Angelus Mortifer - Sandra Busch - E-Book

Angelus Mortifer E-Book

Sandra Busch

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Beschreibung

Er ist einer von den Todesengeln, die die Menschen am Ende ihrer Zeit ins Licht bringen. Es gibt keinen Himmel und es gibt keine Hölle. Erst recht keinen alten Mann mit Bart und Nachthemd irgendwo in den Wolken. Es gibt lediglich das Schicksal, das entscheidet, wann eine Lebensuhr abgelaufen ist. Was nach dem Licht kommt, das die Sterbenden anstreben, hat sich ihm nie offenbart. Keiner kehrte daraus zurück, um darüber zu berichten. Er ist Dry. Ein Unsterblicher, der sich in ein Kind der Nacht verliebt. Aber Llewellyn hat andere Probleme, als sich mit einem einsamen Todesengel zu beschäftigen.

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Angelus Mortifer

Ein Roman

von

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2018

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© Volodymyr Tverdokhlib – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-195-6

Inhalt:

Er ist einer von den Todesengeln, die die Menschen am Ende ihrer Zeit ins Licht bringen.

Es gibt keinen Himmel und es gibt keine Hölle. Erst recht keinen alten Mann mit Bart und Nachthemd irgendwo in den Wolken. Es gibt lediglich das Schicksal, das entscheidet, wann eine Lebensuhr abgelaufen ist.

Was nach dem Licht kommt, das die Sterbenden anstreben, hat sich ihm nie offenbart. Keiner kehrte daraus zurück, um darüber zu berichten.

Er ist Dry. Ein Unsterblicher, der sich in ein Kind der Nacht verliebt. Aber Llewellyn hat andere Probleme, als sich mit einem einsamen Todesengel zu beschäftigen.

Bewahrer der Schatten

sind die Schwingen der Nacht.

Kapitel 1

„Hilfe!“

Kendalls Lunge brannte und sein Herz raste. Vom puren Grauen gejagt, stürmte er voran.

„Hilfe!“, stieß er keuchend hervor, während er durch die Nebelschleier floh und das zarte Gespinst wie Spinnenseide zerriss. Die blanke Angst saß ihm im Nacken und der Schweiß lief ihm unangenehm klebrig über den Rücken. Seine grünen Turnschuhe trommelten stakkatoartig über den Asphalt. Während er rannte, wagte er einen Blick zurück, obwohl er wusste, dass das überhaupt nicht klug war. Dass ihn diese winzige Bewegung wertvolle Sekundenbruchteile seines Vorsprungs kosten würde. Es war wie ein Zwang. Zu erkennen war nichts, da der Nebel seinen unheimlichen Verfolger verbarg. Aber er war da. Kendall konnte die unsägliche Boshaftigkeit, die er ausstrahlte, regelrecht spüren. Wie zur hämischen Bestätigung seiner Wahrnehmung vernahm er das Kratzen von Krallen auf Stein, ein leises Hecheln, gefolgt von einem bedrohlichen Knurren. Kendall presste eine Hand auf seine verletzte Seite und hetzte quer über die Straße. Sein Angreifer hatte Blut geleckt und er ahnte, dass allein dieser Geruch die Bestie auf seine Spur bringen würde. Der Nebel bot ihm keinerlei Chance, dem Verfolger zu entkommen. Sollte ihm allerdings die Flucht durch den Park gelingen, hätte er beinahe die rettende Insel – sein Zuhause – erreicht. Er würde die Tür hinter sich zuschlagen und in der Sicherheit seiner Wohnung … Ein schauriges Heulen erklang viel zu nah hinter ihm. Vor Schreck geriet Kendall ins Stolpern.

Er begriff nicht, wovor genau er eigentlich davonrannte. Erst vor wenigen Minuten war er gut gelaunt aus dem Studentenpub auf die Straße getreten, um nach einem Glas Bier gemütlich nach Hause zu schlendern. Er mochte diese frühen Nächte, in denen die Straßen menschenleer waren und der Londoner Nebel zäh über die Bürgersteige kroch. In weiße Schwaden gehüllt wirkte die englische Metropole anders, still und unwirklich wie eine geheimnisvolle Märchenwelt. Und genau wie in einem Märchen war aus einer Einfahrt plötzlich ein geiferndes Etwas gesprungen. Kendall hatte lediglich einen kantigen Schädel mit breitem Fang und verflucht viele Reißzähne registriert, als dieses … dieses Ding nach ihm schnappte. Es war Glück im Unglück gewesen, dass diese fürchterlichen Zähne hauptsächlich seinen Ledergürtel erwischten und sich nicht festbeißen konnten. Dennoch blutete er aus einer schmerzhaften Fleischwunde. Er hatte sich nicht lange aufgehalten, um das hässliche Ding näher zu betrachten oder auf einen zweiten Angriff zu warten, sondern war wie von Sinnen losgerannt, um sein Heil in der Flucht zu finden. Jeder Hundebesitzer hätte ihm gesagt, das Weglaufen eine ganz, ganz blöde Idee war. Aber er hatte das Finstere, das Böse in dem Angreifer gespürt. Wie Krebsfraß hatte das Gefühl an seinen Knochen genagt. Kalt und unerbittlich. Darum war er blindlings losgestürmt.

Auf einmal befand sich Gras statt Asphalt unter den Sohlen seiner Turnschuhe. Er hatte den Potters Fields Park erreicht, der in der Nähe der Tower Bridge und seinem Zuhause lag. Inzwischen hatte er heftiges Seitenstechen und sein Atem brannte in der Lunge. Wieder schaute er über die Schulter zurück und dieses Mal entdeckte er gleich mehrere gedrungene Schemen in dem Nebel. Beinahe hätte Kendall vor Angst und Verzweiflung geschrien.

Das Ding war nicht allein!

Panisch rannte er zwischen den Birken hindurch und über die feuchte Wiese. Erneut ertönte das schaurige Heulen und dieses Mal wurde der Laut direkt hinter ihm ausgestoßen. Keinen Herzschlag später prallte etwas wuchtig gegen seine Beine. Mit einem hilflosen Aufschrei schlug Kendall der Länge nach hin, schnappte verzweifelt nach Luft und versuchte, sofort auf die Füße zu kommen. Doch etwas hatte ihn am Hosenbein gepackt und zerrte grausig knurrend daran. Einen Moment später gruben sich scharfe Zähne in seine Wade. Ein weiterer Schrei entfuhr ihm, dieses Mal vor Schmerz. Instinktiv trat er heftig zu und wurde mit einem überraschten Winseln belohnt. Sein Bein brannte wie Feuer, allerdings gaben ihn die Fänge frei. Dafür grollte es jetzt rings um ihn herum, unbarmherzig und voller Bösartigkeit. Kendall warf sich auf den Rücken und starrte seine Verfolger an, die ihn lauernd umkreisten und aus flammenden Augen fixierten. 

Tollwütige Hunde, war sein erster Gedanke, den er gleich darauf berichtigen musste. Diese Hunde hatten keine Pfoten, sondern etwas, das ihn entfernt an Affenhände mit langen Krallen erinnerte. Außerdem schienen sie keine Schwänze zu haben, und Hunde mit derartigen Muskelpaketen am Körper waren ihm nie zuvor begegnet. Und obendrein hatten Hunde üblicherweise keine spitzen Dornenfortsätze auf ihren Rücken, die sie mit einem Rasseln aufstellen konnten.

„Verdammt! Was seid ihr?“, flüsterte er den Gestalten ungläubig entgegen. Dies war offenbar ein Fehler, denn wie auf Kommando sprangen sie auf ihn zu. Schützend riss Kendall die Arme in die Höhe. In derselben Sekunde wischte ein scharfer Luftzug an seinem Gesicht vorbei. Wütendes und schmerzerfülltes Heulen erscholl und irgendetwas Klebriges, Feuchtes spritzte über ihn hinweg. Erleichtert schluchzte Kendall auf. Jemand war ihm zu Hilfe gekommen und er erhaschte einen flüchtigen Blick auf einen schwarzen Ledermantel, helles Haar und … ein Schwert? Trotz der tödlichen Situation begann Kendall zu lachen. Es klang selbst in seinen Ohren hysterisch. War etwa eine schmalere Version von He-Man aus einem Comic entsprungen? Und warum auch nicht, denn diese schrecklichen Dinger mussten ebenfalls von irgendwoher kommen. Dabei war He-Man, eine der muskelstrotzenden Figuren der Masters of the Universe mit seiner Prinz-Eisenherz-Frisur, längst aus der Mode gekommen. Sein Helfer hatte mit ihm bis auf das Schwert auch wenig gemein.

