Herbstfraß - Sandra Busch - E-Book

Herbstfraß E-Book

Sandra Busch

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Beschreibung

Ein Teenager wird vermisst, ein Kater ist entflohen und es gibt Geheimnisse in der eigenen Beziehung ... Privatermittler Robin Berger begibt sich nicht nur auf die Jagd nach dem verlorenen Sohn, sondern stöbert auch in der Vergangenheit des umwerfenden Ex-Kampfschwimmers Bo, seinem Partner und Geliebten, herum. Doch plötzlich gerät das dynamische Duo in die Fänge eines teuflischen Entführers. Und mit einem Mal steht nicht nur ihre Beziehung sondern auch ihr eigenes Leben auf dem Spiel ...

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Sandra Busch

Herbstfraß

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2012

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: M. Hanke

Coverdesign: Toni Kuklik

Front: © pixel – fotolia.com

Back: © travis manley – fotolia.com

Giraffe: © Stephi – fotolia.com

1. Auflage

ISBN 978-3-943678- (print)

ISBN 978-3-943678- (epub)

Danksagung:

Ein DANKE geht an meinen Verleger, Simon Rhys Beck, der sich erweichen ließ, dieses Buch zu veröffentlichen.

Ein DANKE geht an Alex, der ich schon wieder zwei unmögliche Jungs servierte.

Ein DANKE geht an Uwe, der zu mir sagte: „Oh Mann! Diesel haben Glühkerzen!“

Die Bestie lauert hinter den freundlichsten Gesichtern.

Prolog

Freitag, 05. November

17:26 Uhr

Vor etlichen Jahren hatten die Behörden den Eingang zum Bunker im Haakewald zugemauert. Aber es dauerte nicht lange, bis Abenteuerlustige einen kleinen Durchbruch schufen und in dem kargen Ambiente wilde Partys feierten. Irgendwann verlor dieser zu abseits gelegene Ort seinen Reiz und geriet in Vergessenheit.

Jetzt kommt nur noch er mit seinen Opfern hierher, um sich ungestört zu vergnügen. Als der Splitterschutz des Bunkers vor ihnen aufragt, scheint sein unwilliger Begleiter aus seiner Lethargie zu erwachen. Angesichts der Angst in dem Gesicht des Jungen quillt ein Kichern über seine Lippen. Er ist bereits voller Vorfreude, ihm sein Spiel über Leben und Tod zu demonstrieren. Dagegen versucht sein Auserwählter zu schreien. Der grüne Schal, den er dem Jugendlichen in den Mund gestopft und am Hinterkopf zusammengebunden hat, dämpft den erbärmlichen Protest.

„Es wird dich niemand hören“, sagt er und kichert wieder. Der Junge versucht sich von ihm loszureißen.

„Wirst du munter, ja?“

Er gibt dem Hilflosen einen heftigen Stoß. Golden angehauchtes, rotbraunes Laub raschelt unter den Füßen, als sein gefesseltes Opfer stolpert und beinahe fällt. Ungeduldig schubst er den Jungen auf den Bunker zu. Es ist kurz vor Sonnenuntergang und die Sonne taucht den betonierten Eingang in orangefarbenes Licht. Doch der Teenager hat keinen Blick für die Schönheiten der Natur. Sein angstvolles Röcheln dringt durch den Schal. Erneut bleibt der Junge stehen und weigert sich mit steifen Gliedern weiterzugehen.

 „Da hinein“, befiehlt er und schubst den Jungen grob auf den schmalen Spalt zwischen den bröckelnden Mauersteinen zu. Der reißt die Augen auf, beginnt sich voller Panik zu wehren und tritt nach ihm. Damit hat er allerdings gerechnet. Auch die anderen Erwählten hatten sich gewehrt, als sie den Bunker als ihre persönliche Endstation erkannt hatten. Rasch zieht er ein Messer und hält die Klinge dicht vor das Gesicht des Jungen. Dessen blaue Augen werden riesig.

„Siehst du das? Das ist einMaster Cutlery. Und hier, auf der Klinge, erkennst du den Schriftzug? Rambo III steht da. Rambo … So kannst du mich nennen, wenn du magst.“ Die Klingenspitze berührt die zarte Haut direkt unter dem linken tränengefüllten Auge des heftig atmenden Jungen.

„Rambo“, murmelt er nachdenklich. Der Name war toll. Warum war er ihm nicht viel eher eingefallen? Die vorherigen Mitspieler hatten ihn mit seinem bürgerlichen Vornamen angesprochen. Rambo dagegen fühlt sich … richtiger an.

„Ja, das gefällt mir. Jeder braucht einen Namen, der zu ihm passt, nicht wahr? Und Rambo, das klingt nach Entschlossenheit und nach Stärke. Nach Macht.“ Deswegen hat er sich genau dieses Messer gekauft. Er liebt die Survival-Klinge aus 420er Stahl mit der längs geschlitzten Rückensäge. Auch sein Opfer würde es lieben lernen, wenn es ihm den Todesstoß gab.

