Heimat bist du toter Töchter - Yvonne Widler - E-Book

Heimat bist du toter Töchter E-Book

Yvonne Widler

0,0

Beschreibung

"Statt zu fragen, warum Frauen nicht früher aus diesen Beziehungen gehen, sollten wir fragen, warum diese Männer gewalttätig sind." 60 tote Frauen in den Jahren 2020 und 2021. 319 ermordete Frauen innerhalb von 11 Jahren. In den meisten Fällen war der Täter der Partner oder Ex-Partner. So sieht die traurige Statistik aus, und deshalb wird Österreich immer wieder als "Land der Femizide" bezeichnet – und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Denn fast allen Morden geht oft jahrelange psychische und physische Gewalt voraus. Yvonne Widler berichtet seit vielen Jahren über Frauenmorde in der Alpenrepublik – und will Antworten. Wer sind die Täter und was haben sie gemeinsam? Wie muss wirksamer Gewaltschutz in Beziehungen für Frauen konzipiert sein? Wo liegen die Wurzeln der Misogynie in Österreich? Welche Verantwortung tragen Medien in all dem? Und vor allem: Wo ansetzen im Kampf gegen systemische Gewalt gegen Frauen? Auf ihrer Suche sprach die Journalistin mit Angehörigen, Überlebenden, Expert*innen, Polizei und Politik und begleitete Gerichtsverhandlungen – und sie gibt den getöteten Frauen das zurück, was ihnen brutal genommen wurde: eine Stimme, die ihre Geschichten erzählt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 292

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Yvonne Widler

HEIMAT BIST DU TOTER TÖCHTER

Warum Männer Frauen ermorden – und wir nicht mehr wegsehen dürfen

Für alle Frauen,die heute nicht mehr für sichselbst sprechen können

Für alle Frauen,die Opfer vonMännergewalt wurden

Triggerwarnung: In diesem Buchlesen Sie von Gewalttaten,die belastend und retraumatisierendwirken können.

Inhalt

Vorwort

FALL 1:

„Ich suche nach rascher Hilfe, bevor etwas passiert”

Er hat Nadine geschlagen, gedrosselt und angezündet

1 Weil sie Frauen sind

FALL 2:

„Ich war sein Besitz”

Er hat Barbara ins Koma geschlagen

2 Gefährliche Beziehungen

FALL 3:

„Ich muss sagen, er war sehr höflich und sympathisch”

Er hat Larissa gewürgt und erstickt

3 Die Frauen hinter den Frauen

FALL 4:

„Ich habe wirklich nicht gedacht, dass er es ernst meint”

Er hat Sanja vor den Augen ihrer Tochter erschossen

4 Zwischen Recht und Ordnung

FALL 5:

„Ich liege im Keller, bin schwer verletzt. Ich glaube, ich sterbe.”

Er hat Hanife jahrelang misshandelt und verprügelt

5 Täterarbeit und Opferschutz

FALL 6:

„Ruft meine Tochter an und sagt ihr, der Papa hat mich umgebracht”

Er hat Kornelia erstochen und mit der Axt erschlagen

6 Wir müssen noch mehr tun

Danksagung

Hilfsangebote

Literaturverzeichnis

Vorwort

Der gefährlichste Ort für eine Frau hierzulande ist nicht die abgelegene Gasse in der Nacht, sondern die Partnerschaft, in der sie lebt. Von Anfang 2010 bis Ende 2020 zählte man in Österreich 319 Frauenmorde und 458 Mordversuche an Frauen. Die meisten davon geschahen durch die Hand des Mannes, der einst sagte, er würde sie lieben. Sie wurden erwürgt, erdrosselt, erschlagen, erstochen, angezündet, mit dem Auto überfahren oder erschossen. Zuvor mussten viele von ihnen jahrelange Martyrien erleben, Psychoterror und körperliche Gewalt. Die männlichen Täter waren meist getrieben von Besitzdenken, Wut, Rache und Misogynie.

Als Journalistin beschäftigen mich diese Femizide schon seit einigen Jahren. Der Begriff bezeichnet Tötungen von Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Frauen werden getötet, weil sie Frauen sind. Es handelt sich dabei um ein ernsthaftes gesamtgesellschaftliches Problem, das immer noch gerne – durch Ausdrücke wie „Familientragödie“ oder „Beziehungsdrama“ – in den privaten Bereich verbannt wird. Häusliche Gewalt innerhalb der eigenen vier Wände ist allerdings oft nichts anderes als Ausdruck nicht vorhandener Geschlechtergerechtigkeit, und damit geht sie uns alle etwas an.

Gemeinsam mit zwei Kolleginnen habe ich Ende des Jahres 2019 eine Liste, samt grobem Tathergang, der in diesem Jahr in Österreich getöteten Frauen erstellt. Eine mühsame Recherche war das. Es gab zu diesem Zeitpunkt keine Behörde oder Organisation, die diese Femizide sorgfältig dokumentiert hätte. Die Einträge, die wir festhielten, lasen sich beispielsweise so:

8. Jänner, Amstetten – Ehemann

Der 37-jährige Senol D. sticht 38 Mal auf seine Frau Aurelia S. ein. Die vierfache Mutter erliegt im Krankenhaus ihren Verletzungen. Drei Kinder werden Zeugen der Angriffe auf ihre Mutter. Der Mann war zuvor schon aufgefallen.

9. Jänner, Krumbach – Ex-Partner

Mit 15 Messerstichen tötet der 42-jährige Roland H. seine Ex-Freundin, Silvia K. (50), vor ihrem Garagentor. Der Mann hatte seine frühere Partnerin nach dem Beziehungs-Aus im Mai 2017 verfolgt und bedroht. Nur wenige Tage vor dem Mord hatte sie sich hilfesuchend an die Polizei gewandt.

