Heimat-Roman Treueband 15 - Sissi Merz - E-Book

Heimat-Roman Treueband 15 E-Book

Sissi Merz

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Beschreibung

Lesen, was glücklich macht. Und das zum Sparpreis!

Seit Jahrzehnten erfreut sich das Genre des Heimat-Bergromans sehr großer Beliebtheit. Je hektischer unser Alltag ist, umso größer wird unsere Sehnsucht nach dem einfachen Leben, wo nur das Plätschern des Brunnens und der Gesang der Amsel die Feierabendstille unterbrechen.

Zwischenmenschliche Konflikte sind ebenso Thema wie Tradition, Bauernstolz und romantische heimliche Abenteuer. Ob es die schöne Magd ist oder der erfolgreiche Großbauer - die Liebe dieser Menschen wird von unseren beliebtesten und erfolgreichsten Autoren mit Gefühl und viel dramatischem Empfinden in Szene gesetzt.

Alle Geschichten werden mit solcher Intensität erzählt, dass sie niemanden unberührt lassen. Reisen Sie mit unseren Helden und Heldinnen in eine herrliche Bergwelt, die sich ihren Zauber bewahrt hat.

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Alpengold 173: Der Kräuterdoktor von St. Annen
Bergkristall 254: Adrian - kein Mann fürs Leben?
Der Bergdoktor 1703: Als sich unsere Wege trennten
Der Bergdoktor 1704: ...denn die Magd erpresste ihn
Das Berghotel 110: Das stolze Madel vom Brunnerhof

Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 610

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Impressum

BASTEI ENTERTAINMENT Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG Für die Originalausgaben: Copyright © 2014/2016 by Bastei Lübbe AG, Köln Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller Verantwortlich für den Inhalt Für diese Ausgabe: Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln Covermotiv von © Bastei Verlag/Michael Wolf ISBN 978-3-7325-9246-3

Sissi Merz, Christa Riedling, Andreas Kufsteiner, Verena Kufsteiner

Heimat-Roman Treueband 15 - Sammelband

Inhalt

Sissi MerzAlpengold - Folge 173Die Sonne versinkt schon hinter dem Gipfel, als Dr. Benjamin Hoffmann schnellen Schrittes den Weg bergan schreitet. Eine dunkle Ahnung, die er sich selbst nicht so recht erklären kann, lässt ihn an diesem Abend seiner Freundin Melanie folgen. Seitdem sie beide in St. Annen wohnen, um Benjamins Onkel in seiner Landarzt-Praxis zu vertreten, ist mit der schönen Ärztin Melanie eine seltsame Veränderung vorgegangen. Still, fast verstockt ist sie geworden, und immer wieder verschwindet sie für Stunden in den Bergen. Als Benjamin nun um die Wegbiegung kommt, fällt es ihm wie Schuppen von den Augen: Da sitzt Melanie auf der Bank am Marterl - und sie ist nicht allein! Bei ihr ist ihr Ex-Freund, den sie lange nicht vergessen konnte ...Jetzt lesen
Christa RiedlingBergkristall - Folge 254Der junge Sägewerkbesitzer Adrian Brunndobler ist ein Mann, wie ihn sich die Frauen wünschen: groß, gut aussehend, charmant. Er weiß genau, wie man mit dem schönen Geschlecht umzugehen hat. Letzteres bekommt auch Renate zu spüren, eine bezaubernde, in der Liebe unerfahrene Vollwaise, die von ihren Eltern ein beträchtliches Vermögen geerbt hat. Sie lernt Adrian auf einer Geburtstagsfeier kennen und verliebt sich auf den ersten Blick in ihn. Und auch der fesche Junggeselle scheint Feuer gefangen zu haben, denn er macht Renate schon bald einen Heiratsantrag. Das blutjunge Madel schlägt alle Warnungen in den Wind und nimmt an. Doch schon Wochen nach der Hochzeit muss Renate erkennen, dass Adrian sie nicht aus Liebe geheiratet hat ...Jetzt lesen
Andreas KufsteinerDer Bergdoktor - Folge 1703Daniela entscheidet sich für die Heimat. Mit zwei Koffern und einem Sackerl Vorfreude ist Daniela vor ein paar Jahren in die USA geflogen, mit zwei Koffern und einem leeren, verzweifelten Herzen kehrt sie nun heim nach St. Christoph. Gerührt stellt sie fest, dass sich hier gar nichts verändert hat. Das Doktorhaus, die Apotheke, der Gemischtwarenladen, das Pfarrhaus und die Kirche mit dem goldenen Wetterhahn - alles ist noch so, wie sie es in Erinnerung hat. Und auch der Wildengrund-Hof wirkt so stolz wie eh und je. Hier lebt Leon, ihr einstiger Liebster, dem sie so viel Leid zugefügt ist. Ob er bereit ist, Daniela zu verzeihen?Jetzt lesen
Der Bergdoktor - Folge 1704Packender Roman um Schuld und Sühne eines Bauern. Als der verheiratete Severin Kornhofer vor über zwanzig Jahren den Verführungskünsten der schönen Magd erlegen ist, hat er nicht ahnen können, wie hoch der Preis dafür sein würde. Der reinste Wucher! Die Affäre mit der wilden Heidi hat ihn nicht nur ein Vermögen, sondern seinen inneren Frieden gekostet. Zwar hat bis heute niemand von seinem Fehltritt erfahren, denn Heidi hat das Dorf verlassen, bevor man ihr die Schwangerschaft ansehen konnte. Doch sie hat ihn von Anfang an erpresst und gedroht, zurückzukommen, wenn er nicht für sie und seine uneheliche Tochter zahlt! Immer wieder verwünscht Severin den Tag, an dem er in Heidis Fänge geraten ist. Denn plötzlich verlangt sie nicht nur Geld - er soll sich um seine Tochter kümmern...Jetzt lesen
Verena KufsteinerDas Berghotel - Folge 110Seit dem Tod ihrer Eltern ist die junge Anni Brunner für den heimischen Bauernhof verantwortlich. Sie liebt den Hof, doch die anfallende Arbeit wächst ihr immer mehr über den Kopf. Unerwartet taucht da ein vornehmer Herr bei Anni auf: Der erfolgreiche Geschäftsmann Reinhold Schmiedl hat es sich in den Kopf gesetzt, auf Annis Grundstück eine Luxus- Hotelanlage zu errichten. Die Summe, die er Anni für den Verkauf des Brunnerhofs bietet, ist schwindelerregend hoch. Dennoch ist Anni entschlossen, den Brunnerhof zu behalten. Hier ist ihr Zuhause, der Hof ist alles, was ihr noch geblieben ist! Aber Reinhold Schmiedl ist es gewohnt, zu bekommen, was er will. Um seine Ziele zu erreichen, schreckt er auch vor kriminellen Mitteln nicht zurück. Die Lage spitzt sich immer weiter zu, und bald ist Anni gefangen in einer Spirale aus Kummer, Arbeit und Angst. Trost findet sie nur in den Gesprächen mit Bastian, einem jungen Mann, den sie zufällig im Dorf kennengelernt hat. Anni ahnt nicht, dass Bastian der Sohn von Reinhold Schmiedl ist und von seinem Vater einen ganz speziellen Auftrag erhalten hat ...Jetzt lesen

Inhalt

Cover

Impressum

Der Kräuterdoktor von St. Annen

Vorschau

Der Kräuterdoktor von St. Annen

Wie ein junger Arzt in den Bergen seine Berufung und sein Glück fand

Von Sissi Merz

Die Sonne versinkt schon hinter dem Gipfel, als Dr. Benjamin Hoffmann schnellen Schrittes den Weg bergan schreitet. Eine dunkle Ahnung, die er sich selbst nicht so recht erklären kann, lässt ihn an diesem Abend seiner Freundin Melanie folgen.

Seitdem sie beide in St. Annen wohnen, um Benjamins Onkel in seiner Landarzt-Praxis zu vertreten, ist mit der schönen Ärztin Melanie eine seltsame Veränderung vorgegangen. Still, fast verstockt ist sie geworden, und immer wieder verschwindet sie für Stunden in den Bergen.

Als Benjamin nun um die Wegbiegung kommt, fällt es ihm wie Schuppen von den Augen: Da sitzt Melanie auf der Bank am Marterl – und sie ist nicht allein! Bei ihr ist ihr Exfreund, den sie lange nicht vergessen konnte …

»Aufwachen, Schatzerl!« Dr. Benjamin Hoffmann musste schmunzeln, als der goldblonde Haarschopf seiner Liebsten nach dieser Aufforderung nur etwas tiefer unter der Bettdecke verschwand. »Frau Kollegin, die Pflicht ruft.«

»Mei, Ben, lass mich schlafen! Es kann unmöglich schon sieben Uhr sein«, kam ein gequältes Seufzen unter der Decke hervor.

»Leider ist es bereits halb acht«, erwiderte der junge Doktor unbarmherzig. »Und da du dich weigerst, wach zu werden, muss ich wohl als Erster unter die Dusche gehen!«

Diese Drohung wirkte. Melanie schob die Bettdecke zurück, gähnte herzhaft und mahnte: »Wag es net! Du weißt genau, dass ich erst nach einer wechselwarmen Dusche halbwegs wach bin und Frühstück machen kann.«

Der junge Mann seufzte. »Na schön, dann lasse ich dir den Vortritt. Aber nur, wenn du dich ein bisserl sputest. Oder sollen unsere Patienten heut vielleicht vor verschlossener Tür stehen, wenn sie in die Sprechstunde kommen?«

»Das wäre allerdings unverzeihlich«, spöttelte Melanie und schwang die langen, schlanken Beine aus dem Bett. »In zehn Minuten bin ich fertig, Ehrenwort!«

Es dauerte dann doch ein wenig länger, bis das junge Paar zusammen beim Frühstück saß.