DasMaster Cutlery ist etwas Besonderes und nicht nur, weil es weltweit lediglich 5000 Stück davon gab. Als er es in dem Laden hatte liegen sehen, wusste er sofort, dass dies das richtige Instrument für sein Spiel ist. Ein Spiel, in dem er bestimmt, wann es für sein Opfer endet und es endgültig ausscheidet. Game over … Ja, er liebt die Angst seiner Mitspieler, die Qual in ihren Augen und die stille Hoffnung, vielleicht doch zu überleben. Es ist wunderbar, eine solche Macht ausüben zu können. Rambo lacht leise. Ihm allein obliegt die Entscheidung, welchen Regeln das Spiel folgt. Sicherlich, das Spiel ist hart und blutig. Aber nur wer Leid empfindet, der kann erlöst werden. Erlöst durch das Master Cutlery. Und über das Leiden weiß er inzwischen eine Menge …

Der Junge unterbricht seine Gedanken, denn er tritt einen vorsichtigen Schritt nach hinten und stößt dabei mit dem Rücken gegen den schlanken Stamm eines jungen Baumes, der direkt am Eingang zum Bunker wurzelt.

„Hast du Angst? Das ist gut. Das ist ein Teil des Spiels.“ Überraschend springt er auf den Jungen zu. Mit einem erstickt klingenden Quietschen fährt der zurück, bleibt mit dem Fuß an dem Baumstamm hängen und stürzt rücklings zu Boden. Im nächsten Moment reißt ihn Rambo an seiner Jacke in die Höhe und stößt ihn zum Mauerspalt. Drohend hebt er das Messer.

„Keine weiteren Zicken. Hinein mit dir.“

Ruppig zerrt er den Jugendlichen in die Schwärze des Bunkers. Alles Sträuben ist vergebens. Obwohl … es gehört ebenfalls zum Spiel.

Erster Ermittlungstag

Montag, 08. November

08:31 Uhr

Neben mir dampft eine heiße Tasse Erdbeer-Pfeffer-Tee, die mir Louisa vor einer Minute erst gebracht hat. Louisa sieht heute wieder klasse aus. Ein wenig aufreizend vielleicht, aber klasse. Über den Rand meines Monitors hinweg beobachte ich sie versonnen, wie sie einen Stapel Abrechnungen sortiert, um ihn nach einem sinnvollen Muster abzuarbeiten. Immer wenn sie sich konzentriert, taucht ihre kleine rosa Zungenspitze zwischen den perfekt, jedoch dezent geschminkten Lippen auf. Mitten in meine angenehmen Betrachtungen hinein piepst mein Rechner. Mit einem Seufzen richte ich den Blick auf den Monitor. Langweilige Daten laufen über den Bildschirm. Ein Job kann eben nicht ständig spannend und voller Action sein.

Als Schritte auf der Wendeltreppe die Ankunft meines Mannes ankündigen, sehe ich erneut auf. Hat die Schlafmütze also endlich aus dem Bett gefunden. Die Wendeltreppe verbindet die Büroräume mit unserer Wohnung, was ganz praktisch ist, vor allem, wenn man so eine Schlummertrulla wie Bo sein eigen nennt. Jetzt schaut Louisa verstohlen auf, als seine nackten Füße und die langen Beine auf der Treppe sichtbar werden. Louisa ist in Bo verknallt. Alle sind in Bo verknallt. Ich natürlich ebenfalls. Mit dem feinen Unterschied, dass Bo zu mir gehört.

„Moin“, sagt mein Liebster, der noch diesen erregenden Schlafzimmerblick im Gesicht hat. Seine verwaschene Jeans hängt ihm viel zu tief auf den Hüften. Ein kleines Stückchen tiefer und Louisa fällt ohnmächtig vom Stuhl, zumal Bo nichts vom Tragen irgendwelcher Unterwäsche hält. Über dem Hosenbund befinden sich gut erkennbar straffe Bauchmuskeln und ein durchtrainierter Oberkörper mit breiten Schultern, da Bo im Augenblick auch keinen Pulli trägt. Sein blondes, halblanges Haar, das sich hartnäckig zu kleinen Locken ringelt, ist verwuschelt. Absicht oder ungekämmt bleibt mal dahingestellt. Augen, die die Farbe frischer, grüner Weintrauben haben, blinzeln mir frech entgegen.

„Guten Morgen, Bo. Kaffee?“ Louisa springt sofort auf und bringt meinem Mann einen großen Becher vom Extrastarken.

„Danke, Süße. Hübsch siehst du heute aus. Neues Kleid?“ Bo fallen solche Sachen immer auf und das unterstreicht seinen natürlichen Charme.

Louisa wird ein wenig rot, nuschelt etwas Undeutliches und vertieft sich rasch in ihre Arbeit. Bo nimmt einen Schluck aus seinem Becher und wirft mir einen Blick zu, unter dem es mir ziemlich warm wird. Lässig lehnt er sich gegen einen Aktenschrank, als würde er für ein Modemagazin posieren. Sein Lächeln ist eindeutig provokant und prompt wird meine Hose zunehmend enger. Unruhig rutsche ich hin und her, um gewisse Dinge neu zu sortieren.

„Was liegt heute an?“, fragt er mich.