Das Lachen verging ihm schlagartig, als sich die Angreifer aufteilten. Zwei dieser seltsamen Hunde gingen auf den Fremden los, die anderen beiden wandten sich erneut Kendall zu. Einer von ihnen humpelte deutlich und knickte beim Laufen mit der Pfote weg, was ihn aber nicht daran hinderte, unaufhaltsam näher zu kommen.

„Weg!“, schrie Kendall mit sich überschlagener Stimme. „Lasst mich!“ 

In einer abwehrenden Geste rammte er brüllend seinen Arm dem Raubtiergebiss entgegen, das es auf seine Kehle abgezielt hatte. Die Fänge bohrten sich gnadenlos in sein Fleisch. Der zweite Angreifer vergrub seine scharfen Zähne in Kendalls Fuß, verhinderte damit einen weiteren Fluchtversuch und begann ihn quer über den Rasen zu ziehen. Panik und die schreckliche Angst vor dem nahenden Tod überwältigten ihn, sodass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte und es ihm die Kehle zuschnürte. Er wusste nur, dass er nicht zerrissen und zerfetzt in diesem Park enden wollte. Plötzlich hörte er ein wildes Schlagen und Flattern, bemerkte den Schatten schwarzer, riesenhafter Schwingen, die ihn auf einmal umgaben und ein heftiges Rucken, das durch seinen kompletten Körper ging. Dann löschten Entsetzen, Furcht und Schmerz sein Bewusstsein aus.

***

Llewellyn wischte sich Blutspritzer von der Wange und säuberte seine Klinge an dem borstigen Fell des erschlagenen Ars Awad, bevor sich der Kadaver zersetzen konnte. An seinem Ohr zischelte es besorgt.

„Mir ist nichts passiert, Ahatsu.“

Eine kleine eidechsenhafte Gestalt mit dunkelblauen Streifen in ihren feinen, türkisfarbenen Schuppen ließ sich auf seiner Schulter nieder, wo sie weiterhin aufgeregt mit ihren ledernen Flügeln flatterte und ihm prüfend aus leuchtend gelben Reptilienaugen ins Gesicht starrte. Ein agiler, drachenähnlicher Schwanz peitschte aufgeregt hin und her. Vier kräftige Klauen krallten sich in seinem Mantel fest.

„Beruhige dich, mein kleiner Freund. Ich sagte doch, mir ist nichts geschehen. Heute waren sie gar nicht hinter mir her.“ Llewellyn drehte sich um und spähte zu dem Fremden hinüber, der reglos im blutbefleckten Gras lag.

„Sie wollten ihn“, stellte er leise fest. Die kleine Echse und er starrten den Fremden nachdenklich an.

„Hast du beobachtet, was eben geschehen ist?“, fragte er endlich seinen geflügelten Begleiter. Ein leises Quieken antwortete ihm. Llewellyn verbarg das Schwert unter seinem langen Mantel und näherte sich dem Bewusstlosen. Er war sich nicht ganz sicher, was sich hier gerade abgespielt hatte. Die zwei Ars Awad hatten ihn angegriffen, während sich die beiden anderen auf ihr ursprüngliches Opfer stürzten. Gleich darauf ertönte vollkommen unerwartet ein gewaltiges Rauschen, ein heftiger Luftzug war aufgekommen, gefolgt von dem schrillen Heulen der Ars Awad, als ihre Knochen wie trockene Zweige brachen. Nachdem Llewellyn seine Gegner erledigt hatte, konnte er nur noch einen dunklen Umriss zwischen den Nebelschleiern erhaschen und gleich darauf war schon wieder alles vorbei.

Neben dem Fremden kniete er sich in das Gras und musterte ihn neugierig. Das schwarze Haar hing dem Bewusstlosen strähnig in die verschwitzte Stirn, auf der sich ein langer Kratzer befand. Ein dunkler Bartschatten lag auf der haselnussfarbenen Haut und um die langen Wimpern hätte ihn jede Diva beneidet. Er blutete aus mehreren üblen und tiefen Fleischwunden, der Geruch stieg Llewellyn prickelnd in die Nase. Außerdem lag der Fremde in einem Kreis ausgerissener, tiefschwarzer Federn sowie den zerfetzten Überresten seiner Jacke und seines Pullovers. Der Anblick dieses hilflosen Mannes berührte etwas tief in ihm, etwas, das er nicht benennen konnte.

Ahatsu gab ein leises, kollerndes Geräusch von sich und riss Llewellyn damit aus seiner intensiven Betrachtung. Das kleine Wesen kletterte flink von seiner Schulter und griff mit der vierkralligen Tatze nach einer der Federn. Fragend schauten die gelben Augen Llewellyn an. Der nahm ihm die Feder ab, drehte sie versonnen zwischen den Fingern und steckte sie schließlich in seine Manteltasche.

„Ich werde einen Krankenwagen rufen, damit sich die Menschen um ihn kümmern können. Und danach sollten wir von hier verschwinden.“ Llewellyn zückte sein Handy, woraufhin Ahatsu ein missbilligendes Schnarren ausstieß.

„Also bitte! Was habe ich mit einem von ihnen zu tun? Falls er tatsächlich einer von ihnen sein sollte. Davon abgesehen habe ich bereits Ärger genug“, brummte Llewellyn. Einen Herzschlag später riss ihm sein geflügelter Freund das Handy aus der Hand und flatterte damit aus seiner Reichweite. Llewellyn seufzte schwer. Diese fliegende Pest konnte so unfassbar stur sein.

„Ahatsu!“

Der ließ sich mit dem Handy zwischen seinen Klauen inmitten der Pulloverfetzen auf der nackten Brust des Fremden nieder und protestierte fiepend. Gleich darauf schnurrte er laut, ein Geräusch, als würde jemand eine Messerklinge über ein Reibeisen ziehen. Llewellyn starrte erneut auf den jungen Mann im Gras. Das Schnurren wurde schmeichelnder.

„Na schön, du hast gewonnen. Wir bringen ihn zu Shiki in die Docks. Und vielleicht sollte ich herausfinden, aus welchem Grund die Ars Awad hinter ihm her sind.“

Ahatsu flatterte mit dem Handy in den Klauen auf und verschwand zufrieden grunzend in seiner Manteltasche. Llewellyn erlaubte sich ein kleines verstohlenes Lächeln, bevor er den Fremden aufhob und mühelos über die Wiese davontrug. Die vier erschlagenen Angreifer hatten sich inzwischen zersetzt, sodass im Park lediglich einige undefinierbare, breiartige Häufchen und eine Menge Federn zurückblieben. Mehr erinnerte nicht an den Kampf auf Leben und Tod.

***

Langsam trieb Kendall an die Oberfläche des Bewusstseins zurück, wo er leise Stimmen vernahm. Sein ganzer Körper schmerzte. Allerdings lag er nicht mehr in dem nebelfeuchten Gras des Parks, sondern auf etwas Weichem. Sicherlich handelte es sich dabei um eine Matratze. Das bedeutete gewiss, dass er von seinen Angreifern nicht zerfleischt worden war, obwohl es sich danach anfühlte. Seine Wunden schmerzten, als würden Teufel mit ihren Dreizacken darin herumstochern.

„Die Verletzungen sollten behandelt werden. Dazu müssen wir ihn ausziehen“, sagte jemand in seiner unmittelbaren Nähe. Es klang vollkommen emotionslos.

„Mach du das. Ich könnte immerhin die Unschuld meiner Augen verlieren“, antwortete eine weibliche Stimme geziert.

Ein amüsiertes Schnaufen erklang. „Die Unschuld deiner Augen hat dir Kin längst geraubt und weitaus mehr. Außerdem redet heutzutage niemand mehr derartig geschwollen.“

„Und was ist mit dir, oji-sama? Ist es dir etwa unangenehm, ihn zu entkleiden? Dabei ist er … ziemlich attraktiv.“

„Und da willst du dich drücken? Das sieht dir überhaupt nicht ähnlich.“

„Dir auch nicht“, konterte die Frauenstimme.