Melanie Berg und Benjamin Hoffmann waren seit drei Jahren zusammen. Sie hatten sich an der Uni kennengelernt und ineinander verliebt. Damals war Melanie noch mit einem anderen Medizinstudenten verbandelt gewesen, einem gewissen Karsten Eder.

Benjamin war sehr eifersüchtig auf den Sohn aus gutem Hause gewesen, auf den nach dem Examen bereits eine eingerichtete Praxis wartete. Daneben hatte der Bauernsohn aus dem Berchtesgadener Land sich ein wenig minderwertig gefühlt. Schließlich konnte er Melanie nichts bieten, was für Karsten Eder ganz selbstverständlich war: teure Theaterkarten, exklusive Restaurants, Wochenenden auf Skihütten oder am Meer zur Entspannung.

Benjamin hatte seine Freizeit zwischen Lernen und Jobben aufteilen müssen. Seine Eltern hatten ihn nach Kräften unterstützt, aber er wollte ihnen nicht zu sehr auf der Tasche liegen.

Ihr Hof war klein und warf nicht mehr viel ab. In der Zwischenzeit hatten sie alles verkauft und verbrachten ihren Lebensabend auf Mallorca, wo sie eine geräumige Wohnung besaßen. Benjamin hatte die Eltern dort noch nicht häufig besucht, denn er war sehr heimatverbunden und konnte einfach nicht verstehen, wieso sie den Hof verkauft hatten.

Er selbst hätte in seinem Heimatdorf gern eine Landarztpraxis eröffnet, wofür er den elterlichen Hof durchaus hätte nutzen können. Aber diese Chance war dahin.

Nun war der junge Mediziner auch nicht gerade unzufrieden. Er hatte sich zusammen mit Melanie eine Praxis in Berchtesgaden aufgebaut, die gut lief.

Oft plagte ihn aber das Heimweh. Und der heimliche Wunsch, auf dem Land zu leben, erfüllte sein Herz. Heimlich musste dieser Wunsch auch bleiben, denn seine Liebste hatte dafür so gar keinen Sinn. Manchmal fragte Benjamin sich ernsthaft, warum Melanie sich für ihn entschieden hatte. Alles, was Karsten Eder ihr hatte bieten können, entsprach doch viel mehr ihren Wünschen und Vorstellungen …

»Du bist so still heut Morgen«, sagte Melanie nun in seine Gedanken hinein. »Kater oder einfach nur Müdigkeit?«

»Weder noch. Mir geht so einiges im Kopf herum«, gab der junge Arzt zu und musterte seine Freundin nachdenklich.

Melanie war eine sehr schöne junge Frau mit dem goldblonden Haar, den klaren, grauen Augen und dem ebenmäßigen Gesicht. Er hatte sie lieb und wünschte sich mehr als diesen Zustand, in dem sie lebten. Aber davon wollte sie nichts wissen.

»So nachdenklich? Willst du mir auch verraten, worüber du nachdenkst?«, forschte sie nun. »Vielleicht über Sinn und Unsinn deiner Kräutermedizin?«

»Meli, ich bitte dich!« Er verdrehte leicht genervt die Augen. »Darüber sollten wir nimmer diskutieren, das hat eh keinen Sinn. Du magst dich net auf meinen Standpunkt einlassen. Und ich habe keine Lust, eine hartgesottene Schulmedizinerin zu überzeugen. Das würde doch net klappen.«

»Kann schon sein.« Sie hob die Schultern und trank einen Schluck Kaffee. »Also, was geht dir dann im Schädel herum? Sagst du es mir freiwillig, oder muss ich weiter raten?«

»Weißt du, Schatzerl, die Hochzeit von Flori und Kerstin, die war wirklich schön, findest du net auch?«

»Ein nettes Wochenende auf dem Land«, pflichtete sie ihm bei. »Es ist allerweil herzig, wenn gute Freunde heiraten. Da muss man schließlich dabei sein, das ist man sich schuldig.« Ihre Stimme klang leicht ironisch, was ihm nicht entging. So war es immer, wenn sie auf das Thema Heirat zu sprechen kamen.

»Der Flori ist zwei Jahre jünger als ich. Da macht man sich schon so seine Gedanken.«

»Und welcher Art sind diese Gedanken?« Melanie tat unwissend.

»Na, zum Beispiel, wann wir zwei uns endlich trauen. Ich weiß net recht, worauf wir noch warten. Wir haben uns lieb, wir leben zusammen und haben es beruflich zu etwas gebracht. Ich denke, es wird Zeit, den nächsten Schritt zu tun.«

»Und der wäre?«

»Meli, ich bitte dich! Wir waren uns doch einig, dass wir eine Familie gründen wollen, sobald die Praxis läuft. Das tut sie.«

»Aber noch lange net so, wie sie sollte«, wandte sie schnell ein. »Oder hast du vielleicht vergessen, wie hoch unsere Schulden noch sind? Denkst du, es ist eine gute Idee, wenn ich jetzt daheimbleibe, Kinder kriege und es dir überlasse, die ganze Arbeit zu tun? Ich möchte dich auch irgendwann mal sehen. Ganz davon abgesehen, dass ich meinen Beruf ebenfalls liebe und gern ausübe.«

»Aha, da wären wir also wieder am Ausgangspunkt.« Benjamin starrte grimmig zu Boden. »Du willst net heiraten. Und Kinder willst du auch keine. Warum gibst du es net einfach zu? Manchmal wirkt es befreiend, die Wahrheit auszusprechen.«

»Leg mir bitt schön keine Worte in den Mund!« Sie seufzte leise. »Lass uns doch vernünftig darüber reden, Ben! In ein paar Jahren …«

»Ach was! Du glaubst doch selbst net, dass sich daran etwas ändern wird. Wenn deine Gefühle für mich nimmer stark genug sind, um an eine gemeinsame Zukunft und Kinder zu denken, dann …«

»Ben, hör auf! Ich hab dich lieb und bin glücklich mit dir. So wie es jetzt ist, ist es für mich gut. Zählt denn das gar net?«

Er schaute sie nachdenklich an. Manchmal hatte der junge Mann das deutliche Gefühl, dass Melanie ihm etwas verheimlichte. Früher hatte er in ihren Augen lesen können, da war ihm keine Regung ihres Herzens verborgen geblieben.

Nun war das anders. Auch jetzt schaute sie ihn an, doch er hatte das vage Empfinden, als wäre ein kleiner Teil ihrer Gedanken und Gefühle woanders, nicht hier, nicht bei ihm. Es war, als fehlte etwas Entscheidendes, auch wenn er den Finger nicht darauflegen konnte.

»Du weißt genau, wie wichtig es für mich ist, dich glücklich zu sehen, Schatzerl«, sagte er nun ernst. »Aber ich hab den Eindruck, dass wir beide mittlerweile einen ganz unterschiedlichen Begriff vom Glück haben. Und das macht mir ein bisserl Angst.«

»Wie meinst du das? Ich versteh dich net.«

Er dachte an heimliche Telefonate, Gesprächsfetzen, die er zufällig mitbekommen hatte, zwischen Tür und Angel, in der Praxis und auch daheim. Verstohlene Blicke. Und ein gewisses Maß an Unehrlichkeit, das er aber von sich geschoben hatte wie etwas Unangenehmes, etwas, das ihn kalt berührte.

»Hast du Karsten Eder in letzter Zeit mal wieder getroffen?«, fragte er ins Blaue hinein.

Vor einigen Wochen hatte er geglaubt, bei einer Fahrt durch die Stadt Melanie in Begleitung eines anderen gesehen zu haben. Sie war an dem Tag angeblich bei einer Freundin gewesen. Der Verkehr war zu dicht gewesen, um anzuhalten. Und so hatte er sie rasch wieder aus den Augen verloren. Aber seitdem ging Benjamin diese zufällige Beobachtung nicht mehr aus dem Kopf.

Melanie blieb ruhig, seine Frage schien sie nicht zu berühren. Doch er bemerkte, dass ihre Hand leicht zitterte, als sie nach der Kaffeetasse griff. Ein verräterisches Zeichen?

»Karsten? Nein, wieso sollte ich?« Sie schaute auf ihre Uhr. »Komm, wir müssen los, sonst fängt die Sprechstunde heut wirklich später an.« Rasch erhob sie sich, als hätte sie Angst, er könne ihr noch weitere Fragen stellen. Benjamin machte sich seinen eigenen Reim darauf. Ein ungutes Gefühl blieb.

Auf der Fahrt von ihrer Wohnung zur Praxis redeten sie nur über Belangloses. Als sie ihr Ziel erreicht hatten, meinte die junge Ärztin: »Ich find es nett, dass du immer noch auf Karsten eifersüchtig bist, Ben. Aber dazu besteht wirklich kein Anlass. Ich habe ihn seit der Uni nimmer gesehen.«

»Bist du sicher? Auch net zufällig? Ich hab gehört, dass er hier in Berchtesgaden an einer Klinik arbeiten soll.«

»Da weißt du mehr als ich.« Sie tat harmlos. »Sein Vater hatte ihm doch seinerzeit eine Praxis eingerichtet, oder?«

»Flori hat mir erzählt, dass er Karsten vor einer Weile in der Stadt getroffen hat. Er ist wohl in der Zwischenzeit schon Oberarzt in einer Privatklinik.«

Melanie tat gleichgültig. »Das ist mir ziemlich einerlei.«

»Tatsächlich?« Benjamin nahm ihr das nicht ab, doch sie hob nur die Schultern und schwieg sich aus. Das verunsicherte ihn. War sein Misstrauen vielleicht doch unbegründet? Tat er ihr unrecht mit seiner Eifersucht?