13. Jänner, Wiener Neustadt – Ex-Freund

In einem Park wird die 16-jährige Manuela K. vom 19-jährigen Yazan A. mit einem Gürtel gewürgt, bis ihr Kehlkopfgerüst bricht. Danach schändet er ihre Leiche und verscharrt sie. Zuvor war Yazan A. mehrmals wegen gewaltvoller Übergriffe, sexueller Belästigung, Körperverletzung und anderer Delikte verurteilt worden.

21. Jänner, Tulln – Ehemann

Gegen 14.30 Uhr wird die 32-jährige Zemire K. auf einem Parkplatz von ihrem Mann, dem 36-jährigen Xhemalj M., mit 14 Dolchstichen ermordet. Zuvor hatte sie ein Betretungsverbot erwirkt. 2017 hatte M. seine Frau bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt.

12. Februar, Wien-Meidling – Ex-Partner

Der 53-jährige Zelko B. erschießt Violeta J. (48) vor ihrem Arbeitsplatz. Bei der Tatwaffe handelt es sich um eine Pistole. Der Beschuldigte hatte die Waffe illegal besessen.

6. Oktober, Kitzbühel – Ex-Freund

Der 25-jährige Andreas E. erschießt seine 19-jährige Ex-Freundin Nadine H., ihre Eltern, ihren Bruder sowie ihren neuen Freund im Wohnhaus der Familie. Tatwaffe ist die Pistole seines Bruders, der diese legal besitzt. Nadine H. hatte sich zuvor von Andreas E. getrennt.

27. Oktober, Kottingbrunn – Ehemann

Der 32-jährige Samet A. ersticht seine Frau Tugba A. und seine zweijährige Tochter mit einem Küchenmesser. Den elf Monate alten Sohn versucht er zu ersticken. Der Bub stirbt später im Spital. Tugba A. wollte sich von ihrem Mann trennen.

27. November, Wien-Favoriten – Ehemann

Kurz nach 18 Uhr greift der 62-jährige Noor R. zum Messer und ersticht seine 50-jährige Ehefrau Rahima R. in der gemeinsamen Wohnung: Es waren 26 Stiche und Schnittverletzungen. Das Paar hat fünf Kinder, vier sehen den Mord mit an. Die 13-jährige Tochter läuft zu einer Nachbarin und bittet um Hilfe.

Was aus den wenigen Studien, die es in unserem Land zu Femiziden gibt, hervorgeht, haben wir auch damals bei unserer Recherche bereits gesehen. Frauen werden ermordet, weil sie sich von ihren Partnern oder Ehemännern trennen wollen oder sich getrennt haben. Dysfunktionale Rollenbilder oder biografische Brüche im Leben der Männer kommen in vielen Fällen hinzu. Gemein sind den meisten Tätern übertriebene Eifersucht, Kontrollverhalten und patriarchale Denkmuster, egal aus welchem Kulturkreis sie stammen. Reuelos schlüpfen viele von ihnen durch diffamierendes Victim-Blaming in die Opferrolle. Damit betreiben sie Täter-Opfer-Umkehr: Die Frau habe doch ihren Teil zu der Tat beigetragen, diese geradezu provoziert. Sie habe sich etwa nach anderen Männern umgesehen. Manche Täter saßen tatsächlich im Gerichtssaal, die zutiefst erschütterte Familie der ermordeten Frau hinter sich auf den Zuschauerbänken, und warfen mit derbsten Ausfälligkeiten und Anschuldigungen in Richtung des Opfers um sich, bis sie vom Richter oder der Richterin gerügt wurden. Eine weitere Gemeinsamkeit vieler Täter sind Blackouts zum Tathergang, die meisten sagen, sie hätten plötzlich rotgesehen und könnten sich an den Mord nicht mehr erinnern. Sie hätten aufgrund einer unerklärlichen Kurzschlussreaktion gehandelt. Doch oft stellte sich heraus, dass die Tat geplant war, weil etwa die Tatwaffe zuvor besorgt wurde.

Immer wieder kommt es zum „Overkill“, also zum „Übertöten“. Die Frau wird dabei geradezu vernichtet, ausgelöscht. 38 Messerstiche in Aurelia S., 14 Dolchstiche in Zemire K., und es waren 26 Messerstiche, mit denen Noor R. seine Frau am 27. November 2019 vor den Augen ihrer Kinder hinrichtete. Er schlitzte Rahima R. regelrecht auf. Gedärme traten aus ihrem Körper, als sie blutend in Seitenlage und zusammengekrümmt auf dem Boden lag und starb – in den Armen ihrer Tochter. Monate später erschien das Gesicht dieser Tochter auf der Videowand des Großen Wiener Schwurgerichtssaals. Ihre Befragung wurde gesondert aufgezeichnet und den Geschworenen vorgespielt. Ich erinnere mich, dass sie immer wieder wissen wollte, ob ihr Vater nun eingesperrt bleiben würde. Sie wollte sich versichern, dass er ihr und ihren Geschwistern nichts mehr antun kann. Aus ihren Augen und ihrer Stimme sprach ungeheure Angst. Auch dem zuständigen medizinischen Gutachter Christian Reiter war das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. „Ich übe diesen Beruf jetzt seit 40 Jahren aus, aber in solch aggressiver Form habe ich es selten erlebt“, sagte er über die massiven Verletzungen der Frau. Noor R. wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, die Medien berichteten von Beginn an über den Fall, und in einem Boulevardblatt musste ich von einem „Messermord nach Ohrfeige“ lesen. Der Verfasser bezog sich darauf, dass der Tat ein Streit vorangegangen war, und suggerierte mit dem Titel, dass die Frau Mitschuld an ihrem Mord trage, weil sie ihn davor geohrfeigt hätte. Der Fall Rahima R. war einer der 39 Frauenmorde in Österreich im Jahr 2019. Und er ließ mich viele Nächte schlecht schlafen.

Ich konzentriere mich in diesem Buch ausschließlich auf Intimizide, also auf Tötungen von Frauen durch ihre Partner oder Ex-Partner, da diese den Großteil der Femizide hierzulande ausmachen. In der Literatur kam mir auch immer wieder die Bezeichnung „Trennungstötung“ unter. Normalerweise gendere ich, aber bei diesem Thema ist das nicht sehr sinnvoll, weil die Täter tatsächlich Täter sind.