„Also gemeinsam.“

Finger berührten den Stoff seiner Jeans und begannen seine Hose aufzuknöpfen. Während kräftige Hände seinen Körper in die Höhe stemmten, wurde ihm die Jeans ausgezogen. Die Bewegung verursachte wahre Höllenqualen und er konnte ein schmerzerfülltes Stöhnen nicht unterdrücken. Danach herrschte eine Weile Stille. Was ging da um ihn herum vor? Kendall versuchte die Lider zu heben, dummerweise waren sie viel zu schwer und schienen verklebt zu sein.

„Er wacht auf“, sagte die weibliche Stimme.

„Das sollte ich verhindern“, erklärte die andere.

Bei allem, was heilig war!

Kendalls Herz begann hastiger zu schlagen und jetzt riss er die Lider voller Furcht gewaltsam auf. Er bemerkte einen verschwommenen Schatten mit weißem Haar, der sich über ihn beugte und nur allmählich an Schärfe gewann.

He-Man aus dem Park!

Und er hatte faszinierende Augen. Tiefblau, wie die Tinte, die er früher für seinen Füllfederhalter benutzt hatte. Dazu waren sie alles andere als unschuldig. Würde He-Man ihn nun ebenfalls mit seinem Schwert erschlagen? Der Gedanke war irgendwie lustig, aber was aus seiner Kehle drang, war eher ein Schluchzen als ein Lachen. Eine Hand tauchte über seinem Gesicht auf und Kendall zuckte in das Kissen zurück. Sein hilfloser Protest drang ihm als undefinierbares Krächzen über die Lippen. Gleich darauf legte sich die Hand mit sanftem Druck über seine Lider.

„Schlaf“, sagte He-Man mit zwingender Stimme.

Der bleiernen Schwere, die über ihn kam, konnte Kendall sich nicht entziehen, und wehrlos sank er in das Dunkel zurück.

***

Als Kendall das nächste Mal erwachte, fühlte er sich deutlich besser. Und er stellte fest, dass er Gesellschaft hatte. Neben seinem Bett saß eine junge Frau in einem mit Silbersternen übersätem Longshirt und schlichten, schwarzen Leggings. Ihre Lippen hatte sie knallrot geschminkt und die schwarzen Haare zu einem attraktiven Bob geschnitten. Sie war eindeutig asiatischer Herkunft.

„Hi!“, sagte sie, als sich Kendalls Blick auf sie richtete.

„Hallo“, entgegnete er etwas befangen.

„Wie geht es dir?“

„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete er und schaute sich rasch um. An der Wand gegenüber stand ein schwarz lackierter Schrank und schwarz war der Futon, in dem er lag, sowie der kleine Nachttisch neben ihm. Wände und Teppich waren weiß gehalten. Ein Bambus in einem Kübel und die rote Bettwäsche bildeten die einzigen Farbkleckse in diesem Raum. Ein Fenster konnte Kendall nicht entdecken.

„Wo bin ich hier?“, wollte er wissen.

„In den St. Katherine Docks. Ich bin Shiki Chojiro.“

„Die kleine Schwester von He-Man?“

„Bitte wer?“

„Dieser Typ mit dem hellen Haar und dem Schwert“, antwortete Kendall.

Shiki lachte auf. Es war ein nettes Lachen. „Du sprichst von meinem ehrenwerten Onkel. Sein Name ist Llewellyn Reese. Er hat dich hierher gebracht, nachdem du im Park von den Ars Awad angegriffen worden bist.“

„Ars Awad?“ Kendall runzelte verwirrt die Stirn. Wovon redete diese Frau?

„Du kennst die Ars Awad nicht?“ Shiki betrachtete ihn verwundert.

Ein bisschen Raten schien angebracht. „Meinst du etwa diese Hunde aus dem Park?“

„Keine Hunde. Es sind Dämonen.“

„Natürlich“, murmelte Kendall. „Und dieser Llewellyn ist ein Zauberer und hat sie verschwinden lassen.“

Shiki kicherte amüsiert. „Nicht ganz. Oji-sama ist ein Vampir.“

Grundgütiger!

Kendall verbarg das Gesicht in den Händen und seufzte schwer. Erst hetzte jemand seine Hunde auf ihn und danach geriet er an ein paar Verrückte.

„Die Ars Awad haben dich schwer verletzt, darum hat oji-sama deine Wunden ausgeleckt. Darauf kannst du dir wirklich etwas einbilden, denn es ist eine große Ehre, wenn sich oji-sama persönlich um dich kümmert. Ein bisschen musst du dich noch erholen.“

„Ausgeleckt?“ Hatte er richtig gehört? Kendall starrte die Japanerin scharf an.

Shiki zuckte gelassen mit den Schultern. „Aus welchem anderen Grund sollten deine Verletzungen sonst dermaßen schnell heilen?“

Genau!

Die Bisswunden!

Kendall musterte seinen Arm, der direkt unter dem Ellenbogen dick bandagiert war. Stirnunzelnd löste er den kleinen Knoten der Bandage und wickelte sie unter Shikis aufmerksamer Miene ab, bis er die Verletzung freigelegt hatte. Verblüfft starrte er auf die nahezu vollständig verheilte Wunde, während er sich daran erinnerte, wie sich die schrecklichen Zähne des … Hundes in seinen Arm gegraben hatten. Das war der Zeitpunkt gewesen, an dem neben He-Man eine weitere Person aufgetaucht war, um ihm zu helfen. Kendall erinnerte sich schwach an ein gewaltiges Rauschen in seinen Ohren.

„Wie lange bin ich schon hier?“, fragte er Shiki.

„Seit gestern Nacht, als dich oji-sama hierher brachte.“

„Diese Verletzung hätte zum Verheilen viel länger als ein paar Stunden benötigt“, sagte Kendall matt.

„Vampirspeichel enthält heilende Enzyme.“

Gütiger Himmel!

Was immer diese Shiki rauchte, er wollte auch davon.

Sie schien zu bemerken, dass er ihr nicht glaubte. Zögernd fragte sie: „Du kennst die Ars Awad tatsächlich nicht? Und du glaubst nicht an Vampire?“

„Ich habe vor ein paar Jahren Dracula gelesen. Cooles Buch …“

Shiki saß regungslos an seiner Seite und musterte ihn ernst.

„Okay, wenn ihr mich entführt habt, um mit mir irgendwelche obskuren Tests unter Drogen durchzuführen, sage ich dir gleich, dass das nicht funktionieren wird.“

Jetzt begann sie herzhaft zu lachen. „Oh! Keine Sorge. Du wurdest nicht entführt. Trotzdem halte ich es inzwischen für eine gute Idee, wenn oji-sama später selbst mit dir redet.“

„Ja, die Idee ist nicht schlecht. Brauche ich Knoblauch für das Gespräch?“

Shiki kicherte vergnügt. „Ich glaube, der Mythos Knoblauch wird überbewertet.“

Genau das hatte Kendall befürchtet.

Die Japanerin erhob sich von ihrem Platz und ging die paar Schritte bis zur Tür. „Verrätst du mir deinen Namen, geheimnisvoller Fremder?“

„Ich heiße Kendall Brice. Und ich bin alles andere als geheimnisvoll.“

„Du bist geheimnisvoller, als du denkst, Kendall-kun.“ Mit diesen Worten ließ Shiki ihn allein.

***

Näher betrachtet hatte Llewellyn Reese wenig mit He-Man gemein. Sein nackenlanges, modisch geschnittenes Haar war weiß, obwohl er höchstens ein paar Jahre älter als Kendall sein konnte und damit unter dreißig Jahren liegen musste.

Schneeweiß!

