Helfen durch Arbeit - Matthias von Hermanni - E-Book

Helfen durch Arbeit E-Book

Matthias von Hermanni

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Beschreibung

Deutschland im Reformstau. Alternativlos? Helfen durch Arbeit! Eine tief gespaltene Gesellschaft im Widerstreit zwischen Alimentation fürs Nichtstun, fast grenzenloser individueller Freiheit und maßlosem Reichtum Einzelner. Zwischen 1992 und 2000 hat die Stadt Leipzig mit dem Betrieb für Beschäftigungsförderung (bfb) jedem arbeitslosen Hilfeempfänger konsequent Arbeit angeboten. Im bfb schufen 20.000 Leipziger — bis zu 8.000 gleichzeitig — mit Schulen, Kitas, Krankenhäusern, Grünanlagen oder der Entwicklung ökologischer Stadtgüter Werte in Millionenhöhe – Damals der größte Betrieb in Sachsen. Nach 2000 wurde der Betrieb von der Politik mithilfe der Justiz wieder zerschlagen. Ein Gespräch zwischen dem damaligen westdeutschen Betriebsleiter Matthias von Hermanni und dem ostdeutschen Leiter der Fortbildung, Jürgen Weiß, über Ihre Erlebnisse mit dem bfb und aus der Zeit der Wiedervereinigung Deutschlands.

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Seitenzahl: 250

Veröffentlichungsjahr: 2025

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HELFEN DURCH ARBEIT

Arbeitszeit schafft Gerechtigkeit

oder

wir waren weiter...

*

Ein Gespräch unter Freunden

Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt."

Helmut Kohl, 1. Juli 1990.

Vorbemerkung von Jürgen Weiß

*

Die Welt spielt verrückt. Die Ampel flackert und geht aus, Trump wird uns alle überraschen. Die Parteien irrlichternd durch die Politik.

Gott sei Dank bin ich Rentner. Genau 34 Jahre war ich ein guter „sozialistischer Staatsbürger“, genau 34 Jahre bin ich ein gebeutelter Kapitalist.

In meinem schönen Deutschland geht es drunter und drüber und ich kann sagen, ich war immer mittendrin. Ganz oben, ganz unten und dazwischen wurde sogar noch gearbeitet.

Vor dreißig Jahren lernte ich den Betrieb für Beschäftigung (bfb) und die Eheleute von Hermanni kennen. In Dutzenden von Gesprächen wurde immer deutlicher, wie sich unsere politischen Einstellungen immer mehr annähern. Es wird immer offensichtlicher, dass Deutschland im Sozialbereich schlechtaufgestellt ist, um Menschen wieder an Arbeit heranzuführenund Arbeitslosigkeit nicht zu alimentieren. Auch unter dem Eindruck der ungebremsten Einwanderung.

Die Medienlandschaft ähnelt immer mehr den Gegebenheiten der späten DDR-Zeit. Die sogenannten sozialen Medien werden mehr und mehr zu asozialen Medien. Es gibt keinen Meinungsaustausch mehr, sondern nur noch polemisierte Rechthaberei. Und wenn Sprache politisiert wird, dann ist in meinen Augen die Demokratie gefährdet.

Wie konnte es so weit kommen? Was könnte man heute erneut so machen wie früher oder vielleicht sogar besser?

Darüber müssen wir reden.

Dagmar, seine Frau und meine ehemalige Chefin wollte esnicht. Bei den Gesprächen spürte man, wie die alten Emotionen und Aggressionen wieder hochkochten. Mir wurde bewusst, dass ich trotz der persönlichen Nähe vieles nicht wusste.

Vor allem waren da zwei Menschen die in detaillierter Kenntnis der deutschen Verwaltungsstrukturen einen Plan hatten, wie man Deutschland etwas gerechter machen könnte.

Vielleicht kann man ja doch etwas bewirken.

Vorbemerkung von Matthias von Hermanni

*

Dieses Buch wollte ich nie schreiben.

Ich bin in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren von mehreren Dutzend Menschen immer wieder aufgefordert worden, die Ereignisse, die mein Leben bestimmt haben niederzuschreiben. Die einen meinten, mein Lebenslauf als solcher sei so interessant, dass man ihn biografisch wiedergeben müsse. Andere wollten meine Erfahrungen mit der sächsischen Justiz auf Papier sehen. Insbesondere viele meiner ehemaligen Mitarbeiter und Kollegen wünschten sich, dass ich mich zum Aufbau und zur Zerschlagung des Betriebes für Beschäftigungsförderung (bfb) doch schriftlich äußern solle.

Ich habe es immer abgelehnt.

Wen interessiert es!?

Warum mache ich es jetzt doch?

Die aktuelle Diskussion um das Bürgergeld – ich nenne es immer schon nur Bürgerhartz – und die damit einhergehende Diskussion um die politische gesellschaftliche Dimension veranlasst mich nun doch, mich hinzusetzen und es schriftlich festzuhalten. Ich glaube, dass meine Berufs- und Lebenserfahrung ein kleiner Beitrag hierzu sein könnte. Allemal ärgert es mich in letzter Zeit immer häufiger, wenn Ereignisse – bei denen ich selbst dabei war – in der historischen Darstellung manchmal verdreht oder häufig doch sehr einseitig dargestellt werden.