„Eine Wirtschaftsprüfung.“ An dieser Arbeit sitze ich gerade, da ich genau weiß, wie Bos Einstellung in Bezug auf Kostenkalkulationen und Bilanzen ausschaut. Während ich zwischendurch ganz gerne mal mit Zahlen jongliere, ist Bo eher wie ein Pitbull veranlagt: Schnüffeln, jagen und sich in greifbare Dinge verbeißen.

„Weiterhin haben wir eine Ehefrau, deren Gatte angeblich fremd geht; ein Ehepaar, das seinen verschwundenen Sohn sucht und Oma Jansen, deren Sniggle schon wieder ausgebüxt ist. Dein Job, Bo.“ Das sage ich nicht ohne eine gewisse Schadenfreude.

Nach meinem Wirtschaftsstudium hatte ich als unbeachteter Laufbursche bei einer großen Detektei angefangen, die sich auf Mietrecht spezialisiert hatten. Es wurde wegen vorgetäuschtem Eigenbedarf ermittelt und Vermögensrecherche betrieben, wenn Mietforderungen offen standen. Das war auf die Dauer furchtbar langweilig. Vor ein paar Jahren habe ich mich schließlich mit meiner eigenen Detektei selbstständig gemacht und nach einer geeigneten Immobilie gesucht. Mein Augenmerk hatte ich dabei auf die Speicherstadt mit ihrer Wilhelminischen Backsteingotik aus der Gründerzeit gerichtet. Ich liebe es, wie die Gebäude im Dunkeln beleuchtet werden und sich die Fassaden in den Fleeten und Schuten spiegeln.

Oma Jansens Mann besaß ein Kontor in der Speicherstadt, das nach seinem unerwarteten Tod bis auf den Wohnraum nicht mehr genutzt wurde. Daher hat mir die alte Dame das mehrstöckige Haus zu einem Spottpreis verkauft und sich lediglich ein lebenslanges Bleiberecht eingeräumt. Oma Jansen stellte mir überdies Louisa vor, als die Detektei einigermaßen gut lief. Louisa brauchte dringend einen Job und ich eine gewissenhafte Bürohilfe. Da wir uns von Anfang an prima verstanden haben, heuerte ich sie kurzerhand an. Vor zwei Jahren trat dann Bo in mein Leben und kaufte sich in die Detektei ein, indem er den restlichen Kredit für das Kontor ablöste. Seitdem haben wir uns in der Branche einen respektablen Namen erarbeitet.

Das einzige Problem stellt Oma Jansens getigerter Kater Sniggle dar, der einen ausgeprägten Freiheitsdrang verspürt und ab und an ihrer urigen Wohnung entkommt. Ich vertrete ja die Meinung, dass der Kater absichtlich abhaut, damit Bo ihn anschließend einfangen muss und er ihm ungeniert die Krallen ins Fleisch schlagen kann. Die beiden hassen sich. Sogar Louisa unterdrückt an ihrem Schreibtisch ein Lachen, während Bo kommentarlos die Augen verdreht und seinen Kaffee austrinkt.

„Eines Tages …“, sagt Bo, lässt sich allerdings von mir unterbrechen:

„Du wirst Sniggle nicht mit der Heckler & Koch einfangen, Tweety. Und zieh dich vernünftig an. Oma Jansen bekommt ansonsten bestimmt einen Herzinfarkt.“ Ich habe die alte Dame nämlich lieb und möchte sie mir noch lange erhalten. Mit einem lasziven Lächeln kommt Bo auf mich zugeschlendert.

„Was stört dich an meinem Outfit?“, fragt er und küsst meine sensible Stelle hinterm Ohr.

„Soll ich Berliner holen?“, höre ich Louisas Stimme wie aus weiter Ferne. Berliner holt sie immer, wenn die Raumtemperatur extrem ansteigt. So wie in genau diesem Moment.

„Ich könnte dich auf der Stelle auf diesem Schreibtisch vernaschen“, haucht Bo verführerisch in mein Ohr. Louisa schnappt sich bereits ihre Handtasche.

„Nix da“, sage ich und schiebe ihn energisch von mir. Louisa stoppt in der Tür und schaut sich fragend um.

„Anziehen! Kater fangen!“, kommandiere ich und deute mit dem ausgestreckten Zeigefinger in Richtung Tür. Bo seufzt theatralisch, trotzdem tigert er brav davon.

„Was ist los mit dir?“ Louisa sieht mich fragend an. „Du bist doch sonst nicht so.“

Ich seufze.

„Zwei Kilo“, erkläre ich. Louisa versteht nicht und daher werde ich deutlicher: „Die vielen Berliner, Isa. Männer können vom Sex ebenfalls dick werden.“

Hamburgs Supergirl lacht, obwohl sie meinen Körper hinter dem Schreibtisch einer eingehenden Musterung unterzieht.

„Keine Sorge, Robin. Man sieht nichts und du warst ohnehin zu dünn.“ Sie füllt ihren Kaffeebecher auf und vertieft sich erneut in den Stapel Abrechnungen.

Zu dünn? Ich sehe an mir herunter, lupfe ein wenig das Shirt und prüfe mein Bäuchlein. Sixpack, wenn auch nicht derartig ausgeprägt wie bei meinem Mann. Aber schließlich bin nicht ich bei einem Spezialkommando der Bundeswehr beschäftigt gewesen, sondern muss in meiner knapp bemessenen Freizeit in ein Fitnessstudio joggen.

