Helenas Geheimnis - Lucinda Riley - E-Book

Helenas Geheimnis E-Book

Lucinda Riley

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Beschreibung

Wieviel Wahrheit kann die Liebe ertragen, ohne zu zerbrechen?

Viele Jahre sind vergangen, seit Helena Beaumont als junge Frau einen wunderbaren Sommer auf Zypern verbracht und dort ihre erste große Liebe erlebt hat. Nun kehrt sie zum ersten Mal zurück in das schöne alte Haus, um dort mit ihrer Familie die Ferien zu verbringen. Unbeschwerte Tage sollen es werden, verträumte Stunden am Meer und lange Nächte auf der Terrasse, doch schon bei ihrer Ankunft empfindet Helena ein vages Unbehagen. Sie allein weiß, dass die Idylle bedroht ist – denn es gibt Ereignisse in ihrer Vergangenheit, die sie ihrem Mann und ihren Kindern stets eisern verschwiegen hat. Wie lange aber kann sie die Fassade der glücklichen Familie noch aufrechterhalten? Als sie dann plötzlich ihrer Jugendliebe Alexis gegenübersteht, ahnt sie, dass diese Begegnung erst der Anfang einer Verkettung von Ereignissen ist, die ihrer aller Leben auf eine harte Bewährungsprobe stellt ...

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Seitenzahl: 684

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Buch

Viele Jahre sind vergangen, seit Helena Beaumont als junge Frau einen wunderbaren Sommer auf Zypern verbracht und dort ihre erste große Liebe erlebt hat. Nun kehrt sie zum ersten Mal zurück in das schöne alte Haus, um dort mit ihrer Familie die Ferien zu verbringen. Unbeschwerte Tage sollen es werden, verträumte Stunden am Meer und lange Nächte auf der Terrasse, doch schon bei ihrer Ankunft empfindet Helena ein vages Unbehagen. Sie allein weiß, dass die Idylle bedroht ist – denn es gibt Ereignisse in ihrer Vergangenheit, die sie ihrem Mann und ihren Kindern stets eisern verschwiegen hat. Wie lange aber kann sie die Fassade der glücklichen Familie noch aufrechterhalten? Als sie dann plötzlich ihrer Jugendliebe Alexis gegenübersteht, ahnt sie, dass diese Begegnung erst der Anfang einer Verkettung von Ereignissen ist, die ihrer aller Leben auf eine harte Bewährungsprobe stellt …

Weitere Informationen zu Lucinda Riley

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

LUCINDA RILEY

Helenas

Geheimnis

Roman

Deutsch

von Ursula Wulfekamp

Die Originalausgabe erscheint 2016 unter dem Titel »Helena’s Secret« bei Pan Books, einem Imprint von Pan Macmillan, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage

Taschenbuchausgabe März 2016

Copyright © der Originalausgabe

2016 by Lucinda Riley

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,

Umschlagmotiv: plainpicture/Mylène Blanc; FinePic®, München

Redaktion: Claudia Alt

CN · Herstellung: Str.

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-17418-7

www.goldmann-verlag.de

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Für den »echten« Alex

Folg einem Schatten, er wird dich fliehen;

Meinst du zu fliehen, so verfolgt er dich doch.

Ben Jonson

Alex

Pandora, Zypern

Juli 2016

Als ich den Wagen um die gefährlichen Schlaglöcher manövriere, die in den vergangenen zehn Jahren offenbar nie ausgebessert wurden, sondern höchstens noch tiefer geworden sind, taucht unvermittelt Pandora vor mir auf. Ich holpere noch ein paar Meter weiter, dann halte ich an und betrachte das Haus. Richtig hübsch ist es nicht, denke ich mir, auf jeden Fall im Vergleich zu den schicken Ferienhäusern, die man von den verlockenden Fotos gehobener Immobilien-Websites kennt. Solide, schnörkellos, fast streng wirkt es, zumindest von hinten, und genauso habe ich mir auch den früheren Bewohner immer vorgestellt. Die Villa ist aus dem hellen Stein dieser Region gebaut und erhebt sich genauso kantig aus dem trockenen Kalkboden wie die Häuser, die ich als Kind mit Begeisterung aus Legosteinen baute. So weit das Auge reicht, wachsen ringsum üppig belaubte Weinstöcke. Ich vergleiche dieses reale Bild mit dem in meinem Kopf – das ich immerhin schon seit zehn Jahren mit mir herumtrage – und stelle fest, dass mein Gedächtnis mir gute Dienste geleistet hat.

Ich fahre weiter, stelle den Wagen ab und gehe um die wuchtigen Mauern zur Vorderseite des Hauses mit der Terrasse, durch die Pandora sich von allen anderen Häusern abhebt. Am anderen Ende, dort, wo das Gelände sanft abzufallen beginnt, wird die Terrasse von einer Balustrade begrenzt. Auch hier ist alles mit Weinstöcken überwuchert, hier und da sehe ich ein kleines weiß getünchtes Haus oder eine Gruppe knorriger Olivenbäume. Weit in der Ferne kann ich einen schmalen, tiefblau schimmernden Streifen ausmachen, der Land und Himmel voneinander trennt.

Als die Sonne untergeht, besticht sie durch eine künstlerische Meisterleistung: Ihre gelben Strahlen treffen auf die tiefblaue Fläche und lassen sie umbrabraun glitzern. Was interessant ist, eigentlich dachte ich immer, dass Gelb und Blau Grün ergeben.

Dann drehe ich mich zum Haus um und stelle mit Erleichterung fest, dass es zumindest äußerlich die Vernachlässigung der letzten Jahre gut überstanden hat. Auf der Terrasse hole ich den Eisenschlüssel aus der Tasche, öffne die Tür und gehe durch die dämmrigen Zimmer, in die wegen der geschlossenen Läden kaum Licht fällt. Ich fühle mich innerlich ganz taub, und vielleicht ist das auch gut so. Ich wage nicht, etwas zu empfinden, denn dieses Haus birgt, vielleicht mehr als jeder andere Ort, ihren Zauber …

Eine halbe Stunde später habe ich im Erdgeschoss alle Fensterläden geöffnet und die Schutzlaken von den Möbeln im Salon gezogen. Dann stehe ich in den tanzenden Staubflöckchen, in denen sich das Licht der untergehenden Sonne fängt, und erinnere mich, dass mir das alles damals, als ich es zum ersten Mal sah, uralt vorgekommen war. Und mit einem Blick auf die durchgesessenen Sessel und die fadenscheinigen Sofas frage ich mich, ob Gegenstände ab einem bestimmten Punkt einfach nur betagt sind und optisch nicht weiteraltern, so, wie grauhaarige Großeltern auf kleine Kinder immer gleich uralt wirken.