Nachdem ich mich entschlossen hatte, habe ich dann feststellen müssen, dass es gar nicht so leicht ist, die vielen Facetten meines Lebens so zu ordnen, dass sie ein Dritter überhaupt ansatzweise verstehen und nachvollziehen kann. Wir haben es zeitlich geordnet. Bestimmte Themen überschneiden sich jedoch zeitlich. Einige Themen haben wir unter Stichworten zusammengefasst.

Als Gesprächspartner bot sich dann mit Jürgen Weiß jemand an, dessen eigene Biografie wunderbar das Buch ergänzt.

Sollte das Buch eine größere Öffentlichkeit erreichen, wird die dann einsetzende Diskussion sicher nicht von den Menschen geführt werden, die der Hilfe bedürfen und dankbar wären.

Die Diskussion wird von den Extremen in unserer Gesellschaft bestimmt sein. Nicht wenige aus dem links- und rechtsextremen Politikbereich finanzieren sich heute aus öffentlichen Mitteln.

Meine politischen Vorschläge führen bei diesen Gruppen zur blanken Panik.

Das wird auch wieder mit persönlichen Beleidigungen und Angriffen verbunden sein.

Dies ist auch der Grund, weshalb meine Frau Dagmar eine Veröffentlichung nie wollte.

Der Situation und den Auswirkungen bin ich mir bewusst …

DIE ERSTEN JAHRE

Matthias, ich kenne dich jetzt seit fast dreißig Jahren. Die Aufarbeitung der Wendezeit ist ein wichtiges Thema und das Thema Migranten, Bürgergeld und Sozialstaat brandaktuell. Aber wir müssen klären, woher ihr kommt und wie eure Kindheit, Jugend und Familie geprägt war.

Ich bin als siebtes und jüngstes Kind – und wohl mehr ungewollt – in einer christlich geprägten Flüchtlingsfamilie aus Danzig in Hildesheim geboren worden. Mein Vater war nach einer Gärtnerausbildung zum Grundschullehrer umgeschult worden. Meine Mutter war Friseuse, aber nach Geburt der Kinder immer Hausfrau. Meine Mutter war 1944 mit den fünf Kindern aus Danzig – zurück nach Dingelbe bei Hildesheim zum früheren Stammsitz der von Hermannis – geflohen. Mein Vater war einer der letzten westalliierten Kriegsgefangenen und ist erst 1948 aus irischer und schottischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Ein Jahr später kam dann das sechste Kind und ich dann 1954 auf die Welt.

Ich wurde eigentlich im engeren Sinne nie richtig erzogen. Ich wurde eben immer nur älter und größer. Mit dreizehn passten mir dann nicht mehr die Sachen meiner älteren Brüder. Mein Vater hatte zwei Grabeland-Flächen mit Obstbäumen und Büschen gepachtet. Mit den Kleintieren dienten sie zur Versorgung der Familie. Ich war es gewohnt, als kleiner Junge im Garten mitzuhelfen, und im Winter musste ich – nein falsch, durfte ich – immer zum Bäcker. Die Familie verbrauchte zwei Brote am Tag. Meine Mutter hatte keinen Wintermantel und beim Bäcker bekam ich immer ein Stück Kuchen extra. Ich sag’ das gleich mal vorneweg, damit nicht wegen des „von“ bei irgendjemand eine falsche Vorstellung vom sprichwörtlich „goldenen Löffel“ herrscht.

Na, das hört sich fast so an, als ob du unter deinem Namen gelitten hättest.

Nein, aber das „von“ hat insbesondere im Osten immer eine gewisse Aufmerksamkeit und häufig eine Assoziation zum Reichtum ausgelöst. Der tägliche Lebensunterhalt und die Finanzierung des Studiums meiner älteren Geschwister war in der Familie immer ständiges Thema. Meine Eltern hatten nie das Geld, um in Urlaub zu fahren. Die Kinder verbrachten einen Teil der Schulferien umschichtig bei Onkel und Tante.

Bei den nach 1990 unzähligen Gesprächen zwischen den „armen Ossis“ und dem „reichen Wessi“ kam dann immer dieser Hinweis und meine Frage: Wie häufig warst du in Urlaub oder im Ferienlager? Das Ergebnis relativierte immer ein wenig die Sichtweisen, Blickwinkel und Einschätzungen.

Der wirtschaftliche Hintergrund war also eng, und welche Themen bestimmten sonst die Familienstrukturen?

Ich hatte eine sehr schöne Kindheit und bin dabei in einem sehr politischen Elternhaus großgeworden. Meine Eltern hatten sich bei den Nazis in Danzig kennengelernt. Mein Vater war nach dem Krieg als Flüchtling im Gemeinderat der Vertreter des Bundes der Heimatvertrieben und Entrechteten (BHE). Ferner hat er sich in der Katholischen Kirche als Laie engagiert. Ich denke, da war bezogen auf die Nazizeit auch so etwas wie schlechtes Gewissen. Unsere gemeinsamen Mahlzeiten waren häufig von politischen Diskussionen begleitet.