„Österreich, Land der Frauenmorde“, betitelte der Österreichische Frauenring eine Aussendung im Jahr 2021. Auch nationale wie internationale Medien verwenden diese Zuschreibung. Die deutsche taz bezeichnete unser Land im selben Jahr als „tödliches Pflaster für Frauen“, der Südwestrundfunk titelte kurz zuvor „Land der Berge, Land der Frauenmorde“. Im Standard sprach man vom „Land der toten Frauen“. Selbst das Magazin kripo.at der Vereinigung Kriminaldienst Österreich coverte eine Ausgabe im Jahr 2018 mit: „Frauenmord-Land Österreich“.

Das hat mich nicht losgelassen. Wer waren die toten Frauen? Jene, die heute nicht mehr für sich selbst sprechen können, denen ihr Leben genommen wurde, weil sie ein anderes führen wollten. Warum konnte der Tod dieser Frauen nicht verhindert werden, obwohl wir in Österreich über gute Gewaltschutzgesetze verfügen? Ich habe Statistiken durchforstet, mich an Expert:innen aus Gewaltforschung und Psychiatrie gewandt, um genauer auf die Zahlen zu den Morden und auch hinter sie zu blicken. Ich habe mit Hinterbliebenen gesprochen, Gerichtsverhandlungen besucht, Fragen an Politik, Polizei und Justiz gestellt. Ich habe mit überlebenden Frauen über ihre Gewaltbeziehungen gesprochen, war im Frauenhaus, bei Beratungseinrichtungen und Gewaltschutzstellen.

Die Dynamik nach einem Femizid ist immer recht ähnlich. Die Medien pushen den Mord als Eilmeldung hinaus in die Welt. Ich selbst habe das auch schon gemacht – im Rahmen eines Online-Dienstes in der Redaktion. Die erste schnelle Nachricht. Langsam sammeln sich Informationen an, der Artikel wird länger. Wir erfahren mehr und mehr über den Täter und über den Tathergang. Steht er dann Monate später vor Gericht, sitzen wir in den vordersten Reihen und hören wieder den Angeklagten und seine Beweggründe. Bis zur Verhandlung erhalten wir Statements von seiner Verteidigung, die versucht, ihren Mandanten ins bestmögliche Licht zu rücken. Doch die Frau ist verstummt. Auch ihre Familie ist meistens verstummt. Was so ein Mord für Angehörige bedeutet und was nach einem Femizid auf Hinterbliebene zukommt, wird in diesem Buch ebenso thematisiert wie die Geschichten von sechs Frauen; vier von ihnen wurden ermordet. Sie sollen hier lesen, wer sie waren, welche Ziele sie hatten, was sie zum Lachen brachte und warum sie schließlich viel zu früh gestorben sind.

Versagt unsere Gesellschaft, wenn es um den Schutz von Frauen geht? Oder gibt es Fälle, wo das Schlimmste zu verhindern nie möglich gewesen wäre? Um diese Fragen zu beantworten, braucht es einen genauen Blick auf die Arbeit von Politik, Exekutive und Justiz, auf das Umfeld der Frauen – aber auch auf die Täter und die Täterarbeit in unserem Land.

Natürlich spielt auch meine eigene Berufsgruppe eine Rolle. Welche Wirkung hat es auf Menschen, wenn sie in manchen Medien von „Eifersuchtsdramen“ oder „Familientragödien“ lesen? Wenngleich sich die Begriffe Frauenmord und Femizid immer mehr durchsetzen, was gut und wichtig ist, gibt es noch viel Aufholbedarf. Vor allem der Begriff Femizid soll ausdrücken, dass hinter diesen Morden keine individuellen, sondern strukturelle Probleme stehen. Denn die Frau wäre vermutlich noch am Leben, wenn sie keine Frau wäre. Sprache ist wichtig, denn Worte sind ein Spiegel der Wirklichkeit und schaffen dadurch Veränderung in der Gesellschaft.

In diesem Buch werden Sie drastische Schilderungen von Gewalt lesen. Nach all den Gesprächen, die ich mit Hinterbliebenen, Überlebenden und Expert:innen geführt habe, bewundere ich jede Frau, die den mutigen Schritt wagt, sich aus einer gefährlichen und toxischen Beziehung zu befreien. Dafür braucht es einen unbeschreiblichen Kraftakt. Das müssen wir ändern.

Ein Hinweis ist mir noch wichtig: Ich spreche in diesem Buch von Männern und Frauen, damit sind natürlich auch Transfrauen gemeint, die diese Gewalt ebenfalls betrifft. Sie richtet sich zudem auch gegen Frauen, die sich nicht als solche identifizieren, von den Tätern aber als solche wahrgenommen werden. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Männergewalt eines der größten Gesundheitsrisiken für Frauen. Femizide sind ein globales Verbrechen, überall auf der Welt ist einer der gefährlichsten Orte für Frauen das eigene Zuhause. Im Jahr 2020 wurden einer UN-Erhebung zufolge rund 47.000 Frauen und Mädchen von ihren Intimpartnern oder Familienmitgliedern ermordet. Alle elf Minuten eine Tote.

„Ich suche nach rascher Hilfe, bevor etwas passiert”

Er hat Nadine geschlagen, gedrosselt und angezündet

Es ist kaum zu ertragen. Einige halten sich die Augen zu, manche schreien kurz auf. Schluchzen aus der Reihe hinter mir. Dann beklemmende Stille. Fünf Minuten lang blicken wir in die grausamsten menschlichen Abgründe. Nicht anders könnte man beschreiben, was in diesem Video zu sehen ist, das von der Überwachungskamera der kleinen Trafik stammt, in der Nadine W. auf unvorstellbar brutale Weise von ihrem Ex-Partner ermordet wurde.

