Heimat - Simone Egger - E-Book

Heimat E-Book

Simone Egger

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Beschreibung

Was ist Heimat?

Ist Heimat ein Ort? Ist es der Ort, an dem wir geboren sind? Oder der Ort, an dem wir gerade leben? Ist Heimat ein Geruch, eine Sprache oder eine bestimmte Person? Lebt sie in der bloßen Erinnerung oder formen wir sie im täglichen Leben ständig neu? Und wann wird das Fremde zur Heimat? Simone Egger geht all diesen Fragen nach, Fragen, die sich jeder bereits gestellt hat und die sich im Laufe des Lebens immer wieder stellen. Sie berichtet von den Anfängen eines Begriffs, von der Entstehung und Verbreitung von Heimat-Bildern und -Gefühlen und nicht zuletzt davon, wie sie gewinnbringend vermarktet werden. Ein äußerst facettenreiches Buch über Lieblingsspeisen und andere Herzensangelegenheiten, über persische Karnevalsprinzen und afrikanische Dirndl-Schneiderinnen, den Kampf um bezahlbaren Wohnraum, die Erfolgsgeschichte des Regionalkrimis – und vieles mehr.

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Seitenzahl: 317

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Spuren in der Gegenwart

In der Münchner U-Bahn sitzen vier Damen mittleren Alters in historischen Kostümen aus der Zeit des Biedermeier. Ein ungewöhnlicher Anblick, aber die Gruppe ist auf dem Rückweg von einer Veranstaltung, dem Stadtgründungsfest am 15. Juni 2013. Über die auffälligen Kleider entspinnt sich ein Gespräch mit einem jungen Ehepaar, das gegenüber Platz genommen hat. Der Mann sagt ein paar Worte, er spricht Deutsch mit arabischem Akzent, seine Frau lächelt.

»Sie kann kein Deutsch«, bemüht er sich zu erklären.

»Die Sprache«, betont die Dame gegenüber, »die Sprache ist aber so wichtig.« Sie habe selbst im Ausland gelebt, sie weiß, dass die Sprache der Zugang zu einer Kultur ist. Gerade wenn man sich nicht auskennt und sich fremd fühlt.

Ihm gefällt es hier, sagt der junge Mann, die andere Kultur, alles sehr interessant. Wo sie denn gewohnt hat, fragt er zurück.

»In Ungarn, mein Mann stammt von dort«, antwortet die Frau. Dann sind sie nach Deutschland gezogen. »Aber jetzt möchte er gerne wieder zurück, das Heimweh.«

Der junge Mann nickt, zunächst hat er auch vorgehabt, in seine erste Heimat zurückzugehen, er verweist auf seine Frau. Er wollte nur zum Studium in Deutschland bleiben. Aber jetzt hat er sich eingelebt, eine Rückkehr hält er für ausgeschlossen.

»Das ändert sich im Alter«, meint seine Gesprächspartnerin, »im Alter wächst die Sehnsucht nach zu Hause, dem Ort, aus dem man kommt.«

Heimat steht für Familie. Heimat meint Erinnerungen. Heimat lässt sich verorten. Heimat kann man riechen, schmecken, fühlen. Heimat ist da, wo das Herz wehtut. Heimat, das sind Gefühle und Emotionen. Diese Eigenschaften erscheinen beinah zeitlos. Die Welt hat sich aber in den vergangenen 200 Jahren rasant gewandelt, gerade in den letzten Jahrzehnten sind in rascher Folge immer neue Möglichkeiten und Entwicklungen hinzugekommen. Alles ist in irgendeiner Form erreichbar geworden. Die Menschen sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts mobiler und vernetzter als jemals zuvor. Über das Internet lassen sich nicht nur Informationen rund um den Globus einholen, sondern auch Menschen in allen Regionen der Erde kontaktieren. Vor diesem Hintergrund stellt sich natürlich auch die Frage, ob so etwas wie Heimat inzwischen nicht hoffnungslos veraltet ist. Hat Heimat überhaupt noch Bestand?

In den letzten Jahren ist Heimat wieder ein großes gesellschaftliches Thema geworden. In ganz unterschiedlichen Bereichen wird über Heimat gesprochen und nachgedacht. Nicht immer tragen diese Debatten dasselbe Etikett. Heimatliches gibt es heute in allen erdenklichen Formen und Farben zu kaufen. Inzwischen hat sich eine eigene Ästhetik entwickelt. Die pinkfarbene Kuckucksuhr etwa steht für Verbundenheit und ist zugleich modern. Pop und Heimat schließen sich nicht mehr aus, sondern sind längst eine neue Verbindung eingegangen.

In wirtschaftlich angespannten Zeiten wird auch das Eigenheim zusehends aufgewertet. Man zieht sich dahin zurück, wo man sich sicher fühlt. Gleichzeitig bedrohen explodierende Mieten und unvorhersehbare Flutkatastrophen die Orte, die für das Selbstverständnis so viel bedeuten, weil sie Heimat sind. Auch Themen wie »Flucht« und »Vertreibung« haben damit zu tun – wann ist Heimat schließlich wichtiger als im Augenblick des Verlusts? Immer wieder wird Heimat infrage gestellt. Im Laufe eines Lebens muss man sich heute oft mehrfach entscheiden und orientieren. Was ist mir wichtig, wo fühle ich mich verstanden und wo gehöre ich hin?

Die Frage nach der eigenen Zugehörigkeit ist und bleibt eine Frage, die alle Menschen betrifft. Grund genug also, über Heimat nachzudenken und sich auf die Suche zu begeben. Was macht Heimat in der Gegenwart aus? Welche Rolle spielen die Krisen und Konflikte der Welt, wenn es um das persönliche Verständnis von Heimat geht? Und wie wird Heimat heute wahrgenommen?

Was Heimat im Einzelnen heißt, muss jeder für sich selbst wissen. Eine allgemein gültige Definition gibt es nicht. Während manche an einem ganz konkreten Haus oder einer Region festhalten, ist es für andere die Familie oder der Freundeskreis, worauf sie sich in erster Linie beziehen. Wieder andere erklären, dass sie Heimat in einem Gegenstand verkörpert sehen. Das eigene Sofa oder die von der Großmutter geerbten Ohrringe stehen für Geborgenheit und das Verbundensein mit einer Geschichte. Heimat hat viel mit der Gegenwart zu tun, lebt aber auch von Erinnerungen. Aus anderen Zeiten ist Heimat mit einer Fülle von Bildern und Stimmungen aufgeladen.