***

An diesem Morgen kam Benjamin nicht mehr dazu, sich Gedanken über seine Beziehung zu machen. Der junge Doktor hatte viel zu tun, das Wartezimmer war voll. Obwohl auch Melanie ihre Patienten hatte, kamen die meisten doch zu Dr. Hoffmann, denn seine Behandlungsmethoden und seine geduldige, einfühlsame Art waren bei den Kranken sehr beliebt.

Gegen Mittag erschien Dr. Berg bei ihrem Kollegen und wollte wissen: »Was hältst du von Mittagessen? Ich hätte Zeit.«

»Ich leider noch net. Draußen warten noch zwei Patienten. Frau Bingel leidet unter chronischen Kopfschmerzen, sie kriegt eine Kombi aus Akupunktur und Bachblütenessenzen. Dafür brauche ich Ruhe und Zeit. Und Herr Hartmann …«

»Schon gut, ich habe verstanden.« Melanie hob abwehrend die Hände, wobei sie Benjamin verdrießlich musterte. »Ich werde mir einen ungesunden Burger reinpfeifen. Dafür, dass du net verhungerst, musst du dann schon selbst Sorge tragen.«

»Sei doch net sauer!«, bat er begütigend. »In einer halben Stunde können wir gerne zusammen essen gehen. Ich lade dich ein, du kannst das Lokal aussuchen. Na, wie klingt das?«

Sie winkte ab. »Darauf lasse ich mich net ein. Nachher wird aus der halben Stunde eine ganze, und ich sitze dann mit knurrendem Magen in der Nachmittagssprechstunde. Nein danke.«

»Dann schon lieber Fett und Kalorien«, spöttelte er. »Na ja, bei deiner Figur steckst du das problemlos weg.«

»Ich sage dir, wie wir das Problem locker lösen könnten: Schmerzmittel und schon ist die Patientin beschwerdefrei. Die Pharmazie will schließlich auch leben.«

»Das ist keine Behandlung, das ist eine Ruhigstellung und geht gegen mein berufliches Ethos.«

»Schön, wie du willst.« Melanie verließ Benjamins Sprechzimmer und schloss die Tür vernehmlich hinter sich. Sie ärgerte sich darüber, dass er den Beruf immer an die erste Stelle rückte. Seine Einstellung missfiel ihr mehr und mehr. Je nachdrücklicher sie für die Schulmedizin plädierte, desto hartnäckiger vergrub er sich in seinen alternativen Heilmethoden.

Melanie war eine selbstbewusste Frau, die gerne das Sagen hatte. Dass sie bei Benjamin auf Widerstand und eine eigene Meinung traf, hatte ihr am Anfang gefallen. Nun aber empfand sie es als zunehmend unerfreulich. Sie hatte keine Lust, sich ständig wegen Kleinigkeiten zu streiten. Sie wollte den Ton angeben. Und da er dabei nicht mitmachte, schien es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis ihre Beziehung ein Ende fand.

Die junge Ärztin griff nach ihrer Handtasche und wollte eben ihr Sprechzimmer verlassen, als das Telefon anschlug. Melanie warf einen kurzen Blick auf das Display und lächelte, als sie die Nummer sah. Gleich hob sich ihre Laune um einige Nuancen.

»Karsten, das ist nett, dass du dich meldest. Willst du mich vielleicht zum Mittagessen einladen?«, fragte sie.

»Leider kann ich hier nicht weg, auf meinem Schreibtisch türmt sich die Arbeit. Ich werde die Mittagspause heute ausfallen lassen. Trotzdem wollte ich wenigstens deine Stimme hören.«

»Schmeichler!«

»Wie geht es dir, mein Engel? Du klingst gestresst.«

»Bin ich auch. Mit Ben ist momentan nichts anzufangen. Er träumt mal wieder von einem kleinen Familienglück.«

»Du solltest ihn endlich verlassen. Schließlich wartet hier ein weitaus besseres Leben auf dich.«

»Meinst du damit vielleicht dich? Ziemlich eingebildet.«

»Ich meine, dass wir beide besser zusammenpassen. Das weißt du so gut wie ich. Es war eine Dummheit von dir, dich an diesen kleinkarierten Landarzt zu binden. Ben wird nie mehr sein, er hat keinen Ehrgeiz. Als Kräuterdoktor in Hintertupfing, darin sieht er ja wohl seine Bestimmung.«

Melanie lachte leise. »Ganz treffend formuliert. Aber so einfach ist das auch wieder nicht.«

»Liebst du ihn denn noch?«

»Darüber möchte ich nicht ausgerechnet mit dir reden. Ich werde nämlich den Verdacht nicht los, dass du befangen bist.«

Karsten Eder schäkerte: »Schon möglich. Ich will dich jedenfalls zurück, das sage ich ganz offen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ich hier Chefarzt werde. Und dann möchte ich dich als meine Oberärztin an meiner Seite haben.« Er zögerte kurz, eh er noch hinzufügte: »Und als meine Frau, falls du darauf Wert legst.«

»Das muss ich mir erst noch überlegen. Ben hat schließlich die älteren Rechte.«

Dr. Eder lachte ironisch auf. »Er will dich zum Hausmütterchen machen. Für ihn bist du dann nur noch Hausfrau und Mutter. Ich hingegen will alles mit dir teilen, mein Schatz. Beruflich wie privat. Und dass wir beide in jeder Beziehung harmonieren, ist schließlich kein Geheimnis.«

»Das geht mir alles etwas zu schnell und glatt. Das Leben hat aber Ecken und Kanten, mein Lieber. Außerdem will ich Ben net verletzen.«

»Es liegt dir also doch noch etwas an ihm.« Der Klinikarzt seufzte. »Wenn das so ist, werde ich eben warten. Ich weiß, dass du die richtige Entscheidung triffst.«

»Du scheinst wirklich eine hohe Meinung von mir zu haben.«

»Melanie, ich liebe dich. Daran hat sich seit Studienzeiten nix geändert. Du bist die Frau, mit der ich leben will. Das solltest du niemals vergessen.«

»Ich werde es mir merken«, versprach sie spöttisch und legte auf. Es fiel Melanie tatsächlich nicht leicht, eine Entscheidung zu treffen. Karsten Eder war in jeder Beziehung der Richtige für sie, das wusste sie längst. Aber sie hing auch noch an Benjamin, obwohl zwischen ihnen nicht immer eitel Sonnenschein herrschte.

Irgendwann musste sie sich für einen von beiden entscheiden, ihr heimliches Doppelspiel konnte sie nicht ewig weiterspielen. Zumal Benjamin allmählich misstrauisch wurde. Sie wusste, dass er sensibel genug war, sie zu durchschauen, falls er es nicht bereits getan hatte.

Die junge Ärztin seufzte leise. In nicht allzu ferner Zukunft würde ihr Leben sich grundlegend ändern, das wusste sie. Wie dies aber konkret ablaufen würde, davon ahnte sie noch nichts …

***

Dr. Johannes Hoffmann war Ende fünfzig und seit fast dreißig Jahren Landarzt in St. Annen, einem kleinen Dorf, idyllisch im Berchtesgadener Land gelegen. Der Mediziner mit Leib und Seele war das große Vorbild seines Neffen Benjamin. Dieser hatte als Bub häufig die Schulferien bei seinem Onkel verbracht und bald den Wunsch geäußert, ebenfalls Landarzt zu werden.

Johannes, der nach kurzer, kinderloser Ehe schon lange verwitwet war, hatte sich über das Interesse seines kleinen Neffen gefreut und ihm alles nahegebracht, was wichtig war. Dabei hatte er auch von den Schattenseiten und dem Schweren gesprochen, das sich mit diesem verantwortungsvollen Beruf verband.

Benjamin war ein kluger Bub gewesen. Soweit Johannes das beurteilen konnte, hatte er alles verstanden, was sein Onkel ihm erklärt hatte, und war bei seinem Entschluss geblieben.

Johannes war nun stolz auf seinen Neffen, der in seine Fußstapfen getreten war. Vor einer Weile hatte er Benjamin in der Stadt besucht und sich dessen Praxis angeschaut. Er war beeindruckt gewesen. Auch von all den alternativen Heilmethoden, die Benjamin beherrschte und über die er mit großer Leidenschaft und Engagement gesprochen hatte. Mit Herzblut eben.

Nur eines hatte nicht ganz in dieses positive Bild gepasst, das war die Kollegin, mit der Benjamin die Praxis und auch sein Privatleben teilte.

Johannes verfügte über einen wachen Verstand und eine ausgeprägte Gabe, seine Mitmenschen einzuschätzen. Melanie Berg war ihm nicht sehr sympathisch gewesen.

»Sie hat ein kaltes Herz«, hatte er nach seiner Heimkehr zu seiner langjährigen Hauserin Erika gesagt. »Die wird den Buben net glücklich machen, denk an meine Worte!«

»Der Benjamin wird’s besser wissen«, hatte diese geantwortet.

Erika Singer war schon so lange im Doktorhaus von St. Annen beschäftigt, dass sie Familienrechte genoss. Und dazu zählte auch, ihre Meinung zu allem und jedem zu sagen, selbst wenn das dem Doktor mal nicht passte.

An diesem Tag hatten sie eine Weile disputiert, ohne zu einer Einigung zu kommen. Johannes behielt seinen Standpunkt bei, dass Melanie Berg nicht die Rechte für seinen Neffen war. Und Erika meinte, Benjamin sei durchaus in der Lage, sich die richtige Frau auszusuchen. Das wiederholte die Hauserin auch an diesem Tag, während sie »ihrem« Doktor das Mittagessen servierte.