Meine erste und älteste politische Erinnerung ist, dass mein Vater mich nachts um 22 Uhr weckte, aus dem Bett holte, vor den Fernseher setzte und sagte:

„Daran wirst du dich dein Leben lang erinnern.“

Er hatte recht. An diesem Abend kamen die Berichte über die Ermordung von J. F. Kennedy.

Es hört sich jetzt hier wirklich pathetisch an, und ich verstehe, wenn jeder Leser die Augen verdreht, aber der Satz von Kennedy

„Frag nicht, was kann dein Land für dich tun, frag was kannst du für dein Land tun!“

hat mich dann mein Leben lang begleitet. Damit meine ich gar nicht mich selbst, sondern die Aufgabenstellung meiner späteren beruflichen Tätigkeit. Heute übersetzt die Politik es mit dem Fördern und Fordern. Leider ohne jegliches konsequente Handeln.

Na, du schaltest jetzt aber wirklich gleich von ganz klein auf ganz groß.

Will ich nicht, aber ich war nun mal den absolut wesentlichen Teil meines Berufslebens an dieser Frontlinie der theoretischen gesellschaftlichen Diskussion immer unmittelbar praktisch tätig. Mein persönlicher Erfahrungsschatz umfasst dabei nicht nur Ost- und Westdeutschland, sondern auch nach dem Jahr 2000 die Aktivitäten von gleich mehreren Vereinen. Wenn man den Satz von Kennedy in das Bild einer Waage übersetzt, dann fordert Kennedy eine Waage zugunsten des Staates. Dieser Auffassung bin ich nicht.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 5. November 2019 zur Ausgestaltung staatlicher Grundsicherungsleistungen die notwendige gesellschaftspolitische Akzeptanz des Gebens und Nehmens aus dem Lot gebracht. Allemal hat die von der Politik vorgenommene Interpretation des Urteils die Waage nun zugunsten des Bürgers ausschlagen lassen. Das Urteil und seine Interpretation haben mich in den letzten Jahren sehr geärgert. Das Urteil ist ein weiterer Beweggrund für dieses Buch.

Ein Staat kann als ein Gemeinwesen langfristig nur Bestand haben, wenn die Waage des Gebens und Nehmen – bei allen Schwankungen – sich am Ende ausgleicht. Die Politik muss sich zumindest glaubwürdig um diesen Ausgleich bemühen. Sie tut es gegenwärtig weder im Bereich von „Bürgerhartz“ noch bei den Milliardären.

Zunächst zu deinen politischen Aktivitäten und Erfahrungen.

Im Elternhaus war die Politik ständiges Thema. Meinen ersten persönlichen Kontakt zur Politik hatte ich bei den Jungsozialisten. Die erklärten mir, es hinge alles an den gesellschaftlichen Prozessen und ich als Einzelner könne eh nichts bewirken. Das entsprach nicht meinem Weltbild. Also ging ich zur Jungen Union. Die sagten, es käme auf mich an. Das war meins.

In den sechziger Jahren war die CDU nur ein Kanzlerwahlverein. Mit Kohl, Biedenkopf und vor allem Geißler veränderte sich die Partei grundlegend. Ich war 1968 im Alter von 14 Jahren in die Junge Union Hildesheim eingetreten und wurde dann nach meinem Wechsel nach Hannover dort Schatzmeister und kurze Zeit später Vorsitzender der Jungen Union Hannover. In dieser Zeit lernte ich Gerhard Schröder kennen, der im Ring Politischer Jugend die Jusos vertrat. Damals machten wir noch gemeinsame Bildungsreisen. Die letzte war nach Jugoslawien. In der hannoverschen CDU hatten einige Personen die Welt unter sich aufgeteilt. Für die nächste Generation war kein Platz. Das passte mir nicht. Auch die politische Ausrichtung allein auf die Wirtschaft und vor allem auf Mandate war nicht meins. Mit vielen anderen haben wir die Junge Union auf über 1.000 Mitglieder gebracht und nach und nach eine Mehrheit in der CDU gewonnen.

Damit Außenstehende es nachvollziehen können, die CDU Leipzig hat heute etwas über 800 Mitglieder. Ich war dann 16 Jahre Vorsitzender der Jungen Union. Ich glaube, es gibt deutschlandweit keinen, der es je länger gemacht hat. Da ich selbst aber nie Interesse an einem Mandat hatte, entstand daraus das Bild einer sogenannten grauen Eminenz. Dieses Bild wurde dann durch bundesweite Berichterstattungen befeuert, weil auch in anderen Großstädten die alte Generation aus den Mandaten gedrückt wurde.

Warum bist du nicht selbst in ein Mandat gegangen?

Weil ich das nie wollte. Ich konnte immer aus nächster Nähe beobachten, wie man auf alles und jeden hätte Rücksicht nehmen müssen. Ich habe in meiner politisch aktiven Zeit viele auch öffentlich bekannte Politiker kennengelernt. Der persönliche Kontakt ergab häufig einen merkwürdigen Dissens zu dem öffentlichen Fernsehbild. Auch dies war für mich immer auch ein Stück Beweis für dies veränderte Verhalten, wenn eine Kamera angeht.