Hermann Bausinger hat sich eingehend mit dem Thema befasst. Der bekannte Tübinger Kulturwissenschaftler nimmt an, dass »Heimat … – um nur weniges anzudeuten – ganz überwiegend als eine Form der inneren Einstellung verstanden und weithin an Erinnerungen festgemacht wird … aber auch, als ein Eindruck von Lebensqualität, an äußere Bedingungen gebunden werden [kann]; Heimat kann begründet werden in der Tradition und den Traditionen, kann aber auch als Ergebnis gegenwärtiger Aneignungen und Auseinandersetzungen verstanden werden.«1

Bausinger spricht nicht von einem feststehenden Begriff, sondern er zeigt an einer Vielzahl von Möglichkeiten auf, was Heimat ist und sein kann. Anhand von unterschiedlichen Aspekten eröffnet er ein Spannungsfeld, das die eigene Wahrnehmung ebenso mit einbezieht wie die Auseinandersetzung mit anderen.

Neben den wechselnden Befindlichkeiten jedes Menschen wirken äußere Bedingungen auf das Verständnis von Heimat. Das können die politischen Umstände in einem Land sein, das soziale Umfeld oder Probleme bei der Arbeit, ein schreckliches Unwetter oder die aktuelle Wohnsituation. Auch zeitlich legt sich Bausinger mit Blick auf die Heimat nicht fest, die Verortung in der Vergangenheit kann eine Rolle spielen, aber auch die Suche nach sich selbst und seinem Zuhause im Hier und Jetzt. In jedem Fall ist Heimat kein Harmonieraum, sondern eingebunden in Voraussetzungen und Situationen und muss immer wieder neu ausgehandelt werden.2

Der Begriff lässt sich längst nicht mehr mit einem Wort erklären. Der Blick auf das, was Heimat ist oder ausmacht, muss weiter gefasst werden. Heimat, das ist nicht nur ein Ort oder ein Bild. Was Heimat ist, kann sich im Laufe eines Lebens verändern. Mit der Globalisierung steigt die Wahrscheinlichkeit, dass wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden müssen. Heimat ist immer auch ein Prozess. An der eigenen Biografie wird sichtbar, wie sich Heimat über die Jahre gewandelt hat. Menschen können ihre Heimat verlieren, sich aber auch neue Heimaten aneignen. Einmal ist Heimat der Geschmack von Erdbeeren im Sommer, ein anderes Mal das Notebook, das für die Kontakte zu Freundinnen und Freunden steht. Heimat kann eine gestrickte Decke sein und ebenso die Welt eines Computerspiels. Heimat ist eine öffentliche Angelegenheit und zugleich sehr privat. Es gibt dennoch Momente, die immer wieder auftauchen, und bei aller Vielfalt gibt es große Themen, die auch in den einzelnen Betrachtungen immer wiederkehren. Heimat hat vor allem einen räumlichen Bezug. Ein Haus, eine Wohnung, ein Zimmer, nichts steht so prägnant für »zu Hause« wie alle möglichen Orte, an denen man lebt oder an die man sich erinnert.

Heimat hat oft auch eine soziale Komponente, das heißt, Menschen fühlen sich heimisch im Kreise ihrer Lieben, in der Familie, unter Bekannten, unter Gleichgesinnten. Für die einen bedeutet Heimat, sich politisch zu engagieren, das Spektrum reicht vom Kaffeekochen für den Nachbarschaftsverein über den Einsatz in einer Kirchengemeinde oder die Gründung einer Bürgerinitiative bis hin zum Kampf gegen ein politisches Regime. Andere verstehen ihre Mitgliedschaft im Trachtenverein als Ausdruck von Heimatpflege. Immer geht es dabei um Herzensangelegenheiten.

Auch die bildliche Dimension von Heimat spielt eine Rolle. Manchmal reicht eine Vorstellung oder eine Idee, um Heimat zu empfinden. Sehnsuchtsorte wie die Küche der Großmutter, die man als Kind so geliebt hat, fallen ebenfalls in diese Kategorie. Mitunter ist auch die Vorstellung von einer vollkommenen Heimat für das eigene Leben wichtiger als das Heim, in dem man lebt, oder das Umfeld, in dem man sich bewegt. Die Welt lässt sich nicht in Ideale und Realitäten unterteilen. Träume, Bilder und Ideen wirken sich ganz wesentlich auf unser Leben aus und sind damit zentraler Bestandteil unseres Alltags. Heimat kann in einer Welt, in der nahezu alles denkbar und vieles möglich geworden ist, nicht auf eine einfache Formel gebracht werden. Dieses Buch ist vielmehr als Spurensuche zu verstehen, eine Spurensuche in spätmodernen Zeiten.

Erwin Wurm, »Narrow House«, Bundeskunsthalle Bonn, 2013 Wurm schrumpfte sein Elternhaus auf 1,2 Meter Tiefe

Heimat. Eine Biografie

Begriffsgeschichten – Vom Heimatrecht zur romantischen Idee

»Es gibt Wörter, bei denen die jahrhundertelange Benützung nicht dazu geführt hat, daß die alten Bedeutungen abgeschliffen wurden und die jetzige Substanz glatt und klar zutage tritt, die vielmehr die Nuancen früheren Gebrauchs mit sich tragen und deshalb von jeder Seite wieder etwas anders aussehen«,1 schreibt Bausinger.