Johannes zeigte sich nachsichtig, denn es gab sein Leibgericht; Kaiserschmarren. Aber ganz unwidersprochen mochte er Erikas Behauptung doch nicht gelten lassen.

»Der Bub ist net glücklich«, meinte er kauend. »Als ich vor ein paar Tagen mit ihm telefoniert hab, da hat er sich anders angehört als sonst. Niedergedrückt, tät ich sagen.«

»So ein Schmarren. Was soll denn das sein, eine Ferndiagnose?«, stichelte Erika.

Sie maß den Doktor, der mit dem ergrauten Haar, dem kecken Schnauz und den markanten Gesichtszügen des typischen Gebirglers noch immer ein fesches Mannsbild war. Es reizte sie manchmal einfach, ihn ein bisserl zu ärgern. Schließlich hatte sie den Großteil ihres Lebens in seiner Gesellschaft verbracht, und nicht selten hatte sie das Gefühl, als wären sie so etwas Ähnliches wie ein altes Ehepaar.

»Das ist meine Meinung«, erwiderte Johannes ruhig. »Ich kenn den Buben gut genug. Er ist mir schließlich so ans Herz gewachsen wie ein eigener Sohn. Und seine Eltern sind ja nimmer greifbar. Da komm ich dann halt als Ersatzvater ins Spiel.«

Erika lächelte warm. »Das rührt mich, Doktor, weißt? Trotzdem solltest du dem Benjamin schon zutrauen, dass er sich die Rechte sucht. Und zwei Ärzte in einem Haushalt, mei, das ist net das Schlechteste. Die verstehen sich.«

»Ja, mag sein.« Der Landarzt von St. Annen hatte nun seine Mahlzeit beendet und trank genüsslich noch ein Haferl Kaffee, bevor er sich auf den Weg zu seinen Hausbesuchen machte. Dass Erika ihm dabei Gesellschaft leistete, war nicht ungewöhnlich.

Sie plauderten noch eine Weile über Belangloses, bis Johannes schließlich feststellte: »Für mich wird es Zeit. Ich sitz zwar recht gern hier so gemütlich mit dir umeinand’, Erika, aber es warten noch ein paar Patienten, nach denen ich schauen muss. Alsdann, auf geht’s!«

»Wann soll ich das Nachtmahl richten, Doktor?«, fragte die Hauserin, während sie die Kaffeetassen abräumte. »Um sieben, wie immer? Oder wird es später werden?«

»Sieben ist gut«, bestätigte Dr. Hoffmann. Er ging hinüber in die Praxis und packte alles in seine Tasche, was er auf der Runde brauchen würde. Dabei fiel sein Blick auf die Bilder, die gerahmt den Schreibtisch zierten. Zu seiner Rechten fand sich ein Foto seiner verstorbenen Frau Marie.

Auch heute dachte der Landarzt noch täglich an sie, die er allzu früh hatte hergeben müssen. Eine glückliche Ehe war es gewesen zwischen dem jungen Doktor und dem Bauernmadel mit dem hinreißenden Lächeln. Marie hatte unter einem Herzfehler gelitten, der zu spät erkannt worden war. Nach nur zwei Jahren Ehe hatte er sie verloren und mit ihr für lange Zeit alle Lebensfreude. Nur der Beruf hatte ihn in diesen schweren Jahren aufrechterhalten. Und natürlich Erika, die sich sehr fürsorglich um ihn gekümmert hatte.

Auf der anderen Seite stand ein Foto von Benjamin. Es war schon ein paar Jahre alt, zeigte den Medizinstudenten mit dem widerspenstigen sandblonden Haar und den klaren, tiefblauen Augen.

Johannes sah tatsächlich so etwas wie einen Ziehsohn in Benjamin. Stolz erfüllte sein Herz, wenn er an ihn dachte. Und er wünschte seinem Neffen alles Gute im Leben – vom Guten nur das Beste. Dabei wanderten seine Gedanken noch einmal zu Melanie Berg.

Erika schien der Meinung zu sein, dass sie die Richtige für Benjamin war. Nun, Johannes sollte es recht sein. Wenn die zwei glücklich miteinander waren, dann war er es auch. Er ließ seine Tasche zuschnappen und machte sich auf den Weg zu seinen Hausbesuchen.

An diesem Tag wurde Dr. Hoffmann überall aufgehalten. Beim alten Angermaier, der bettlägerig war, hatte man geschlachtet. Die Bäuerin wollte dem Landarzt unbedingt ein schönes Fresspaket zusammenstellen, was allerdings eine Weile dauerte, denn sie war sehr pingelig in allem, was sie tat.

Annamarie Nörling lebte etwas außerhalb des Dorfes in einem alten Almhüttel. Sie war ein Kräuterweibel, dessen besondere Spezialität Kräuterliköre der verschiedensten Geschmacksrichtungen darstellten.

Nachdem Dr. Hoffmann die Diabetikerin mit dem Bluthochdruck gründlich untersucht hatte, drängte sie ihm mehrere neue »Kreationen« auf. Johannes fühlte sich ein wenig wacklig auf den Beinen, als er zu seinem letzten Patienten fuhr.

Georg Sandmüller litt unter Demenz, meist erkannte er weder den Doktor noch seine Angehörigen. An diesem Abend stellte er jedoch für alle Anwesenden überraschend fest: »Der Dr. Hoffmann hat ein Fähnerl. Ob sich das denn gehört?«

»Er war gewiss bei der Nörling-Anna, gelt?«, sprang sein Sohn für den Landarzt in die Bresche, der mit einem schmalen Lächeln nickte und den Kaffee, den die Tochter des Altbauern ihm anbot, nicht ausschlug.

Als Johannes Hoffmann sich dann endlich auf den Heimweg machen konnte, ging es bereits auf neun Uhr zu. Erika würde böse sein, zumal er noch immer vom Kräuterlikörduft umweht wurde. Aber sie kannte seinen Alltag schließlich lange genug, um zu wissen, dass er es nicht darauf angelegt hatte, sie vorsätzlich zu ärgern.

Es war ein trüber Spätsommertag gewesen, nun regnete es fein. Johannes kniff die Augen zusammen, wenn ihm ein Auto entgegenkam. Er fühlte sich dann geblendet, denn seine Scheibenwischer waren nicht mehr besonders effektiv.

Ich sollte mir neue besorgen, dachte er, als urplötzlich wie aus dem Nichts gewachsen mitten auf der Fahrbahn ein kapitaler Hirsch stand. Der Landarzt riss die Augen auf, meinte, einer Täuschung zu unterliegen. Denn das Tier bewegte sich nicht. Es stand da wie angewurzelt, kümmerte sich nicht im Geringsten um den Kombi des Doktors, der immer näher kam.

Johannes fiel ein, dass der Herbst nicht mehr weit war. Vermutlich waren dies bereits die ersten Anläufe der Hirschbrunft. Und dieser kapitale Bock wollte wohl bei der Damenwelt Eindruck schinden, indem er sich furchtlos dem Verkehr entgegenstellte. Das konnte ins Auge gehen.

Dr. Hoffmann trat mit ganzer Kraft auf die Bremse. Er sah den Hirsch bereits durch die Luft wirbeln und sein Auto sich in einen Haufen Blechschrott verwandeln. Der Bremsweg war zu lang, das würde niemals klappen.

Mit weit aufgerissenen Augen umklammerte der Landarzt das Lenkrad und hatte das Gefühl, einen tiefen Blick mit dem Hirsch zu tauschen. Endlich reagierte das Tier. Kurz blitzte es in den dunklen Augen panisch auf, dann setzte der Bock mit wenigen hohen Sprüngen in den angrenzenden Wald.

Johannes Hoffmann atmete auf. Doch seine Erleichterung sollte nicht lange währen. Das Bremsmanöver war zu stark gewesen, sein Auto scherte aus, die Lenkung blockierte. Während der Landarzt wie ein Wilder am Lenkrad kurbelte, tat sich nichts. Der Kombi schlingerte von der Straße, rumpelte über einen Graben und krachte mit erheblicher Wucht gegen eine alte Föhre.

Dr. Hoffmann wurde nach vorne geschleudert, dann zurück. Er knallte mit dem Kopf gegen den Wagenhimmel und sah Sterne. Im Unterbewusstsein nahm er wahr, das ein Airbag sich öffnete. Heiße Schmerzblitze durchzuckten ihn, er hatte das Gefühl, von einem Fesselballon an die Wand gepresst zu werden. Dann war alles vorbei.

Der Kombi stand still, Ruhe senkte sich über den Schauplatz des Unfalls. Bald war nur noch das Geräusch des gleichmäßig fallenden Regens zu hören, der sich allmählich verstärkte. Der Hirsch war längst im Wald verschwunden.

Johannes Hoffmann hing buchstäblich in den Seilen. Sein Brustkorb schmerzte höllisch, er konnte kaum atmen. Seine rechte Hand steckte irgendwo im Armaturenbrett fest. Der linke Unterschenkel war ein einziger, brüllender Schmerz. Er versuchte vergeblich, mit der linken Hand nach seinem Handy zu tasten, um Hilfe herbeizurufen.

Nach wenigen Augenblicken fiel seine Hand schlaff in den Schoß. Der Verletzte hatte das Bewusstsein verloren.

***

Erika Singer fiel aus allen Wolken, als der Dorfgendarm kurz vor Mitternacht an der Tür klingelte und sie aufforderte, ein paar Sachen für Dr. Hoffman einzupacken.