Hast du Beispiele?

Im Bundestagswahlkampf 1980 haben wir nach einem öffentlichen Auftritt auf dem Tramplatz in Hannover in kleinem Kreis noch mit Franz Josef Straußzusammengesessen – sympathisch mit einer sehr gewinnenden Art. Bei Helmut Kohl empfand ich diesen Dissens zwischen seiner Wirkung im Raum und über den Fernseher noch deutlicher. Sehr empathisch und warmherzig. Ich dachte mir immer, was geht da ab. Verstellen sich die Menschen? Müssen sie bestimmte Bilder bedienen?

Ich wollte keine persönlichen Abhängigkeiten, mich interessierte mehr die politische Gestaltung. Tatsächlich endet die allerdings am Ende aber fast immer auch in einer Personalentscheidung, was dann bei mir zu weiteren bundesweiten Zeitungsartikeln mit solchen Überschriften wie „Die Spinne im Netz“ führte.

Welche Rolle hat deine eigene Familie gespielt?

Ich habe meine Frau Dagmar, mit der ich drei Kinder (Juristin, Soziologe, Ärztin) habe, in der Jungen Union kennengelernt. Ich hatte sie für die Junge Union geworben, später hat sie die Geschäftsführung im Kreisverband Hannover übernommen. Die Junge Union hat seinerzeit sehr viel inhaltliche Arbeit geleistet, vor allem in sozialen Themen. Themen wie „Kinder haben keine Lobby“ oder „Humane Arbeitswelt“ haben damals auch die Deutschlandtage der Jungen Union bestimmt. Dagmar brachte sich dabei überall inhaltlich stark mit ein. Als Sozialarbeiterin war sie in der damaligen CDU eine absolute Ausnahmeerscheinung. Über ihre Examensarbeit „Die Jugendarbeitslosigkeit und ihre sozialen Folgen“ bin ich dann inhaltlich erstmals mit dem Thema Arbeitslosigkeit intensiver in Kontakt gekommen. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Examensarbeit hat meinen Blick auf das Thema Arbeitslosigkeit sicherlich sehr geschärft und später das Handeln mitbestimmt.

Gemeinsam betreuten wir in den Siebzigern in den Regierungsbezirken Hannover, Hildesheim und Braunschweig die politische Seminararbeit der Hermann-Ehlers-Akademie (HEA).

Ich glaube, du musst erläutern, was sich dahinter verbirgt.

Bei der SPD ist es die Friedrich-Ebert-Stiftung und bei der CDU eigentlich die Konrad-Adenauer-Stiftung. Die norddeutschen CDU-Verbände hatten zusätzlich die HEA gegründet. Dagmar und ich betreuten damals über 30 politische Seminare pro Jahr. Wenn man die Weihnachtszeit und die Ferien abzieht, waren wir also fast jedes Wochenende auf Seminaren unterwegs. Als Seminarleiter musste man sich um die Vorbereitung und Abrechnung kümmern, aber man nahm auch inhaltlich an den Seminaren teil. Wir lernten viele Menschen und interessante Referenten wie z. B. Dieter Kronzucker kennen. Da man häufig auch die Abende gemeinsam verbrachte, entstand auch häufig so etwas wie ein persönlicher Kontakt. Allemal haben wir viel gelernt.

Gibt es aus den vielen Jahren als Kreisvorsitzender noch besondere Ereignisse, die aus heutiger Sicht erwähnenswert sind?

Aus heutiger Sicht verblassen die Themen und inhaltlichen Auseinandersetzungen von damals. Aber dann ploppt plötzlich dieses oder jenes Thema aktuell auf. Alles schon da gewesen. Wenn ich an den Nato-Doppelbeschluss zur Aufstellung der Mittelstreckenraketen denke und die heutige Diskussion verfolge, bin ich wieder in meiner Jugend. Damals waren die Auseinandersetzungen ungleich schärfer als heute. Ich war 1981 für die Organisation des Sonderzuges aus der Region Hannover zur Demonstration nach Bonn verantwortlich. Bis heute die größten Demonstrationen in der Geschichte der Bundesrepublik.

Ich bin mir ganz sicher, dass ohne diese damalige Entscheidung – und das sich anschließende Totrüsten der Sowjetunion – eine Wiedervereinigung nicht möglich gewesen wäre. Es ist die eine Seite der Medaille, die zweite der Aufstand der ostdeutschen Bürger. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Die meisten Ostdeutschen glauben immer, es gäbe nur eine Medaillenseite.

Gibt es sonst noch Erwähnenswertes aus der Parteiarbeit?

Doch, es gibt noch ein Thema. Stichwort Schüler-Union. Als ich Kreisvorsitzender wurde, gab es deutschlandweit noch keine Schüler-Union. Die Ursprungsidee kam vom späteren niedersächsischen Kultusminister Remmers und dem späteren Generalsekretär der Bundesstiftung Umwelt Fritz Brickwedde, der damals noch in der Jungen Union Osnabrück Vorsitzender war. Die Junge Union Hannover und Osnabrück gründeten zunächst Kreisverbände und luden dann zu einer Gründungsversammlung ein. Im großen Saal der hannoverschen Bahnhofsgaststätten fand dann unter meiner Leitung die Gründungsversammlung der Schüler-Union statt. Erster Vorsitzender wurde Christian Wulff.