Das Einzige, was sich in diesem Raum grundlegend verändert hat, bin ich. Wir Menschen durchlaufen den Großteil unserer körperlichen und geistigen Entwicklung gleich in den ersten Jahren nach unserer Geburt – im Handumdrehen werden wir vom Baby zum Erwachsenen. Danach sehen wir, zumindest äußerlich, für den Rest unserer Tage mehr oder minder gleich aus, werden durch das Zutun unserer Gene und der Schwerkraft einfach schlaffere und weniger ansehnlichere Versionen unseres jüngeren Selbst.

Und was das Emotionale und Intellektuelle betrifft … Da muss ich einfach darauf vertrauen, dass der langsame Verfall unserer äußeren Verpackung durch den einen oder anderen Pluspunkt aufgewogen wird. Was sich hier in Pandora nur bestätigt. Auf dem Weg in den Flur muss ich über den Alex lachen, der ich damals war, im Gegensatz zu dem, der ich heute bin. Und winde mich zugleich innerlich bei dem Gedanken an mein früheres Ich – dreizehn Jahre alt und, wie ich rückblickend sagen muss, ein egozentrischer und nervtötender Wichtigtuer, wie er im Buche steht.

Ich öffne die Tür zur »Besenkammer«, wie ich das Zimmer damals in dem langen, heißen Sommer liebevoll nannte, als ich es bewohnte. Im Licht der Deckenlampe ist es tatsächlich so klein, wie ich es in Erinnerung habe – wenn überhaupt, kommt es mir jetzt noch kleiner vor. Ich trete in meiner vollen Größe von eins fünfundachtzig hinein und frage mich, ob ich, wenn ich jetzt die Tür schließen und mich hinlegen würde, meine Füße zum winzigen Fenster hinausstrecken müsste wie Alice in ihrem Wunderland.

Ich blicke an den Regalen zu beiden Seiten dieses Schlauchs empor. Die vielen Bücher, die ich in langen Stunden alphabetisch geordnet habe, stehen immer noch dort. Aus einem Impuls heraus nehme ich eines zur Hand – einen Band von Rudyard Kipling – und blättere zu dem berühmten Gedicht »Wenn«, die klugen Worte eines Vaters an seinen Sohn. Beim Lesen steigen mir Tränen in die Augen, wenn ich an den Dreizehnjährigen denke, der ich damals war: ein Junge auf der verzweifelten Suche nach einem Vater. Und als ich ihn dann fand, begriff ich, dass ich bereits einen hatte.

Ich stelle Kipling wieder an seinen Platz, und mein Blick fällt auf das kleine Buch, das daneben steht. Das Tagebuch, das meine Mutter mir zu Weihnachten, ein paar Monate vor meinem ersten Besuch in Pandora, geschenkt hatte. Sieben Monate lang hatte ich es jeden Tag gewissenhaft geführt – in einem, so wie ich mich selbst kenne, zweifellos ziemlich aufgeblasenen Ton. Wie alle Teenager hielt ich meine Überlegungen und Gefühle für einzigartig und bahnbrechend, meine Gedanken für derart überragend, dass kein Mensch sie vor mir gedacht haben konnte.

Traurig schüttele ich den Kopf und seufze wie ein alter Mann über meine Naivität. Als wir nach jenem langen Sommer in Pandora nach England zurückgefahren waren, hatte ich das Tagebuch hiergelassen. Und jetzt, zehn Jahre später, liegt es in meinen mittlerweile großen Männerhänden. Eine Erinnerung an meine letzten Monate als Kind, bevor das Leben mich zwang, mich in der Welt der Erwachsenen einzurichten.

Mit dem Tagebuch in der Hand gehe ich nach oben. Dort, auf dem dämmrigen, stickigen Flur, bin ich mir unschlüssig, in welchem Zimmer ich mich während meines Aufenthalts hier heimisch fühlen möchte. Ich hole tief Luft und gehe den Flur entlang zu ihrem Zimmer, nehme allen Mut zusammen und öffne die Tür. Vielleicht bilde ich es mir nur ein – und nach zehn Jahren Abwesenheit muss es wohl Einbildung sein –, aber ich bin überzeugt, den Duft des Parfüms zu erschnuppern, das sie damals trug …

Mit Nachdruck ziehe ich die Tür ins Schloss. Noch fühle ich mich nicht in der Lage, die Büchse der Pandora zu öffnen mit all den Erinnerungen, die aus jedem Zimmer entweichen würden. Da gehe ich lieber nach unten. Draußen herrscht mittlerweile finstere Nacht. Ich schaue auf die Uhr und rechne die zwei Stunden Zeitunterschied dazu: Es muss kurz vor neun sein, und mir knurrt der Magen vor Hunger.

Ich lade den Wagen aus, verstaue die Lebensmittel, die ich im Dorfladen gekauft habe, in der Speisekammer und gehe mit etwas Brot, Feta und einem sehr warmen Bier auf die Terrasse. Dort sitze ich dann in der Stille, die nur hin und wieder vom schläfrigen Zirpen einer Zikade unterbrochen wird, trinke mein Bier und frage mich, ob es wirklich eine gute Idee war, zwei Tage vor den anderen herzukommen. Schließlich bin ich ein Meister der Nabelschau und betreibe die Kunst derart überzeugend, dass mir kürzlich angeboten wurde, mich darin professionell zu betätigen. Zumindest dieser Gedanke bringt mich zum Lachen.

Um mich abzulenken, schlage ich mein Tagebuch auf und lese die Widmung auf der Innenseite.

Für meinen Schatz Alex – Frohe Weihnachten! Versuch, es regelmäßig zu führen. Es könnte interessant zu lesen sein, wenn du älter bist. Alles Liebe, Mum.