Er verschließt sofort nach dem Eintreten die Tür. Sie erkennt an seinem Blick, dass gleich etwas Furchtbares passieren wird, und drückt panisch den Alarmknopf, doch der funktioniert nicht. In großen Schritten nähert er sich Nadine W., die hinter dem Verkaufspult steht und dort in der zehn Quadratmeter kleinen Trafik, mit nur einem Eingang und ohne Fenster, hilflos gefangen ist. Er verliert kein Wort, während er unaufhörlich mit seiner Faust gegen ihren Kopf donnert. Er nimmt ein Kabel aus seiner Jackentasche und drosselt sie damit mehrere Minuten lang. Dann setzt er erneut feste Schläge gegen ihren Kopf. Nadine W. bäumt sich immer wieder auf, wehrt sich. Er schlingt ihr das Kabel von hinten um den Hals und zieht nun mit all seiner Kraft an dessen Enden, bis sie völlig benommen und regungslos auf dem Boden liegt. Dann packt er eine Flasche aus, die mit Benzin gefüllt ist, und schüttet die Flüssigkeit über ihren Körper und die Einrichtung. Er zündet sie an. Eine Stichflamme schießt hinauf bis zur Decke des kleinen Raums. Ohne zurückzublicken, verlässt der Mann die Trafik. Er sperrt sogar noch die Tür von außen zu und wirft den Schlüssel in den nächsten Mistkübel.

Was uns an diesem Tag im großen Schwurgerichtssaal des Wiener Landesgerichts gezeigt wird, vergisst man nicht. Man trägt es mit sich, träumt davon. Diese Gewalttätigkeit kennt man eigentlich nur aus Filmen. Aber kein einziger Film, den ich jemals gesehen habe, hat mir auch nur annähernd so sehr zugesetzt. Dass diese Tat mitten in Wien, mitten unter uns, stattgefunden hat, verarbeitet man nur langsam. Ich muss noch immer oft an Nadine W.s Familie denken. Wie lebt man nach so einer Tat weiter? Mir fallen Katastrophen aus meiner Vergangenheit ein, die mich komplett aus der Bahn geworfen haben, aber nichts ist damit zu vergleichen. Immer wieder frage ich mich, was einen Menschen dazu bringt, zu solch einer Bestie zu werden. Warum hat Ashraf A. das getan? Hätte die Tat verhindert werden können? Wer war Nadine W., und wie sah ihre Beziehung zu Ashraf A. aus? Wie über die getötete Frau bei der Gerichtsverhandlung gesprochen wird, ist besonders wichtig, denn sie selbst kann nicht mehr für sich einstehen.

Der Mord an Nadine W. in ihrer kleinen Trafik im neunten Bezirk in Wien, direkt auf der Nussdorfer Straße, ist aus vielen Gründen besonders. Er ist nicht nur besonders gewalttätig und perfide, die Tat wird von einem Gutachter sogar als „inszenierte Hinrichtung mit größtmöglicher Brutalität“ beschrieben. Wir lernen vor Gericht auch einen Mörder kennen, der die Schuld komplett von sich weist und sagt, Nadine W. sei „zu einem gewissen Grad“ selbst für ihr Schicksal verantwortlich. Und schließlich gibt es diese Videoaufzeichnung, die keine Fragen über die Handlungen des Angeklagten offenlässt. Und doch bekennt sich Ashraf A. an diesem 30. September 2021 „nicht schuldig“.

Der Gerichtssaal ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Neben mir sitzen zwei Männer, ihr geschmackloser Wortwechsel reißt mich aus meiner Konzentration. „Warst du vorher in der Trafik?“, fragt der eine den anderen, weil er etwas zu spät gekommen ist. Daraufhin schenkt ihm dieser ein kindisches Grunzen. Ich blicke die beiden verächtlich an.

Ashraf A., in Ägypten geboren und österreichischer Staatsbürger, wird von den Justizwachebeamten in den Saal geführt, ihm werden die Handschellen abgenommen. Er ist ein kleiner, korpulenter Mann mit schwarzem Haar. Ich sitze nicht weit hinter ihm, kann das schüttere Haar auf seinem Hinterkopf sehen. Richterin Sonja Weis hat den Vorsitz. Die Staatsanwältin ringt nach Fassung, während sie vom fünfminütigen Überlebenskampf der erst 35-jährigen Nadine W. spricht. „Sie werden die grausamen Bilder nicht so schnell vergessen. Meine Worte schaffen es nicht, die Vehemenz des Angriffs zu beschreiben.“ Als sie erwähnt, dass Ashraf A. bereits seine Ex-Frau geschlagen hatte, unterbricht dieser sie. „Stimmt nicht!“, fährt es aus ihm heraus. Die Richterin weist ihn zurecht.

Nadine W. wuchs mit ihren Geschwistern bei ihren Eltern auf einem Bauernhof in Niederösterreich auf. Ihr großer Traum war es, eine eigene Reitschule zu eröffnen. Sie liebte Pferde über alles. Doch ein Unfall, bei dem sie teilweise erblindete, sollte ihren großen Lebenstraum platzen lassen. Sie trug fortan ein Glasauge, wurde unsicher und ängstlich. Nadine W. absolvierte eine Lehre zur Verkäuferin und arbeitete in einem Baumarkt. Dann beschloss sie, sich für eine Trafik in Wien zu bewerben. Aufgrund ihrer körperlichen Einschränkungen hatte sie ein gesetzliches Vorzugsrecht und bekam ihre über alles geliebte Trafik in der Nussdorfer Straße. Fast täglich stand sie um 4.45 Uhr auf und arbeitete bis 20 Uhr im Geschäft, sie kümmerte sich um alles selbst. Den Sonntag verbrachte sie gern in der Natur. Es gibt ein Foto von Nadine W. – kurzes braunes Haar, ungeschminkt, natürlich, lächelnd – genauso soll sie gewesen sein. „Menschen aus ihrem Umfeld beschreiben sie als sehr fürsorglich, tierliebend und empathisch“, sagt schließlich der Vertreter der Familie, Rainer Rienmüller. Ashraf A. hat sich erneut nicht unter Kontrolle und unterbricht ihn. „So war sie nicht! Sie hatte ein anderes Gesicht! Alle sagen immer, sie war so lieb, aber das stimmt nicht!“ Er wird dermaßen laut, dass sich seine Stimme überschlägt.