Heimat, was meint das überhaupt? Nur wenige Wörter fassen so viele unterschiedliche Themen zusammen. Nur wenige Wörter stehen gleichzeitig für so viele verschiedene Bereiche. Nur wenige Wörter transportieren eine derart wechselvolle Geschichte und lassen sich doch immer wieder neu finden – und erfinden. Dabei kann man gar nicht mit einem Wort sagen, was Heimat eigentlich alles meint. Ist Heimat nun eher ein Ort, ein Gefühl oder vielleicht doch ein Ding, eine Sache? Oder ergibt sich Heimat vor allem aus der Beziehung zu anderen Menschen, aus der Liebe zu einer Partnerin oder einem Partner, aus dem Zusammenhalt von Freundeskreis und Familie? Während für die einen diese und jene Thematik im Vordergrund steht, legt ein anderer die Frage nach der Heimat vielleicht auch ganz anders aus. Manche sagen: »Die Heimat, klar, das ist der Ort, aus dem ich stamme.« Und manche meinen mit der gleichen Selbstverständlichkeit: »Heimat ist für mich die Verbindung zu den Leuten, die sich – ob Autotuning, Gartenarbeit oder Schachspielen – für das gleiche Hobby interessieren, die gleiche Musik hören oder in der gleichen Szene vernetzt sind.« Der Nächste will sich lieber in seiner Wohnung verkriechen, und Heimat bedeutet Ruhe und Frieden. Heimat ist die Phase, in der niemand stört. Für die einen mag ein einziger Aspekt zentral sein, für andere gilt genau das Gegenteil. Das gemütliche Wohnzimmer befindet sich dann gleich neben dem Musikantenstadl, die Nähe zu den eigenen Kindern trifft auf eine Sammelleidenschaft für Gartenzwerge. So unterschiedlich die Menschen sind, so unterschiedlich sind auch ihre Heimatbilder.

Bei jedem Versuch, die eine oder die andere Heimat zu beschreiben, scheint es aber immer um einzelne Momente zu gehen, die Teil eines größeren Ganzen sind. Bei jeder Definition von Heimat klingen im Hintergrund auch all die Facetten des Begriffs an, die gerade nicht zur Sprache kommen. Gängige Vorstellungen und typische Debatten sind selbst dann präsent, wenn es um ein individuelles Verständnis von Zugehörigkeit geht. Gerade diese Überlagerungen machen die besondere Vielfalt des Heimatbegriffs aus.

Vielleicht ist es letzten Endes aber auch gar nicht so wichtig, ob Heimat nun etwas Materielles oder etwas Ideelles, eine bestimmte Speise, einen Landstrich oder einen ganz besonderen Geruch meint, ob Heimat nun eher für Zugehörigkeit, für Freundschaft oder für Sicherheit steht. Wichtig ist, was Menschen in unterschiedlichen Zusammenhängen empfinden und was das Wort »Heimat« sein kann. Das Spannende daran sind ja gerade die verschiedenen Zuschreibungen, die den Begriff so schillernd erscheinen lassen. Einerseits wird die Frage nach Heimat von allen Menschen im Laufe ihres Lebens immer und immer wieder neu diskutiert. Andererseits hat Heimat auch eine historische Dimension, aus der sich die Tiefe des Wortes ableiten lässt. Die vielen Versatzstücke kommen eben auch von der langen Verwendung des Begriffs, sagt Bausinger. Die Biografie des Wortes hat viel mit seiner Verwendung zu tun und verspricht Auskunft darüber, wie die Rede von der Heimat über die Jahrhunderte zu einem derart komplexen Thema geworden ist.

Nach Kluges etymologischem Lexikon war das Wort »Heimat« im Mittelhochdeutschen bereits vor dem 11. Jahrhundert bekannt und meinte in seiner ursprünglichen Bedeutung etwa so viel wie »Stammsitz«. Ebenfalls nahe liegt hier die Auslegung im Sinne von »Erbbesitz«, andere Zuschreibungen müssen jedoch Spekulation bleiben.2

Bis ins 19. Jahrhundert hinein sollte die Koppelung einer rechtlichen Ordnung mit der Bindung an einen konkreten Ort das Verständnis von Heimat im deutschsprachigen Raum bestimmen. Vor allem in Bayern, in Österreich und in der Schweiz ist der Bezug zwischen räumlichen Strukturen und dem Begriff noch über diese Zeit hinaus bekannt und macht ein wesentliches Merkmal von Heimat aus: die Bezogenheit auf eine Gegend oder Region.

Die Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus hat sich eingehend mit der Verknüpfung von Menschen und Orten auseinandergesetzt: »Bei ›Heimat‹«, erklärt die Wissenschaftlerin zur historischen Bedeutung des Begriffs, »handelt es sich entweder um die Gemeinde oder das nächstgrößere Territorium, die Grundherrschaft oder den Kanton (in der Schweiz) … [Gleichzeitig ist die] Heimat der Raum der Zuständigkeit, der Raum, der dem ›Heimatangehörigen‹, selbst wenn er verarmt ist, Schutz und Recht gewähren muß. Durch Heimatangehörigkeit erwarb man – durch Geburt, Heirat oder Einkauf – Heimatrecht.«3

Auf der gleichen Grundlage war es im Gegenzug aber auch möglich, die Heimat oder vielmehr das Heimatrecht zu verwirken, etwa wenn man sich zu lange Zeit an einem anderen Ort befunden hat. Das Absprechen jeglicher Unterstützung führt in diesem Zusammenhang zur Ausgrenzung aus einem bestimmten Areal, einem Dorf oder einer Stadt und damit immer auch aus einer Gemeinschaft. Der räumliche Bezug geht also mit sozialen Bindungen einher.

Gemäß der Redensart »Der Älteste kriegt die Heimat!«, in anderen Gegenden war es der jüngste Sohn, hatte auch im erbrechtlichen Sinne vielerorts nur einer aus der Familie einen Anspruch auf den elterlichen Hof. Die jüngeren oder älteren Geschwister hatten das angestammte Heim dagegen mittels Heirat oder als Gesinde zu verlassen und galten als Mägde oder Knechte ohne eigenen Grund, rechtlich gesehen, als heimatlos.4 Wurde das Erbe zu gleichen Teilen an die Geschwister vergeben, reichte der Ertrag auf Dauer auch nicht für alle. Im Laufe des Lebens blieb vielen Menschen also schon in früheren Zeiten nichts anderes übrig, als sich aufzumachen, um eine neue Heimat und damit ihr Glück zu finden.