»Tja, Mum, hoffen wir mal, dass du recht hast.« Ich lächle matt und blättere durch die Seiten hochtrabender Prosa, bis ich zu Anfang Juli komme. Und im Licht der einen funzeligen Birne, die in der Pergola über mir hängt, beginne ich zu lesen.

Juli 2006

Ankunft

Alex’ Tagebuch

10. Juli 2006

Mein Gesicht ist vollkommen rund. Man könnte es mit einem Zirkel ziehen, und ich wette, dass die Kreislinie nur an sehr wenigen Stellen von den Konturen meines Gesichts abweichen würde. Ich kann es nicht leiden.

Im Inneren dieses Kreises habe ich zwei Apfelbäckchen. Als ich kleiner war, haben die Erwachsenen immer daran herumgezupft. Sie nahmen die Haut zwischen die Finger und zwickten mich. Kein Gedanke daran, dass meine Wangen keine Äpfel sind. Äpfel sind unbelebt. Sie sind hart und schmerzunempfindlich. Und wenn sie verletzt werden, dann nur äußerlich.

Meine Augen allerdings sind ganz schön. Sie ändern die Farbe. Meine Mutter sagt immer, wenn ich innerlich lebendig und voll Tatendrang bin, leuchten sie grün. Wenn ich unter Stress stehe, haben sie die Farbe der Nordsee. Ehrlich gesagt finde ich, dass sie ziemlich oft grau sind, aber sie sind relativ groß und haben die Form eines Pfirsichkerns, und meine Augenbrauen, die dunkler sind als meine Haare – mädchenblonde Schnittlauchlocken –, geben einen netten Rahmen für sie ab.

Im Moment starre ich in den Spiegel. Mit ist nach Heulen zumute – wenn ich mir nicht gerade ins Gesicht sehe, kann ich in meiner Phantasie jeder beliebige Mensch sein. Hier in der winzigen Bordtoilette bildet das grelle Licht einen Heiligenschein um meinen Kopf. Flugzeugspiegel sind die allerschlimmsten, in ihnen sieht man aus wie ein zweitausend Jahre alter Toter, der gerade exhumiert wurde.

Dann sehe ich unter meinem T-Shirt das Fleisch über meiner Shorts hervorquellen. Eine Handvoll davon forme ich zu einer gelungenen Miniversion der Wüste Gobi. Ich lasse Dünen entstehen mit kleinen Senken dazwischen, in denen wie in einer Oase Palmen wachsen könnten.

Dann wasche ich mir gründlich die Hände.

Meine Hände gefallen mir eigentlich ganz gut, sie haben sich noch nicht dem Trend zur Fettsackigkeit angeschlossen, dem mein restlicher Körper im Moment folgt. Meine Mutter sagt, das sei Babyspeck, der Hormonknopf »in die Breite gehen« habe eben aufs erste Antippen reagiert, während der Knopf »in die Höhe schießen« bislang den Dienst versage. Der Streik ist offenbar von längerer Dauer.

Im Übrigen habe ich bislang herzlich wenig fette Babys gesehen. Von der ganzen Aufregung, rumzukrabbeln und die Welt zu erkunden, sind die meisten ziemlich dünn.

Vielleicht fehlt mir ein bisschen Aufregung.

Das Gute ist: Beim Fliegen hat man das Gefühl, schwerelos zu sein, selbst wenn man fett ist. Und hier im Flieger sitzen Hunderte von Leuten, die viel fetter sind als ich, wie ich gesehen habe. Wenn ich die Wüste Gobi bin, dann ist mein Sitznachbar die Sahara. Sobald seine Unterarme sich auf der Armlehne breitmachen, übertreten seine Haut, seine Muskeln und sein Fett wie ein wabernder Virus die Grenzen meiner persönlichen Distanzzone. Das nervt mich wirklich. Ich sorge dafür, dass mein Körper in dem mir zustehenden Platz bleibt, selbst wenn ich nach der Landung grausam verspannt sein werde.

Wenn ich im Flugzeug sitze, denke ich aus irgendeinem Grund ans Sterben. Aber um ehrlich zu sein, denke ich eigentlich immer ans Sterben, egal, wo ich bin. Vielleicht ist es beim Totsein ein bisschen wie mit der Schwerelosigkeit hier in dieser Metallröhre. Auf unserem letzten Flug hat mich meine kleine Schwester gefragt, ob sie tot sei, weil jemand ihr gesagt hatte, Opa sitze irgendwo hier oben auf einer Wolke. Und als wir an einer vorbeiflogen, dachte sie, wir wären jetzt bei ihm.

Warum erzählen Erwachsene Kindern solchen Blödsinn? Das sorgt nur für Probleme. Ich meinerseits habe das alles sowieso nie geglaubt.

Meine Mutter hat schon vor Jahren aufgehört, mir solchen Mist aufzutischen.

Meine Mutter liebt mich, das weiß ich, auch wenn ich in den letzten Monaten zum Fettsack mutiert bin. Und sie hat mir versichert, dass ich mich eines Tages werde bücken müssen, um mich in einem wasserfleckigen Spiegel wie diesem zu sehen. Angeblich werden in unserer Familie alle Männer sehr groß. Aber das ist auch kein richtiger Trost. Ich habe gelesen, dass Gene oft eine Generation überspringen, und Pechvogel, der ich bin, werde ich nach Hunderten von Jahren der erste fette Zwerg der Beaumonts sein.

Außerdem lässt sie bei ihrer Prognose die andere DNA außer Acht, die zu meiner Entstehung beigetragen hat …

Dieses Gespräch werde ich in den kommenden Ferien führen, koste es, was es wolle, und ganz egal, wie oft Mum versuchen wird, sich um das Thema zu drücken. Ich mag mich nicht mehr mit einem Phantom als Vater abspeisen lassen.

Ich muss es wissen.

Alle behaupten, dass ich nach ihr gerate. Aber was sollen sie auch sonst sagen? Sie können mich ja schlecht mit einer nicht näher identifizierten Samenzelle vergleichen.