Genau wie seine schmalen Brauen. Wenn die gefärbt waren, musste dieser Mann einen verdammt guten Friseur haben. Selbst seine Wimpern hatte er bleichen lassen. Und er bewegte sich mit einer lautlosen, katzenhaften Geschmeidigkeit, um die ihn Kendall sofort beneidete. Er lag nach wie vor auf dem Futon, weil er schlapp und müde war. Doch hätte er gewusst, was ihn angesichts seines Besuchers erwartete, wäre er lieber aufgestanden, um sich nicht ganz so unterlegen zu fühlen. Beinahe eingeschüchtert blickte er zu seinem Retter empor, den eine Kälte umgab, die ihm regelrecht Unbehagen verursachte. Dabei hatte Llewellyn bislang nicht ein Wort gesprochen, sondern ihn lediglich eindringlich aus seinen tintenblauen Augen gemustert, als ob er unter Kendalls Haut nach einer anderen Person forschen würde. Augen, die eigentümlich alt wirkten, was sich Kendall sicherlich nur einbildete. Dazu kam, dass Llewellyn von einer makellosen Schönheit war, wie er es nie zuvor bei einem Mann erlebt hatte. Vielleicht hüllte sich der Möchtegern-Vampir deshalb in einen Mantel der Unnahbarkeit.

„Danke“, sagte Kendall nach einer Weile, da sein Besucher offenbar nicht als Erster das Wort ergreifen wollte. „Danke, dass du mir geholfen hast, als die Hunde mich angegriffen haben.“

„Ars Awad“, wurde er korrigiert. Llewellyns Stimme klang genauso kühl, wie er sich gab. Ein kaum merkliches Lächeln um seine Mundwinkel nahm dem Ton die Schärfe.

Fast hätte Kendall verächtlich geschnaubt. „Ihr bleibt also bei dieser Geschichte?“

„Welche Geschichte?“, fragte Llewellyn ruhig, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und verschränkte abwartend die Arme vor der Brust.

„Diese absurde Story über Dämonen und Vampire.“

Das bleiche Gesicht von Kendalls Besucher nahm amüsierte Züge an. „Du erinnerst dich nicht?“

„An was?“

„An das, was gestern im Potters Fields Park geschehen ist. Und an das, was du in Wirklichkeit bist.

Kendall spürte, wie ihn dieses Gespräch langsam auf die Palme brachte. Was sollte dieser Unfug? Mühsam beherrschte er sich.

„Was soll ich denn deiner Meinung nach sein? Ebenfalls ein Vampir?“

„Kein Vampir.“ Llewellyn schüttelte entschieden den Kopf. „Du bist ein Todesengel.“

Vorbei war es mit der Beherrschung. Kendall begann lauthals zu lachen. In diesem Haus war wirklich jede einzelne Person bekloppt, ob Vampir, Japanerin oder sonst ein Spinner. Und er war ihnen ausgeliefert …

Llewellyn löste sich von der Wand und griff in seine Manteltasche. Kendalls Lachen verstummte, und in Erwartung einer Waffe zuckte er erschrocken zurück. Dabei ließ Llewellyn bloß eine schwarz glänzende Feder auf seine Bettdecke fallen. Es war eine ausgesprochen schöne Feder, wie Kendall zugeben musste.

„Und die soll von einem Engel sein? Haben die nicht weiße Flügel?“, fragte er belustigt.

„Engel sind etwas Gutes“, antwortete ihm Llewellyn. „Und Europäer verbinden Gutes unwillkürlich mit Weiß, weil Weiß gleichbedeutend für Reinheit steht. Soweit mir bekannt ist, gab es bisher keine Begegnung zwischen einem Engel und einem Lebenden, der hinterher die Gelegenheit erhalten hatte, von ihnen zu berichten. Oder kennst du jemanden?“

„Die Weihnachtsgeschichte“, sagte Kendall prompt. „Ein Engel ist den Hirten erschienen und …“

„Erstunken und erlogen“, wurde er unterbrochen.

„Ach ja? Es gibt Menschen, die daran festhalten.“

„Engel“, dozierte Llewellyn weiter, „steigen nicht vom Himmel herab, um den Menschen weise Ratschläge zu geben. Es sind keine göttlichen Boten und sie tragen keine wallenden, weißen Gewänder. Es gibt sie einzig zu dem Zweck, die Seelen der Toten auf den rechten Weg zu bringen.“

Kendall starrte ihn fassungslos an. Dieser bleiche Typ schien tatsächlich an das zu glauben, was er da sagte.

„Du spinnst ja“, entfuhr es ihm.

Gelassen deutete Llewellyn auf die Feder. „Und von welchem in London heimischen Vogel stammt deiner Meinung nach diese Feder?“

„Was bin ich? Ornithologe? Es wird eine Krähenfeder sein.“

Eine weiße Braue rutschte in die Höhe und Kendall wurde es selbst bewusst, wie absurd seine Worte waren. Die Feder mochte wie die einer Krähe aussehen, aber dann würde es sich um eine ziemlich große Krähe handeln. Eine verdammt große Krähe! Plötzlich erinnerte sich Kendall wieder an das Rauschen, das er während des Angriffs gehört hatte. Ein Rauschen, wie es riesige Schwingen verursachen konnten. Rasch schob er diesen Gedanken weit von sich.

„Wie dem auch sei“, murmelte er. „Fakt ist, dass ich dir für deine Hilfe sehr dankbar bin. Und für das Auslecken meiner Wunden.“ Der letzte Satz war als Witz gemeint, doch Llewellyn nickte ernst.

„Das habe ich bisher nie für jemanden getan“, brummte er. „Bei dir erschien es mir … angemessen. Erhol dich, Kendall Brice. Und denk darüber nach, wer du tatsächlich bist. Dem Schicksal kannst du nicht entfliehen.“

Ehe Kendall etwas erwidern konnte, war Llewellyn verschwunden.

Eine lange Weile drehte er versonnen die Feder zwischen den Fingern. Die vom Schaft ausgehenden schwarzen Fahnen fühlten sich wie Seide an. Ihm fiel beim besten Willen kein Vogel ein, zu dem diese Feder gehören konnte. Und sie wirkte überhaupt nicht künstlich. Kendall ertappte sich dabei, dass er sich ernsthaft mit Llewellyns abstruser Geschichte von einem Todesengel beschäftigte. Hastig legte er die Feder auf den Nachttisch. Ganz sicher hatten ihm Shiki und Llewellyn Drogen untergejubelt und versuchten, ihn einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Oder er war von Außerirdischen gekidnappt worden und nahm unwissentlich an einem Experiment teil. Er – ein Forschungsobjekt von Aliens. Das klang glaubwürdiger, als eine wilde Story über Dämonen, Vampire und Engel. Schließlich hörte man ständig, dass Aliens mit ihren fliegenden Untertassen landeten und irgendwelche Leute medizinisch untersuchten. Im Gegensatz dazu hatte Kendall bis heute nie etwas davon gehört, dass nächtliche Spaziergänger von Dämonen angefallen worden waren. Also war alles Quatsch, ausgemachter Blödsinn und absoluter Schwachsinn.

Es klopfte an der Tür, die sich gleich darauf einen Spalt öffnete. Shiki steckte den Kopf in das Zimmer und erkundigte sich: „Ich will fürs Mittagessen einkaufen, Kendall-kun. Worauf hast du Appetit?“

Er wurde nach seinen Wünschen gefragt? Das war ja wie im Hotel.

„Magst du Fisch?“, fragte Shiki.

Kendall mochte Fisch, aber wovon ernährten sich Todesengel? Er unterdrückte ein hysterisches Kichern.

„Fisch ist okay“, antwortete er und schenkte Shiki ein Lächeln. Sie mochte außerirdisch sein, dafür war sie wenigstens nett.

„Prima. Dann bis später.“

***

Kaum war Shiki aus der Tür, schlug Kendall die Bettdecke beiseite. Auf einem Hocker entdeckte er seine sauber gefaltete, gereinigte Jeans und ein grünes Sweatshirt. Aus einem seiner Turnschuhe, die halb unter dem Bett lagen, war ein Stück herausgebissen. Es war ein wahres Wunder, dass er noch sämtliche Zehen hatte. Seine Jeans wies große Risse auf, was er nicht weiter tragisch fand. Andere bezahlten viel Geld für eine zerlöcherte Hose, weil das gerade trendy war. Unter der Kleidung fand er seine Börse und den Wohnungsschlüssel. Ein rascher Check seiner Barschaft sagte ihm, dass kein einziger Schein fehlte. Eilig zog er sich an. Nach kurzem Überlegen nahm er die lange, schwarze Feder vom Nachttisch und steckte sie in seinen Hosenbund. Er würde sie als Erinnerung an sein gefährliches Abenteuer behalten. Jetzt wollte er erst einmal aus diesem Versuchslabor – oder wo immer er sich hier aufhielt – verschwinden.