Nun konnte das System des Heimatrechts in bestimmten Landstrichen, Städten und Gemeinden nur unter der Voraussetzung funktionieren, dass sich der größte Teil der Bevölkerung eher wenig bewegte, sondern dauerhaft an einem Ort verweilte. Im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung und mit dem steten Anwachsen der Bevölkerungszahlen aber verlangten bald gravierende Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft die zunehmende Mobilität von Arbeitssuchenden in ganz Europa. Arbeiterinnen und Arbeiter wurden vor allem dort gebraucht, wo es Arbeitsplätze gab. In dieser Epoche des Umbruchs und des Wandels war eine Rückkehr im Falle der Bedürftigkeit aber meist nicht mehr möglich. Besonders in den Randgebieten der großen Städte, doch auch auf dem Land stieg mit der Zeit auch die Zahl der Heimatlosen, für die niemand mehr zuständig war. Die veränderte Situation verlangte nach einer angepassten Regelung. Nachdem die Probleme von den herrschenden Mächten in Europa lange ignoriert worden waren, wurde das Heimatrecht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schließlich vom »Prinzip des Unterstützungswohnrechts« abgelöst. Dieses Recht sollte allen unter der Bedingung, dass sie mindestens zwei Jahre in der gleichen Stadt oder im gleichen Bezirk gemeldet waren, in einer Notlage unter die Arme greifen. Das ursprüngliche Heimatrecht begann sich nach und nach vom Ort der Herkunft abzukoppeln und zum späteren Staatsbürgerrecht zu entwickeln.5

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts löste sich der Begriff also zusehends aus einem eindeutigen Zusammenhang. Heimat wurde in dieser Zeit nicht nur zu einem Recht, sondern auch zu einer idealen Welt, die ohne konkreten Rückbezug funktionierte. Ganz im Sinne der Romantik wurden Sehnsuchtsorte geschaffen, die Heimat meinten, aber nicht mehr exakt bezeichneten, was und wo diese Heimat war. Bilder von Bergen, von rauschenden Bächen und blühenden Wiesen, von Frauen und Männern in Tracht, Jagdszenen mit Hirschen und Kühe auf der Weide wurden zu beliebten Sujets der Landschafts- und der Genremalerei, die in jenen Jahren zu den wichtigsten und vor allem meistverkauften Gattungen im Kunstbereich zählten.

Von zentraler Bedeutung ist hier die Verbindung zu einer neuen Gesellschaftsschicht, die sich ebenfalls in dieser Epoche zu etablieren begann: dem Bürgertum. In großer Zahl erwarben Bürgerinnen und Bürger beispielsweise die Gemälde der Münchner Schule und anderer Landschaftsmaler, die weit über die jeweiligen Stadtgrenzen hinaus für ihre pittoresken Darstellungen bekannt waren. Die damit verbundenen Vorstellungen vom Landleben konnten sich gerade in einer Zeit durchsetzen, in der so manches in Bewegung geriet. Mit der Industrialisierung begann sich der Alltag der Menschen in Europa und in anderen Teilen der Welt radikal zu verändern. In den Städten wurden nicht nur Fabriken gebaut. Für die industrielle Fertigung von Gütern wie zum Beispiel Lederwaren, Papier oder Automobilen bedurfte es zahlreicher Arbeitskräfte. Viele fühlten sich dadurch angezogen, verließen ihr Heimatdorf und zogen in die Stadt.

Zusehends wurde die Unterbringung zum Problem. Für Hunderttausende Menschen wurden Mietskasernen errichtet. Im städtischen Umfeld wohnten die meisten nicht mehr in einem einzelnen Haus oder auf einem eigenen Grundstück, sondern in einer Wohnung oder in einem Zimmer zur Untermiete. Gegenwelten zum oftmals rauen Alltag waren gefragt. Die Heimatbilder, die auch in vielen Gedichten und Romanen beschworen wurden, erinnerten an zu Hause oder schufen zumindest Orte, von denen sich träumen ließ.

Die Sehnsucht nach Heimat wurde aus unterschiedlichen Gründen zu einer Sehnsucht quer durch Schichten und Milieus. In diesem Moment entstand ein ideales Heimatbild, das aufzuheitern vermochte, an die Lieben zu Hause erinnerte und ein besseres Dasein versprach. Nicht nur in der Kunst wurde vor allem das Ländliche zur vollkommenen Lebenswelt erhoben. Vorstellungen von Schönheit und Natur verschmolzen zu einer Heimatästhetik. Die Probleme, die es in den Dörfern und auf den kleinen Bauernhöfen mit wenig Auskommen und vielen Kindern gab, oder die Armut, mit der viele Menschen gerade auch auf dem Land zu kämpfen hatten, wurden ausgeblendet. Heimat wurde zu einem Klischee, das Arbeiterinnen und Arbeiter über Schwierigkeiten hinwegtrösten konnte und in die bürgerlichen Stuben eine schwärmerische Idee von einem guten Leben brachte.

Gleichzeitig gab und gibt es Gegenden, die den romantischen Sehnsuchtsorten auf eine Weise entsprechen, dass einen das Gefühl nicht verlässt, dass das, was man da sieht, gar nicht wahr sein kann. Der Tegernsee etwa wirkt auf Besucher wie ein Gemälde, das Wirklichkeit geworden ist. Auch der Schliersee liegt malerisch in den Alpen. Vor historischen Bauerhäusern ragt der Kirchturm in dem gleichnamigen Ort am Seeufer in die Höhe. Die Menschen, die hier leben, wissen in der Regel, diese Bilderbuchqualitäten zu inszenieren. Gleichzeitig ist die Welt, die den Besuchern beinah allzu makellos erscheint, auch die Welt, in der die Menschen vor Ort tagtäglich leben. Ihre Heimat entspricht einem geradezu typischen Bild, das heißt aber nicht, dass eine weniger liebliche Umgebung nicht auch Heimat sein kann.

Schliersee

Um 1800 wurde die Landschaft und zumal die bayerische nicht nur im großen Stil als Motiv für Grafiken und Gemälde entdeckt. Vor allem Sportbegeisterte aus Großbritannien begannen sich für die Berge zu interessieren und gründeten sogenannte »Alpen-Clubs«. Der erste Verein dieser Art entstand 1857 in London, als Mitglieder des Adels im wahrsten Sinne des Wortes begannen, die Alpen zu erobern und aus sportlichem Interesse auf Berge zu steigen.