Außerdem könnte der Umstand, dass ich nicht weiß, wer mein Vater ist, meinen bereits existierenden Größenwahn noch beflügeln. Was gar nicht gut ist, allemal nicht für ein Kind wie mich, sofern ich überhaupt noch ein Kind bin. Oder jemals war, was ich persönlich bezweifle.

Jetzt, in diesem Moment, in dem mein Körper über Mitteleuropa hinwegrast, kann mein Vater jeder sein, den ich mir zum Vater wünsche. Zum Beispiel, wenn wir kurz davor sind abzustürzen und der Kapitän hat nur einen einzigen zusätzlichen Fallschirm – wenn ich mich ihm als seinen Sohn vorstelle, dann muss er doch mir den Schirm geben, oder?

Andererseits ist es vielleicht besser, wenn ich es nicht weiß. Meine Stammzellen könnten von irgendwoher aus dem Fernen Osten kommen, und dann müsste ich Mandarin lernen, um mich mit meinem Vater zu unterhalten. Und Mandarin zu lernen ist verdammt schwer.

Manchmal wünsche ich mir, Mum würde mehr wie andere Mütter aussehen. Ich meine, sie ist nicht Kate Moss oder so, sie ist nämlich schon ziemlich alt. Aber es ist megapeinlich, wenn meine Mitschüler und meine Lehrer und alle Männer, die zu uns ins Haus kommen, sie auf diese ganz bestimmte Art anschauen. Jeder liebt sie, weil sie warmherzig ist und witzig und gleichzeitig kochen und tanzen kann. Und manchmal kommt mir der Anteil, den ich von ihr bekomme, nicht groß genug vor, und ich wünschte, ich müsste sie nicht mit so vielen anderen teilen.

Weil sie mir die Wichtigste ist.

Als sie mich bekam, war sie nicht verheiratet. Hundert Jahre zuvor wäre ich in einem Armenhaus zur Welt gekommen, und wir wären vermutlich ein paar Monate später beide an Tuberkulose gestorben. Dann würden wir jetzt nebeneinander in einem Armengrab liegen, und unsere Skelette wären bis in alle Ewigkeiten vereint.

Ich überlege mir oft, ob diese lebende Erinnerung an ihre Verruchtheit – sprich: ich – ihr nicht unangenehm ist. Ist das der Grund, weswegen sie mich aufs Internat schickt?

Verruchtheit, sage ich lautlos zum Spiegel. Das ist ja fast onomatopoetisch. Ich habe ein Faible für Wörter. Ich sammle sie wie meine Mitschüler, je nach Reifegrad, Fußballkarten oder Mädchen. Es gefällt mir, sie hervorzukramen und in einen Satz einzufügen, um einen Gedanken so präzise wie nur möglich auszudrücken. Vielleicht werde ich später einmal beruflich mit ihnen spielen. Seien wir ehrlich, für Manchester United werde ich angesichts meiner gegenwärtigen Statur nie auflaufen.

Jetzt hämmert jemand an die Tür. Ich habe die Zeit vergessen, wie immer. Ich schaue auf die Uhr und stelle fest, dass ich seit über zwanzig Minuten hier drin bin. Jetzt muss ich mich einer Horde wütender Passagiere stellen, die alle dringend pinkeln müssen.

Ein letzter Blick in den Spiegel, ein letzter Blick auf den Fettsack. Dann schaue ich zu Boden, atme tief durch und trete als Brad Pitt hinaus.

Kapitel 1

»Ich weiß nicht genau, wo wir sind. Wir müssen mal kurz anhalten.«

»Verdammt, Mum! Es ist stockdunkel, und wir hängen über einem Abgrund! Hier gibt es nichts, wo wir mal kurz anhalten können.«

»Immer mit der Ruhe, mein Schatz. Ich finde schon eine Stelle, wo ich gefahrlos ranfahren kann.«

»Gefahrlos? Dass ich nicht lache! Hätte ich das gewusst, hätte ich meine Steigeisen und meinen Eispickel mitgebracht.«

»Da oben ist eine Parkbucht.« Ruckelnd steuerte Helena den ungewohnten Leihwagen um die Serpentine und brachte ihn in der Bucht zum Stehen. Nach einem Blick auf ihren Sohn, der sich die Augen zugehalten hatte, legte sie ihm beschwichtigend eine Hand aufs Knie. »Jetzt kannst du wieder schauen.« Sie äugte durchs Fenster in das Tal, das tief unter ihnen lag, und auf die entlang der Küste funkelnden Lichter. »Es ist wunderschön«, murmelte sie.

»Nein, Mum, es ist nicht ›wunderschön‹. ›Wunderschön‹ wird es erst sein, wenn wir nicht mehr irgendwo in einem fremden Land im Outback herumirren, keine drei Meter von einem Steilhang entfernt, der, wenn wir abstürzen, unseren sicheren Tod bedeutet. Haben sie hier noch nie was von Leitplanken gehört?«

Ohne auf ihn zu achten, tastete Helena nach dem Schalter für die Innenbeleuchtung. »Schatz, gib mir doch mal die Karte.« Alex reichte sie ihr, und Helena starrte mit suchendem Blick darauf.

»Mum, sie steht auf dem Kopf«, sagte Alex.

»Schon gut.« Sie drehte die Karte um. »Immy schläft noch?«

Alex schaute nach hinten zu seiner fünfjährigen Schwester, die quer über dem Rücksitz lag und fest ihr Plüschlämmchen an sich gekuschelt hielt. »Ja, und das ist auch gut so. Sonst würde diese Fahrt sie für den Rest ihres Lebens traumatisieren. Wenn sie sehen würde, wo wir gerade sind, würde man sie nie wieder in eine Achterbahn bekommen.«

»Gut, jetzt weiß ich, wo ich mich verfahren habe. Wir müssen wieder den Berg runter …«

»Den Steilabhang«, präzisierte Alex.

»… beim Schild nach Kathikas links abbiegen und der Straße folgen. Hier.« Helena reichte Alex die Karte zurück und legte den Gang ein, den sie für den Rückwärtsgang hielt. Der Wagen machte einen Satz nach vorn.

»Mum! Um Gottes willen!«

»Entschuldigung.« Helena wendete unbeholfen und lenkte den Wagen wieder auf die Straße.

»Ich habe gedacht, du wüsstest, wo das Haus ist«, brummte Alex.

