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Es war wie eine Szene aus einem Musikvideo der 90er Jahre: Plötzlich fand sich Lucy in nur einem Hochzeitskleid bekleidet neben einem rauchenden VW-Bus mitten in einer unbekannten Kleinstadt wieder. Es fehlte nur noch dramatischer Rauch, der aus dem Motorraum stob, und das daraufhin einsetzende E-Gitarrensolo, während sie den Bus kickte.
Eine Live-Show für eine Kosmetikfirma hätte Lucys Social Media-Karriere eigentlich in neue Höhen katapultieren sollen - aber nun saß Lucy plötzlich mitten in den steirischen Weinbergen fest: ohne Geld, ohne Telefon, ohne Auto, ohne Plan.
Aber mit Blick auf unzählige Apfelbäume.
Lucy liest und schläft - und stolpert immer weiter ins typische Kleinstadtleben zwischen dem Coffee Shop "Kaffeekränzchen" und der Buchhandlung "Seitenweise". Und so findet Lucy nach einigen Tagen zu etwas, von dem sie nicht gedacht hatte, das sie es überhaupt benötigte: Ruhe.
Und Entspannung.
Und Hans.
Hans gehört der Garten voller Apfelbäume und das Gästehaus, in dem Lucy vorübergehend wohnen kann. Hans ist verschlossen, grantig, aber trotzdem fast jeden Morgen neben ihr, wenn Lucy mit Blick auf die verzaubernd schöne Herbstlandschaft ihre Gedanken sortiert.
Nach einigen Wochen am Land lernt Lucy eine Alternative zu ihrem bisherigen Drang ins Rampenlicht kennen. Ein Neuanfang scheint ohnehin unausweichlich - aber wo? Soll sie am Land bleiben oder für ihr altes Leben in die Stadt zurückkehren?
"Herbstlieben" ist ein unterhaltsamer Liebesroman über Freundschaften und Familie, über Frauenrollen und gute Bücher, über Auszeiten und Apfelbäume.
Die "Landlieben"-Serie erzählt die Geschichten dreier Frauen zwischen 30 und 40 Jahren, die jede für sich Zufriedenheit im Neuanfang finden - an genau jenem Ort, mit dem sie nicht gerechnet hätten, in genau jenem Moment, in dem sie es nicht erwartet hätten.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Landlieben
Buch 2
Copyright © 2021 by Katharina Sabetzer
Alle Rechte vorbehalten
Die in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht von der Autorin beabsichtigt.
Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.
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Web: www.katrinaverde.at
Lektorat: Renate Rosner
Covergestaltung: Sibylle Exel-Rauth
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
Epilog
LUCYS BÜCHERLISTE
UND SO GEHT’S WEITER
WEITERE GESCHICHTEN VON KATRINA
VIELEN DANK
ÜBER KATRINA VERDE
„Zehn Minuten noch!“, rief Eric, der goldgelockte Produktionsassistent, durch den Raum und für einen kurzen Augenblick schienen alle gleichzeitig die Luft anzuhalten, bis sie wenige Sekunden später erneut in eifriges Surren und Organisieren verfielen.
Noch lauter, noch hektischer.
Die Zeit wurde knapper.
Lucy gönnte sich einige Augenblicke, um dem geschäftigen Treiben rund um sie herum ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Sie stand in einer Halle mitten im Wiener Speckgürtel, der riesige Raum in zwei Bereiche aufgeteilt: ein Backstage-Areal, in dem sich Lucy gerade noch befand, sowie der Live-Bereich, in dem die unterschiedlichen Interview-Stationen aufgebaut waren. Drumherum mehrere Kameras.
Nach der Fünf-Minuten-Warnung, die bald kommen würde, wird sie sich an alle wenden, ihnen für ihre Arbeit danken und eine gute Show wünschen. Das half üblicherweise, damit sich alle konzentrierten. Damit die Stimmung gut war.
In Gedanken ging Lucy die einzelnen Stationen der Übertragung noch einmal durch. Live musste jeder Handgriff sitzen.