Gereist wurde freilich schon seit Jahrhunderten. Aus der Geschichte bekannt sind Wallfahrten und Handelsreisen, die Grand Tour, die zur Bildung junger Männer beitragen sollte, oder Kuraufenthalte, die sich in der Regel nur die Reichsten leisten konnten. Der Tourismus, wie wir ihn heute kennen, lässt sich in seinen Anfängen vor allem auf das 19. Jahrhundert zurückführen und hängt ebenfalls mit der Industrialisierung und ihren Auswirkungen auf die Gesellschaft zusammen. 1841 veranstaltete der Brite Thomas Cook die erste Pauschalreise, eine Bahnfahrt mit Nachmittagstee in die Umgebung von London. Auch Dampfschiffgesellschaften begannen sich im 19. Jahrhundert zu etablieren, und mit diesem Verkehrsmittel rückten auf einmal Ziele in fernen Ländern in greifbare Nähe. Erste Agenturen begannen Fahrten zu vermitteln und hatten die unterschiedlichsten Ferienorte im Portfolio. War diese Art der Unterhaltung zunächst den wohlhabenden Familien vorbehalten, begannen nach und nach auch Menschen aus anderen gesellschaftlichen Milieus zu reisen. Mit der Durchsetzung einer Sozialgesetzgebung, die wöchentliche Arbeitszeiten regelte und damit Freizeit und Ferien überhaupt erst ermöglichte, war die grundlegende Voraussetzung für den Tourismus geschaffen. Mit einem freien Sonntag und Anspruch auf Urlaub gab es auf einmal Raum für andere Betätigungen. Auch Arbeiterinnen und Arbeiter begannen sich nun in der Umgebung umzuschauen, machten Tagesfahrten in der Region und besuchten am Wochenende nahe gelegene Ausflugsorte. Dem Alpenverein und anderen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begründeten Gruppierungen dieser Art ging es vor allem um ein Erkunden der Natur.

Der Münchner Kulturwissenschaftler Burkhart Lauterbach ist ein Experte für die Entwicklungen dieser Zeit. »Es beginnt eine Intensivierung und Extensivierung des Reisens. Intensivierung, also eine Veränderung qualitativer Art, eine Verdichtung, bedeutet eine Verstärkung des Reisens insgesamt, ein Anwachsen der Anzahl von Reisezielen, von durchgeführten Reisen, von Reisenden, von Transportmitteln, von Strecken, von Reisegeschwindigkeiten, von Infrastruktur hinsichtlich Unterkunft und Verpflegung, von Ausrüstungsteilen, Informationsangeboten und vielem anderen mehr …«6

Für immer mehr Menschen wurde das Reisen mit all den Erfahrungen, die dazugehören, schon bald zu einem wesentlichen Bestandteil ihres Lebens. Mit Extensivierung meint Lauterbach, dass man auch eine Steigerung der räumlichen und der sozialen Reichweite beobachten konnte.

Menschen aus allen Schichten fahren heute in den Urlaub. Von Berlin aus geht es in die Dominikanische Republik, aus Oberschwaben fliegen rüstige Senioren für ein Wochenende nach Riga in Lettland. Für die einen meint Tourismus, dass sie eine Region, die vielen auch Heimat bedeutet, anpreisen müssen, für die anderen, dass sie bis dato unbekannte Gegenden kennenlernen und neue Heimatbilder etwa in Form von Souvenirs mit nach Hause bringen.

Eine wesentliche Voraussetzung für die Mobilität von Arbeitssuchenden auf der einen und die Möglichkeiten für Reisende auf der anderen Seite war die entsprechende Infrastruktur. In dieser Hinsicht brachte der Bau der Eisenbahn im 19. Jahrhundert in Europa und auch in anderen Teilen der Welt große Fortschritte. Regionen in Süddeutschland wurden mit dem Verlegen der Schienen genauso erschlossen wie Städte und Gemeinden an Nord- und Ostsee oder im Rheinland. Abgelegene Landstriche wie das bayerische Dorf Ruhpolding, dessen Bewohner bis dato vor allem durch das Schlagen von Holz ein karges Auskommen fanden, sollten mit dem Bahnhof nicht nur selbst in ein Verkehrsnetz eingebunden werden. Mit der Eisenbahn waren auch die Orte in der Umgebung mit einem Mal in verhältnismäßig kurzer Zeit erreichbar. Dies galt ebenso für Bewegungen aus der entgegengesetzten Richtung. Menschen aus der Stadt konnten mit dem Zug von nun an bequem ins Umland reisen. Für viele Bauernhöfe wurde aus der Not eine Tugend, als die ersten Feriengäste kamen und mitunter über Wochen blieben. Wer es sich leisten konnte, verließ vor allem im Sommer die Großstadt und bezog Quartier auf dem Land. Die Bäuerin richtete dafür die Zimmer her, stellte die Stube zur Verfügung und verköstigte die Städterinnen und Städter gegen gute Bezahlung. Die eigene Familie musste dafür auf einigen Quadratmetern zusammenrücken. Weniger vermögende Feriengäste begnügten sich beispielsweise mit Fahrten zu nahe gelegenen Seen. Dieses Phänomen war nicht nur in Bayern, Sachsen und Preußen und später im Deutschen Kaiserreich, sondern auch in anderen europäischen Nationen und Monarchien wie etwa in Frankreich oder in Österreich zu beobachten.

Unter denen, die manchmal über Monate außerhalb der Stadt weilten, waren zahlreiche Künstlerinnen und Künstler. Während die einen zur Untermiete oder in Ferienwohnungen lebten, bezogen andere auch eigene Anwesen, und manche blieben sogar für immer auf dem Land. Der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Thomas Mann beispielsweise ließ sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Haus in Bad Tölz bauen, in dem die Familie glückliche Sommermonate verlebte. Im Verlauf des Ersten Weltkriegs verkaufte er die Villa und erwarb von dem Erlös Kriegsanleihen, die zu großen Verlusten führten. Nach mehreren Aufenthalten im Süden reisten die Manns auch in den Norden. Die Familie des »Zauberers« stammte schließlich aus Lübeck. 1929 ließen sich Thomas und seine Frau Katja ein Ferienhaus im baltischen Nida an der Kurischen Nehrung errichten, das sie bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs mit den jüngeren Kindern regelmäßig besuchten.