»Mein Schatz, als ich das letzte Mal hier war, war ich gerade zwei Jahre älter als du. Im Klartext, das ist fast vierundzwanzig Jahre her. Aber wenn wir im Dorf sind, erkenne ich es bestimmt wieder.«

»Wenn wir das Dorf jemals erreichen.«

»Jetzt sei doch nicht so miesepetrig!« Erleichtert sah Helena den Wegweiser nach Kathikas vor sich auftauchen und bog ab. »Es lohnt sich, du wirst schon sehen.«

»Nicht mal ein Strand ist in der Nähe. Außerdem kann ich Oliven nicht leiden. Und die Chandlers erst recht nicht. Rupert ist ein Arschlo…«

»Alex, jetzt reicht’s! Wenn du nichts Positives zu sagen hast, dann halt bitte den Mund und lass mich fahren.«

Während Helena aufs Gaspedal trat, damit der Citroën den steilen Anstieg bewältigte, verfiel Alex in mürrisches Schweigen. Helena bedauerte, dass das Flugzeug Verspätung gehabt hatte und sie erst kurz nach Sonnenuntergang in Paphos gelandet waren. Bis sie durch den Zoll waren und ihren Leihwagen übergeben bekommen hatten, war es Nacht gewesen. Dabei hatte sie sich so auf diese Fahrt in die Berge gefreut und darauf, an diesen ganz besonderen Ort ihrer Kindheit zurückzukehren und ihn durch die Augen ihrer eigenen Kinder neu zu entdecken.

Aber andererseits, dachte sie, entsprach das Leben im Grunde nur selten den Erwartungen, vor allem nicht, wenn es um kostbare Erinnerungen ging. Und ihr war klar, dass sie den Sommer, den sie als Fünfzehnjährige hier im Haus ihres Patenonkels verbracht hatte, im Rückblick verklärte.

Aber so lächerlich es war, sie wäre schrecklich enttäuscht, wenn Pandora sich als weniger perfekt erweisen sollte als in ihrer Vorstellung. Ihr Kopf sagte ihr, dass es unmöglich so sein konnte wie damals und dass das Wiedersehen mit dem Haus einem Wiedersehen mit der ersten großen Liebe nach vierundzwanzig Jahren gleichen würde: in der Erinnerung von jugendlicher Kraft und Schönheit, in der Realität aber mit grauen Schläfen und dem körperlichen Verfall preisgegeben.

Und sie wusste auch, dass auch das denkbar war …

Würde er noch hier sein?

Helena hielt das Lenkrad fest umklammert und verbannte den Gedanken aus ihrem Kopf.

Pandora, das Haus, war ihr damals weitläufig wie ein herrschaftlicher Landsitz vorgekommen, aber in Wirklichkeit musste es kleiner sein. Die antiken Möbel, die Angus, ihr Patenonkel, zu seiner Zeit als oberster Befehlshaber der letzten noch auf Zypern stationierten Soldaten der britischen Armee aus England importiert hatte, waren ihr erlesen, elegant und unantastbar erschienen. Die graublauen Damastsofas im abgedunkelten Salon, dessen Fensterläden immer geschlossen blieben, damit die Sonne die Möbel nicht ausbleichen konnte, der antike Schreibtisch im Büro, an dem Angus jeden Morgen gesessen und mit einem schlanken Miniaturschwert seine Post geöffnet hatte, der ausladende Mahagoniesstisch, dessen glänzend glatte Oberfläche sie immer an eine Eisbahn denken ließ … das alles stand ihr fast übermächtig vor Augen.

Seit Angus vor drei Jahren aus gesundheitlichen Gründen nach England zurückgekehrt war, stand Pandora leer. So fest er auch beteuert hatte, die medizinische Versorgung auf Zypern sei ebenso gut wie der englische National Health Service, wenn nicht gar besser, hatte er zu guter Letzt doch notgedrungen, wenn auch widerwillig eingeräumt, dass es nicht besonders praktisch war, in einem abgelegenen Bergdorf zu leben, wenn man keine zwei gesunden Beine mehr hatte und regelmäßig eine beschwerliche Fahrt ins Krankenhaus auf sich nehmen musste.

Am Ende hatte er kapituliert, war nach England gezogen und vor einem halben Jahr an Lungenentzündung und Kummer gestorben. Es war ohnehin unwahrscheinlich gewesen, dass sich ein geschwächter Körper, der die überwiegende Anzahl seiner achtundsiebzig Jahre in einem subtropischen Klima verbracht hatte, an die immerwährende Feuchtigkeit und das Grau eines schottischen Vororts gewöhnen würde.

Seinen gesamten Besitz hatte er seinem Patenkind Helena vermacht, einschließlich Pandora.

Sie hatte geweint, als sie von seinem Tod erfahren hatte, und schuldbewusste Tränen vergossen wegen ihrer ständigen guten Vorsätze, ihn häufiger im Pflegeheim zu besuchen, wofür sie dann doch nie die Zeit gefunden hatte.

Der scheppernde Klingelton ihres Handys aus den Tiefen ihrer Handtasche riss sie aus ihren Gedanken.

»Schatz, gehst du ran?«, bat sie Alex. »Das ist wahrscheinlich Dad, der hören will, ob wir schon angekommen sind.«

Alex wühlte sich wie praktisch immer vergeblich durch die Handtasche seiner Mutter und fand das Handy erst, nachdem es bereits verstummt war. Er sah aufs Display. »Ja, das war wirklich Dad. Soll ich ihn zurückrufen?«

»Nein. Wir rufen ihn an, wenn wir da sind.«

»Falls wir hinfinden.«

»Natürlich finden wir hin. Langsam kenne ich mich wieder aus. Jetzt dauert es keine zehn Minuten mehr.«

»Gab es Haris Taverne schon, als du hier warst?«, fragte Alex, als sie an einem grell erleuchteten Restaurant mit einer funkelnden Neonpalme im Vorgarten vorbeifuhren. Im Inneren waren Spielautomaten und weiße Plastikstühle zu erkennen.