Der spätere Bundespräsident?

Ja. Innerhalb kürzester Frist zogen die anderen Landesverbände der CDU nach. Ein Jahr später war der Bundesverband gegründet und Christian wurde Bundesvorsitzender. Obwohl damals nicht in den Statuten der CDU vorgesehen, kooptierte Kohl ihn in den Bundesvorstand. Damals ein großes Medienereignis.

Kreuzten sich später noch mal eure Wege?

Persönlich nur auf Niedersachsen- und Deutschlandtagen der Jungen Union. Christian war immer auf Linie der Landesleitung. Wir aus Hannover waren immer etwas mehr gegen den Strich gebürstet.

Mein Rechtsanwalt im Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof (BGH), Dr. Müssig von der Sozietät Redeker und Dahs aus Bonn, wurde zehn Jahre später auch sein Anwalt. Die Welt ist eben klein.

Du bist heute noch politisch aktiv?

Ich hatte nach der Jungen Union in Hannover die Christlich Demokratische Arbeitnehmerschaft der CDU übernommen und 1990 die Christlich Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) in Leipzig im Rahmen einer Partnerschaft gegründet. Seit zehn Jahren bin jetzt deren Vorsitzender in Leipzig.

Neben der Politik – welchen Berufsweg hast du eigentlich eingeschlagen?

Nach der Schule war ich zunächst für 21 Monate als Zeitsoldat bei der Bundeswehr. Mit der Abfindung konnten wir uns die ersten eigenen Möbel kaufen.

Ab 1975 habe ich die Fachhochschule für die Allgemeine Verwaltung besucht und bei der Stadt Hannover mit der Ausbildung für den Gehobenen Dienst begonnen. Dagmar und ich haben im gleichen Jahr mit 19 und 21 Jahren geheiratet. Für westdeutsche Verhältnisse extrem früh. Alle dachten, sie ist bestimmt schwanger. Zwei Jahre später haben wir uns, noch in der Ausbildung, ein altes Haus in Langenhagen, direkt unter der Einflugschneise gekauft und es die nächsten 15 Jahre immer weiter selbst ausgebaut.

Wie konntet ihr euch einen Hauskauf als Studentin und Beamtenanwärter denn überhaupt leisten?

Mit einem Bausparvertrag von Dagmar über 10.000 Mark und einem Arbeitgeberdarlehen der Stadt Hannover über 10.000 Mark als Eigenkapital. Der Rest waren Kredite über 200.000 Mark bei einem Zinssatz von acht Prozent. Das erste Jahr – während der Ausbildung – haben wir daraus auch die Kredite finanziert. Wir wussten ja, es konnte finanziell nur besser werden, und vor allem hatten wir eine optimistische Lebenseinstellung. Heute hat der Staat, aber auch die Banken alles so totreguliert, dass selbst bei vierprozentiger Immobilienfinanzierung der Jugend der Mut genommen wird, Wohnraum für die eigene Familie zu schaffen.

In welchen Berufsfeldern wurdet ihr dann tätig?

Dagmar ging zum Landkreis Hannover. Sie war als jüngste Sozialarbeiterin, die der Landkreis je eingestellt hatte, zunächst in der Jugendgerichtshilfe tätig. Ein Teil ihres Klientels vor Gericht war manches Mal älter als sie.

Ich war nach meiner Ausbildung ab 1978 zwei Jahre im Sozialamt tätig und dann im Personalamt zuständig für Tarifrecht und Eingruppierung. Ferner wurde ich zum nebenamtlichen Arbeitsrichter und Dozent an der Fachhochschule im Fach Arbeitsrecht berufen. Dazu noch die Partei und die Haussanierung. Wir hatten gut zu tun.

ARBEITSBESCHAFFUNGS-MAßNAHMEN

ABM-Stützpunkt Hannover: Oder Lehmann-Grube und die Fliesenfugen

Wie bist du dann beruflich zum Thema Arbeitslosigkeit gekommen? Ist nicht gerade typisch für einen Kommunalbeamten.

Da muss ich weiter ausholen. Wir hatten in Hannover in den Achtzigerjahren nach vierzig Jahren sozialdemokratischer Alleinherrschaft erstmals eine Große Koalition. Ich war Mitglied im Geschäftsführenden Vorstand der CDU und Vertreter im gemeinsamen Koalitionsausschuss mit der SPD.

Der Bund hatte Mittel für Langzeitarbeitslose zur Verfügung gestellt. Die Verwaltung hatte aber nichts gemacht. Die Fachämter hatten recht lustlos solche Vorschläge wie „Wir lassen unser Archiv mal neu sortieren“ vorgeschlagen. Das hatte alles wenig mit der Qualifikation der meisten arbeitslosen Menschen zu tun. SPD und CDU-Ratsfraktion hatten in der Zwischenzeit die Verwaltung unter dem damaligen Oberstadtdirektor Dr. Lehmann-Grube (LG) heftig Maß genommen. Die nächste Ratssitzung stand vor der Tür und die Verwaltungsspitze musste was unternehmen, um der schärfsten Kritik zu entgehen. Der sehr clevere Verwaltungsdezernent Veit Wetzel kam dann auf die Idee, doch den „bunten Hund“ von der CDU mit noch einem Kollegen als Sonderbeauftragten einzusetzen, dann würde zumindest die CDU ja nicht mehr meckern können. LG kannte mich bis dahin höchstens aus der intensiven Medienberichterstattung der örtlichen Presse.