Die Künstlerinnen und Künstler genossen nicht nur eine erholsame Zeit auf dem Land, sondern beschäftigten sich auch mit den Lebenswelten vor Ort. Die Malerin Gabriele Münter und der Maler Wassily Kandinsky waren von der Region um Murnau am Staffelsee derart angetan, dass sie dort dauerhaft wohnten. Der Kirchturm, den man schon vom Bahnhof aus sehen kann, und die Kühe auf der Weide waren die Motive, aus denen Kandinsky schließlich seine abstrakten Formen entwickeln und damit die moderne Kunst begründen sollte. Gabriele Münter hielt nicht nur die Landschaft fest, sondern übersetzte die Atmosphäre in leuchtende Farben. Vom Nachbarn in Murnau ließ sich das Paar in das Handwerk der Hinterglasmalerei einführen, und auch andere Kollegen reisten an und suchten die Nähe zur Natur. Das blaue Land, wie die Gegend auch genannt wird, bot dafür den entsprechenden Raum.

Ostsee

Die Künstlerschaft im Norden des Deutschen Kaiserreichs zog es ebenfalls hinaus, sie wohnten und arbeiteten unter anderem auf Usedom und auf Hiddensee. Neben Malern und bildenden Künstlern reisten auch Komponisten, Musiker oder Dichter in schöne Gegenden, um sich inspirieren zu lassen. Die Toskana oder der Lago Maggiore waren und sind ebenfalls beliebte Reiseziele. Einige kamen ursprünglich auch selbst vom Land und kehrten im Laufe ihres Lebens wieder dorthin zurück. Der belgische Künstler James Ensor etwa zog nach Jahren in Brüssel wieder in seinen Heimatort Ostende, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1949 blieb. Direkt und indirekt beeinflusst die Landschaft die Kunst, manchmal findet sie sich ganz konkret auf Gemälden wieder, manchmal beeinflusst sie die Stimmung, in der ein Bild, eine Symphonie oder ein Gedicht entstanden ist.

Ein beliebtes Sujet im 19. Jahrhundert waren Trachtengrafiken, die den ästhetischen Wert der Folklore mit einem ethnografischen Interesse an Land und Leuten verbanden und gerade in der Stadt überaus beliebt waren. Damit wurden aber auch Typen festgeschrieben, ein unbeschwerter Alltag wurde unterstellt, obwohl sich die dörflichen Lebenswelten im Umbruch befanden und die Menschen nicht den ganzen Tag in ihrem Sonntagsstaat posierten. Derartige Sammlungen gab es in vielen Regionen, im Nationalmuseum von Estland sind solche Bilder heute ebenso zu finden wie im Ethnografischen Museum von Kroatien. Mit der Weiterentwicklung der Drucktechnik konnten die Klischees im wahrsten Sinne des Wortes massenhaft hergestellt und vervielfältigt werden.

Für die Verbreitung von Ideallandschaften war besonders die Erfindung der Ansichtskarte ein zentrales Moment. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war die Correspondenzkarte als Medium aufgekommen. Der Fotograf Alphons Adolph schuf 1877 im sächsischen Löbau die erste Bildpostkarte. Nach diesem Startschuss breitete sich diese Form der Nachrichtenübermittlung weltweit aus. Auch die sozialen Netzwerke der Gegenwart funktionieren nach Adolphs Prinzip. Die Information besteht aus dem Namen der Absenderin oder des Absenders, dem Namen der Empfängerin oder des Empfängers, einem kurzen Text und einem Bild.

Der Gruß aus Portugal landet heute nicht mehr zwingend in Papierform im Briefkasten, sondern gelangt über den Zugang zu Twitter oder Facebook in den digitalen Posteingang. Gemeint und übermittelt wird letzten Endes aber doch das Gleiche. Familie und Freundeskreis können sich zu Hause über ein historisches Gebäude in Marokko, eine Seenlandschaft in Polen oder einen schneebedeckten Gipfel in Nepal freuen. Damit erweitert sich gleichzeitig das Spektrum dessen, was Heimat sein kann und, wie im 19. Jahrhundert, sein soll.

Der Begriff»Heimat« ist im Deutschen untrennbar mit der Geschichte Deutschlands verbunden. Zu den anderen deutschsprachigen Nationen gibt es viele Verbindungen und Verweise, und doch ist die Biografie des Wortes nicht deckungsgleich. Oft wird behauptet, dass der deutsche Begriff »Heimat« geradezu einzigartig ist. Das gilt sicher für die Vielfalt seiner Bedeutungen innerhalb der deutschen Sprache. Vielleicht ist die deutsche Bezeichnung im Vergleich zu anderen Sprachen auch besonders präzise. Womöglich gibt es jedoch in der Mongolei oder im Süden von Ecuador einen Begriff, der noch genauer trifft, was mit »Heimat« alles gemeint sein kann. Und wenn es auch nicht unbedingt ein eigenes Wort gibt, das Gefühl des Dazugehörens, Angenommenseins oder Sichwohlfühlens ist doch überall auf der Welt bekannt. Jemand, der von »Home« spricht, wird damit ebenso seine Vorstellung von zu Hause ausdrücken. »Heimat« ist ein deutsches Wort mit einer ganz eigenen Biografie, die über einen langen Zeitraum entstanden ist und sich wie eine Kulturgeschichte der Regionen liest, die Deutschland heute ausmachen.

Die Verbindung von politischen Zielen und dem Heimatbegriff, die Hinwendung zum Nationalen hat ihren Ursprung ebenfalls in der Romantik. Heimat ist aber auch nicht per se deckungsgleich mit der Idee einer Nation. Heimat ist nicht Deutschland und auch nicht zwingend Australien, Indonesien oder die Schweiz. Selbstverständlich kann man Italien als seine Heimat oder als einen Sehnsuchtsort empfinden, aber Zugehörigkeit muss – und das wird oft falsch verstanden – wie das Gefühl, zu Hause zu sein, nichts mit Grenzen, Pässen und anderen Regelungen zu tun haben.