Nun ist Michael Schnarch am Wort, er ist der Verteidiger des Angeklagten. „Ashraf A. ist kein Monstrum, er wird falsch dargestellt. Er ist ein hilfsbereiter Mensch, der alles getan hat, um Nadine W. zu unterstützen“, sagt er und macht eine lange Pause. „Diese Beziehung hat meinen Mandanten zerstört. Er hat die Tat nicht geplant und auch nicht gewollt.“ Schnarch blickt die Geschworenen an und sagt: „Sie werden heute einen weichen Menschen hören.“

Im Zuge der Verhandlung wird die Biografie des Angeklagten aufgerollt. Demnach wuchs der Mann in einer Stadt nördlich von Kairo als Sohn des Bürgermeisters auf, viele seiner Verwandten leben noch heute dort. Er stammt aus einer gut betuchten Familie und begann Soziologie zu studieren. Nach knapp drei Jahrzehnten in Ägypten wanderte der heute 48-Jährige nach Österreich aus, wollte hier sein Studium abschließen. Auch sein Bruder folgte ihm hierher. Der Plan funktionierte nicht, daher arbeitete Ashraf A. als Koch. Es dauerte nicht lang, bis er eine Österreicherin heiratete, das Paar bekam eine gemeinsame Tochter. Freunde beschreiben ihn als lebenslustig und gescheit. „Er war gut integriert“, erzählte mir eine Nachbarin aus dem Wiener Gemeindebau, in dem er lebte.

Im Jahr 2018 ging die Ehe in die Brüche, „Eifersucht war der Grund. Ich konnte ihr nicht vertrauen“, sagt Ashraf A. vor Gericht. In dieser Zeit lernte er Nadine W. kennen.

„Waren Sie schon in früheren Beziehungen gewalttätig?“, fragt ihn die Richterin.

„Nein. Ich habe meine Ex-Frau nur gestoßen. Ich bin damals zu Unrecht verurteilt worden.“

Die Richterin blickt skeptisch in seine Richtung und erinnert ihn daran, dass sie selbst es war, die ihn damals verurteilt hat. Wegen Drohung und Körperverletzung. Er hatte seiner damaligen Frau aufgelauert, ihr in den Oberschenkel getreten und sie ins Gesicht geschlagen. „Mit der flachen Hand“, wie er nun vor Gericht betont. Die Richterin fragt ihn erneut, ob er früher schon einmal gewalttätig war. „Kann sein.“

Ashraf A. sucht die Schuld ausnahmslos im Außen. Da war diese Knieoperation, wegen der er seinen Job verloren hätte. Die Beziehung mit Nadine W. wäre aufgrund ihrer krankhaften Eifersucht bald sehr stressig geworden. Ich kann Ashraf A. kaum verstehen, die Worte schießen viel zu schnell und aggressiv aus seinem Mund, er spricht undeutlich. Die schlechte Akustik des großen Schwurgerichtssaals tut ein Übriges. Die Richterin muss immer wieder nachfragen, ihn ersuchen, leiser und langsamer zu sprechen. Auch sie unterbricht er immer und immer wieder.

„Nadine war eifersüchtig auf meine Ex-Frau. Sie war auf jede Frau in meiner Umgebung eifersüchtig. Das war zu viel“, sagt Ashraf A. und wird umgehend von der Richterin gefragt, ob es stimmt, dass er im Herbst 2019 ein Abhörgerät in der Trafik installiert hat. Er nickt.

„Nadine war keine einfache Frau.“

„Aber sie wird ja nicht einfacher, wenn Sie sie ausspionieren.“

„Ich wollte wissen, was sie im Geschäft treibt. Denn jeder sagt, sie war so lieb, nett und super.“ Er wird erneut laut. „Das war sie nicht! Ständig waren Männer in der Trafik. Kunden, mit denen sie über ihr Sexleben geredet hat. Ist das normal?“

„Sie haben diese Gespräche also immer punktgenau erwischt?“

„Ja.“

„Immer, wenn Sie zugehört haben, gab es Sexgespräche?“

„Ja.“

„Wie viel Zeit haben Sie mit dem Abhören verbracht?“

„Ganz selten habe ich das gemacht.“

„Wie oft?“

„Fünf- oder sechsmal pro Woche.“

Ashraf A. ist ein Mann, der seine Freundin als krankhaft eifersüchtig bezeichnet, während er derjenige ist, der ohne ihr Wissen die Trafik verwanzte. In den letzten Wochen vor der Tat habe sich Nadine verändert und hätte nicht mehr mit ihm kuscheln wollen. Auch sei ihm aufgefallen, dass sie gemeinsame Fotos von Facebook gelöscht hatte. Die Richterin hält ein Dokument in Händen, das Chatverläufe der beiden zeigt. Er wurde darin dermaßen ausfällig, dass sie die Worte im Gerichtssaal nicht wiedergeben möchte. Als er nun bei einer seiner Wuttiraden Nadine W. mit einem abfälligen Schimpfwort beleidigt, droht die Richterin ihm an, ihn des Saals zu verweisen. Wenn er sich nicht zusammenreiße, könne er zur Urteilsverkündung wiederkommen.