Wir interpretierten die Rolle eines Sonderbeauftragten sehr großzügig. Wir warfen die bisherigen Vorschläge der Verwaltung in den Papierkorb, nahmen Kontakt mit der Arbeitsverwaltung auf, orientierten uns an der Qualifikation der Langzeitarbeitslosen und entwarfen entsprechende Projekte.

Die Eckpunkte waren klar und ganz einfach:

• nur kommunale Arbeiten, keine privaten Aufträge.

• keine Arbeiten, die im Haushaltsplan der Stadt enthalten waren, um jegliche Auseinandersetzung mit dem Handwerk zu vermeiden und die gesetzliche Norm nach der Zusätzlichkeit zu erfüllen.

• möglichst schlichte, aber immer kommunale Arbeit.

• kein Aufsammeln von weißen Papierschnipseln unter geschlossenen Schneedecken oder Streicheln von Katzen und Hunden; also keine Beschäftigungstherapien, sondern nur ernsthafte und mehrwertschaffende Arbeit.

Dafür brauchten wir einen Standort, damit die Mitarbeiter sich umziehen und auch waschen konnten. In der Hölderlinstraße in Hannover Kleefeld war gerade eine alte Grundschule freigezogen worden und wir bauten sie mit den im Haushaltsplan zur Verfügung stehenden Mitteln entsprechend unseren Erfordernissen aus. Keine vier Monate nach der Berufung zum Sonderbeauftragten konnten wir die ersten Langzeitarbeitslosen einstellen. Die Medien berichteten und der Oberstadtdirektor Lehmann-Grube (LG) meldete sich zu einem Besuch an. Ich hatte ein bisschen Bammel. Bis zu diesem Tag hatte ich gar keinen persönlichen Kontakt mit ihm gehabt. Ich denke, der Termin prägte dann unser weiteres Verhältnis. Überall im Haus liefen Bauarbeiten. Lehmann-Grube interessierte sich für jedes Detail. Hinter einem Fliesenleger, der gerade verfugte, blieb er minutenlang stehen. Ich wollte weiter, hatte noch viel zu besprechen. Der Mitarbeiter wischte gerade die Fugenmasse über die Fliesen in die Fugen, und da plauzte LG heraus: „Ich habe mich immer gefragt, wie das Zeug da reinkommt.“

Ich war erstaunt, wie man sowas nicht wissen konnte. Nach dem Rundgang kamen wir dann in meinem provisorischen Büro in einem Bauwagen an. Das gefiel LG – junge Beamte in leicht verdreckten Arbeitsklamotten im Bauwagen – und er lobte, wie weit wir seien, und fragte, wie ich denn überhaupt die Aufträge für das Material und die Firmen hätte auslösen können. Er hätte doch gar keine Vorlagen in der Dienstberatung gesehen. Ich grinste ihn an und sagte: „Das haben alles Sie entschieden. Wir haben allen gesagt, der ‚Oberstadtdirektor möchte das so‘, und wer es nicht glaubt, könne ihn ja anrufen. Nur sei der leider gerade in Urlaub.“

LG lachte laut auf und murmelte, er habe alles verstanden.

Bei der sich anschließenden inhaltlichen Diskussion lernte ich dann, dass er in der gesamten Thematik Sozialhilfe tief drinsteckte. Was kaum einer weiß, LG war in der Zeit von 1957 bis 1967 als Berufsanfänger Mitarbeiter des Deutschen Städtetages, zunächst zuständig für Sozialpolitik. In diesen Zeitraum fiel auch die Vorbereitung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), in Kraft getreten am 1. Juni 1962, das einen Wechsel von der öffentlichen Fürsorge zu einem Rechtsanspruch auf Leistungen vornahm.

Bis dahin waren die staatlichen Leistungen also mehr Hilfestellungen oder so etwas wie Almosen. Nun gab es einen Rechtsanspruch auf Hilfeleistungen?

Ja. Ein Paradigmenwechsel. Diesem Rechtsanspruch standen jedoch auch Pflichten des Hilfesuchenden gegenüber, und die Verletzung dieser Pflichten konnte Sanktionen nach sich ziehen.

Das erste Berufsfeld verfolgt man sein Leben lang immer sehr aufmerksam, auch wenn man später andere Aufgaben übernimmt. Das war bei LG nicht anders und sollte später das Handeln des Betriebes für Beschäftigungsförderung (bfb) sehr bestimmen.

LG als Sozialexperte – bisher habe ich immer nur etwas von dem preußischen Verwaltungsjuristen gehört und gelesen.