„Du bist perfekt, Robin“, versichert mir Louisa, die meine selbstkritische Prüfung mitbekommt.

„Wirklich?“ Ich bin skeptisch. Es fällt mir schwer mit Bo mithalten zu können. Außerdem habe ich Sommersprossen. Keine Massen und nur dezent auf den Wangenknochen und dem Nasenrücken verteilt, andererseits genug, um sie zu verabscheuen. Der Sommersprossen wegen nennt mich Bo immer Dot … für Tüpfelchen. Eigentlich hat Louisa recht. Ich kann mit mir ganz zufrieden sein.

Inzwischen offeriert mir mein Rechner endlich ein Ergebnis bezüglich meiner Suchanfrage. Mein Kunde scheint mit seinem Verdacht, dass ein Mitarbeiter Belege fälscht, mitten ins Schwarze getroffen zu haben. Ich vergleiche noch einmal die Bilanzen mit den einzelnen Buchungsbelegen und Auftragslisten, bis mich ein lautes Kreischen vor der Tür aufschrecken lässt.

„Sniggle.“ Louisa schmunzelt und sieht nicht einmal auf. Die schrecklichen Geräusche klingen überhaupt nicht nach Katze, sondern eher nach einem Kleinkind, das auf einen Spieß gesteckt wird. Gleich darauf kann ich Bos Stimme und die von Oma Jansen hören, die sich im Hausflur miteinander unterhalten. Er muss diesen pelzigen Ausreißer in Rekordzeit gefunden zu haben. Schon erscheint er wieder im Büro und streift sich die dicken Handschuhe ab, die er sich extra wegen Sniggle gekauft hat. Sein ärmelloses Shirt hat Risse in dem weißen Stoff, der an den zerfetzten Stellen gerade braunfleckig wird und sogar über sein Jochbein zieht sich eine blutige Spur. Extrem angefressen schnauft Bo:

„Das nächste Mal erlebt das Vieh den Sonnenaufgang nicht mehr. Oma Jansen hin oder her. Mein Gesicht fühlt sich ziemlich entstellt an.“

Er zieht sich das Shirt aus und bietet Louisa damit ungehinderte Sicht auf seinen gut trainierten Rücken. Insgeheim wird sie sich bestimmt wünschen, dass die knapp sitzende Jeans rutscht. Und wenn ich ehrlich bin, regt sich genau dieser Wunsch auch in mir. Bos Anblick reicht meistens aus, um mich ganz wuschig zu machen. Er tupft sich mit dem ruinierten Shirt im Gesicht herum und hält es mir demonstrativ entgegen.

„Ich blute“, sagt er kläglich.

„Selbst deine Schulter hat es erwischt.“ Ich seufze und suche den Verbandskasten. Als ich die Kratzer sorgfältig desinfiziere, schenkt Bo dem dritten Mitglied unseres Teams einen flehenden Augenaufschlag.

„Zeit für Berliner, Süße“, flüstert er viel zu laut.

Louisa grinst sich eins, schnappt sich ihre Handtasche, und ehe ich erneut protestieren kann, ist sie bereits zur Tür hinaus.

„Bo, wir sollten zur Abwechslung mal arbeiten.“

Ehe ich mich versehe, liege ich rücklings auf dem Schreibtisch. Die Tastatur meines PCs knallt auf den Linoleumboden, gefolgt von Papierbergen und dem bemalten Blumentopf, in dem ich Kugelschreiber aufbewahre.

„Es wird Arbeit, Dot, sehr harte Arbeit“, verspricht mir Bo und küsst mich. Seine Zunge sucht Einlass in meinen Mund. Da ich nur ein schwacher Mensch bin, gebe ich nach. Unsere Zungen verhaken sich miteinander und beginnen einen wilden Kampf um die Vorherrschaft. Bo steht dabei zwischen meinen Beinen und hält mich mit seinem Oberkörper auf dem Schreibtisch gefangen. Seine Hände haben längst nackte Haut gefunden und streicheln mich. Meine Brustwarzen sind bereits kieselhart und er reizt sie mit den Fingerspitzen, was mir ein leises Stöhnen entlockt. Kurz unterbricht er unseren Kuss, um mir mit einem kräftigen Ruck das Shirt vom Leib zu fetzen. Hoppla! Was ist denn in Bo gefahren? Ich komme nicht zum Fragen, da seine Zunge gleich wieder in meinem Mund steckt. Er versteht es mich derartig zu küssen, dass sich mein Verstand zunehmend vernebelt und schlagartig ist das Shirt vergessen. Zudem wird mir die Hose deutlich zu eng. Bo scheint dies zu bemerken. Im Nu hat er sie geöffnet und mein Glied befreit, um es sofort fest mit der Hand zu umschließen. Diese Art Gefangenschaft gefällt mir ausgesprochen gut. Während er meinen Steifen streichelt, knabbern seine Zähne abwechselnd an Hals und Nippeln, bis ich beinahe verrückt werde. Trotzdem versuche ich mich aufzusetzen, denn ich liege auf dem Locher, der mir mittlerweile schmerzhaft in den Rücken drückt.

