woche, kehrten sie dann wieder an ihren alten Standort zurück. Dies änderte sich allmählich im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Aufschwung, als sich immer mehr Deutsche ein Auto leisten konnten.
1.4.5. Lokal- und Bordellprostitution
Die Zahl der Lokale und Bars in denen vor allem Amerikaner verkehrten, nahm in den ersten Nachkriegsjahren sprungartig zu. Sie hatten einen zweifelhaften Ruf, denn man sah in ihnen Kontaktanbahnungsstätten für heimliche Prostituierte. Hier waren Frauen als sogenannte Animiermädchen, Barmädchen, Taxigirls, Callgirls u.a. tätig. Es wurden dort »Schleier- und Schönheitstänze« vorgeführt um die männlichen Besucher zum Sex zu animieren. Die professionellen Prostituierten hielten sich in den Lokalen anfangs nur auf, um sich aufzuwärmen. Erst mit der Zeit nahm die Lokalprostitution zu bzw. sie wurde von den Wirten geduldet, weil die Frauen halfen, den Konsum von Alkoholika zu steigern. Oft vermieteten die Lokalbesitzer Zimmer an Stammfrauen und verlangten dafür von den Frauen einen prozentualen Anteil pro Freier und Zimmerbenutzung.
Bordelle alten Stils, einem Haus, das von einem Bordellwirt oder einer »Madame« geleitet wurde gab es seit 1927 nicht mehr. Nach 1933 wurde Prostitution einerseits als volkschädlich bekämpft, Prostituierte wurden als »Asoziale« verfolgt, andererseits richtete man Bordelle für Soldaten, Zwangsarbeiter und in Konzentrationslagern ein. 1946 erließen die Amerikaner ein Bordellverbot, duldeten aber Bordelle, solange sie kein Ärgernis in der Öffentlichkeit darstellten. Es gab somit Häuser, in denen Frauen wohnen und auf eigene Rechnung der Prostitution nachgingen. In vielen Städten wurden Bordellstraßen nach dem Krieg eingerichtet und wiedereröffnet. Es waren Straßen, die mit Blendmauern abgeschirmt waren und nach einem ausgearbeiteten Kontrollsystem von der Polizei überwacht wurden.
Diese Straßen wurden nach dem Bremer System im Zuge der Reglementierung genehmigt. In Frankfurt z.B. war es eine Sackgasse, die als Bordellstraße, mit Unterbrechung von 1927 bis 1933 existierte. Nach 1945 gab es keine geschlossene Bordellstraße. Durch Polizeiverordnung hatten die dort wohnenden und ihrem Gewerbe nachgehenden Frauen viele Vorschriften zu befolgen. Obwohl Abhängigkeiten nicht mehr gegeben sein sollten, entstanden alsbald durch diese Organisationsform eine große Abhängigkeit von den Wirtschaftern, die für alles sorgten und von der Polizei.12Bei Nichtbeachtung der Verbote und Gebote war ein Zwangsgeld oder Haft vorgesehen.13 Viele Frauen waren in diesen Bordellstraßen, aufgrund der Vorschriften von der Außenwelt regelrecht abgeschnitten. Ihre Zuhälter waren für viele oftmals der einzige feste Außenkontakt.
Das Liebesideal in der Notzeit der Nachkriegszeit war die Kameradschaft. Man sprach von einer Verrohung der Sitten, einer Krise von Ehe und Familie, weil sich viele Frauen nicht an vormals gültige Konventionen hielten und ein anscheinend ungebundenes Sexualleben führten
4 Melanowski, Wolfgang: 1945, »Absturz ins Bodenlose« – über Kapitulation und Besatzung: Deutschlandpläne der Sieger, Spiegel Serie, Teil I: Zusammenbruch und Besatzung, in Der Spiegel Nr. 15, 1985, s. 158-177 und https://de.wikipedia.org/wiki/Stunde_Null, abgerufen 12.08.24
5 Schmidt-Harzbach, Ingrid: Die Lüge von der Stunde Null, in: Courage, Nr.6, 1982a, S. 33-40
6 Delille, Angela, Andrea Crohn: Blick zurück auf Glück – Frauenleben und Familienpolitik in den 50er Jahren, EP 149, Elefanten Press, Berlin 1985, S. 116
7 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG), Stand 19.12.2022, in: https://www.gesetze-im-internet.de/gg/
8 vgl. Schmidt-Harzbach,in Courage Nr.6, 1982a, S. 31
9 Schmidt-Harzbach: in Courage Nr. 6, 1982a, S. 39
10 Schmidt-Harzbach, Ingrid: Nun geht mal beiseite, ihr Frauen!, in: Courage Nr.7 1982b, S. 5
11 Kreuzer, Margot D.: Prostitution Eine sozialgeschichtliche Untersuchung in Frankfurt a.M. Von der Syphilis bis AIDS, Stuttgart Schwer Verlag, 1988, S. 222-23
12 Kreuzer, 1988, S. 233
13 Magistratsakten der Stadt Frankfurt am Main 1951/1952ff.
Auf die Zeit der Arbeitslosigkeit und Not, die sich noch bis 1952 hinzog, folgte eine Ära des wirtschaftlichen Aufschwungs. Preis- und Lebensmittelrationierungsvorschriften wurden 1950 aufgehoben. Mit Unterstützung der Amerikaner kam die Industrieproduktion wieder in Gang. Nach dem Prinzip der sozialen Marktwirtschaft entwickelte sich die deutsche Wirtschaft derart schnell, dass man im In- und Ausland vom Deutschen Wirtschaftswunder sprach. Bereits 1955 herrschte Vollbeschäftigung. Konsumgüter waren wieder gefragt. Der Hungerszeit der Nachkriegsjahre folgte erst eine Fresswelle (1948/49) dann eine Kleiderwelle (1949-52) und danach eine Möbelwelle (1952-57) und dieser dann eine Reisewelle (ab 1957-79).