Er hatte in seiner Funktion im Deutschen Städtetag bei der Schaffung des BSHG mitgewirkt. Insoweit hatte er seine besonderen Vorstellungen zu der Thematik, als Jurist und Verwaltungschef hatte er sie theoretisch durchdrungen und konnte sie auch für Rat und Parlament umsetzen. Was er nicht konnte, war, den unmittelbaren Kontakt empathisch durchzustehen. Die vor einem sitzende weinende Frau vielleicht auch zu herzen oder auch mal jemanden sehr laut zur Ordnung zu rufen, war nicht sein Ding. Wobei, einmal habe ich es später selbst erlebt. Ich denke, ihm gefiel meine offene und direkte Art. Ich hatte immer das Gefühl, dass es uns beiden Spaß machte, offen, aber letztlich aus ganz anderen Blickwinkeln schauend das Thema soziale Hilfen miteinander zu diskutieren.

Du hast eine besondere Beziehung zu ihm entwickelt?

Ja, das stimmt. Wir haben uns nie geduzt, wohl mal gegenseitig zu Hause mit Ehefrau besucht und doch eine ganz enge, sehr respektvolle Beziehung gehabt. Später, in Leipzig hatten wir häufig direkten Kontakt. Dabei achtete er immer darauf, dass er meinen eigentlichen Vorgesetzten, den Bürgermeister Andreas Müller, nicht überging. Wenn er es nicht wollte, dann titulierte er unser Gespräch als persönlich. Leipzig kann sich glücklich schätzen, ihn als ersten Oberbürgermeister nach der Wende gehabt zu haben. Ich habe viel von ihm gelernt und ihn sehr geschätzt.

Hast du ein konkretes Beispiel parat?

Ach, es war bei einem Gespräch noch in Hannover und ich beschwerte mich gerade heftig über die bekloppten Ratsherrn, die von nichts eine Ahnung hätten, und er antwortete ganz trocken: „Der Einzige, der hier bekloppt ist, sind Sie, denn Sie haben es ja offensichtlich nicht geschafft, die Ratsherren zu überzeugen und sie auf ihre Seite zu ziehen.“

Recht hatte er. Ich habe mir die Belehrung beim Umgang mit Parlamentariern gut gemerkt.

Kommunale Beschäftigungsförderung: Eine Alternative

Du hast dann die nächsten Jahre in Hannover die von dir geschaffene Einrichtung geleitet. Du hast dort Erfahrungen sammeln können. Das muss im Nachhinein doch so ein Gefühl wie die Ausbildung für den Ernstfall gewesen sein. Was waren denn dann die zentralen Erkenntnisse?

Jetzt wird es komplex und kompliziert. Die Aufgabe „Kommunale Beschäftigungsförderung“ ist keine gesetzliche Aufgabe. Der Rechtsrahmen wird einerseits durch den jeweiligen Fördermittelgeber bestimmt und ansonsten von den politischen Rahmenbedingungen und Vorgaben der Kommune. Das bedeutet, dass alle kommunalen Kräfte einwirken. Also zunächst einmal die politischen Parteien aus ihrem jeweiligen Blickwinkel, aber eben auch Arbeitgeber wie Handwerkskammer und IHK sowie die Gewerkschaften. Vor allem aber auch die „Sozialmafia“.

Sozialmafia, was meinst du damit?

Mir geht es hier nicht um die vielen Menschen, die im Ehrenamt arbeiten. Ich meine die großen Sozialverbände von AWO bis Diakonie, aber auch die ganzen Strukturen wie „Arbeit und Leben“ und die ganzen Verbände, die sich in dem politischen Vorfeld über Jahrzehnte entwickelt haben. Wenn du dich im Westen auch nur in der Nähe von sozialen Themen bewegst und ein Projekt anschieben wolltest, meldete sich sofort einer aus der Sozialmafia und rief: „Wenn die, dann wollen wir auch.“ Die ganzen politischen Beiräte waren mit den Vertretern der Sozialmafia geradezu vollgestopft.

Ziemlich einseitig, da kann man auch anderer Auffassung sein.

Wenn man liest, dass der Chef der AWO in Frankfurt ein Jahresgehalt höher als der Bundeskanzler hat, dann ist bei uns im Land doch etwas aus dem Ruder gelaufen.

Hinzu kommt ein anderer Gesichtspunkt. Ein öffentlicher Sozialbetrieb wird immer eine andere Rolle einnehmen als ein privater.

Vor allem aber, warum soll der Mehrwert aus der Arbeit privatisiert werden? Er steht der öffentlichen Hand zu.

In Deutschland gilt das Subsidiaritätsprinzip.

Ich bin sehr für dieses Prinzip. Es verpflichtet zunächst die Hilfe suchende Person, alles Zumutbare zu unternehmen, um eine Notlage aus eigenen Kräften abzuwenden bzw. zu beheben. Wenn es dann um die Feststellung von Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit geht, ist dies eine öffentliche Aufgabe und keine private. Es kommt ja auch keiner auf die Idee, die Musterung für die Bundeswehr dem Diakonischen Werk zu übertragen.

Du warst als Betriebsleiter des bfb mit dieser Aufgabe betraut. Versuch’ es etwas genauer zu beschreiben. Welche Rolle hattest du dabei?