»Nein. Wir sind auf einer neuen Umgehungsstraße, auf der es viel Durchgangsverkehr und jede Menge Laufkundschaft gibt. Zu meiner Zeit war die Straße zum Dorf hinauf noch nicht einmal geteert.«

»Da gab’s Sky TV. Können wir abends mal hingehen?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Mal sehen.« Zu Helenas Urlaubsvorstellungen gehörten eher laue Abende auf der wunderschönen Terrasse mit Blick auf die Olivenhaine, dazu ein Glas des hiesigen Weins und frisch vom Baum gepflückte Feigen, aber weder Fernseher noch Neonpalmen.

»Mum, wie primitiv ist das Haus eigentlich? Ich meine, gibt’s überhaupt Strom?«

»Natürlich gibt es Strom, du Dummchen.« Helena hoffte nur, dass Angelina, die Frau im Ort, die die Schlüssel zum Haus hatte, ihn auch angestellt hatte. »Schau, jetzt biegen wir ins Dorf ab. In ein paar Minuten sind wir da.«

»Vielleicht könnte ich ja mit dem Rad zu der Kneipe fahren«, sagte Alex skeptisch. »Wenn ich irgendwo ein Rad auftreiben kann.«

»Ich bin damals praktisch jeden Tag vom Haus ins Dorf geradelt.«

»War das ein Hochrad?«

»Sehr witzig. Es war ein altmodisches Hollandrad mit drei Gängen und vorn einem Korb.« Bei der Erinnerung musste Helena lächeln. »Ich habe immer Brot aus der Bäckerei geholt.«

»Wie das Fahrrad, auf dem die Hexe im Zauberer von Oz sitzt, wenn sie bei Dorothy am Fenster vorbeifährt?«

»Genau so eins. Und jetzt sei still, ich muss mich konzentrieren. Wegen der neuen Umgehung kommen wir vom anderen Ende in den Ort, ich muss mich erst orientieren.«

Vor sich sah Helena bereits die Lichter des Dorfs funkeln. Als dann die Straße schmaler wurde und der Kies unter den Reifen knirschte, drosselte sie das Tempo. Die ersten Häuser aus dem hiesigen gelbweißen Stein tauchten auf, um die Straße schließlich in einer geschlossenen Reihe zu säumen.

»Schau, da vor uns ist die Kirche.« Helena deutete auf das Bauwerk, das einst das Herz der kleinen Gemeinde Kathikas gebildet hatte. Im Vorbeifahren sah sie ein paar Jugendliche, die um die Bank vor der Kirche herumlungerten. Ihre Aufmerksamkeit galt den beiden schwarzäugigen Mädchen, die dort saßen. »Das ist das Zentrum des Dorfs.«

»Na, hier tobt ja der Bär.«

»Angeblich haben in den letzten Jahren zwei sehr gute Tavernen aufgemacht. Und schau, da ist der Laden. Der ist ja größer geworden! Dort bekommst du alles, was dein Herz begehrt.«

»Dann spring ich mal rein und hol die neueste CD von den All-American Rejects, ja?«

»Alex, jetzt reicht’s wirklich!« Allmählich verlor Helena die Geduld. »Ich weiß, dass du nicht herkommen wolltest, aber du hast Pandora noch nicht mal gesehen. Gib dem Haus wenigstens eine Chance, um meinetwillen, wenn schon nicht um deinetwillen!«

»Sorry, Mum. Ja. Tut mir leid.«

»Früher war das Dorf richtig hübsch, und was ich so sehe, hat es sich nicht allzu sehr verändert«, sagte Helena erleichtert. »Morgen schauen wir uns mal um.«

»Wir fahren ja schon wieder zum Dorf hinaus«, bemerkte Alex nervös.

»Ja. In der Dunkelheit kannst du es zwar nicht sehen, aber rechts und links sind lauter Weinfelder. Früher, zur Zeit der Pharaonen, wurde der hiesige Wein bis nach Ägypten exportiert, so gut war er. So, und hier biegen wir ab, ich bin mir ziemlich sicher. Halt dich gut fest, die Straße ist holprig.«

Als sich der Feldweg zwischen Weinstöcken hindurch bergab schlängelte, schaltete Helena in den ersten Gang zurück und blendete das Licht auf, um den tückischsten Schlaglöchern ausweichen zu können.

»Und hier bist du jeden Tag hochgeradelt?«, fragte Alex erstaunt. »Irre! Es wundert mich, dass du nicht in den Weinstöcken gelandet bist.«

»Manchmal bin ich das auch, aber im Lauf der Zeit kennt man die schlimmsten Stellen.« Es hatte etwas Beruhigendes, dass die Schlaglöcher noch genauso tief waren wie in ihrer Erinnerung. Helena hatte eine Teerstraße befürchtet.

»Mummy, sind wir gleich da?«, fragte ein verschlafenes Stimmchen vom Rücksitz. »Es rumpelt so.«

»Ja, mein Schatz, wir sind gleich da. Keine zehn Sekunden mehr.«

Wir sind gleich da …

Sie bogen auf einen noch schmaleren Weg, an dessen Ende die wuchtige Silhouette von Pandora auszumachen war. Ängstliche Beklommenheit mischte sich in Helenas Vorfreude. Sie steuerte den Wagen durch die rostigen Eisentore, die bereits damals Tag und Nacht offen gestanden hatten und sich mittlerweile sicher nicht mehr in den Angeln bewegen ließen.

Helena blieb stehen und stellte den Motor ab.

»Da sind wir.«

Keine Reaktion von ihren beiden Kindern. Mit einem Blick nach hinten stellte sie fest, dass Immy wieder eingeschlafen war. Alex neben ihr starrte unverwandt in die Nacht hinaus.

»Lassen wir Immy schlafen, bis wir den Schlüssel gefunden haben«, schlug Helena vor und öffnete die Fahrertür. Ein Schwall warmer Nachtluft flutete ins Auto. Helena stieg aus und atmete den unvergesslichen Geruch von Oliven, Trauben und Staub ein – kein Vergleich zu Teerstraßen und Neonpalmen. Der Geruch war wirklich der mächtigste Wahrnehmungssinn des Menschen, dachte sie. Er konnte einen bestimmten Moment oder eine bestimmte Atmosphäre mit untrüglicher Präzision heraufbeschwören.