Im März 2021 wollte sich Nadine W. von Ashraf A. trennen. Seine Drohungen wurden gefährlicher, sie hatte Angst vor ihm. Mehrere Male überraschte er sie in der Trafik und begann zu toben. Dass er Nadine W. in der Vergangenheit gewürgt hat und auch schon einmal mit einem Messer im Geschäft aufgetaucht ist, streitet er vor Gericht ab. Das berichten aber Bekannte von Nadine W., sie habe es ihnen erzählt. Eine Freundin riet ihr, zur Polizei zu gehen. Aber Nadine hätte zu große Angst gehabt, die Trafik zu verlieren, wenn dort ständig Ärger sei, und auch Angst davor, dass ihre Erzählungen für eine Anzeige nicht ausreichen. Also kontaktierte Nadine W. einen Privatdetektiv, Lukas Helmberger, der ebenfalls als Zeuge vor Gericht auftritt.

„Ich suche nach rascher Hilfe, bevor etwas passiert. Er macht mir momentan das Leben zur Hölle“, zitiert Helmberger eine E-Mail, die er von Nadine W. erhalten hat. Am 5. März 2021 besuchte er sie in ihrer Trafik, wo sie ihm ihre Sorgen und Ängste offenbarte. „Der Angeklagte hatte ihr das Handy weggenommen und es nach Männerkontakten durchsucht. Als ich bei ihr war, hatte sie es gerade erst wieder zurückbekommen. Außerdem hat sie mir erzählt, dass er vor kurzem mit einem Messer in der Trafik war und sie bedrohte“, sagt Helmberger. Bei ihm hätten alle Alarmglocken geschrillt. „Ich habe ihr gesagt, sie soll unbedingt zur Polizei gehen. Sie meinte daraufhin, sie wolle etwas in der Hand haben, bevor sie das tut. Nadine W. hatte große Panik, dass die Situation weiter eskaliert. Sie wollte aus dieser Beziehung heraus, hat von endgültiger Trennung gesprochen, benötigte aber Beweise.“ Dem Detektiv sei klar gewesen, dass es sofort Schutzmaßnahmen brauche. Er empfahl, einen Peilsender am Auto des Angeklagten anzubringen, sowie die Positionierung eines Security Agents vor der Trafik. „Nadine W. stimmte zu, sie wollte nur noch bei ihrem Steuerberater nachfragen, ob dies betriebliche Kosten sind und sich dann umgehend bei mir melden. Wir sollten noch am selben Abend mit den besprochenen Aktionen starten“, sagt Helmberger.

„Kam Nadine W. Ihnen eifersüchtig vor?“, fragt die Richterin.

„Sie kam mir überhaupt nicht eifersüchtig vor. Sie hatte furchtbare Angst und wollte das Ende der Beziehung.“

Ashraf A. hört, dank der von ihm angebrachten Wanze, das komplette Gespräch zwischen Nadine W. und Lukas Helmberger mit. Er steigt sofort in sein Auto und fährt zur Trafik, wartet draußen, bis eine Kundin das Geschäft verlässt. Dann ist er fünf Minuten mit Nadine W. allein. „Ich habe ein Blackout gehabt“, sagt er vor Gericht.

Die Version, die Ashraf A. zum Tathergang vorbringt, passt nicht zu dem, was in der Aufzeichnung der Überwachungskamera zu sehen ist. „Als sie den Alarmknopf gedrückt hat, wollte ich noch normal mit ihr reden. Ich habe gesagt: Depperte, warum machst du das? Dann habe ich ihr mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen, sie ist umgefallen. Drei- oder viermal, aber nie mit der Faust. Sie ist ausgerutscht.“ Das Wort „nur“ verwendet Ashraf A. gerne. „Mit dem Kabel habe ich sie nur ganz kurz gewürgt. Ich wollte nur das Geschäft verbrennen, ich habe doch nur Papier angezündet. Ich wollte sie nur ein bisschen schlagen und ihr Angst machen. Ich wusste nicht, dass sie so schnell zu brennen beginnt.“

„Was haben Sie denn gedacht, was passiert? Sie haben Feuer gelegt und von außen zugesperrt“, konfrontiert ihn die Richterin.

„Sie hätte doch selbst noch hinausgehen können, sie hatte doch einen Schlüssel.“

„Was denken Sie, woran Nadine W. gestorben ist?“

„Ich weiß es nicht. Sie hatte viele gesundheitliche Probleme.“

Ashraf A. will auch nicht zugeben, dass seine Tat geplant war, obwohl im Laufe der Verhandlung ans Licht kommt, dass er das Benzin bereits einige Tage zuvor gekauft und in kleine Flaschen abgefüllt hatte.

Dass Nadine W. nicht hilflos in ihrem Geschäft verbrannte, war einem Passanten und einer Passantin zu verdanken. Sie sahen den Rauch und hörten ihre Schreie. Der Mann schnappte sich aus einem unmittelbar neben der Trafik gelegenen Supermarkt einen Einkaufswagen und rammte diesen so lange gegen die Eingangstür, bis sie aufging. Die Frau schritt vorsichtig ins Innere. „Alles war schwarz und verraucht. Ich konnte nichts sehen. Ich habe mich langsam vorwärtsgetastet“, sagt sie vor Gericht. „Dann stand plötzlich eine Gestalt vor mir.“ Die Frau unterbricht ihre Erzählung, ihre Emotionen überwältigen sie. Nadine W. habe zögernde Schritte auf sie zu gemacht. „Sie hat mich an den Armen gefasst. In diesem Moment ist die Welt stehen geblieben.“ Gemeinsam bewegten sich die zwei Frauen Richtung Tür. Je näher sie dem Tageslicht kamen, desto deutlicher habe die Zeugin wahrgenommen, in welchem Zustand sich Nadine W. befand: „Das war etwas, was mein Gehirn nicht verarbeiten konnte.“ Sie habe die Frau deshalb losgelassen, weil sie Angst hatte, sie zerstöre durch ihren Druck noch mehr von dem verbrannten Körper.