„Tweety!“ Ich keuche und stöhne dann laut auf, weil ein äußerst exquisites Gefühl meinen Unterleib durchflutet. Das wunderbare Gefühl breitet sich durch die Adern aus und setzt meine ganze Gestalt in Brand. Trotzdem bohrt sich der Locher weiterhin in mehrere Wirbel.

„Tweety, der Locher …“ Ich versuche den Moment zu nutzen, in dem er nach einem Sachet mit Gleitgel in seiner Hosentasche fischt, um mich etwas aufzurichten. Typisch Bo – allzeit bereit. Doch mein Schatz schubst mich rigoros zurück.

„Liegenbleiben“, befiehlt er im fiesesten Kasernenton, den er manchmal drauf hat. Ich versuche es ein weiteres Mal:

„Aber der Locher …“

„Keine Sorge, der locht auch gleich ein.“ Bo grinst anzüglich, schiebt seine Arme unter meine Beine und verteilt großzügig Lube auf meinen Anus und seiner Erektion. Ich probiere unter meinen Rücken zu greifen und das störende Ding zu entfernen, ehe es eine dauerhafte Verbindung mit meinen Wirbeln eingeht. Endlich begreift Bo, dass ich nicht von seinem Ständer gesprochen habe, der inzwischen zu stattlicher Größe angewachsen ist.

„Ach, der Locher.“ Grinsend zieht er ihn unter mir weg und wirft ihn sich lässig über die Schulter. Ich höre etwas klirren, kann allerdings nicht mehr darauf reagieren, weil Bo gerade mit kurzen Stößen meinen Körper erobert, bis er mit seiner ganzen Länge in mir steckt. Himmel! Das muss einfach der Himmel sein! Ich sehe Funken vor den Augen, als Bo kräftig stößt. Funken, die mein Innerstes entflammen und die Erregung weiter und weiter schüren. Die Hitze in mir nimmt zu, ich fühle mich vollkommen ausgefüllt und der harte, kastaniengroße Punkt, den Bo mit jedem Stoß trifft, bringt mich dem Gipfel der Lust näher. Sein Leib reibt dabei über meinen Steifen, der zwischen uns gefangen ist. Ich werde lauter, schreie, kann mich nicht mehr halten. Mein Unterleib scheint sich zusammenzuziehen, ehe alles explodiert und mir für Sekunden die Sinne schwinden. Ich spüre Bos Glied tief in mir zucken, als er seinen Höhepunkt erreicht. Stöhnend klammern wir uns aneinander. Eine Weile liegen wir uns in den Armen, schweigen, genießen das Nachbeben und warten darauf, dass sich unsere Atmung beruhigt, während wir uns zärtlich streicheln.

„Für jede Katerjagd gibt es einen Schreibtischfick“, erklärt Bo wenig romantisch und steht endlich von mir auf. Die Schreibtischkante hat sich in meine Hüfte gedrückt und sicherlich wird es einen blauen Fleck geben. Egal, das war mir der Sex mit meinem Tweety wert. Viel schlimmer sieht das Büro aus. Rund um den Tisch ist das Linoleum mit Papier bedeckt, garniert mit den Resten der Tastatur und zahlreichen Kugelschreibern und Bleistiften sowie den Scherben des ehemals stiftehaltenden Blumentopfs. Der Locher ist in einem Konfettiregen mitten in der Kaffeekanne gelandet und hat ihr den Rest gegeben. Dunkle, aromatische Seen haben sich auf dem Sideboard gebildet und aus ihnen rinnen schmale Bäche in den Abgrund, wo sie auf dem Boden für weitere Sauereien sorgen. Ich hebe mein Shirt auf, das gerade noch so als Putzlappen taugen mag. Daher werfe ich es gleich in eine der Kaffeelachen.

„Wie lange braucht Louisa für den Weg zum Bäcker und zurück?“, fragt mich Bo.

„Wieso?“ Wer mir eben den Verstand rausgevögelt hat, darf nicht erwarten, dass ich gleich darauf wieder zu geistigen Höchstleistungen fähig bin.

„Vielleicht ziehst du dir lieber mal die Hose hoch, Dot, ehe sie anfängt dich anzuhimmeln.“ Bo lacht leise und presst noch einmal seine Lippen auf meinen Mund. Schon bin ich erneut so abgelenkt, dass ich mir beinahe empfindliche Haut im Reißverschluss einklemme.

„Isa ist in dich verknallt“, sage ich, nachdem ich wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft geschnappt habe. Bo nickt. Das hat er bereits selbst kapiert.

„Keine Sorge, Dot, sie ist keine Konkurrenz für dich.“ Er schenkt mir ein wunderbares Lächeln, das ausschließlich für mich reserviert ist. Ach nee, wie sollte Louisa denn auch?

Bevor wir Ordnung machen können, geht die Tür einen Spalt weit auf. Louisa späht ins Büro, stößt die Tür dann ganz auf und schaut sich mit aufgerissenen Augen um.

„Oh! Mein! Gott!“

Angesichts dieses Chaos genau die richtige Anrufung. Falls der gute Mann da oben über ein Reinigungskommando verfügt. Strafend sieht sie uns an, ihre beiden halb nackten Chefs, mit denen sie es wirklich nicht leicht hat. Mit spitzen Fingern fischt sie mein Shirt aus der Kaffeelache und während sich meine Wangen peinlich berührt erhitzen, gluckst Bo, der elendige Verführer, nur vergnügt.