Kendall verließ das Zimmer und gelangte in einen winzigen Vorraum, von dem aus eine Wendeltreppe in die Höhe führte. Langsam stieg er die Stufen hinauf und griet in einen langgezogenen Flur, von dem mehrere Türen abgingen. Hier befand sich eine komplette Wohnung mit einem weiteren Schlafraum, der eindeutig für eine Frau eingerichtet worden war. Wie Kendall bemerkte, gab es in keinem der Zimmer ein Fenster. Frischluft wurde über eine Klimaanlage zugeführt. Ein Arbeitsraum weckte seine Neugier, denn im Gegensatz zu den anderen Zimmern herrschte hier das totale Chaos. Er näherte sich dem Schreibtisch, der von Papierstapeln, Zeitschriften, einem PC und Stoffproben übersät war. Dazwischen lagen Lippenstifte, Zeichenkohle, eine Strumpfhose mit Ringelmuster und eine ganze Menge Lakritzschnecken, die Fussel angesetzt hatten. Kendall nahm eine Zeichnung in die Hand, um sie sich genauer zu betrachten. Es schien sich dabei um einen Modeentwurf zu handeln. Wahrscheinlich arbeitete Shiki daran. Er legte den Entwurf in das Durcheinander zurück. Plötzlich fiel sein Blick auf eine silbergraue Visitenkarte, die an der Wand pinnte. Llewellyn Reese stand in goldenen Lettern darauf. Darunter war eine Adresse am Belgrave Square und eine Telefonnummer aufgeführt. Ehe Kendall registrierte, was er da tat, hatte er die Visitenkarte in seine Hosentasche gesteckt. Mit dem hässlichen Gefühl, mindestens die Kronjuwelen gestohlen zu haben, ging er in den Flur zurück und drückte die Klinke einer Stahltür. Sie ließ sich ohne weiteres öffnen. Kendall stieß die Tür auf und stand, genau wie Shiki es ihm gegenüber behauptet hatte, in den St. Katharine Docks. Und zwar direkt auf den Holzplankenpontons, an denen die Yachten und kleinen Segelboote lagen. Er war also nicht eingesperrt worden, was ihn ungemein erleichterte. Und wenn er sich nicht völlig irrte, hielt er sich direkt unterhalb des Coffee Shops White Mulberrys auf, wo er selbst schon gesessen hatte, um ein Burger Sandwich oder ein Bananenbrot zu essen, ohne zu ahnen, was sich hier verbarg. Hinter ihm fiel die Tür mit einem leisen Klacken ins Schloss. Erschrocken fuhr er herum … und riss erstaunt die Augen auf.

Die Tür war verschwunden!

Wo sie hätte sein sollen, ragte eine schlichte Betonmauer auf, größtenteils mit Efeu, Moos und zur Wasserlinie hin mit Algen bewachsen, auf die ein Sprayer das Graffiti einer dicken Kreuzspinne samt einem kunstvollen Netz hinterlassen hatte. Fassungslos schaute Kendall auf die Wand und blinzelte mehrmals, als könnte ihm das die Tür zurückbringen. Wie konnte sie einfach verschwinden? Verwirrt trat er erst einen Schritt zurück, danach ging er auf die Wand zu. Mit den Händen tastete er über die graue Fläche vor sich. Er fühlte den rauen und kühlen Beton unter den Fingerspitzen.

Keine Tür.

Das war unmöglich. Wie war er sonst auf die Pontons gelangt? Kendall wischte sich über das Gesicht und schaute sich suchend um. Er bemerkte niemanden, den er vielleicht hätte fragen können, daher starrte er erneut bestimmt über eine Minute die Mauer an, in der Hoffnung, dass die Tür auf wundersame Weise vor ihm auftauchte. Was genauso seltsam wäre … Die Graffiti-Spinne starrte schweigend zurück. Also doch Drogen, Versuchsexperimente oder Verhaltensforschung durch Aliens?

„Ich werde wahnsinnig!“ Kendall machte auf dem Absatz kehrt. Er wohnte nicht weit entfernt und würde einfach nach Hause zurückkehren und diesen ganzen Mist hier vergessen.

***

Seine kleine Wohnung in der Horsleydownstreet direkt an der Themse fand er genauso vor, wie er sie vor seinem Pub-Besuch verlassen hatte. Keine Außerirdischen hatten in seinen Schränken herumgewühlt und es gab keinen Hinweis darauf, dass He-Man auf seinem Sofa gesessen oder irgendein Vampir aus seinem Becherchen getrunken hätte. Die Normalität in seinem Heim ließ die zurückliegenden Stunden wie einen irren Traum erscheinen.

Kendall ging zunächst duschen, wobei er feststellte, dass seine Wunden spurlos verschwunden waren. Nicht einmal Narben waren zurückgeblieben. Anschließend stopfte er seine zerrissenen Kleider und die Turnschuhe in eine große Plastiktüte, um sie später wegzuwerfen. Als sein Magen knurrte, suchte er sich in der Küche ein Mikrowellenessen aus dem Schrank. Während die Mikrowelle lief, schaltete er das Radio ein. Ein bisschen Musik zur Ablenkung konnte nicht schaden. Hämmernde Beats drangen aus den Lautsprechern, denn er hörte gerne harten Rock und Metal-Musik. Doch bei diesen Klängen erstarrte er mitten in der Bewegung. Der Sender spielte Angel of death von Axxis.

„Sende mir einen Engel des Todes – ich werde sterben“, flehte Bernhard Weiß, der Frontmann, während im Hintergrund „Deus deus – angelus mortifer“ erschallte. Worte, die Kendall auf seltsame Art und Weise berührten. Nach endlosen Sekunden, in denen er der Musik lauschte, zog er mit einem Ruck den Stecker des Radios aus der Dose. Ausgerechnet dieser Song von Axxis musste gespielt werden!

Todesengel!

Wollte das Schicksal ihn verarschen, indem es ihn mit diesem Begriff und He-Mans arrogant-kühlem Gesicht regelrecht verfolgte? Die Mikrowelle bimmelte, was Kendall ignorierte. Statt sich um sein Essen zu kümmern, holte er seine zerrissenen Klamotten aus der Tüte und zog die Feder und die Visitenkarte heraus. Eine Weile betrachtete er die beiden Gegenstände. Todesengel …

Was für ein Quatsch!

Als ob ihm Flügel wachsen würden. Wie sollte das vor sich gehen? Etwa wie beim Hulk? Mit dem Unterschied, dass er nicht grün wurde und seine Muskeln ins Unermessliche aufquollen, nein, ihm wuchsen innerhalb eines Wimpernschlags riesige, schwarze Flügel? Kendall verzog verächtlich das Gesicht und versenkte die Feder und die Visitenkarte in einer Schublade seines Wohnzimmerschranks. Da sein Magen erneut mahnend knurrte, holte er sich sein Essen aus der Mikrowelle und ein Fachbuch über Strömungslehre und ließ sich mit beidem auf sein Sofa nieder. In zwei Tagen schrieb er seine Prüfung bei Professor Hastings und wenn er sich nicht ausführlich mit den aerodynamischen Eigenschaften eines Tragflügels beschäftigte, würde der Professor mit seinem Rotstift ohne Gnade ein Nicht bestanden unter die Klausur setzen. Außerdem gab es keine bessere Alternative, das Geschehene abzuhaken und in die Normalität zurückzukehren. Das war allerdings leichter gedacht als getan. Obwohl Kendall bewusst war, dass er bereits Zeit zum Lernen verloren hatte, ertappte er sich, wie er ständig zu der Schublade hinüberlinste. Eine Stunde später legte er das Buch seufzend beiseite. Wenn dieser Llewellyn tatsächlich ein Vampir war, hatte er ihm zumindest sämtliche Konzentration ausgesaugt. Kendall lehnte seinen Kopf gegen die Sofalehne und schloss die Lider. Verflixt gut hatte er ausgesehen, dieser angebliche Vampir mit seinem übertrieben kühlen Getue. Aufgrund seiner hellen Haut und des durchdringenden Blicks konnte man ihm den Blutsauger tatsächlich abnehmen. Kendall riss die Lider wieder auf und schüttelte heftig den Kopf. Was dachte er da? War er inzwischen völlig verrückt geworden? Er konnte unmöglich anfangen, an diesen Blödsinn zu glauben, den He-Man ihm erzählt hatte. Was sollte er sich überhaupt unter einem Todesengel vorstellen? Kendall holte sein Notebook hervor und gab den Begriff in die Suchmaschine ein.