Es war erst der zweite Teil ihrer Live-Serie, die sie vergangene Woche über ihren YouTube- und auch ihren Instagram-Kanal gestartet hatte, und für heute erwartete sie sich noch mehr Zuseher. Die Resonanz auf den ersten Teil war so gut gewesen, dass Abrazo sogar noch mehr Werbebudget in die Ankündigung der zweiten Folge geschüttet hatte.
Abrazo war die Kosmetikfirma, für die Lucy seit wenigen Wochen als „Embajador“ engagiert war. Es amüsierte Lucy ohne Ende, dass diese Firma, die ihren Ursprung und Firmensitz im schwäbischen Hinterland hatte, so beharrlich spanische Ausdrücke verwendete – in einer Branche, die eigentlich vor Anglizismen strotzte.
Aber Lucy machte das Spiel mit. Weil sie von der Aufmerksamkeit der großen Firma geschmeichelt war und weil es ihre Mutter … –
„Lucia!“, bellte die Stimme ihrer Mutter durch den Raum, als hätte Lucy sie allein mit dem Gedanken an sie heraufbeschworen. Erneut verstummten alle, wie zuvor nach der Zehn-Minuten-Warnung, und nahmen dann, nach einigen atemlosen Takten, ihre Arbeit wieder auf.
„Kind, wir müssen nochmals über diese Jeansjacke sprechen“, sagte ihre Mutter im gleichen Tonfall, der schon bei einer dreijährigen Lucy gesundheitsgefährdendes Zähneknirschen hervorgerufen hatte.
Lucy atmete ein. Sie atmete aus.
Und verpasste somit das Zeitfenster, in dem sie ihre Mutter eventuell abbremsen hätte können. Aber so begann die Mutter nun, Lucy mit vielen Worten und einem resoluten Griff an den Jackenkragen von der schönsten Jeansjacke, die sie jemals besessen hatte, zu befreien.
„Nicht! Die Haare“, rief Mona, die Friseurin, dazwischen, aber Lucys Mutter ließ sich weder davon noch von Lucys Augenverdrehen abhalten.
Also gab sie nach.
Wie immer.
„Du hast den Vertrag noch nicht unterschrieben“, sagte ihre Mutter, nachdem sie die Jacke achtlos über einen Stuhl in der Nähe geworfen hatte.
„Welchen Vertrag?“
„Den Ehevertrag“, seufzte ihre Mutter und Lucys Zähne knirschten wie schon in den Jahrzehnten zuvor. Dass Lucy überhaupt noch Backenzähne hatte, durfte an ein medizinisches Wunder grenzen.
„Wovon sprichst du?“, fragte Lucy um Geduld bemüht, während der goldgelockte Eric „Fünf Minuten!“ durch den Raum brüllte.
Lucy hob ihre Hand, um die Antwort der Mutter abzuwehren, und stellte sich auf ihre Zehenspitzen, nutzte die kurze Atempause, die auch diesmal Erics Warnung folgte, um sich die Aufmerksamkeit aller an der Show beteiligten Personen zu sichern.
„Ich spreche nur kurz“, begann Lucy, „ich muss nachher noch ausgiebig reden.“ Einige lachten höflich. „Ich möchte mich jetzt schon bei euch bedanken, dass ihr heute am zweiten Teil dieses Abenteuers beteiligt seid.“ Applaus und ein paar „Wohoos!“ tönten durch den Raum. „Das große Feiern kommt danach. Versprochen!“ Wieder lachten einige. „Wir haben heute 45 Minuten live zur Verfügung, um eine Geschichte zu erzählen. Und zwar die Geschichte eines Kleids …“ Lucy ließ ihre Stimme besonders geheimnisvoll klingen und tatsächlich zappelten einige der Damen rund um sie herum voller Aufregung.
Als hätte noch niemand das Kleid gesehen.
„Jeder weiß, was er zu tun hat“, setzte sie fort, „wenn Eric die letzte Minute einläutet, geht jeder bitte auf seinen Platz. Ihr habt jetzt noch etwa drei Minuten …“ Wieder lachten einige auf. „Ich wünsche uns allen eine gute Show! See you on the other side!” Lucy klatschte in die Hände und das Team jubelte um sie herum.
Das war’s, oder?