Sie verkniff sich die Frage, was Alex von dem Haus dachte. Schließlich gab es noch nichts zu denken. Außerdem würde sie es nicht ertragen, etwas Abschätziges zu hören. Sie standen im Stockdunkeln hinter dem Haus, das durch die mit Läden verschlossenen Fenster wie eine abweisende Kaserne wirkte.

»Mum, es ist schrecklich finster.«

»Ich mache die Scheinwerfer wieder an. Angelina sagte, sie würde die Hintertür offen lassen.« Im Licht der Scheinwerfer ging Helena über den Kies zur Tür, dicht gefolgt von Alex. Der Messingknauf ließ sich mühelos drehen, sie stieß die Tür auf, tastete nach dem Lichtschalter und hielt kurz die Luft an, ehe sie ihn betätigte. Unvermittelt erfüllte Licht den rückwärtigen Flur.

»Gott sei Dank«, sagte sie leise, öffnete eine weitere Tür und machte wieder Licht. »Das ist die Küche.«

»Das sehe ich.« Alex ging durch den großen, stickigen Raum, in dem ein ausladendes Spülbecken, ein uralter Herd, ein großer Holztisch und vor einer Wand eine gewaltige Anrichte standen. »Nicht gerade luxuriös.«

»Angus hat so gut wie keinen Fuß in die Küche gesetzt. Für den Haushalt und alles, was damit zusammenhing, war seine Haushälterin zuständig. Ich glaube nicht, dass er je in seinem Leben auch nur einmal am Herd stand. Die Küche war ausschließlich zum Arbeiten da und nicht zum Wohnen und Wohlfühlen, wie wir es heute kennen.«

»Wo hat er dann gegessen?«

»Draußen auf der Terrasse natürlich. Das tut hier jeder.« Helena drehte den Wasserhahn auf. Zögernd begann er zu tröpfeln, dann schoss ein ganzer Schwall heraus.

»Einen Kühlschrank gibt’s hier wohl nicht«, meinte Alex.

»Der steht in der Speisekammer. Angus hat so oft Gäste gehabt, und die Fahrt nach Paphos war so weit, dass er in die Speisekammer zusätzlich ein Kühlsystem einbauen ließ. Und bevor du fragst, nein, eine Tiefkühltruhe gab es damals nicht. Die Tür ist gleich links. Schau doch mal, ob der Kühlschrank noch da ist, ja? Angelina sagte, sie würde uns Milch und Brot hinstellen.«

»Mach ich.«

Helena schlenderte weiter, machte im Vorbeigehen überall Licht und gelangte zu dem großen Eingangsbereich im vorderen Teil des Hauses. Der Steinfußboden mit seinem ausgetretenen Schachbrettmuster hallte unter ihren Füßen. Sie schaute die Treppe empor. Das solide Geländer war kunstvoll aus Eichenholz gefertigt, das Angus eigens aus England hatte importieren lassen. Hinter ihr stand eine Standuhr Wache, tickte aber nicht mehr.

Hier ist die Zeit stehen geblieben, sinnierte sie und öffnete die Tür zum Salon.

Die Sofas mit dem graublauen Damastbezug waren mit Tüchern abgedeckt. Sie zog eines fort und ließ sich in das daunenweiche Polster sinken. Der Stoff war zwar noch makellos, fühlte sich aber ein wenig spröde an, als hätte er seine Festigkeit in all den Jahren, in denen niemand auf den Sofas gesessen hatte, etwas eingebüßt. Helena stand wieder auf und ging zu einer der beiden Terrassentüren, öffnete die Holzläden, drehte am steifen Griff und trat ins Freie.

Ein paar Sekunden später fand Alex sie dort auf die Balustrade der Terrasse gestützt stehen. »Der Kühlschrank pfeift auf dem letzten Loch«, sagte er, »aber es gibt Milch, Eier und Brot. Und hiervon haben wir auf jeden Fall mehr als genug.« Er zeigte ihr eine riesige rosarote Salami. Helena schwieg. Er stellte sich neben sie. »Schöner Blick«, sagte er.

»Es ist atemberaubend, findest du nicht?« Sie freute sich, dass es ihm gefiel, und lächelte.

»Sind die winzigen Lichter da unten die Küste?«

»Ja. Morgen früh wirst du das Meer sehen. Und die Olivenhaine und die Weinberge, die sich von hier bis ins Tal hinunterziehen und beiderseits der Berge.«

Alex schaute nach unten, dann nach rechts und links. »Das Haus liegt, ähm, ziemlich abgeschieden, oder? Ich kann nirgends ein anderes sehen.«

»Ich hatte schon befürchtet, sie könnten hier alles zugebaut haben wie unten an der Küste.« Sie drehte sich zu ihm. »Komm mal her, mein Schatz.« Sie schloss ihn in die Arme. »Ich freue mich, dass wir hier sind.«

»Schön. Es freut mich, dass du dich freust. Hättest du etwas dagegen, wenn wir jetzt Immy holen? Ich habe Angst, sie könnte aufwachen und Angst bekommen und dann weglaufen. Außerdem bin ich am Verhungern.«

»Lass uns doch noch schnell oben ein Zimmer suchen, in das wir sie gleich legen können. Und dann kannst du mir vielleicht helfen, sie nach oben zu tragen.«

Helena ging mit Alex über die Terrasse zurück. Unter der mit Wein überwachsenen Pergola, die willkommenen Schutz vor der Mittagssonne bot, blieb sie kurz stehen. Der lange gusseiserne Tisch, an dem die weiße Farbe schon abblätterte und der großteils unter vertrocknetem Weinlaub verschwand, wirkte verlassen.

»Hier haben wir immer zu Mittag und zu Abend gegessen. Und dafür mussten wir uns alle immer richtig anziehen. Bei Angus kam es nicht infrage, mit Badeanzug oder nasser Badehose am Esstisch zu sitzen, ganz egal, wie heiß es war«, erzählte sie.