„Der Todesengel bringt den Menschen den Tod und begleitet ihn ins Jenseits“, murmelte er wenig später. „Genau das habe ich mir als Karriere vorgestellt. Wenigstens ist es ein Beruf mit Zukunft.“ Trotz seiner spöttischen Worte lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Er fand etliches mehr zu diesem Thema. Vom Todesbegleiter der Antike bis hin zur Oper. Hermes, Anubis, Charon, die Walküren … Sogar vor der Literatur machten die Todesengel nicht Halt. In Thriller waren sie sadistische Mörder, in Biografien stellen sie KZ-Ärzte dar und in den John Sinclair-Heftchen tauchten sie als Dämonen Asmodinas auf. Mit Nachdruck klappte Kendall das Notebook zu. Er würde sich endlich mit Tragflügeln beschäftigen und Professor Hastings glücklich machen, indem er eine gute Zensur schrieb. Ein Schmunzeln schlich sich in sein Gesicht. Wenn man es sich recht überlegte, war es wirklich ein bisschen komisch, dass ausgerechnet er Flugzeugtechnik studierte. Als Todesengel sollte er für Strömungslehre eigentlich prädestiniert sein. Vielleicht fiel ihm daher das Lernen so leicht. Wenn er sich nicht gerade von der Erinnerung an tintenblaue Augen ablenken ließ ...

***

Die nächsten Tage verbrachte Kendall damit, die seltsamen Ereignisse so gut es ging zu verdrängen. Seine Wunden waren zwar in Windeseile und vollkommen spurlos verheilt, trotzdem ging er zu einem Arzt, der ihn von Kopf bis Fuß untersuchte und auf seine Bitte hin sogar einen Drogentest durchführte, der zu seiner Erleichterung negativ ausfiel.

Er schrieb seine Prüfung an der Uni, lieh sich aus der Bibliothek mehrere Bücher aus und arbeitete angestrengt an einem Referat über den Bernoulli-Effekt, um bei Professor Hastings ein paar zusätzliche Punkte zu erhaschen. Nach dem ermüdenden Pauken tagsüber, besuchte er abends sein Fitness-Studio. Sorgfältig vermied er alle Aktivitäten, die es ihm ermöglichten, über Vampire und Todesengel nachzudenken, genauso wie tatenloses Herumsitzen.

Was er dagegen nicht steuern konnte, waren seine Träume, die ihn seit dem Angriff der Hundewesen plagten. Er träumte von Wind, der mit glänzenden Federn spielte, und von riesigen Schwingen, die ihn über Londons Dächer hinwegtrugen. Ständig wachte er schweißgebadet und mit wild klopfendem Herzen auf, weil er das Gefühl hatte, in die Tiefe zu stürzen. Außerdem suchten ihn im Schlaf Gesichter von Menschen heim, die er nicht kannte. Ängstliche, traurige und schmerzerfüllte Gesichter von Kindern und Erwachsenen. Und immer streckte er seine Hand nach diesen verzerrten Gesichtern aus. Kurz bevor er sie berühren konnte, schreckte er mit heftigem Herzrasen aus seinen Träumen auf.

Die schwarze Feder, die ihm Llewellyn gegeben hatte, lag mittlerweile auf seinem Nachttisch und er ertappte sich dabei, wie er sie stundenlang im Schein der Tischlampe anstarrte. Es dauerte nicht lange, bis Kendall völlig übernächtigt war und morgens mit dunklen Rändern unter den Augen in die Uni schlich, wo er Mühe hatte, nicht während einer Vorlesung einzuschlafen.

Daher wagte er sich eines Abends in seinen Lieblingspub zurück, den Ort, der der Ausgangspunkt für sein seltsames Erlebnis gewesen war. In dem rustikalen Lokal hatte sich nichts verändert. Und warum auch? Es waren keine zwei Wochen vergangen, niemand von den Betreibern oder den Gästen war bei dem Angriff dabei gewesen. Keiner hatte geahnt, dass Kendall nach dem Verlassen der Lokalität in Gefahr geriet, von irgendwelchen ominösen Wesen zerfleischt zu werden. Hier war er ein Besucher von vielen, der mehr oder weniger regelmäßig einkehrte, für sich blieb und den Geprächen lauschte, statt sich an ihnen zu beteiligen. Aus einem Grund, den Kendall nicht nennen konnte, war er unfähig, Freundschaften zu schließen oder irgendwelchen Gruppen beizutreten. Sobald er sich dazu aufraffen wollte, schien ihn ein innerer Zwang zurückzuhalten und er wurde von etwas abgelenkt, bis der günstige Moment zur Kontaktaufnahme verpasst war. Mittlerweile hatte er diese erfolglosen Versuche aufgegeben.

Wie üblich wurde leise Musik gespielt, Gäste unterhielten sich an den Tischen und der Wirt schloss ein neues Fass Bier an die Zapfanlage an. Kendall bestellte sich Cornish Pastry und trank dazu zwei Lager. Einige Runden Darts und ein weiteres Lager später machte er sich in der Hoffnung auf den Heimweg, mit Hilfe des Alkohols in dieser Nacht besser zu schlafen.

Ein wenig unheimlich war es schon, denselben Weg nach Hause zu wandern, auf dem er angegriffen worden war. Zu seiner Erleichterung war die verhängnisvolle Hofeinfahrt, aus der die schnappenden Fänge aufgetaucht waren, an diesem Abend leer. Kendall steckte die Hände in die Hosentaschen und entspannte sich zunehmend. Dank des Biers konnte er sich einreden, dass es diesen schrecklichen Tag voller Todesangst gar nicht gegeben hatte. Langsamen Schrittes wanderte er in Richtung Tower Bridge. Da löste sich aus der Dunkelheit ein Schatten. Eine Straßenlaterne enthüllte einen jungen Mann mit blasser Haut und brachte rotblonde Haare zum Leuchten. Abrupt blieb Kendall stehen. Obwohl der Fremde gemütlich auf ihn zuschlenderte, fühlte sich Kendall in Gefahr. Im Gegensatz zu der Hundeattacke konnte er heute nur starr beobachten, wie sich ihm der Fremde unaufhaltsam näherte. Er war wie gelähmt, dabei wollte er genau wie vor den Hunden davonrennen, vor dieser neuen gefährlichen Präsenz fliehen und konnte doch kaum einen Muskel bewegen. Sein Körper gehorchte ihm zu seinem Entsetzen nicht mehr. Plötzlich blieb der Fremde stehen. Er starrte an Kendall vorbei, legte die rechte Hand auf seine Brust und verbeugte sich auf eine sehr altmodische und ungemein anmutige Weise. Mühsam und mit einer gewaltigen Kraftanstrengung drehte Kendall den Kopf und erspähte gerade noch den Saum eines dunklen Mantels, der in einem Hauseingang verschwand. Als er sich nach dem rotblonden Fremden umwandte, war dieser fort, spurlos verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben.

„Was …?“ Hilflos drehte sich Kendall in sämtliche Richtungen, da er sich nach dem Untertauchen des Unbekannten problemlos bewegen konnte. Wer oder was hatte ihn vor einem weiteren Angriff gerettet? Hatte ihn dieser Fremde überhaupt angreifen wollen? Was war gerade geschehen? Stand es vielleicht im Zusammenhang mit den seltsamen Hunden? Es war sicherlich nicht normal, dass man innerhalb eines Monats zwei äußerst obskure Erlebnisse hatte. Ein neues merkwürdiges Rätsel ...