»Er hatte einen Unfall, vermutlich ein Wild, das ihm in den Wagen gelaufen ist«, erklärte der beleibte Ordnungshüter. »Er liegt im Spital in Bischofswiesen.«

»Jesus, Maria und Josef!, entfuhr es der Hauserin, die sich rasch bekreuzigte. Ganz bleich war sie geworden, ihre Stimme zitterte verdächtig, als sie fragte: »Lebt er denn noch?«

»Freilich. Hat sich einiges gebrochen, aber das wird wieder. Mei, er hatte Glück, dass der Förster so spät noch unterwegs war. Sonst wäre er vielleicht erst morgen gefunden worden.«

Erika biss sich auf die Lippen. Sie wollte jetzt nicht weinen, damit dieser Klotz von einem Gendarmen nicht auf falsche Gedanken kam. »Ich pack schnell ein paar Sachen ein«, erklärte sie und wandte sich ab. »Es dauert net lang.«

»Schon recht.« Der Gendarm machte es sich in der Küche auf der Eckbank gemütlich und bediente sich beim Kaffee. Sonderschichten und Nachtdienst, das war so gar nicht nach seinem Geschmack. Dass die Leute aber auch nicht zu vernünftigen Zeiten verunglücken konnten …

In aller Ruhe schlürfte der Dorfgendarm seinen Kaffee, während Erika tränenblind und voller Sorge einen Koffer für ihren Brotherrn packte. Sie musste sich sehr zusammennehmen, um ihre Gedanken zu ordnen und die richtigen Dinge in den Koffer zu legen. Dabei fragte sie sich immer wieder, wie es zu dem Unfall hatte kommen können. Der Doktor war doch ein umsichtiger Fahrer, der nie ein Risiko einging.

Was hatte der Gendarm gesagt, ein Wild war ihm ins Auto gelaufen? Nun, das konnte es wohl erklären. Dagegen war selbst der vorsichtigste Verkehrsteilnehmer nicht gefeit. Wenn es ihn nur nicht zu schlimm erwischt hatte!

Mit sorgenvoller Miene kam Erika wenig später die Stiege herunter. Der Gendarm nahm ihr den Koffer ab und meinte gemütlich: »Ist gewiss net so schlimm, keine Sorge, Erika! Allzu lang darf unser Doktor eh net krank spielen. Wer soll sich denn sonst um die Leut hier im Tal kümmern?«

Die Hauserin seufzte. Daran hatte sie in der Aufregung noch gar nicht gedacht. Es war aber auch ein Unglück!

Erika Singer hatte während der Fahrt nach Bischofswiesen Zeit, sich ein wenig zu beruhigen. Doch die Sorge blieb und machte ihr weiter das Herz schwer. Sie kamen an der Unfallstelle vorbei, wo noch der Kombi im Straßengraben hing.

»Der wird morgen abgeholt. Da muss ein Kran her, sonst kriegt man ihn net dort heraus. Eilt ja eh net, gelt? Ist nur noch ein Schrotthaufen. Da wird mal was Neues fällig.«

Erika wandte den Kopf und schwieg. Ihr stand nun nicht der Sinn nach den oberflächlichen Reden ihres Begleiters. Draußen lag die Finsternis über dem Forst, der sich zu beiden Seiten der schmalen Landstraße in den jetzt klaren Himmel erhob. Leichter Nebel hing zwischen den dicken Stämmen der Föhren. Die Hauserin lauschte auf das gleichmäßige Geräusch des Motors und ihren unruhigen Herzschlag. Die Sorge wollte einfach nicht von ihr weichen, auch wenn sie nun ein wenig ruhiger geworden war.

Im Spital musste Erika warten. Ihr Begleiter bot an, sie wieder mit zurück nach St. Annen zu nehmen, aber sie winkte ab.

»Wer weiß, wie lange das dauert! Ich kann mir auch ein Taxi nehmen«, meinte sie und merkte, dass der Gendarm erleichtert war. Er vermisste wohl seine Nachtruhe und hatte nur nicht unhöflich sein wollen. Erika war froh, als sie allein war. Nun konnte sie ihren Gedanken freien Lauf lassen und musste keinem mehr etwas vormachen. Als die Tränen kamen, hielt sie diese nicht zurück. Es erleichterte sie, ein wenig zu weinen. Und als endlich ein Spitalsarzt erschien, hatte sie sich auch längst wieder beruhigt.

»Der Kollege hatte Glück im Unglück«, erklärte der noch junge Mediziner. »Keine inneren Verletzungen, nur einige Frakturen, die wir bereits gerichtet haben. Und eine Gehirnerschütterung.«

»Aber er wird wieder ganz gesund?«, vergewisserte Erika sich.

»Aller Wahrscheinlichkeit nach wird er das«, erwiderte der Arzt mit der üblichen Vorsicht.

»Kann ich ihn noch besuchen, bevor ich wieder heimfahre? Und ihm die Sachen bringen?«

»Den Koffer können Sie der Schwester an der Anmeldung geben. Eigentlich ist jetzt ja keine Besuchszeit, aber ich will mal eine Ausnahme machen. Kommen Sie, ich bringe Sie zu dem Kollegen! Aber Sie dürfen nur kurz nach ihm sehen, er braucht jetzt absolute Ruhe.«

Erika versprach es und folgte dem Spitalsarzt. Dr. Hoffmann lag zum Glück in einem Einzelzimmer, sodass durch ihren Besuch niemand gestört wurde. Aber wie erschrak sie, als sie ihren Brotherrn sah! Um seinen Kopf leuchtete weiß ein Verband. Die rechte Hand war ebenso wie das linke Bein eingegipst. Johannes Hoffmann war fast so weiß die der Verbandsmull. Und als er Erika zulächelte, sah das weniger fröhlich als schmerzvoll aus.

»Mei, Doktor, wie hat denn das nur passieren können? Ich fasse es net«, seufzte sie gequält auf. »Du schaust schrecklich aus.«

»So fühl ich mich auch«, gab er mit leiser Stimme zu. »Der Hirsch war schuld. Er stand mitten auf der Straße und guckte nur dumm aus der Wäsche. Ich hab bremsen wollen, und dann ist alles ganz schnell gegangen. Mei, ich hatte wirklich das Gefühl, dass mein letztes Stünderl geschlagen hat.«

»Zum Glück net«, murmelte Erika und wischte sich verschämt über die Augen, die schon wieder verräterisch glitzerten. »Wo tut es denn überall weh?«

»Mein Schädel brummt. Meine rechte Hand ist gebrochen, ebenso wie der linke Unterschenkel. Und mehrere Rippen sind gequetscht, das tut net weniger weh als ein Bruch. Ich fürchte, fürs Erste bin ich außer Gefecht gesetzt, Erika.«

»Und wie lang musst du im Spital bleiben, Doktor?«

»Ein paar Wochen schon. Kommt darauf an, wie schnell die Frakturen heilen.« Er machte ein bekümmertes Gesicht. »Du weißt, was das heißt, net wahr? St. Annen muss eine Weile ohne mich auskommen. Konkret: Ich brauch eine Vertretung.«

»Darum kümmere ich mich gleich morgen früh«, versprach die treue Hauserin. »Ich rufe wohl am besten bei der Krankenkasse an und …«

»Na, das will ich net. Die schicken irgend so einen jungen Spund, der von nix eine Ahnung hat. Kommt net infrage, dass der mir an meinen Patienten herumpfuscht.«

»Aber was soll denn dann werden? Wir brauchen doch im Tal einen Doktor, wenn du so lange ausfällst«, gab sie zu bedenken.

»Ich möchte dich bitten, den Benjamin anzurufen. Berchtesgaden ist net aus der Welt. Der Bub soll seine Praxis eine Weile zusperren und bei uns die Vertretung übernehmen. Zu ihm hab ich Vertrauen. Und wenn es ein paar Tage dauern sollte, bis er kommen kann, musst du die Patienten halt vertrösten. Dringende Fälle können nach Bischofswiesen fahren. Sobald der Benjamin vor Ort ist, wird alles wieder seinen Gang gehen.«

Erika machte ein skeptisches Gesicht. »Und wenn er net kommen kann oder will? Ich weiß, ihr habt euch allerweil gut verstanden und seid wunderbar miteinander ausgekommen. Aber das ist doch recht viel verlangt. Er soll einfach alles stehen und liegen lassen, wenn du ihn brauchst?«

»Das ist in einer Familie ganz normal. Man hilft sich gegenseitig, wenn Not am Mann ist. Und das ist jetzt der Fall, Erika. Oder willst du das abstreiten?«

»Gewiss net.« Sie seufzte leise. »Also schön, dann geh ich jetzt. Und morgen früh ruf ich deinen Neffen an, Doktor. Bin ja mal gespannt, ob er tatsächlich einverstanden ist.« Deutlich sah man ihr die Bedenken an, die sie hatte.

»Er wird kommen«, meinte Dr. Hoffmann aber überzeugt. »Der Benjamin lässt mich ganz gewiss net im Stich!«

***

»Das kommt überhaupt net infrage! Ich glaub, du spinnst.«

Benjamin musterte Melanie befremdet. »Und warum net?«

»Ist denn das so schwer zu begreifen? Wir können doch net aus einer Laune heraus unsere Praxis einfach schließen und für Wochen aufs Land ziehen. Ganz davon abgesehen, dass ich das net will. Du weißt genau, wie ich darüber denke. Ich finde es ziemlich rücksichtslos, dass du net wenigstens vorher mit mir geredet hast, statt sofort zuzusagen.«

»Aber für mich war das überhaupt keine Frage«, versuchte der junge Doktor, sich zu rechtfertigen. »Wenn der Onkel Johannes meine Hilfe braucht, bin ich selbstverständlich für ihn da. Ich verdanke ihm alles, ohne ihn wäre ich vielleicht nie Arzt geworden!«

»Ja, ich weiß.« Melanie verdrehte genervt die Augen. Wie oft hatte Benjamin schon von seinem Onkel geschwärmt! Dabei mochte sie ihn nicht einmal. Bei seinem Besuch hatte er auf sie den Eindruck eines verbohrten alten Ländlers gemacht, der es nicht gerne sah, dass es mittlerweile auch Frauen in der Medizin gab. Er hatte sie sehr distanziert behandelt, und sie hatte das Gefühl gehabt, dass er sie nicht gerne an der Seite seines Neffen sah.