Das war der Moment, auf den sie seit fast zehn Jahren hingearbeitet hat. Diese Spannung, bevor sie on air ging. Diese Aufregung, der Teamgeist, das zahlreiche Publikum vor ihren Handybildschirmen, die gespannt auf die zweite Folge ihrer Show warteten.
Lucy sah Tina, die Marketingleiterin von Abrazo, durch die Menschen gleiten. Bei einigen Personen, die während der Show kurze Interviewsegmente beisteuern sollten, blieb sie stehen, schüttelte die Hände und wünschte ihnen eine gute Show. Die Interviewblöcke benötigten sie, weil Lucy während der Aufnahme mehrmals die Garderobe wechseln würde, bis sie schließlich das Kleid präsentierte.
DasKleid. Der Hauptfokus der heutigen Show und … –
„Du solltest den Vertrag jetzt noch unterschreiben“, begann ihre Mutter unbeirrbar erneut und brach durch Lucys Konzentration. „Oder antworte zumindest auf das E-Mail, dass du ihn gelesen hast.“
„Ich habe keinen Vertrag erhalten, ich habe nichts gelesen. Ich weiß nicht einmal, wovon du sprichst“, sagte Lucy. „Und jetzt unterschreibe ich sicher nichts.“ Sie sah ihre Mutter direkt an. „Warum unterzeichnest nicht du den Vertrag? Das machst du doch sonst auch?“
Im Laufe der Jahre, ganz ohne ihr Zutun, war Lucys Mutter so etwas wie ihre Managerin geworden.
Wenn man Lucy gefragt hätte, wie es so weit kommen hatte können, hätte sie wohl keine zufriedenstellende Antwort darauf geben können. Wann immer es etwas zu unterschreiben gab, war die Mutter plötzlich da gewesen. Auch wenn sie bei keinem von Lucys Projekten tatsächlich positive Worte für die kreative Leistung Lucys gefunden hatte, hatte sie sich dennoch immer darum gekümmert, dass Lucy zumindest keine Knebelverträge unterzeichnete.
Lucy liebte das Rampenlicht. Seit man sie irgendwann in ihrem letzten Kindergartenjahr auf die Bühne einer Pensionistenweihnachtsfeier gestoßen hatte, wo sie mit all der Emotion, die sie als Fünfjährige aufbringen hatte können, ein kurzes Weihnachtsgedicht aufgesagt hatte, war sich Lucy sicher, dass es ihre Bestimmung war, vor Publikum aufzutreten.
Auf einer Bühne war sie jemand.
Hier sah man sie.
In jeder Rolle, die sie gerade sein wollte.
Hier strahlten die Scheinwerfer auf sie.
Hierher reichte der überdimensionierte Schatten ihrer Mutter nicht.
Vom Pensionistenverband ging es auf diverse Schulbühnen, wo Lucy sang, tanzte und spielte, bis man ihr doch tatsächlich mit knapp 20 Jahren einen Spot in einer Castingshow überließ. Das war vor gut zehn Jahren und irgendwann rund um diese Zeit übernahm ihre Mutter das Lesen der Verträge und entschied über zusätzliche Werbeeinnahmen, Auftritte bei Dorffesten – und all die anderen Dinge, mit denen man die Castingshow-Kuh ein oder manchmal auch zwei Jahre nach der Teilnahme noch melken konnte.
Lucy hatte sich damals den vierten Platz und eine treue onlineaffine Fancommunity ersungen, die ihr schließlich auf YouTube folgte, nachdem die Dorffeste auf andere 15-Minuten-Promis zurückzugreifen begonnen hatten.
Es war vor etwa fünf Jahren gewesen, als Lucy sich eines Nachts um drei Uhr früh vor ihre Handykamera gesetzt hatte und sich dabei filmte, wie sie ihr Party-Make-up entfernte, während sie über eine zu diesem Zeitpunkt gerade mal 43 Minuten zurückliegende Trennung von einem Eh-nur-so-halb-Boyfriend philosophiert hatte. In Kombination mit den typischen Handgriffen des Abschminkens und ihrer Caipiroska-induzierten Ehrlichkeit über das Dating-Leben einer 25-Jährigen traf ihr Video irgendeine dieser überraschenden Zeitgeist-Strömungen, über die das Feuilleton – und Twitter – dann immer sehr aufgeregt berichteten.