„Hallo?“, rief er in Richtung des Hauseingangs, in dem sein unbekannter Retter verschwunden war. „Hallo? Ist da jemand? Zeigen Sie sich bitte.“

Er erhielt keine Antwort. Unsicher blickte er sich um. Genau wie neulich nachts war er völlig allein, als wären die Straßen für andere Spaziergänger und Gassigeher gesperrt worden. Keine weiteren Passanten waren zu bemerken. Lediglich ein Auto fuhr mit viel zu lauter Musik an ihm vorbei. Mit nunmehr nervösen, schnellen Schritten eilte Kendall nach Hause, wobei er sich ständig unruhig umschaute. Dabei war das bedrohliche Gefühl verschwunden. Nichtsdestotrotz beeilte er sich, in die Sicherheit seiner Wohnung zurückzukehren.

***

Zwei Tage nach der seltsamen Begegnung auf der Straße hockte Kendall vor der Visitenkarte und starrte sie wie hypnotisiert an. Mit jeder Nacht wurden seine Träume schlimmer und realer. Seit dem letzten Pubbesuch schlief er keine drei Stunden mehr am Stück. Inzwischen fürchtete er sich regelrecht davor, ins Bett zu gehen. Ständig träumte er vom Fliegen und glaubte dabei zu spüren, wie Federn seine Haut kitzelten. Allmählich befürchtete er verrückt zu werden. Selbst die leichten Schlaftabletten, die ihm sein Arzt verschrieben hatte, halfen ihm nicht durch die Nacht. Konnte dieser He-Man, Llewellyn, mehr über diese Träume sagen? Über die Dämonen hatte er so sicher, so überzeugt gesprochen, dass selbst Kendall ihm beinahe geglaubt hätte. Vielleicht sollte er das Gespräch mit ihm suchen, bevor er den Verstand verlor. Möglicherweise hörten seine merkwürdigen Träume nach einer weiteren Unterhaltung auf, egal wie obskur sie womöglich verlaufen mochte. Und eventuell stellte sich dabei auch heraus, dass er sich diesen unheimlichen Mann schlichtweg eingebildet hatte. Dieser kleine Hoffnungsschimmer bestand, daher griff Kendall nach dem Telefon und bestellte sich ein Black Cab zu seiner Wohnung, ehe er einen Rückzieher machen konnte. Da es an diesem Abend ziemlich frisch war, zog er sich anschließend einen dicken Kapuzenpullover über sein T-Shirt sowie ein neues Paar Turnschuhe an. Danach steckte er sich seine Geldbörse in die Hosentasche und nahm den Wohnungsschlüssel vom Haken. Einen Moment lang zögerte er. Tat er das Richtige? Würde ihm dieser Llewellyn wirklich helfen können oder suchte er bloß nach einem Grund, um diesen ungewöhnlichen Mann wiedersehen zu können? Kendall knurrte entnervt einen Fluch und verließ seine Wohnung.

***

Das hohe, schmiedeeiserne Gartentor stand einen Spalt offen. Kendall nahm es als Einladung und schlüpfte verstohlen auf das Gelände. Gleich darauf erschien ihm sein heimliches Getue lächerlich. Er war ja zu dieser Adresse gefahren, um mit jemandem zu sprechen, wieso schlich er sich also wie ein Dieb an das Haus heran? Und was für ein Haus! Das Gebäude war äußerst beeindruckend: Strahlendweiß mit verspieltem Stuck, heimeligen Erkern und Balkonen. Dieser Llewellyn musste über ein nettes Einkommen verfügen, wenn er sich eine solche Immobilie leisten konnte. Obwohl es gerade erst dämmerte, waren die Vorhänge an jedem einzelnen Fenster bereits zugezogen. Mehrere Stufen führten zur Tür empor, auf der wie ein mittelalterlicher Türklopfer geformt eine zweite Klingel zum Läuten einlud. Kendall wollte sie soeben nutzen, als er bemerkte, dass die Tür genau wie das Gartentor lediglich angelehnt war. Eigentlich hatte er angenommen, dass Häuser wie dieses besser gesichert waren. Er schob die Tür ein Stückchen weiter auf und steckte den Kopf ins Innere.

„Hallo?“ Er wagte sich einen Schritt weiter vor, wobei die Gummisohlen seiner Turnschuhe leise quietschten. Der Boden der Empfangshalle spiegelte seine Gestalt im Licht eines gewaltigen Kronleuchters wider. Kendall achtete nicht weiter darauf, er war an dem nächsten Raum interessiert, aus dem eine ruhige Unterhaltung drang. Vorsichtig pirschte er sich näher und spähte in das Zimmer. Drei Personen hielten sich dort auf, zwei Männer und eine Frau, die es sich auf antiken Polstermöbeln bequem gemacht hatten. Kendall spitzte die Ohren, um etwas von dem Gespräch zu erlauschen. Zu gerne hätte er gewusst, wer diese Leute waren. In ihrer Abendgarderobe und mit ihren anmutigen Gestalten wirkten sie wie Filmstars und er fragte sich, ob vielleicht auch He-Man vom Film war. Das würde zumindest einiges erklären. Da legte sich eine Hand auf seine Schulter. Mit einem erschrockenen Keuchen fuhr Kendall herum und fand sich Nase an Nase mit einer weiteren Frau, deren braunes Haar zu einer komplizierten Flechtfrisur aufgesteckt war.

„Besuch? So früh am Abend?“, fragte sie freundlich mit rauchiger Stimme und musterte Kendall abschätzend aus Augen, die ihm wie köstliche Schokomousse erschienen. Kendall kam sich mit seinem Kapuzenpulli und den Turnschuhen ziemlich fehl am Platz vor.

„Ich … Äh … Die Tür stand offen und da …“, stammelte er ertappt.

Unbefangen nahm sie seine Hand und zog ihn mit sich. „Komm mit und sag einfach Hallo, mein Freund“, forderte sie ihn mit einem betörenden Lächeln auf. „Wir sind für Überraschungsgäste stets zu haben.“

Ehe Kendall protestieren konnte, stand er inmitten der vornehmen Gesellschaft und wurde von den Fremden umringt.

„Wen haben wir da?“, fragte die zweite Frau und trat einen Schritt auf ihn zu.

„Essen“, sagte ein dunkelhaariger, einäugiger Mann mit einem verwirrenden Lächeln, das ihm irgendwie bedrohlich erschien.

„Oh nein, tut mir leid. Ich bin nicht vom Lieferservice“, erklärte Kendall und löste mit dieser Bemerkung große Heiterkeit aus.

„Nein, nein“, brummte der Dunkelhaarige belustigt. „Du bist das Essen.“

Eine Sekunde später entblößte er spitze Zähne. Kendall stolperte entsetzt zurück und stieß gegen die Frau, die ihn hierher geführt hatte. Auch über ihre geschminkten Lippen ragten spitze Fänge. Mit ihrer kleinen Nase fuhr sie genießerisch schnuppernd an seinem Hals entlang.

„Er riecht köstlich“, erklärte sie und schmiegte sich fest an Kendall, der gar nicht wusste, wie ihm geschah. Feierten die hier etwa ein verspätetes Faschingsfest? Oder gingen die etwa in einer Filmrolle auf? Es war eine ganz dumme Idee gewesen, hierher zu kommen. Seine Instinkte brüllten ihm zu, dass er sich in Lebensgefahr befand. Er wollte bloß noch fort.

„Ich fürchte, ich muss jetzt gehen.“

„Zu spät“, sagte der Mann leise, der bislang geschwiegen hatte. Kendall stellte fest, dass er inzwischen einer Panik nahe war.

„Lass mich dich küssen“, hauchte die Frau an seiner Seite. „Einen süßen Kuss …“

„Ihr solltet die Finger von ihm lassen. Llewellyn hat Interesse an ihm gezeigt. Großes Interesse.“ Die ruhige Stimme erklang von der Treppe her, die zur Empore und damit ins obere Stockwerk führte. Dort stand der rotblonde Mann, dem Kendall vor zwei Nächten auf der Straße begegnet war. Genau wie die anderen Herrschaften war er in Abendgarderobe gekleidet. Mit festen Schritten kam er die Treppe herunter und zog Kendall am Handgelenk aus dem bedrohlichen Kreis. Seine Finger fühlten sich ungewöhnlich kühl an.