Und nun sollte sie Wochen mit diesem Hinterwäldler verbringen, ihn womöglich noch pflegen und sich mit seinen vermutlich sturen, unfreundlichen Patienten herumschlagen? Dazu hatte Melanie absolut keine Lust!

Benjamin legte seine Arme um ihre Taille und schaute ihr versöhnlich in die Augen. »Jetzt gib deinem Herzen halt einen Stoß, Schatzerl! Du weißt doch, wie viel mir der Onkel Johannes bedeutet. Wenn du dir nur ein klein bisserl Mühe gibst, werdet ihr gewiss miteinander auskommen.«

»Leichter gesagt als getan«, murrte sie widerwillig.

»Ich möchte net gern allein nach St. Annen fahren. Aber wenn du partout net willst, dann machen wir es eben anders. Du bleibst hier und …«

»Du meinst, ich soll die Praxis allein führen? Das wird ja immer schöner«, schnaubte sie und machte sich von ihm frei.

»Ich wäre dann in St. Annen ja auch allein«, gab er zu bedenken. »Einfach wäre das gewiss net. Aber ich muss für den Onkel Johannes einspringen, das bin ich ihm einfach schuldig.«

»Also schön.« Melanie machte ein Gesicht, als hätte sie gerade in eine frische Zitrone gebissen. »Ich weiß, dass ich es bereuen werde, aber ich komme mit.«

»Ich dank dir von Herzen!« Benjamin drückte ihr ein Busserl auf die Lippen und meinte dann: »Wir müssen gleich alles in die Wege leiten, damit es einen reibungslosen Übergang gibt …«

Obwohl Melanie zugestimmt hatte, hoffte sie insgeheim, dass noch etwas dazwischenkommen würde und dieser Kelch an ihr vorüberging. Benjamin hingegen bereitete die Urlaubsvertretung gewissenhaft vor und hatte schon am übernächsten Tag alles, was wichtig war, geregelt. Er telefonierte mehrmals mit Erika Singer und rief auch einmal seinen Onkel im Spital an.

Melanie konnte nicht fassen, wie lange dieses Telefonat dauerte. Sie war so genervt von dieser Angelegenheit, dass sie schließlich »flüchtete«.

Benjamin hing immer noch am Telefon, als die junge Ärztin sich in ihr Auto setzte und zu einem kleinen Weinlokal in der Innenstadt fuhr. Es lag ganz in der Nähe der Stelle, an der Benjamin sie vor einer Weile in Begleitung von Karsten Eder gesehen hatte. Und das kam nicht von ungefähr, denn das Lokal war ihr heimlicher Treffpunkt.

Karsten wartete schon auf Melanie und rückte ihr brav den Stuhl, als sie sich mit einem gequälten Seufzer an seinem Tisch niederließ. Er musste schmunzeln, was sie mit einem giftigen Blick und der Frage »Ist mir was Lustiges entgangen?«, quittierte.

Der dunkelhaarige Mediziner schaute sie offen an und bekannte: »Du siehst aus wie eine Frau, die unbedingt etwas in ihrem Leben ändern sollte, aber zu stur ist, das zuzugeben. Und das entbehrt nicht einer gewissen Komik.«

»Wenn du dich nur amüsieren kannst …«

»Warum bleibst du nicht hier? Ben wird eine Weile auf dem Land sein. Zeit genug, deine Zelte bei ihm abzubrechen und zu mir überzusiedeln. Wenn er zurückkommt, hast du bereits Nägel mit Köpfen gemacht, und ihm bleibt nichts weiter übrig, als deine Entscheidung zu akzeptieren.«

»Deine Entscheidung, meinst du wohl.«

Dr. Eder legte den Kopf ein wenig schief und forschte: »Was willst du mir genau damit sagen, Liebes?«

»Ich weiß nicht, wie ich dich einschätzen soll, Karsten. Manchmal frage ich mich, ob dein Wunsch, mich zurückzugewinnen, nicht bloß sportlicher Ehrgeiz ist. Ben hat dich ausgestochen, das kannst du nicht akzeptieren. Der Gedanke, nur der Pokal in einem Preiskampf zu sein, ist nicht unbedingt angenehm.«

»Ich bitte dich, Melanie, das ist wirklich Unsinn. Ich liebe dich. Es hat mich sehr verletzt, dass du dich für Ben entschieden hast. Aber ich habe neue Hoffnung geschöpft, als mir klar wurde, dass er nicht der Richtige für dich ist. Du bist viel zu klug, um das nicht auch irgendwann zu erkennen.«

»Wären wir uns nicht wieder zufällig über den Weg gelaufen, dann …« Sie warf ihm einen abwägenden Blick zu. »Es war doch Zufall, oder?«

Da grinste er schmal und behauptete: »Sicher, reiner Zufall.«

Der Kellner erschien, und Melanie bestellte sich ein Glas Wein und einen Salat. Karsten wunderte sich darüber.

»Du hast doch hoffentlich nicht vor abzunehmen? Deine Figur ist perfekt, wie alles andere auch.«

»Danke für die Blumen. Ab morgen werde ich auf dem Land wohnen und Hausmannskost essen müssen. Da kann es wohl nicht schaden, jetzt ein paar Kalorien einzusparen, oder?«

Karsten lachte. »Ich werde dich regelmäßig besuchen kommen, versprochen. Keine Sorge, ich lasse dich nicht auf dem Land verkümmern.«

»Das ist lieb von dir. Ben ist so vernarrt in seinen blöden Onkel, dass er sich einbildet, ich müsste mit ihm ebenso gut auskommen. Dabei scheint ihm völlig entgangen zu sein, dass sein Onkel mich nicht leiden kann und ablehnt.«

»Wie gesagt, du könntest dir das alles ersparen. In der Klinik wartet der Posten der Oberärztin auf dich. Und in meinem Herzen … Na, du weißt schon, nicht wahr? Das muss ich ja nicht ständig wiederholen.«

»Ich höre es immer wieder gern. Aber ich will Ben nicht einfach so vor vollendete Tatsachen stellen, das wäre nicht fair. Weißt du, Karsten, ich habe das unbestimmte Gefühl, dass sich in St. Annen so oder so entscheiden wird, wie unsere Zukunft aussieht. Diese Vertretung wird einiges ändern.«

»Das will ich hoffen. Es ist wirklich an der Zeit, dass du dieses jämmerliche Intermezzo beendest und zu dem Mann zurückkehrst, zu dem du wirklich passt.«

***

Am nächsten Morgen war Benjamin schon früh auf den Beinen. Während Melanie sich die Decke über den Kopf zog und sich noch einmal auf die andere Seite drehte, lud der junge Mediziner bereits die Koffer ins Auto und machte Frühstück.

Bester Laune weckte er Melanie und versprach ihr: »Es wird dir in St. Annen gefallen, glaub mir! Es ist sehr idyllisch dort. Du wirst es nicht bereuen, mich begleitet zu haben.«

»Das werden wir erst noch sehen«, murrte sie unwillig. »Und wenn das bedeuten soll, dass du jetzt jeden Morgen dermaßen früh aufstehst, dann bereue ich es jetzt schon.«

»Wir werden die Sprechstunde so abhalten wie hier, keine Sorge. Heute ist eine Ausnahme. Ich fühle mich voller Tatendrang. Also, komm mein Schatz, steh auf! Das Frühstück wartet bereits auf dich.«

Sie musterte ihn nachdenklich. Plötzlich fielen ihr Karstens Worte ein, dass Benjamin als Kräuterdoktor in Hintertupfing gewiss glücklich und zufrieden wäre. Schaute sie ihn nun an, erschien ihr das gar nicht mehr so weit hergeholt.

»Freust du dich so auf deinen Onkel?«, fragte sie ihn dann beim Frühstück. »Ich weiß, ihr versteht euch gut, er ist dein Vorbild. Aber ich finde das ein bisschen übertrieben. Oder steckt vielleicht noch mehr dahinter? Womöglich eine holde Maid mit blonden Zöpfen?«

Benjamin lachte gut gelaunt. »Du hast schon recht, wenn auch ein wenig anders, als du denkst. Ich freue mich, wieder nach St. Annen zu kommen. Das Landleben geht mir eben manchmal doch sehr ab. Und diese Vertretung ist eine schöne Abwechslung für mich, das muss ich zugeben.«

»Du würdest also lieber auf dem Land leben als hier? Das wusste ich nicht.«

»Na ja, ich bin hier in Berchtesgaden schon zufrieden. Aber das Landleben bedeutet mir auch viel, das kann ich net leugnen.«

Melanie sagte dazu nichts, doch Benjamins Worte erschienen ihr wie ein weiterer Mosaikstein in dem Bild, das zwei verschiedene Wege zeigte: ihren und seinen. Und kaum eine wirkliche Gemeinsamkeit, wenn sie ehrlich war …

Die Fahrt nach St. Annen verlief in seltsamer Atmosphäre. Während Benjamin bester Laune war und Melanie immer wieder auf die schöne Umgebung aufmerksam machte, gab die junge Ärztin sich schweigsam und mürrisch. Je weiter sie sich von Berchtesgaden entfernten, desto mehr sank ihre Laune.