„Es interessiert mich brennend, aber ich frage trotzdem nicht“, sagt Louisa, seufzt und lässt das tropfende Shirt in einen Papierkorb fallen. „Wie habt ihr eine solche Unordnung bloß in der kurzen Zeit schaffen können?“

„Du fragst ja doch.“ Murrend fange ich an die Kugelschreiber einzusammeln.

„Ich muss dringend tanken fahren“, sagt Bo hastig, da es ums Aufräumen geht. Er schnappt sich einen Berliner aus der mitgebrachten Tüte und verdrückt sich in unsere Wohnung, um sich anzuziehen, wobei er eine Spur aus Puderzucker hinterlässt.

„Bring eine neue Kanne und eine Tastatur mit“, brülle ich ihm hinterher. Louisa kniet neben mir nieder und beginnt die Papiere zusammenzusuchen.

„Tut mir leid, Isa.“

„Was meinst du?“ Louisa schaut mich fragend an.

„Unser Benehmen kann man nicht gerade professionell nennen.“ Ich meide ihren Blick, sammle weiter Kugelschreiber ein und finde unter dem Schreibtisch zu meiner Verwunderung einen lang vermissten Radiergummi. Wieso hat ihn die Putzfrau nicht längst entdeckt? Draußen vor der Tür höre ich einen Motor aufheulen. Bo scheint unsere Wohnung durch das Treppenhaus verlassen zu haben, um nicht doch noch in Gefahr zu geraten aufräumen zu müssen.

„Ich bin froh, dass ihr nicht solche typischen Spießer seid. Bleibt ruhig so, wie ihr seid, Robin.“ Louisa drückt mir einen Kuss auf die Wange, etwas, das sie sich bei Bo nicht getraut hätte.

„Wir müssen dir wohl einen neuen Blumentopf besorgen.“

„Hm?“

„Na, für deine Stifte. Ich glaube, ich habe zu Hause einen schönen Topf übrig. Den bringe ich dir morgen mit, okay?“

„Und wann bringst du mal deinen Freund mit? Diesen … wie heißt er gleich? Torben? Irgendjemand muss ihn sorgfältig unter die Lupe nehmen, wenn er mit der hübschesten Bürohilfe Hamburgs ausgeht.“ Ich muss etwas Falsches gesagt haben, denn Louisas dunkelbraune Augen füllen sich mit Tränen. Entsetzt sehe ich sie an. Frauentränen! Verdammt, was an meinem Satz ist bloß falsch gewesen?

„Ich habe Schluss gemacht.“ Eine Träne kullert über Louisas Wange.

„Warum?“ Bis eben habe ich noch angenommen, dass Torben der Traum ihres Lebens ist und hatte schon die Befürchtung, eine neue Bürohilfe suchen zu müssen, weil sich Louisa möglicherweise zukünftig lieber aufs Kinderwagenschieben beschränken möchte. So kann man sich also irren. Louisas nächste Worte hauen mich beinahe aus den Socken.

„Er hat mich geschlagen, Robin.“

Habe ich gerade richtig gehört? Ich bin schockiert und zwar richtig. Mir fehlen regelrecht die Worte. Dann erinnere ich mich an den blauen Fleck, den sie neulich auf der Wange hatte. Angeblich ein blöder Unfall in der Küche. Was für ein dämlicher Detektiv bin ich eigentlich? Ich hätte wissen müssen, dass es selten blöde Unfälle gibt. Wenigstens nachfragen hätte ich ja können.

„Deine Wange?“

Louisa nickt und weicht meinem Blick aus.

„Und vorgestern ist es wieder passiert.“ Sie weint jetzt und zieht mit einer zitternden Hand den Ärmel ihres Strickkleides hinauf. Ihr Arm ist voller dunkler Blutergüsse. So ein Schwein! Mir kocht glatt die Galle über.

„So ein verdammter Drecksack! Isa, Liebes … Ich hoffe, du hast den Kerl angezeigt.“

Zu meinem Unverständnis schüttelt Louisa den Kopf.

„Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben.“ Sie schluchzt immer lauter. Angesichts ihrer Tränen fühle ich mich ein bisschen überfordert.

„Ach, Isa.“ Ich ziehe Hamburgs süßestes Mädel auf meinen Schoß und nehme sie tröstend in die Arme. Womit ich nicht gerechnet habe, ist, dass sie ihre Arme um meinen Nacken schlingt und herzhaft zu schluchzen beginnt. Unbeholfen streichle ich ihr über den Rücken. Es dauert nicht lange und Wimperntusche verschmiert meine Brust. Natürlich sucht sich Bo ausgerechnet diesen Moment aus, um ins Büro zurückzukommen. Verblüfft bleibt er auf der letzten Treppenstufe stehen.

„Was ist denn hier los?“

„Kennst du nicht einen netten Mann?“ Louisa heult weiter, ohne Bo zu beachten, der langsam auf uns zukommt.

„Ich kenne so einige, Isa. Das Problem ist bloß, dass die alle gay sind.“ Ich bemerke Bos verwirrten Blick und halte Louisas misshandelten Arm in die Höhe. Wie eine Puppe lässt sie es sich gefallen.