In Lucys Fall führte die neu gewonnene Aufmerksamkeit zu weiteren Videos, in denen sie das Abschminken, Hautpflege und Naturkosmetika thematisierte, während sie gleichzeitig den Zustand der Welt kommentierte. Mit wachsender Zuseherzahl stiegen auch ihre Werbeinnahmen und die ersten Firmen traten an sie heran, ob sie nicht – gegen eine gewisse Summe – ihre Produkte vor der Kamera verwenden wollte.
Je höher die angebotene Summe wurde, desto ausführlicher wurden die vertraglichen Verpflichtungen – und irgendwann war wieder Lucys Mutter da und kümmerte sich um all das Kleingedruckte. Natürlich nicht, ohne regelmäßig die Nase zu rümpfen, wenn Lucy wieder einmal über den Klimawandel oder die perfekte Samstagabendplaylist sprach.
Vor einigen Monaten war schließlich Abrazo an Lucy herangetreten, um mit ihr diese Live-Serie zu konzeptionieren: Vier Folgen, eine pro Woche, plante man. Alles live via YouTube und Instagram. Es gab ein Drehbuch, ein Produktions- und ein Kamerateam. Zahlreiche Menschen, denen Lucy erst drei Mal in ihrem Leben begegnet war, hatten nun auch Zugriff auf ihre sorgfältig betreuten Social-Media-Kanäle und feuerten all jene ihrer Fans und Follower an, wenn sie Emojis und lustige Nachrichten zu ihren Postings kommentierten.
Und jetzt stand sie hier, zweieinhalb Minuten entfernt von ihrem nächsten Live-Einstieg. Ihr Kopf rauschte, vollgefüllt mit Details zum Sendungsablauf und ihren Moderationen. Lucy hatte jetzt keine Zeit für Verträge oder Details und sie ignorierte ihre Mutter, die hektisch auf ihrem Handy zu scrollen begonnen hatte.
Mit leichten, unauffälligen Schritten stahl sich Lucy davon, ging zwei, drei Schritte, bis sie in einer Nische landete und zählte langsam mit geschlossenen Augen bis 20. Ihr Atem beruhigte sich und Lucy fühlte sich besser, konzentrierter. Ihr Bauch kribbelte mit dieser angenehmen Anspannung, die sie immer erfüllte, kurz bevor sie auf die Bühne trat. Lucy schüttelte sich von Kopf bis Fuß.
In ihrer Nähe klangen schnelle Schritte zu ihr durch, die auf sie zueilten. Noch einmal atmete Lucy tief durch, dann hob sie ihren Kopf.
Sie war im Bühnenmodus.
Lucy wollte sich gerade in Richtung der ersten Station ihrer Aufnahme begeben, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm: Adam.
„Was machst du denn hier?“, fragte sie überrascht, aber lächelnd. Adam war der Juniorchef einer riesigen Schokoladenfirma, die er früher oder später erben würde. Er war in den vergangenen Wochen immer wieder mal auf den gleichen Events – und somit auch auf den gleichen Fotos – wie Lucy aufgetaucht. Sie hatten sogar einmal zu zweit ein Interview für den reichweitenstärksten Societyjournalisten gegeben, währenddessen sie – motiviert von einigen zuvor konsumierten Champagner-Flöten – lauthals lachend in die Kamera geblödelt hatten, was bedauerlicherweise zu Spekulationen über ihre mögliche private Verbindung geführt hatte.
„Schokolade ist immer gut“, hatte ihre Mutter damals lapidar geantwortet, als sich Lucy über die zunehmend zudringlicher werdenden Fragen von vermeintlich Interessierten in ihren Kommentaren und Privatnachrichten gewundert hatte.
Und jetzt war er wieder hier. Woher hatte er gewusst, wo sie … –
„Ich wollte dir unbedingt vor der Sendung noch Glück wünschen“, sagte Adam und beugte sich zu ihr, küsste ihre Wange und schaffte es zudem, gleichzeitig ein Selfie aufzunehmen.