Die Landschaft veränderte sich allmählich. Alles war Benjamin noch sehr vertraut, obwohl er schon eine ganze Weile nicht mehr in St. Annen gewesen war. Doch als sie die schmale Landstraße befuhren, da fühlte er sich mit einem Mal ganz daheim.

Im Norden lag der Nationalpark Berchtesgadener Land mit dem Königssee und der berühmten Seekapelle St. Bartholomä. Südlich erkannte man die Dächer von Bischofswiesen. Zur Linken lagen Ramsau, der klare Hintersee und der Zauberwald. Und gegenüber der Hausberg von St. Annen, der Untersberg. Folgte man der Straße hinter St. Annen weiter, so kam man zuerst nach Unterau, dann nach Strub.

Es war ein sonniger Spätsommertag; in tiefem Grün schimmerten die ausgedehnten Föhrenwälder unter dem tiefblauen Himmel. Viele Felder waren bereits abgeerntet, auf den Wiesen aber blühten noch Kräuter und Wildblumen. Das helle Milchvieh der Region graste friedlich im milden Schein der Spätsommersonne.

Es war ein wunderbares Idyll, das dem jungen Doktor das Herz ganz weit werden ließ. Durch die geöffnete Seitenscheibe strömte frische, würzige Bergluft ins Auto, die Benjamin vertraut und köstlich zugleich erschien. Melanie hingegen beschwerte sich über den Jauchengestank und bat Benjamin, das Fenster wieder zu schließen.

Er lachte und meinte leichthin: »Daran wirst du dich gewöhnen müssen, mein Schatz. So ist das auf dem Land nun mal.«

Sie sagte nichts, doch ihr blasses Gesicht drückte deutlich aus, was sie davon hielt.

Erika Singer hatte die beiden jungen Mediziner bereits erwartet. Dass Sebastian tatsächlich so schnell nach St. Annen kommen würde, um die Vertretung seines Onkels zu übernehmen, erstaunte sie noch immer. Weitaus erstaunter war Erika jedoch darüber, dass Melanie Berg ihn begleitete. Sie musste zugeben, dass Johannes die junge Frau ganz treffend beschrieben hatte. Sie war sehr hübsch und elegant, machte aber nicht den Eindruck, als fühlte sie sich auf dem Land sonderlich wohl.

»Die passt wirklich net hier her«, murmelte sie, als draußen schwungvoll am Klingelstrang gezogen wurde. Flink war Erika an der Tür und lachte, als Benjamin sie herzlich in die Arme schloss.

»Erika, mei, wie freu ich mich, dich zu sehen!«, rief er begeistert. »Und hier hat sich freilich gar nix verändert. Ich fühl mich gleich wieder ganz daheim. Nur der Onkel Johannes fehlt mir zu meinem Glück noch.«

»Der fehlt uns allen hier. Aber ich glaub, die Leut sind auch ein bisserl neugierig auf dich.«

»Woher wissen sie denn, dass Benjamin die Vertretung für seinen Onkel übernimmt?«, fragte Melanie irritiert.

»Wir sind hier auf dem Land, junge Frau«, erklärte Erika ein wenig distanziert. Von Nahem mochte sie die Ärztin noch weniger, denn sie konnte sehen, dass Johannes sich tatsächlich nicht geirrt hatte: Melanie Berg hatte kalte Augen. »Ein jeder im Dorf weiß über den Unfall des Doktors Bescheid. Und seine Patienten wollen freilich wissen, was nun wird, bis er wieder auf den Beinen ist.«

»Erika, das ist die Melanie Berg, meine Freundin und Kollegin«, stellte Dr. Hoffmann sie vor. »Wir werden uns die Arbeit teilen, das hab ich schon mit dem Onkel abgesprochen.«

»Na, mir soll’s recht sein«, brummte die Hauserin ein wenig verstimmt, denn die junge Ärztin hatte ihre ausgestreckte Hand glatt ignoriert. Manieren schien sie auch keine zu haben. »Dann zeig ich euch jetzt eure Zimmer. Wann soll ich denn das Mittagsmahl richten?«

»Das überlass ich dir«, meinte Benjamin. »Ich schau mich erst mal in der Praxis um und richte mich dort ein. Morgen will ich die Sprechstunde halten und auch die Hausbesuche machen, damit die Leut sich schon mal an mich gewöhnen.«

Erika lächelte wohlwollend. Johannes schien tatsächlich die richtige Wahl getroffen zu haben. Der junge Doktor machte einen tüchtigen Eindruck auf sie.

»Gibt es ein separates Bad?«, fragte Melanie gequält. »Und was das Essen angeht, ich habe da so meine Vorlieben und Abneigungen. Vielleicht machen Sie sich ein paar Notizen, damit es da zu keinen unliebsamen Überraschungen kommt.«

»Ich fürchte, das ist schon geschehen«, schnaubte Erika und verschwand in der Küche. Die Tür fiel mit einem Knall hinter ihr ins Schloss.

Melanie hob pikiert die Augenbrauen. »Was ist denn das für ein Benehmen? Ist das auf dem Land etwa auch normal?«

»Mei, Liebes, eine Hauserin sollte man doch net ganz so roh anfassen, wie du das eben getan hast. Ich red nachher mit der Erika. Und in Zukunft bist vielleicht ein bisserl freundlicher zu ihr, einverstanden? Komm, wir schauen uns die Praxis an!«

Sie seufzte leise. »Von mir aus. Schlimmer kann’s ja nimmer kommen …«

***

Am nächsten Tag füllte sich das Wartezimmer im Doktorhaus von St. Annen wie gewohnt. Die Patienten spitzten neugierig auf die Vertretung, und ein jeder wollte nur vom »jungen Doktor persönlich« behandelt werden. Melanie sah sich zur Assistentin degradiert, ließ sich das allerdings zähneknirschend gefallen.

Benjamin meinte, als der letzte Patient gegangen war: »Du hast dich toll gehalten, Liebes. Ich dank dir von Herzen, warst mir wirklich eine große Stütze.«

»So? Ich hatte eher den Eindruck, dass ich neuerdings unsichtbar bin«, brummte sie übellaunig.

»Jetzt komm, schauen wir mal, was die Erika uns Schönes gezaubert hat! Und nachher erledigen wir noch die Hausbesuche zusammen. Oder magst net?«

»Ich komm schon mit«, seufzte sie und fügte noch versöhnlich hinzu: »Zum Mittag und zu den Hausbesuchen.«

»Es wird gewiss ein bisserl dauern, bis du dich eingelebt hast. Aber warte es nur ab, es wird! Ich hab mir gedacht, dass wir morgen den Onkel im Spital besuchen. Ist schließlich Mittwoch, unser freier Nachmittag. Oder hast du an was anderes gedacht?«

Melanies Lächeln fiel säuerlich aus. »Ganz wie du willst …«

Erika hatte einen Kaiserschmarren gerichtet, wie Benjamin erfreut feststellte. Melanie hingegen schob ihr Essen nur ein wenig auf dem Teller herum.

»Hast du keinen Hunger, Schatz?«, wunderte der junge Arzt sich. »Oder magst du keinen Kaiserschmarren?«

»Wenn ich mir das ansehe, sind darin vermutlich nicht weniger Fett und Kalorien als in einem Hamburger. Und über den hast du neulich verächtlich die Nase gerümpft.«

»Hamburger sind Fertigessen. Das hier ist selbst gekocht, das kannst du wirklich net vergleichen«, stellte er richtig.

»Und warum net? Steht deine Erika etwa unter Denkmalschutz?«

Benjamin warf seiner Freundin einen ärgerlichen Blick zu. Es hatte ihn reichlich Überredungskunst gekostet, Erika am Vortag zu versöhnen. Wenn sie erfuhr, wie Melanie über ihr Essen redete, würde sie vermutlich in einen unbefristeten Streik treten. Und das wäre dem jungen Arzt gar nicht recht gewesen.

»Sei bitte net überkritisch! Die Erika kocht das, was mein Onkel gerne isst. Auch daran müssen wir uns gewöhnen.«

»Aber sie kocht jetzt für uns. Ist es denn wirklich zu viel verlangt, dass sie sich ein klein wenig danach richtet?« Sie begegnete Benjamins unwilligem Blick und seufzte. »Schon gut, vergiss es! Ich werde mir das Zeug halt reinwürgen.«

Die Hausbesuche gestalteten sich für Melanie ähnlich wie die Sprechstunde am Vormittag. Niemand beachtete sie wirklich, nur Benjamin wurde als »Doktor« angesprochen, während sie das »Fräulein beim Doktor« war. Auf dem Heimweg platzte ihr der Kragen. »Wenn das so weitergeht, fahre ich nach Hause. Es ist mir nicht zuzumuten, unter diesen Umständen zu arbeiten«, beschwerte sie sich bitter. »Du scheinst das ja alles ganz normal zu finden.«

»Bitte, Melanie, beruhige dich!«, bat der junge Mediziner entnervt. »Du kannst doch net verlangen, dass die Leut, die dich überhaupt net kennen, gleich Zutrauen zu dir haben und dich respektieren. So was muss man sich erst erarbeiten.«

»Und warum respektieren sie dich? Du bist auch ein Fremder.«

»Sie kennen mich, weil ich der Neffe vom Johannes bin«, hielt er ihr geduldig entgegen. »Ich war früher oft hier und …«

»Als Bub, ja, aber das ist lange her. Versuch doch net, mir was einzureden! Es ist ganz einfach so, dass ich nicht hierher passe. Ich hätte mich nie auf diese Sache einlassen sollen!«

Benjamin sagte dazu nichts weiter, doch er wurde das ungute Gefühl nicht los, dass Melanie gar nicht so unrecht hatte …

Als sie am nächsten Tag nach Bischofswiesen ins Spital fuhren, hatte die junge Ärztin noch immer schlechte Laune. Obwohl Benjamin sich sehr bemüht hatte, sie zu versöhnen, schien sie ihm alles, was ihr hier nicht gefiel, heimlich zum Vorwurf zu machen. Und es gab wohl nichts, was ihr gefiel.