Und noch eine weitere Perspektive nimmt ihren Anfang im 19. Jahrhundert. Im Auftrag einzelner Herrscherhäuser wurden bereits im späten 18. Jahrhundert in Europa sogenannte Statistiken verfasst. Systematisch verzeichnet wurde, wie und wovon die Untertanen lebten, wie sie wohnten, wie ihre Familien zusammengesetzt waren, was sie arbeiteten, wie viel sie verdienten und so weiter. Diese Aufnahme von Informationen diente dem Regieren, noch heute verspricht Wissen vor allem Macht. Anfang des 19. Jahrhunderts begannen zunächst Lehrer und Theologen, ihre Umgebung zu untersuchen und Aufzeichnungen über regionale Eigenheiten anzufertigen. Von der Gestaltung der Trachten über den Ablauf von Bräuchen bis hin zu den Formen der Hausgiebel notierten diese Heimatforscher alles, was ihnen wichtig erschien. Im Zuge einer wachsenden Begeisterung für alles Regionale fanden sich im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts viele Gleichgesinnte zusammen und riefen unzählige Vereine und Museen ins Leben. Eine große Welle setzte in den 1880er Jahren ein, gleichzeitig wurden Wörter wie »Heimatschutz«, »Heimatkunst« oder auch »Heimatkunde« selbst Teil des allgemeinen Sprachgebrauchs. Auch hier war der Begriff »Heimat« in erster Linie an das Ländliche geknüpft.

Nachdem mit der Industrialisierung vieles in Bewegung geraten war und sogar zu verschwinden drohte, ging die Dokumentation von Lebenswelten bald in das Streben nach deren Erhalt über. Zu retten galt alles, was als »echte« Volkskunst und Volkskultur betrachtet wurde. Die Bewertung lag freilich im Auge der jeweiligen Betrachter. In der Nähe Stockholms eröffnete 1891 mit »Skansen« das erste Freilichtmuseum der Welt, dargeboten wurden und werden alte Hausformen und Trachten sowie vorindustrielle Handwerkstechniken und Lebensweisen. Vergleichbare Einrichtungen und Vereine entstanden in ganz Europa. Aus dem Interesse für Land und Leute begründeten auch die Architekten Gabriel von Seidl und Theodor Fischer im Jahr 1902 den Münchner »Verein für Volkskunst und Volkskunde«, den heutigen »Landesverein für Heimatpflege in Bayern«. Bis in die Gegenwart hinein ist die Institution in der Bau-, Musik- und Trachtenberatung tätig, engagiert sich für die Heimatpflege und den Denkmalschutz und gibt nach wie vor die Zeitschrift Schönere Heimat heraus.7

Heidelberg, Stadt der Dichter und Denker

Anmutig reihen sich historische Bauwerke am Ufer des Neckars, die Silhouette von »Old Heidelberg« darf in keinem Album deutscher Landschaften fehlen. »Heidelberg ist schön«,8 heißt es auf der offiziellen Internetseite der baden-württembergischen Stadt. Ungeheuer grün sei es am Lauf des Neckars und international, ist außerdem zu erfahren. Ein hoher Anteil der Bewohnerinnen und Bewohner hat einen akademischen Hintergrund. »Heidelberg gilt als eine der schönsten Städte Deutschlands. Das harmonische Ensemble von Schloss, Altstadt und Fluss inmitten der Berge inspirierte bereits die Dichter und Maler der Romantik und fasziniert auch heute Millionen von Besucherinnen und Besuchern aus aller Welt. Wer kommt, findet mehr als Romantik.«9 In der Königsstraße, die der Länge nach durch die Stadt führt, treffen sich neben Studierenden vor allem Touristen, die dem »Mythos Heidelberg« nachspüren und die Kirchen und andere Bauten in der Innenstadt bewundern. Viele der unzähligen Gäste stammen aus den USA. Beim Frühstück in einer Pension erzählt eine ältere Dame, dass sie in der Nähe geboren ist, aber seit Jahrzehnten in Amerika lebt. Gemeinsam mit ihrem Mann beschloss sie auf der Rückreise von einer Safari im ostafrikanischen Tansania, einen kleinen Abstecher in ihre Heimat Heidelberg zu machen.

Das Wesen der Stadt wird von der Hochschule und dem akademischen Betrieb geprägt. Die älteste Universität Deutschlands hat in den vergangenen Jahrhunderten zahllose Denker und Geistesgrößen angezogen, in Heidelberg forschten und unterrichteten so bekannte Professoren wie Friedrich Hegel oder Karl Jaspers. Auf dem Philosophenweg am gegenüberliegenden Neckarufer wandelten Gelehrte und Intellektuelle oberhalb der Dächer der Stadt, hingen ihren Gedanken nach und debattierten mit Schülern und Kollegen über ihre Erfindungen und Ideen. Für den Zirkel um die Literaten Joseph von Eichendorff, Achim von Arnim und Clemens Brentano prägte Joseph Görres um 1800 die Rede von der »Heidelberger Romantik«. Im Austausch mit Johann Wolfgang von Goethe und den Brüdern Grimm bemühte sich der Freundeskreis um die Zusammenführung der deutschen Lande zu einer allumfassenden Nation. Ein gemeinsamer Geist sollte dieses Deutschland und seine Bevölkerung einen. Arnim und Brentano wurden vor allem durch ihr Liederbuch Des Knaben Wunderhorn bekannt. Die drei Bände mit Volks-, Kinder-, Handwerker- und Soldatenliedern erschienen zwischen 1806 und 1808.10 Mit dieser Sammlung suchten die Dichter zu Beginn des 19. Jahrhunderts, den Geist der Nation zu beschwören und zu bestärken. Für Heinrich von Kleists Berliner Abendblätter verfassten Achim von Arnim und Clemens Brentano 1810 eine Besprechung von Caspar David Friedrichs bahnbrechendem Gemälde »Mönch am Meer«. Wie kein anderer sollte der gebürtige Greifswalder mit seinen Bildern für die Anfänge einer deutschen Romantik stehen. Angeregt durch Des Knaben Wunderhorn und die romantischen Überlegungen ihres Lehrers Friedrich Carl von Savigny, begannen auch die beiden Juristen Jacob und Wilhelm Grimm zu sammeln und legten im Jahr 1812 den ersten von zwei Bänden ihrer bis heute weltbekannten Kinder- und Hausmärchen vor. Die Brüder veröffentlichten außerdem eine Sammlung mit deutschen Heldensagen, während sich Jacob Grimm in späteren Jahrzehnten um die Deutsche Grammatik verdient machte.11