„Das war Torben, das Schwein. Und sie hat ihn nicht angezeigt“, erkläre ich wütend.

Bo benötigt einen Moment, um zu begreifen, wovon ich rede.

„Torben? Louisas Freund?“

„Ihr Ex!“ Ich fische ein Taschentuch aus meiner Hosentasche und reiche es Louisa, die sich lautstark schnäuzt.

„Ich will keine Polizei.“ Mit einem tapferen Lächeln rutscht sie von meinem Schoß und steht schniefend auf.

„Die brauchst du überhaupt nicht, Süße. Du hast schließlich uns.“

Ich sehe zu meinem Mann auf. Wie meint Bo denn das?

„Komm, steh auf, Dot. Wir haben einen Job zu erledigen, nicht wahr?“

„Meinst du den Ehebrecher oder den verlorenen Sohn?“, frage ich.

„Vielleicht kann Louisa den Ehebrecher überwachen. Würdest du das schaffen?“ Fragend dreht sich Bo zu Louisa um. Die sieht ihn sprachlos an. Allmählich versiegen ihre Tränen.

„Ist das euer Ernst? Ich bekomme einen Fall? Einen eigenen Fall?“ Noch schnüffelt sie, kann aber schon wieder lächeln. Bo nickt, doch Louisa schaut mich um Bestätigung heischend an. Sie weiß genau, dass ich das Sagen habe. Yeah, ich bin der Häuptling hier!

„Na, mit einer Videokamera wirst du ja bestimmt umgehen können. Und wie man einen fremdgehenden Ehegatten observiert, hast du oft genug von uns gehört“, erkläre ich mich einverstanden. Vergessen sind alle Tränen. Louisa jauchzt und fällt erst Bo und dann mir um den Hals.

„Anziehen, Dot. Wir suchen den Vermissten.“

„Hast du getankt?“ Ich bewege mich bereits in Richtung der Treppe, um Jacke, Brieftasche und Schlüssel zu holen. Bo nickt.

„Und wo ist die Tastatur und die Kaffeekanne?“

„Besorge ich auf dem Weg“, sagt Louisa. Okay, wenn sie das verspricht, werden die Gerätschaften ganz sicher ihren Weg ins Büro finden. Bo, dieser faule Hund, lächelt sie dankbar an.

„Und wer räumt die Schweinerei auf?“, frage ich boshaft meinen Drückeberger. Jetzt seufzt mein Tweety.

„Ich helfe dir nachher. Versprochen.“

09:45 Uhr

Bo fährt einen alten Wagen der Bundeswehr, einen sogenannten Wolf, den ihm seine Kameraden zum Abschied aus der Einheit geschenkt haben. Inzwischen bin ich mit meinem Liebsten seit zwei Jahren zusammen, trotzdem habe ich bis heute keine Ahnung, warum er den uniformierten Verein verlassen hat. Meine Spürnase sagt mir allerdings, dass es etwas mit den zahlreichen schmalen, rötlichen Narben auf Bos Schenkeln und Hoden zu tun hat, über die er sich hartnäckig zu sprechen weigert.

Ich habe Bo direkt nach seiner Auskleidung in einer Bar kennengelernt, wo er sich im wahrsten Sinne des Wortes bewusstlos gesoffen hat. Und da ich im Grunde meines Herzens ein Samariter bin, habe ich ihn mit nach Hause genommen und ihm völlig uneigennützig meine Kloschüssel, etliche Aspirin, mein Bett und meinen Arsch angeboten. Außerdem habe ich mich rettungslos in Bo verliebt. Zu meinem Glück konnte mich Bo nüchtern ebenfalls ertragen und ist daher bei mir geblieben. Genauso verliebt. Seitdem sind wir ein Paar.

Nun hält mein Tweety vor einem imposanten Haus am Rande von Eißendorf, einem der hügeligsten Stadtteile von Hamburg. Dies ist keine Wohngegend für arme Schlucker, wie ich an den vielen luxuriösen Eigenheimen und den parkähnlichen Grundstücken in dieser Straße sehe. Bos Bundeswehrkiste mit dem charmanten Tarnfleckmuster, die wir zwischen einem frisch polierten Porsche Cayman aus der Black Edition und einem silbernen Audi A5 Cabriolet abgestellt haben, fällt hier wie ein bunter Hund auf. Im Gegensatz zu mir zeigt sich Bo wenig beeindruckt und drückt ohne zu zögern auf die Klingel am Gartentor. Über die Sprechanlage meldet sich eine weibliche Stimme:

„Ja?“

„Detektei Amundsen und Berger“, sagt Bo. Nach einem Moment der Stille erklingt der Summer und Bo drückt das hohe Gartentor auf. Wir laufen zwischen gepflegten Blumenrabatten bis zur Haustür, wo uns Frau Nolte-Aschendorff begrüßt.