„Danke“, sagte Lucy, während sie Adam musterte. Er trug schicke Hosen und ein weißes, an den Ärmeln aufgekrempeltes Hemd, dazu diese coolen Hosenträger, die das letzte Mal 1997 an Leonardo DiCaprio gut ausgesehen hatten.
„Bist du unterwegs auf die Titanic?“, fragte Lucy deshalb auch mit einem Augenzwinkern und hätte beinahe verpasst, wie sich Adams Stirn leicht kräuselte. Aber binnen kürzester Zeit überzog ein breites Lächeln Adams Gesicht, sein Kameralächeln, wie Lucy mittlerweile wusste, und er lachte lauthals auf.
Er zwinkerte Lucy zu. „Wir schaffen es jedoch in den Hafen. Mit Happy End“, Adam lachte nochmals und Lucy hatte weder Ahnung, wovon er sprach, noch Zeit, die Verwirrung aufzuklären, da Erics Stimme nun dringlich und absolut alarmiert die letzte Minute vor Beginn der Live-Übertragung ankündigte.
Ohne ein weiteres Wort drehte sich Lucy um und stürmte zu jener Stelle im Raum, wo die Aufnahme starten würde, schnappte sich den Blazer, den ihr ihre Mutter im Vorbeilaufen hinhielt, und ignorierte auch Adams „Weiß sie nicht, dass ich …?“, das er an ihre Mutter richtete.
Lucy positionierte sich auf der vereinbarten Markierung, ließ Mona an ihren Haaren herumzupfen – „30 Sekunden!!“ –, suchte Lilly aus dem Produktionsteam, die alle Schilder mit ihren Moderationstexten halten musste, und begann zu lächeln.
„Zehn, neun, acht, …“
Showtime!
„Einen wunderschönen guten Nachmittag aus dem Herzen der Hochzeitsvorbereitungen“, begrüßte Lucy die Zuseher an ihren Handy- und Computer-Bildschirmen, „dies ist die zweite Folge von ‚Abgeschminkt live powered by Abrazo‘ und ich freue mich, dass ihr mit dabei seid, wenn wir uns auf die schönste, eleganteste und romantischste Herbsthochzeit vorbereiten!“ Lucy machte eine kurze Pause, drehte ihren Körper zur Seite und zwinkerte in die Kamera. „Heute geht’s ums Kleid!“ Sie zügelte ihre Gesichtsmuskeln und blickte gespielt ernst zu ihren Zusehern. „Gibt es etwas Wichtigeres, wenn man heiratet?“ Lucy lachte auf und zwinkerte nochmals in die Kamera. „Nun gut, vielleicht den Bräutigam.“ Das Team rund um sie herum grinste und Lucy dankte es ihnen im Stillen, dass sie immer noch über diesen lahmen Witz schmunzeln konnten, obwohl sie ihn in der Probe bestimmt hundertmal gehört hatten.
„Aber, bevor wir uns aufs Wesentliche stürzen, schauen wir uns nochmals kurz an, was wir in der vergangenen Woche bereits auf dem Weg zu unserer Traumhochzeit erledigen konnten.“
Eric wachelte leicht mit seiner Hand, um ihr anzudeuten, dass die kurze vorbereitete Videosequenz mit einem Zusammenschnitt des Deko-Schwerpunkts der ersten Sendung lief und sie sich zur nächsten vorbereiteten Markierung bewegen konnte.
Lucy verdrängte den Gedanken, dass es ihr wieder nicht gelungen war, das Wort „Traumhochzeit“ mit der eigentlich nötigen Emotion auszusprechen. Abrazo hatte es in ihre Moderationstexte reinreklamiert, entgegen ihren Beteuerungen, dass Traumhochzeiten viel zu royal waren für ihr Publikum – und für das Konzept, das sie hier mit ihrer Show abwickelten.