In der heutigen Hauptstraße

Mit der Verknüpfung romantischer Ideale und dem Streben nach einer deutschen Nation ging der Begriff »Heimat« erstmals auch eine enge Verbindung mit einer politischen Ideologie ein. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wird mit der Rede von der Heimat immer klarer aufgezeigt, was »das Eigene« vom »Fremden« abgrenzt und viel mehr noch, was es sein soll.12

Nicht nur ideengeschichtlich ist Heidelberg besonders interessant, die Stadt und die Landschaft rund um den Königsstuhl wurden auch vielfach besungen. In den Gedichten ist die romantische Stimmung am Neckar unmittelbar zu greifen. »Lange lieb’ ich dich schon, möchte dich, mir zur Lust, / Mutter nennen, und dir schenken ein kunstlos Lied, / Du, der Vaterlandsstädte / Ländlichschönste, soviel ich sah«,13 rühmte der Dichter Friedrich Hölderlin die Stadt schon um 1800 in seiner »Heidelberg-Ode«. In seinem Werk wird besonders deutlich, wie Heimat und Gefühl ineinander übergehen. Mit dem »Einzug in Heidelberg« von 1855 blickte der Literat Joseph von Eichendorff nach beinah fünfzig Jahren auf seine Studienzeit zurück. »Doch da sie jetzt um einen Fels sich wandten, / Tat’s plötzlich einen wunderbaren Schein, / Kirchtürme, Fluren, Fels und Wipfel brannten, / Und weit in’s farbentrunkne Land hinein / Schlang sich ein Feuerstrom mit Funkensprühen, / Als sollt’ die Welt in Himmelsloh’n verglühen.«14

Nach einer fulminanten Schilderung all der Eindrücke, der Landschaft, der Stadt, ihrer Stimmung, Märchen und Sagen, die ihn als jungen Mann und noch darüber hinaus beschäftigt hatten, endet der Lobgesang mit den Zeilen: »Und jeden blickt’s wie seine Heimat an, / Und keinem hat der Zauber noch gelogen, / Denn Heidelberg war’s, wo sie eingezogen.«

In den 1920er Jahren spielte eine erfolgreiche Revue in der Stadt am Fluss. Das Singspiel stammte von dem Komponisten Friedrich Vesely oder Fred Raymond, wie er sich auch nannte. »Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren«, lautete der eingängige Titel des Bühnenstücks, aus dem auch ein populärer Schlager hervorgegangen ist. »Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren, / In einer lauen Sommernacht. / Ich war verliebt bis über beide Ohren / Und wie ein Röslein hat ihr Mund gelacht. / Und als wir Abschied nahmen vor den Toren / Beim letzten Kuß, da hab ich’s klar erkannt: / Daß ich mein Herz in Heidelberg verloren. / Mein Herz, es schlägt am Neckarstrand.«15 Ob nun ausschließlich die Liebe zu einer Frau oder doch die Stadt selbst gemeint ist, bleibt im Unklaren. Die Texte der Dichter und Komponisten wurden jedenfalls auch über die Grenzen von Heidelberg hinaus viel zitiert und beeinflussten damit romantische Heimatbilder im ganzen Land.

In den 1980er Jahren hat sich in Heidelberg wieder etwas Besonderes entwickelt. Vor der Kulisse der Altstadt ist eine Szene entstanden, die auf den ersten Blick so gar nichts mit diesem historisch aufgeladenen Ort zu tun haben mag. Ausgerechnet die älteste deutsche Universitätsstadt wurde zur Heimat des deutschsprachigen Hip Hop. Breakdance, Graffiti, Rap und DJing sind die vier Grundbestandteile einer Subkultur, die in den 1970er Jahren in der New Yorker Bronx aufgekommen war. Beim Hip Hop handelt es sich um eine besondere Art der Inszenierung im öffentlichen Raum. Die Erfinder und Repräsentanten dieses neuen Stils stammten aus afro- oder hispanoamerikanischen Familien. Die Musik mit dem Sprechgesang, das Tanzen und Malen in den Straßen wurde nach und nach auch zu einem Sprachrohr ihrer Probleme und politischen Ideen.

In den 1980er Jahren gelangte das Wissen um diese Ausdrucksformen auch nach Deutschland und Europa. Die Nähe zur US-Armee, die in Heidelberg mehr als sechzig Jahre lang stationiert war, beförderte den Austausch ebenfalls. All die Elemente wurden nun auch im Badischen mit kreativer Hingabe erprobt. »Heidelberg ist das Herz von Hip Hop«,16 meint der B-Boy und Tänzer Felix Felixine alias Baobab im Rückblick. Die Gruppe »Advanced Chemistry« um Frederik Hahn alias Torch, Kofi Yakpo alias Linguist und Toni Landomini alias Toni L. und einigen anderen versuchte sich als eine der ersten deutschen Bands im Sprechgesang und den anderen Bereichen des Genres. Rap mit englischen und bald auch deutschen Texten wurde zum Markenzeichen von »Advanced Chemistry«. Der kommerzielle Durchbruch mit dieser Art von Hip Hop gelang 1992 den »Fantastischen Vier« aus Stuttgart mit ihrem Partyhit »Die da«.

Die Musiker von »Advanced Chemistry« griffen dagegen schon früh kontroverse Themen auf. Ihre Platte »Fremd im eigenen Land« befasste sich Anfang der 1990er Jahre mit der Situation von »Menschen mit Migrationshintergrund« in Deutschland. Der Deutsch-Haitianer Frederik Hahn, der Deutsch-Ghanaer Kofi Yakpo und der Deutsch-Italiener Toni Landomini gingen dabei von ihren eigenen Erfahrungen aus. »Gehst Du mal später zurück in Deine Heimat?«, lassen »Advanced Chemistry« 1992 im Video zum Titeltrack »Fremd im eigenen Land« eine junge Frau fragen. »Wohin, nach Heidelberg, wo ich ein Heim hab?«, fragt Linguist zurück. Der Refrain lautet: »Nicht anerkannt, fremd im eigenen Land. Kein Ausländer und doch ein Fremder.«17 In dem Track »Operation § 3« fordert die Band ihren Freundeskreis auf, gemeinsam aktiv zu werden und sich Ausgrenzung nicht länger gefallen zu lassen.