„Llewellyn?“, fragte die Frau, die Kendall hatte küssen wollen, und bedachte ihn mit einem bedauernden Seufzen. „Schade. Doch wenn die Dinge so liegen …“

„Gibt es Probleme?“

Diese Stimme hätte Kendall überall und jederzeit erkannt. Wegen ihrer Kühle, der leichten Arroganz und der Überheblichkeit hatte sie sich ihm eingeprägt. Er wandte sich zur Empore um und da stand er: Llewellyn. Mit beiden Händen stützte er sich lässig am dunkelbraunen, verschnörkelten Geländer ab. Die in dem bleichen Gesicht regelrecht leuchtenden tintenblauen Augen waren ohne jede Überraschung auf ihn gerichtet. Zu einer hellen Hose trug Llewellyn eine grüne Tweedjacke und einen cremefarbenen Schal. Kendall musste bei diesem Bild unwillkürlich an wohlhabenden Landadel denken.

„Du hast Besuch, Llewellyn“, sagte der Rotblonde, ließ endlich sein Handgelenk los und schob ihn nach vorn. „Dein Bekannter aus dem Potters Fields Park.“

Eine kleine Weile herrschte Schweigen. Schließlich sagte Llewellyn: „Bring ihn herauf, Rhodri.“ Mit diesen Worten wandte er sich ab und verschwand von der Galerie.

Rhodri stieß Kendall an. „Du hast ihn gehört. Gehen wir.“

Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf, während sich die vier anderen nicht vom Fleck rührten und ihnen neugierig hinterher schauten.

„Ich komme ungelegen und sollte lieber gehen“, sagte Kendall zu Rhodri.

Der zuckte mit den Schultern. „Dein Besuch kommt wirklich ein wenig überraschend. Aber wenn Llewellyn dich nicht hätte empfangen wollen, hätte er dich weggeschickt.“

„Warum hast du mich auf der Straße bedroht?“ Die Frage rutschte Kendall ungewollt heraus und er hätte sich in der nächsten Sekunde am liebsten die Zunge abgebissen.

Ein amüsierter Zug trat in Rhodri Gesicht. „Nimm es nicht persönlich. Llewellyn zog es erst nach unserer Begegnung vor, euer Treffen im Potter Fields Park zu erwähnen. An diesem Abend warst du für mich lediglich Beute. “

Kendall entfuhr ein empörter Aufschrei: „Beute? Du warst hinter meinem Geld her?“

„Sag nicht, dass du mich für einen simplen Straßenräuber hältst.“ Mit einem Lachen ging Rhodri auf der Galerie voran. „Das ist ja direkt eine Beleidigung. Ich nahm an, Llewellyn hätte dir gesagt, wer oder was wir sind.“

„Fängst du genau wie er mit diesem Unsinn an?“

„Unsinn? Ich nahm an, deswegen wärst du hier.“ Rhodri hielt ihm mit einer einladenen Geste die Tür zu einem Arbeits - oder Studierzimmer auf. Ein wenig befangen trat Kendall an ihm vorbei und schaute sich neugierig um. Hier waren die dicken Vorhänge an den Fenstern beiseite gezogen und gewährten die Aussicht auf den nächtlichen Garten. Ein mächtiger Schreibtisch stand der Tür gegenüber und dahinter saß Llewellyn und unterzeichnete irgendein ein Dokument.

„Setz dich“, sagte er knapp, ohne den Kopf zu heben.

Kendall nahm auf der Kante eines gepolsterten Stuhls Platz und wartete stumm darauf, dass Llewellyn ihm Beachtung schenkte. Irgendwie kam er sich wie ein kleiner Sünder oder ein Bittsteller vor, der bei einer hohen Persönlichkeit um Audienz ersuchte. Dabei hatte er Llewellyn ja bloß einen Besuch abstatten wollen. Und eigentlich hatte er angenommen, dass Rhodri sie allein ließ, doch der stellte sich in vertraulicher Position hinter Llewellyns Stuhl, was Kendall in seinem Eindruck verstärkte, einer mächtigen Persönlichkeit gegenüber zu sitzen.

Wenig später legte Llewellyn das Dokument in eine Mappe und richtete seine Aufmerksamkeit endlich auf ihn. „Was kann ich für dich tun?“

„Ich will Erklärungen“, antwortete Kendall und musterte Rhodri unsicher. Konnte er darüber vor fremden Ohren reden? „Über neulich“, fügte er erläuternd hinzu.

Llewellyn lehnte sich gelassen in seinem Stuhl zurück.

„Ich … ich brauche Antworten über diese … Hunde und die ungewöhnlich schnelle Heilung. Außerdem … ich … ich …“ Kendall brach ab. Wenn er sich bemühte, es in Worte zu fassen, klang es absolut lächerlich.

„Du träumst“, sagte Llewellyn da.

Überrascht nickte Kendall, erleichtert, dass Llewellyn ihn offenbar verstand.

Sein Gegenüber tauschte einen Blick mit Rhodri. „Also lag ich richtig mit meiner Vermutung.“

„Ja, es sieht so aus.“

„Wovon redet ihr?“, fragte Kendall schwach.

„Du träumst von toten Menschen“, erklärte Llewellyn.

Sprachlos sah ihn Kendall an.

„Und es sind keine Träume. Vielmehr erinnerst du dich. Der Angriff im Potters Fields Park hat Erinnerungen in dir geweckt und daher konntest du dich gegen die Ars Awad zur Wehr setzen.“

„Du willst mir wirklich erzählen, dass es Dämonen, Vampire und …“

„… und Todesengel gibt. Genau das will ich dir sagen. Wenn du hierher gekommen bist, damit ich dir bestätige, dass alles nur ein schlechter Scherz war oder dass es sich um wissenschaftlich zu erklärende Phänomene handelt, muss ich dich enttäuschen. Du bist, was du bist: Ein Todesengel.“

Kendall hörte ihm schon gar nicht mehr zu.

„Ich träume vom Fliegen“, sagte er leise. „Ich kann ganz genau beschreiben, wie sich die Berührung der Wolken anfühlt und wie man auf einer Luftströmung dahingleitet.“ War er daher dermaßen gut in seinem Studium über Flugzeugtechnik? Weil er eigentlich ganz genau wusste, was es mit der Aerodynamik auf sich hatte? Selbst das umfangreiche Referat über den Bernoulli-Effekt hatte er an einem einzigen Tag geschrieben. Weil er instinktiv ahnte, wieso an der Unterseite eines Tragflügels ein Überdruck und an der Oberseite dagegen ein Unterdruck entsteht, wenn sich der Flügel vorwärts bewegte und Luft zu fließen begann? Sein Instinkt kannte sich scheinbar mit Auftriebsmechanik aus. Vorausgesetzt, dass er tatsächlich ein Todesengel war und fliegen konnte. Doch dafür fehlte ihm etwas Entscheidendes. Herausfordernd fixierte er Llewellyn.

„Haben Engel nicht üblicherweise Flügel?“

„Er glaubt dir nicht.“ Rhodri lachte leise.

„Das ist nicht witzig“, fauchte Kendall, der die Geduld verlor. Er brauchte endlich Gewissheit und wenn Llewellyns unglaubliche Worte der Wahrheit entsprachen, würde er sie akzeptieren, egal wie verrückt sie klangen. Andernfalls würde er im Irrenhaus landen. Trotzdem war ein Beweis nötig, damit er daran glauben konnte.

„Zieh dich aus“, sagte Llewellyn.

„Bitte was?“ Kendall blieb der Mund offen stehen.

„Dein Kapuzenshirt. Zieh es aus.“

Er hatte keine Ahnung, was das wieder sollte. Mit einem gemurmelten Fluch sprang er von seinem Stuhl auf und zerrte sich den Pulli über den Kopf.

„Das T-Shirt auch.“

Wortlos riss sich Kendall das Shirt vom Leib und stand nun mit nacktem Oberkörper vor den beiden angeblichen Vampiren. Er wusste, dass er sich nicht verstecken musste. Immerhin verbrachte er viel Zeit im Fitness-Studio, daher war sein Körper gut definiert. Mit seinen Einssiebzig war er zwar nicht unbedingt groß, aber er war seit jeher ziemlich schlank und mit breiten Schultern gesegnet gewesen. Das Training hatte seine Muskeln gerundet und seine Kondition verbessert. Sonst hätte er es bei seiner wilden Flucht vielleicht gar nicht erst bis zum Potters Fields Park geschafft.