„Sie sind von der Detektei?“, fragt sie skeptisch. Offensichtlich hat sie jemanden im beigen Trenchcoat und mit einem Fotoapparat um den Hals erwartet. Ich überlasse es Bo uns vorzustellen und schaue mich stattdessen in dem großen Wohnzimmer um. Überall Glas und poliertes Metall und ungemütliches Design. An den Wänden hängen Bilder von Wassily Kandinsky. Lauter langweilige Kreise und Quadrate. Meine Eltern hatten von diesem Künstler ebenfalls Drucke im Wohnzimmer hängen. Furchtbar. Wenigstens bringen diese Kritzeleien etwas Farbe in den Raum. Der Boden besteht aus edlem Parkett und wirkt, als würde er jeden Tag gebohnert. Wir nehmen auf einer weißen Ledercouch Platz und Frau Nolte-Aschendorff bietet uns höflich einen Kaffee an, den Bo dankend ablehnt.

„Unsere Bürohilfe sagte uns, dass Ihr Sohn Ingo seit Freitag verschwunden ist. Haben Sie die Polizei eingeschaltet?“, erkundigt sich Bo.

Frau Nolte-Aschendorff sitzt uns steif und mit kerzengeradem Rücken gegenüber. Ihre gepflegten Hände hält sie im Schoß gefaltet. In dem beigefarbenen Kostüm aus Wildleder und mit den aufgesteckten rötlichen Haaren sieht sie ziemlich bieder aus.

„Natürlich haben wir bei der Polizei eine Anzeige aufgeben. Aber Sie wissen sicherlich, wie das ist. Es fehlen die Leute, die gezielt nach den Vermissten suchen, und Ingo ist einer von vielen verschwundenen Teenagern. Dabei ist es gar nicht seine Art, ohne ein Wort fern zu bleiben. Er meldet sich sonst sogar zum Essen ab oder ruft an, wenn es später wird als üblich. Ingo weiß genau, dass ich mir immer gleich Sorgen mache. Außerdem hat er nur seine dünne Jacke an. Er würde bestimmt nach Hause kommen, wenn er friert.“

„Haben Sie bei seinen Freunden angerufen? Vielleicht ist er bei einem Kumpel.“

„Seine Freunde haben ihn zuletzt in der Schule gesehen. Ich …“ Frau Nolte-Aschendorff unterbricht sich, da ein streng aussehender Mann mit goldener Nickelbrille und Anzug das Wohnzimmer betritt. Überrascht sieht er Bo und mich an, ehe er Frau Nolte-Aschendorff einen flüchtigen Kuss auf die Wange gibt.

„Guten Morgen, die Herren“, grüßt er dann steif.

„Das sind die beiden Detektive, Herr Amundsen und Herr Berger“, sagt Frau Nolte-Aschendorff hastig und erhebt sich mit plötzlicher Nervosität. „Mein Mann, Rainer Nolte. Um diese Zeit fährt er normalerweise ins Büro.“

„Ich dachte, wir wären uns einig gewesen, die Sache der Polizei zu überlassen, Antonia“, sagt Herr Nolte ärgerlich und mit einem nicht ernst gemeinten Lächeln in unsere Richtung.

„Ingo ist doch keine Sache.“ Seine Frau ist empört und schaut ihn vorwurfsvoll an. „Ich mache mir ernsthaft Sorgen um den Jungen, Rainer.“

„Besteht die Möglichkeit, dass er entführt worden ist?“ Ich ergreife jetzt erstmals das Wort. Sowohl Frau Nolte-Aschendorff als auch ihr Mann sehen mich irritiert an, weil ich ihre Auseinandersetzung so unsensibel unterbreche.

„In diesem Fall hätte sich bestimmt jemand wegen eines Lösegeldes bei uns gemeldet“, sagt Frau Nolte-Aschendorff ein wenig ratlos.

„Oder werden Sie erpresst?“, fragt Bo den Nolte. Der zieht bloß eine Augenbraue in die Höhe, als verstünde er die Frage nicht.

„Sie arbeiten in einem Architektenbüro. Da geht es gewiss zum Teil um hohe Summen und wertvolle Grundstücke.“

„Ja, denken Sie, ich entwerfe Holzhäuser für Spielplätze? Natürlich geht es in meinem Beruf um eine Menge Geld. Aber nein, ich werde nicht erpresst. Dieser respektlose Bengel ist von zu Hause abgehauen, weil er ein Problem mit Autorität hat.“

„Rainer!“

„Antonia, du weißt, dass ich die Wahrheit sage. Jedes Mal, wenn ich Ingo um etwas bitte, lehnt er es schon aus Prinzip ab.“

„Er vermisst seinen Vater …“

„Dürfen wir uns in Ingos Zimmer umsehen?“ Erneut unterbreche ich einen Disput, der bei einem Scheidungsanwalt enden könnte.

„Ja, selbstverständlich. Die Treppe hinauf und die zweite Tür auf der rechten Seite.“ Frau Nolte-Aschendorff lächelt entschuldigend.

„Wir brauchen ein möglichst aktuelles Foto von Ingo. Und eine Liste mit den Namen und Adressen seiner Freunde“, füge ich hinzu. Frau Nolte-Aschendorff nickt. Ihr Mann dagegen betrachtet mich mit säuerlicher Miene. Da ich keine Lust habe, Zeuge der sich anbahnenden Ehekrise zu werden, eile ich in Ingos Zimmer. Bo folgt mir dicht auf den Fersen.

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