Vor Gericht wird ein zweites Video abgespielt, das eine weitere Passantin von der gegenüberliegenden Straßenseite gefilmt hat. Es zeigt Nadine W., wie sie ganz langsam aus der Trafik taumelt. Eine schwarze Gestalt ohne Haare, das Weiß der Augen sticht hervor. Die Endorphine, die ihr Körper im Schockzustand produziert, geben ihr die Kraft, sich aufrechtzuhalten. Die Brandwirkung setzt kurze Zeit später ein. Nadine W. hält sich an dem Einkaufswagen fest, mit dem der Mann die Eingangstür bearbeitet hatte. Sie ringt nach Luft, öffnet ihren Mund. Heraus kommt nur schwarzer Rauch. Eine Zeugin sagt, sie dachte, ein verletzter Mann sei aus der Trafik gekommen. Obwohl sie eine regelmäßige Kundin von Nadine W. war, hätte sie sie niemals erkannt.

Zwei junge Sanitäter waren mit ihrem Rettungswagen gerade zufällig in der Nähe und eilten sofort zu ihr. „Die Frau ist am Boden gehockt, sie hat extrem starke Schmerzen gehabt“, sagt einer der beiden vor Gericht. „Die Oberhaut war weg, die Unterhaut komplett verbrannt. Ich habe so etwas noch nie gesehen und wusste nicht, wo ich sie angreifen soll, ohne ihr noch mehr Schmerzen zuzufügen.“ Kurz danach ist eine Polizistin eingetroffen. „Die Sanitäter haben Nadine W. in eine Decke gewickelt und auf die Trage gelegt, ich habe versucht, mit ihr zu sprechen“, sagt sie aus.

„Können Sie mich hören oder verstehen?“

„Ja. Das war mein Ex-Freund.“

Nadine W. buchstabierte der Polizistin daraufhin seinen vollen Namen und sagte ihre letzten Worte. „Ich sterbe.“

Die Beamtin berichtet, wie erstaunt sie war, dass Nadine W. überhaupt noch etwas von sich geben konnte. „Sie hat ganz ruhig geredet.“ Nadine W. wurde so schnell wie möglich auf die Brandintensivstation des Allgemeinen Krankenhauses (AKH) gebracht.

Einer der anwesenden Gutachter spricht nun vor Gericht über die Verletzungen, die sie erlitten hat. „Stumpfe Gewalteinwirkung auf den Kopf, Drosseln mit konzentrischer Gewalteinwirkung, dadurch wurden Blutzirkulation und Luftzufuhr beeinträchtigt, sie wurde folglich bewusstlos.“ Durch das minutenlange Drosseln habe sie immer geringere Reaktionen gezeigt, war schwer benommen und wehrlos. „Die Benetzung mit dem Benzin erfolgte großflächig über ihren Körper. 75 Prozent ihrer Haut waren zerstört. Es wurde eine Überlebenschance von fünf Prozent kalkuliert, das ist extrem niedrig. Der Tod war absehbar.“ Umgehend erhielt sie künstliche Beatmung, Flüssigkeit und Entlastungsschnitte. „Bei der Einlieferung war die Haut im Oberschenkel zerrissen, bis in die Tiefe, weil die Verbrennungen so massiv waren“, führt er weiter aus. Überall großflächige Läsionen. „Verbrannte Areale mussten entfernt und mit einer Spezialhaut und Folie abgedeckt werden. Die Atemwege waren voller Ruß, hier entstanden massive Schädigungen.“ Ein Arm und ein Bein mussten amputiert werden. „Trotz zahlreicher Medikamente hatte sie Schmerzen, sie hat bis zum Tod unter unvorstellbaren Qualen gelitten“, sagt der Gutachter. Am 3. April 2021 starb Nadine W. an einem Multiorganversagen.

Als Nächstes trägt der psychiatrische Gutachter Peter Hofmann seine Einschätzung zum Angeklagten vor. Seit Ashraf A. seinen Job verloren hat, sei es in seinem Leben nur noch abwärts gegangen, der soziale Abstieg sei dramatisch gewesen. Drogen oder Alkohol hätte Ashraf A. zu keinem Zeitpunkt konsumiert. „Nach der Scheidung hat er sich sehr schnell auf Nadine W. eingelassen und sich zu Beginn der Beziehung unterstützend gezeigt, ihr Komplimente gemacht.“ Nadine W., die aufgrund ihres Glasauges sehr unsicher war, hätte er dadurch schnell für sich gewinnen können. „Doch die Entzauberung kam rasch.“ Hofmann stuft Ashraf A. zwar als zurechnungsfähig, aufgrund einer schwerwiegenden kombinierten Persönlichkeitsstörung mit sadistischen, narzisstischen und zwanghaften Zügen aber als hochgefährlich ein. Er sehe eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Ashraf A. erneut eine schwere strafbare Handlung begehe, da ihm sehr viel Aggression innewohne. „Er war nicht berauscht, er wusste, was er tut.“ Er attestiert dem Angeklagten völlige Entfremdung von Empathie, hohe Kränkbarkeit und eine starke Neigung dazu, sich als etwas Besonderes zu sehen.

Das erste Gespräch führten Hofmann und Ashraf A. knapp vier Wochen nach der Tat. „Der Angeklagte meinte damals, Nadine W. sei zu einem gewissen Grad selbst an allem schuld, es tue ihm nicht leid“, sagt Hofmann. Zwei Monate später, bei einem erneuten Gespräch zwischen den beiden, korrigierte der Angeklagte das zuerst Gesagte. „Er meinte dann, sie hätte nur ein bisschen Leiden im Spital verdient, sprach später aber dennoch von Auslöschung. Ashraf A. sieht sich in jeglicher Hinsicht als Opfer, Nadine W. ist an allem schuld.“

Nachdem Hofmann seine Rede beendet hat, ergreift Ashraf A. ungefragt das Wort. „Sie hat unsere Beziehung mit Füßen getreten.“ Er hört nicht auf, sich herablassend über sie zu äußern. Der Gericht rügt ihn erneut.

„Wenn Nadine W. so furchtbar war, wie Sie sagen, warum haben Sie sich dann nicht einfach von ihr getrennt? Warum mussten Sie so etwas tun?“, fragt die Richterin den Angeklagten.