Als Leiter einer öffentlichen Einrichtung musst du auf all diese einwirkenden Kräfte Rücksicht nehmen. Ferner bist du Teil des Öffentlichen Dienstes/Staates und gleichzeitig als Chef und Vorgesetzter im besten Sinne in der Fürsorgepflicht gegenüber deinen Mitarbeitern. Ich war also nicht das Arbeitsamt und auch nicht das Sozialamt oder sonst ein Behördenleiter. Diese wiederum benutzten mich natürlich immer auch, um ihre gesetzlichen Vorgaben und Interessen durchzusetzen. Für die nächsten Jahre war also meine Rolle immer jemand, der sich innerhalb des Systems befindet, aber doch von außen schaute.

Du hast dich mit dieser Frage und deiner Rolle intensiv auseinandersetzen müssen.

Ja, das ist hier eine ganz wichtige Stelle.

Wir müssen hier wirklich etwas verharren. Damit jeder mal einen Augenblick darüber nachdenkt. Du kennst den Spruch:

„Wes’ Brot ich ess’, des’ Lied ich sing“

Nur wessen Brot habe ich gegessen?

Bin ich als Beamter nun dem Bund, dem Land, der Kommune oder den Bürgern, die meine Mitarbeiter sind, verpflichtet?

Ich habe es für mich mit dem Satz aus der Bibel beantwortet:

"Gib dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist."

Hört sich ja gut an, aber was heißt das denn ins konkrete Handeln übersetzt?

Auf der einen Seite die Gesetze und öffentlichen Vorschriften einzuhalten und auf der anderen Seite den fleißigen Menschen Vorteile und Nutzen, zum Beispiel durch Möbellager, Kleiderkammern und ähnliche Strukturen, zu verschaffen – manches Mal auch durch Beratung und Hilfestellung beim Behördendschungel.

Na ja, manchmal überschreitet man auch den Pfad und verletzt die Grenzen und wird schwach.

Hast du ein Beispiel?

Was machst du, wenn zwei Tage vor Weihnachten eine fleißige Mitarbeiterin mit mehreren noch jungen Kindern weinend vor dir steht und dich um Hilfe bittet, weil zu Hause ihre Heizung ausgefallen ist und sie kein Geld hat.

Was hast du gemacht?

Das Problem durch unsere Handwerker lösen lassen. Aber es ist natürlich eine Grenzüberschreitung.

Tatsächlich eine interessante Fragestellung, die, wenn man einen Augenblick drüber nachdenkt, zu einem besonderen Blickwinkel auf deine Funktion als Chef eines öffentlichen Beschäftigungsbetriebes führt. Welche Folgen hatten diese Sichtweisen denn generell für dein Handeln?

Ich habe in meinem Berufsleben so rund 50.000 arbeitslose Menschen kennengelernt. Keine oder Keiner war gleich!

Viele dieser Menschen hatten Sorgen und Probleme. Ihre Qualifikation, Arbeitstugend, Berufserfahrung, Selbstbildnis und auch ihre Vorstellungen, Wünsche und manchmal auch Irrheiten waren immer unterschiedlich. Längere Arbeitslosigkeit führt fast immer auch zu einer anderen Tagesstrukturierung mit eigenen Gewohnheiten. Viele bedurften der Hilfe.

Ich hatte mir einen Spruch zugelegt:

„Es gibt keine schlechten Mitarbeiter, es gibt nur unfähige Vorgesetzte.“

Oder anders, man muss nur die Stelle finden, um die Menschen zurückzuholen, vielleicht auch zu begeistern.

Meist ist es ein Prozess.

Man kann es auch negativ formulieren:

Jeder ist zu etwas nütze, und wenn nur als schlechtes Beispiel.

Alle Probleme und Themen, die wir heute diskutieren, gabs schon damals. Arbeitswilligkeit, Arbeitsfähigkeit, Zumutbarkeit – alles alte Stichworte, die wir mit völlig irrwitzig bürokratischen und wahnsinnig teuren Systemen versuchen zu reformieren und ständig verschlimmbessern.

Ich denke, ich habe dich verstanden. Untersetze diese mehr allgemeinpolitischen Aussagen doch mal mit persönlich erlebten Einzelfällen.

Ich erzähle dir eine Geschichte aus dem Jahre 1987 aus Hannover.

Der 35-jährige Bodo W. – ich habe den vollständigen Familiennamen noch parat – war vom Arbeitsamt zu einer ABM im Grünbereich zugewiesen worden. Er lehnte die Arbeiten ab. Ich sagte ihm, dies könne aber negative Konsequenzen haben. Daraufhin berichtete er mir, dass die Stadt Hannover über Sozial- und Wohnungsamt ihm und seiner ganzen Familiensippe von insgesamt 24 Personen ein komplettes Haus in Hannover-Mecklenheide zur Verfügung gestellt habe und aus seiner ganzen Familie noch nie jemand geordnet gearbeitet hätte. Er drehte sich um, schaute, ob uns jemand zuhört und sagte wörtlich:

„Und du Arsch kriegst mich auch nicht.“

Ich habe den Fall damals überprüft und verfolgt. Im Kern hat er recht behalten.