»Das verlangst du aber nicht von uns, Mum, oder?«

Helena fuhr ihrem Sohn durch das dichte blonde Haar und gab ihm einen Kuss auf den Scheitel. »Ich werde von Glück reden können, wenn ihr euch überhaupt an den Tisch setzt, ganz egal, was ihr anhabt. Wie sich die Zeiten doch ändern«, sagte sie mit einem Seufzen und nahm ihn an der Hand. »Komm, gehen wir nach oben und schauen uns dort um.«

Es war fast Mitternacht, als Helena schließlich auf dem kleinen Balkon vor Angus’ Schlafzimmer saß, in dessen ausladenden Mahagonibett Immy jetzt tief und fest schlummerte. Helena hatte beschlossen, erst am kommenden Tag, wenn sie entdeckt hatte, wo die Bettwäsche aufbewahrt wurde, einen der beiden angrenzenden Räume für sie herzurichten. Alex lag in einem anderen Zimmer auf der bloßen Matratze. Zum Schutz vor Mücken hatte er alle Fensterläden geschlossen, auch wenn im Zimmer dadurch eine Atmosphäre wie in der Sauna herrschte. An diesem Abend wehte nicht das leiseste Lüftchen.

Mit einem Griff holte Helena ihr Handy und eine zerdrückte Zigarettenschachtel aus der Handtasche, legte beides auf den Schoß und betrachtete es. Zuerst die Zigarette, beschloss sie. Der Zauber sollte noch nicht gebrochen werden. Sicherlich würde ihr Mann William nicht mit Absicht etwas sagen, was sie schlagartig in die Wirklichkeit zurückholte, aber die Wahrscheinlichkeit war dennoch groß. Und es wäre nicht mal seine Schuld, schließlich war es nur vernünftig, wenn er ihr erzählte, dass der Handwerker gekommen sei, um den Geschirrspüler zu reparieren, und sie fragte, wo sie die schweren Plastiksäcke aufbewahre, weil er morgen früh den Abfall für die Müllabfuhr vor die Tür stellen müsse. Er würde davon ausgehen, dass sie sich freute zu hören, wie umsichtig er den Haushalt führte.

Und sie würde sich ja auch freuen. Nur noch nicht in diesem Moment …

Helena zündete die Zigarette an, inhalierte und fragte sich, weshalb Rauchen in einer lauen mediterranen Nacht etwas derart Sinnliches hatte. Ihren allerersten Zug hatte sie nur wenige Schritte von hier entfernt gemacht. Schuldbewusst hatte sie sich damals dem Reiz des Verbotenen hingegeben. Jetzt, vierundzwanzig Jahre später, hatte sie genauso ein schlechtes Gewissen und wünschte, sie könnte sich das Rauchen endgültig abgewöhnen. Damals war sie zu jung gewesen, um zu rauchen, jetzt, mit fast vierzig, war sie zu alt dafür. Bei dem Gedanken musste sie lächeln: Ihre Jugend hatte in den Jahren zwischen ihrem letzten Besuch und ihrer ersten Zigarette in diesem Haus und dem heutigen Abend stattgefunden.

Damals hatte sie so viele Träume gehabt, ihr Leben als erwachsene Frau hatte noch vor ihr gelegen. Wen würde sie lieben? Wo würde sie leben? Wie weit würde sie mit ihrer Begabung kommen? Würde sie glücklich werden …?

Mittlerweile waren die meisten dieser Fragen beantwortet.

»Bitte, lasst den Urlaub so perfekt wie möglich werden«, beschwor sie im Flüsterton das Haus, den Mond und die Sterne. In den letzten Wochen hatte sie ein merkwürdig ungutes Gefühl gehabt, als stünde etwas Unheilvolles bevor, und das hatte sie einfach nicht abschütteln können. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass der Meilenstein-Geburtstag mit Riesenschritten näher rückte – oder vielleicht auch nur damit, dass sie wieder hierherkommen würde …

Schon spürte sie, wie die magische Stimmung Pandoras sich um sie legte, als würde das Haus all ihre Schutzschichten entfernen und ihre Seele enthüllen. Genau wie beim letzten Mal.

Sie drückte die halb gerauchte Zigarette aus und warf sie in die Nacht hinaus, griff nach dem Handy und wählte ihre Nummer in England. William hob beim zweiten Läuten ab. »Guten Abend, mein Schatz, ich bin’s«, sagte sie.

»Ihr seid also gut angekommen?«, fragte er, und allein der Klang seiner Stimme beruhigte Helena.

»Ja. Wie sieht es zu Hause aus?«

»Gut, sehr gut.«

»Und wie geht’s dem dreijährigen Jungterroristen?«, fragte sie lächelnd.

»Irgendwann hat Fred sich Gott sei Dank beruhigt. Er ist sauer, dass ihr ihn mit seinem alten Vater allein zurückgelassen habt.«

»Er fehlt mir. In gewisser Hinsicht.« Helena lachte leise. »Aber ohne ihn wird es einfacher sein, das Haus in Schuss zu bringen, bevor ihr kommt.«

»Ist es bewohnbar?«

»Ich glaube schon, aber morgen früh sehe ich mehr. Die Küche ist ziemlich einfach.«

»Apropos Küche, heute ist der Mann wegen des Geschirrspülers gekommen.«

»Ach ja?«

»Ja. Er hat ihn repariert, obwohl wir zu dem Preis ebenso gut einen neuen hätten kaufen können.«

»Oje.« Helena unterdrückte ein Lächeln. »Die Müllsäcke sind links von der Spüle in der zweiten Schublade von oben.«

»Nach denen wollte ich dich auch fragen. Du weißt ja, morgen kommt die Müllabfuhr. Rufst du morgen früh an?«

»Mach ich. Ein Kuss für Fred und für dich. Tschüs, mein Schatz.«

»Tschüs. Schlaf gut.«

Helena blieb noch eine Weile sitzen und sah zum wunderschönen Nachthimmel hinauf, an dem Tausende von Sterne funkelten. Es kam ihr vor, als würden sie hier viel heller leuchten als zu Hause. Allmählich wich das Adrenalin einem Gefühl von Erschöpfung. Leise ging sie ins Zimmer und legte sich neben Immy aufs Bett. Und zum ersten Mal seit Wochen schlief sie sofort ein.

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ISBN978-3-641-17418-7 (eBook)

ISBN978-3-442-48405-8 (Taschenbuch)

ISBN978-3-8445-2112-2 (Hörbuch)

Erscheinungstermin aller Ausgaben: 14.3.2016