Johannes Hoffmann freute sich sehr, seinen Neffen zu sehen. »Ach, mir fällt die Decke auf den Kopf«, beschwerte er sich. »Wenn ich nur endlich wieder heimdürfte!«

»Aber, Onkel, du bist net einmal eine Woche hier und schmiedest schon Fluchtpläne? Das ist recht verwegen.«

Der Landarzt lachte. »Du kennst doch den Spruch, dass Ärzte die schlimmsten Patienten sind. Was macht die Praxis?«

»Es hat sich gut angelassen. Gestern haben Melanie und ich die erste Sprechstunde abgehalten und auch Hausbesuche gemacht.« Der junge Arzt lächelte schmal. »Die Leut haben sich ohne Probleme an die Vertretung gewöhnt. Ich hatte keine Schwierigkeiten. Du kannst also in aller Seelenruhe gesund werden. Was sagen denn die Kollegen hier?«

»Mindestens noch eine Woche muss ich bleiben. Die Frakturen heilen recht gut. Wenn alles so weitergeht, kann ich mich auch daheim auskurieren.«

Benjamin lachte. »Das wird die Erika freuen. Sie vermisst ›ihren‹ Doktor nämlich schon sehr.«

»Tatsächlich? Ich dachte, ein nettes junges Paar wäre mal eine Abwechslung für sie«, scherzte Johannes. »Wie fühlst du dich denn bei uns auf dem Land, Melanie? Geht’s auch?«

Die junge Frau hatte die ganze Zeit schweigend neben Benjamin gestanden, nun erklärte sie vage: »Es geht schon, danke.«

»Ich weiß, was ich euch zumute. Aber ich hab halt keinen Fremden in meiner Praxis haben wollen. Und ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann, Benjamin. Du hast was auf dem Kasten. Vor allem die Alternativmedizin, die hat es mir angetan. Du hast bei meinen Besuch so anschaulich drüber geredet.«

»Bitte entschuldigt mich kurz!«, meldete sich Melanie nun zu Wort und verließ rasch das Krankenzimmer.

Der alte Landarzt stutzte. »Was hat sie denn? Hab ich vielleicht was Falsches gesagt?«

Benjamin seufzte. »Die Naturheilkunde ist ein Streitpunkt zwischen uns. Melanie kann der Sache nix abgewinnen, sie ist eben Schulmedizinerin mit Leib und Seele.«

»Aber sie könnte was von dir lernen. Ich finde, es ist allerweil sinnvoll, seinen Horizont zu erweitern.«

»Das kannst du ihr ja mal sagen«, scherzte der junge Mann ein wenig lau.

Johannes schaute seinen Neffen aufmerksam an. »Sag mal, Benjamin, bist du auch glücklich? Ich meine … Mei, ich will mich net in dein Leben einmischen, du bist erwachsen. Aber wenn ich dich so anschau, dann kommt es mir so vor, als läge da einiges im Argen, hab ich recht?« Da er ein wenig mit einer Antwort zögerte, fügte Johannes hinzu: »Wenn du net mit mir darüber reden magst, sag es nur. Dann bin ich still.«

»Mei, Onkel Johannes, du liegst wirklich net ganz daneben«, gestand Benjamin ihm da zu. »Zwischen der Melanie und mir läuft leider net alles rund. Ich mag jetzt net hinter ihrem Rücken darüber reden. Aber manchmal frag ich mich halt auch …« Er lächelte vage. »Ach, vergiss es! Schließlich wird überall nur mit Wasser gekocht, gelt?«

Johannes seufzte leise. »Ich wünsch mir, dass du glücklich bist im Leben, Bub. Das bedeutet mir wirklich viel.«

»Ich weiß. Und ich dank dir dafür.« Benjamin drückte die gesunde Hand seines Onkels herzhaft. »Jetzt sollte ich mal schauen, wo die Melanie abgeblieben ist. Ich seh bald wieder nach dir, versprochen.«

»Kümmere dich nur um die Praxis, dann bin ich zufrieden! Und ich werde mich mit dem Gesundwerden beeilen.«

Benjamin lächelte. »Ist schon recht, Onkel.«

Er verließ das Krankenzimmer und schaute sich um. Melanie war nirgends zu sehen. Sie saß bereits im Auto und blickte trübsinnig vor sich hin. Benjamin fragte sich, was er falsch gemacht hatte. Er liebte Melanie und wollte sie glücklich sehen. Doch was immer er tat, es schien einfach nicht dazu angetan zu sein, dieses Ziel zu erreichen.

Er setzte sich hinters Steuer und schaute sie aufmerksam an. »Warum bist du einfach gegangen? Der Onkel hätte sich gerne noch ein bisserl mit dir unterhalten.«

»Ich aber net mit ihm. Sei mir net bös, Ben, ich hab Kopfweh. Lass uns nach St. Annen fahren, ich würde mich gerne ein bisserl hinlegen.«

»Okay, wie du willst«, gab er nach. Doch er wurde den Eindruck nicht los, dass dies nicht alles war, was sie bedrückte. Melanie war nicht ehrlich zu ihm, das spürte er nur allzu deutlich. Und es machte ihm Angst, denn er wollte sie nicht verlieren.

***

Zwei Tage später hatte Benjamin alle Hände voll zu tun. Das Wartezimmer war bis auf den letzten Platz besetzt, sein Beliebtheitsgrad schien sprunghaft angestiegen zu sein.

Resi Angermaier brachte es dann auf den Punkt. »Ich hab so viel Gutes über Sie gehört, Herr Doktor. Wissen Sie, mein Vater ist bettlägerig und leidet recht unter diesem Zustand. Können Sie ihm net was verschreiben, dass er nimmer so deprimiert ist? Aber was Pflanzliches, gelt?«

Benjamin, der sich den Patienten bei seinem letzten Hausbesuch bereits angeschaut hatte, wusste Rat. Er gab Resi Tabletten mit einem Extrakt aus Johanniskraut mit und auch ein homöopathisches Mittel, das die Psyche stabilisieren sollte. Die Bäuerin trug die Sachen stolz aus dem Sprechzimmer.

»Und wenn Sie das nächste Mal zum Hausbesuch kommen, Herr Doktor, dann bringen Sie einen guten Appetit mit, gelt?«, bat sie herzlich. »Ich möchte Ihnen nämlich zeigen, was ich besonders gut kann: Kochen!«

Benjamin versprach es und fühlte sich geschmeichelt.

Dass die Menschen in St. Annen so viel auf seine alternativen Heilmethoden gaben, ermutigte ihn aufs Neue. Melanies abfällige Äußerungen waren da nicht sehr hilfreich gewesen. Doch nun erlebte er einmal mehr, wie gut diese Dinge von den Kranken angenommen wurden, wenn sie spürten, dass sie ihnen halfen.

Bester Laune verließ er wenig später das Sprechzimmer. An diesem Vormittag hatte er die Sprechstunde allein abgehalten, weil Melanie sich nicht gut gefühlt hatte. Er wollte nach ihr sehen, denn er machte sich doch Sorgen um sie. Sonst ging es ihr eigentlich immer gut, sie hatte eine robuste Natur.

Als Benjamin in Melanies Zimmer kam, war dieses allerdings leer. Auch in der guten Stube hielt die junge Ärztin sich nicht auf. Also spitzte er in die Küche, wo Erika gerade das Mittagsmahl kochte, und fragte nach Melanie.

»Die ist weggegangen, schon vor einer Weile.« Die Hauserin warf einen skeptischen Blick in einen Topf. »Ich hoffe, sie kommt bald zurück, bevor der Spinat zu weich wird.«

»Wir essen wie immer«, erklärte Benjamin. »Melanie weiß das, sie wird schon kommen.« Er wunderte sich über ihr Verhalten und fragte sich, wohin sie wohl gegangen sein mochte.

Tatsächlich erschien die junge Frau pünktlich zum Essen. Sie hatte Farbe und wirkte ausgeglichen und zufrieden. Als Benjamin sie darauf ansprach, meinte sie leichthin: »Ein Gang durch die frische Luft kann Wunder wirken. Ich fühle mich wieder gut.«

»Ich dachte, die Landluft stinkt«, stichelte er.

»Mag sein.« Sie aß mit Genuss und lobte Erikas Kochkünste, als diese den Nachtisch brachte. Die Hauserin war darüber ebenso überrascht wie der junge Doktor.

»Du scheinst dich allmählich hier einzuleben«, stellte er ein wenig unsicher fest, denn so ganz konnte er das nicht glauben. Noch vor Kurzem hatte Melanie schließlich an allem etwas auszusetzen gehabt. Dass es ihr nun mit einem Mal in St. Annen gefiel, nahm er ihr nicht wirklich ab.

»Ich gebe mir Mühe«, behauptete sie. »Wie war denn die Sprechstunde? Ich nehme an, du bist auch gut ohne mich zurechtgekommen, net wahr?«

»Es ging gut. Und wohin bist du spaziert?«