„Liebe macht blind.“ Seine Ehre könne nur durch ihren Tod gerettet werden, soll er der Staatsanwältin zufolge kurz nach der Tat gesagt haben.

Ashraf A. wird schließlich wegen Mordes und Brandstiftung zu lebenslanger Haft verurteilt und in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Der Wahrspruch der Geschworenen fällt einstimmig aus und ergeht nach kurzer Beratungszeit. Die Höchststrafe sei in diesem Fall „einzig und allein die richtige Strafe“, hält Richterin Sonja Weis in der Urteilsbegründung fest. In diesem Saal seien schon viele furchtbare Verbrechen verhandelt worden: „Aber das ist ein Mord, der heraussticht, der an Grausamkeit nicht zu überbieten ist.“ Sie blickt Ashraf A. an. „Sie haben alles getan, damit das Opfer nicht überlebt.“

Rainer Rienmüller, der Vertreter der Familie der Getöteten, richtet sich ebenso an den Angeklagten. Er habe jegliche Verantwortung von sich gewiesen und vor den Geschworenen Täter-Opfer-Umkehr betrieben. „Ein Geständnis hätte den Hinterbliebenen einen kleinen Tropfen Trost gebracht, wo kein Trost zu finden ist. Hören Sie auf, Nadine die Schuld zu geben. Die Wunde, die Sie den Angehörigen zugefügt haben, wird nie wieder heilen.“

Ich blicke zur Galerie hinauf. Ich weiß, dort sitzt Nadines Familie. Abgeschottet vom restlichen Publikum. Weit weg von den Medien. Ich hoffe, dass das Urteil ihnen zumindest ein kleines bisschen dabei helfen kann, etwas Ruhe zu finden, um mit der Trauerarbeit beginnen zu können. Aufgrund der beispiellosen Grausamkeit der Tat und des Umstands, dass die Eltern den wochenlangen Todeskampf ihrer Tochter auf der Intensivstation miterleben mussten, erscheine ein höheres Trauerschmerzensgeld geboten, führt Rienmüller weiter aus. Das Gericht spricht dem Vater und der Mutter jeweils 50.000 Euro und der Schwester 15.000 Euro zu.

Ich spaziere die Nussdorfer Straße entlang, vorbei an der Hausnummer, wo Nadine W. ermordet wurde. In den umliegenden Geschäften und Wohnbauten wird noch gerne von ihr geredet, fast alle hier kannten sie. „Sie hat es immer geschafft, mich zum Lächeln zu bringen“, sagt eine Frau, die regelmäßig in der Trafik einkaufte. „Es ist nach wie vor unfassbar für mich, dass es zu dieser abscheulichen Tat gekommen ist. Wieder wurde eine Frau durch Gewalt ihres Lebensgefährten aus ihrem jungen Leben gerissen. Nadine war so freundlich. Wenn ich selbst mal weniger gut drauf war, bin ich nach einem Besuch bei ihr in der Trafik immer mit einem Grinsen im Gesicht hinausspaziert“, erzählt ein ehemaliger Kunde, der gleich ums Eck wohnt. Nadine W. wird als selbstständige Frau beschrieben, die nicht auf den Mund gefallen war.

In der Wiener Zeitung bin ich auf einen sehr persönlichen Gastkommentar ihrer Cousine gestoßen. „Nichts liegt mir ferner, als Nadine W. als Opfer zu betrachten. Bis zuletzt hat sie um ihr Leben gekämpft: ein Leben, das sie sich ohne fremde Hilfe ganz allein aufgebaut hatte. Ein Leben, in dem sie erfolgreiche Geschäftsfrau und Unternehmerin war. Ein Leben, in dem sie wie alle jungen Frauen Freunde hatte, eine Familie, Hobbys, einen Hund – bis einer kam, um ihr das alles wegzunehmen.“ Auf der einen Seite gebe es einen grausamen Täter, gesund und wohlbehalten in Haft. „Auf der anderen Seite eine Familie, die plötzlich vor dem Scherbenhaufen steht, der einmal das Leben ihrer Schwester, Tochter, Cousine, Nichte war.“

1

Weil sie Frauen sind

Ich lehne mich an die Hauswand und genieße die ersten warmen Sonnenstrahlen an diesem Tag. Ich hätte hier, am Wiener Yppenplatz, den Bruder einer ermordeten Frau treffen sollen. Ihr Verlobter hat sie erstochen. Gerade habe ich allerdings eine Absage per SMS erhalten. Er schaffe das einfach nicht, er möchte doch nicht mehr darüber reden. Es tue ihm sehr leid, aber er konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Ich lese diese Zeilen, und plötzlich tut es mir leid. Der arme Mann. Hat sich, bevor ich in meinen Träumen versunken bin, stundenlang gequält, weil er Angst davor hatte, das Schicksal seiner toten und geliebten Schwester und all den Schmerz im Gespräch mit mir wieder auszugraben. Ich antworte ihm, dass er sich keinen Kopf machen soll, dass ich das verstehe. Als ich etwas später auf dem Heimweg den Yppenplatz wieder in die andere Richtung überquere, sticht sie mir sofort ins Auge: die schwarze Gedenkwand mit der weißen Aufschrift „Femizide in Österreich“ – daneben die rote Zahl, die zwei- bis dreimal pro Monat aktualisiert werden muss. Ich bin schon öfter hier gewesen, die Aufschrift sieht jedes Mal etwas anders aus. Weil die Wand eine öffentliche Fläche ist, wird sie immer wieder übermalt. Schon länger fordern die Frauen der feministischen Vereine Viva La Vulva und Kollektiv Kimäre, die sich dieser Arbeit ehrenamtlich annehmen, ein dauerhaftes Mahnmal für all die weiblichen Opfer. Bisher blieben sie ungehört.

Noch vor zehn Jahren hätte in Wien, in ganz Österreich, wohl kaum jemand gewusst, was ein Femizid überhaupt ist, denke ich mir. Das ändert sich langsam. Wenn ich heute durch