Lucy hatte in Vorfeld lang darüber nachgedacht, ob sie der Kooperation mit Abrazo zustimmen sollte. Sie hatte einige Einwände gegen den Themenschwerpunkt „Hochzeiten im Herbst“ und warum sie als Person eigentlich nicht dafür geeignet war. Abgesehen davon, dass sie derzeit Single war, hatte sie grundsätzlich etwas gegen allzu durchgestylte Hochzeiten. Vor ein paar Jahren noch hätte sie vermutlich eine eigene Folge ihrer „Abgeschminkt“-Videos gedreht, um sich über eine Live-Serie wie diese hier öffentlich Gedanken zu machen. Warum Hochzeiten zu solchen Riesenevents wurden, hätte sie gefragt. Warum man vier Folgen über Dekoration, das Kleid, das Make-up sowie die Freunde und Familie der Braut drehen würde, ganz ohne den Bräutigam? Gehörten zum Heiraten nicht immer zwei?
Aber schlussendlich hatte sie sich nicht nur von ihrem üppigen Honorar als „Embajador“ überzeugen lassen, sondern vor allem von der Herausforderung der Live-Shows. Und der Ankündigung, dass Abrazo – bei entsprechendem Erfolg der Hochzeitsserie – eine Party- & Nightlife-Serie für Dezember in Aussicht stellte.
Das war dann schon eher ihr Metier.
„Wir haben heute ein vielfältiges Programm für euch geplant“, nahm Lucy ihre Moderation wieder auf und erklärte daraufhin mit wenigen Sätzen, welche Interviewpartnerinnen zahlreiche Tipps und Hinweise für die Auswahl des richtigen Kleids geben würden – auch in Hinblick auf die nicht prognostizierbaren Temperaturen im September oder Oktober. „Wir wollen ja vermeiden, dass ihr an eurem wichtigsten Tag im Leben vor lauter Zähneklappern das ‚Ja‘ nicht über eure Lippen bringt.“ Lucy zwinkerte wiederum in die Kamera, aber diesmal ließen sich ihre Gesichtsmuskeln kaum mehr in Bewegung versetzen, so sehr war ihr die Mimik eingefroren.
Warum ließ sie sich auch immer in die Moderation reinreden? Wichtigster Tag im Leben? Ernsthaft?
In Gedanken sah sie sich als 25-Jährige, übernächtig, aber voller Hoffnung. Ihr früheres Ich hätte die Augen verdreht und sich gespielt den Finger in den Rachen gesteckt.
Aber jetzt war sie fast 30 und sie hatte Verantwortung, vor allem auch, weil sie gefühlt Hunderte Seiten Vertrag unterschrieben hatte, dafür, dass auf ihrem Account Abrazo-Festspiele stattfinden würden.
Nicht der passende Zeitpunkt für eine Sinnkrise, Lucy!
Lilly wechselte zum nächsten Moderationsschild und Lucy leitete zum ersten Interview über.
Okay. Durchatmen. Weiter im Text.
* * *
Gute 30 Minuten später war Lucy erschöpft und froh, dass sie nun zehn Minuten Sprechpause hatte. Die ganze Sendung war für die kurzlebige Aufmerksamkeit des Onlinepublikums geplant, weshalb jede Interviewpartnerin nur etwa fünf Sätze sagte, bevor man wieder zu einer Moderation oder einem schnell geschnittenen Video wechselte.
Bis jetzt hatte Lucy bereits zwei Hochzeitskleider angehabt und live vor der Kamera präsentiert, besprochen und sich gespielt enttäuscht gezeigt, dass es noch nicht das Kleid war. Natürlich hatte ihr jedes Kleid wie angegossen gepasst und jedes wäre ideal gewesen für eine Herbsthochzeit, wenn diese in ihrer nahen Zukunft tatsächlich geplant gewesen wäre.
Aber man musste das Publikum bei Laune halten und die unterschiedlichen Modelle unterstrichen die Botschaft Abrazos, dass sich das Make-up nach dem Kleid richten sollte. Praktischerweise konnten die Zuseherinnen dann auch gleich mit nur wenigen Klicks zum Label, das die Kleider entworfen hatte, wechseln, um sich über Herbsthochzeitskleider in ihrer eigenen Größe zu informieren.
Und als ob der Stress zwischen Moderation und Kleidungswechsel nicht schon genug gewesen wäre, stand auch Lucys Mutter in jeder ihrer Umkleidepausen in ihrer Garderobe und versuchte sie davon zu überzeugen, den Vertrag zu unterschreiben.
„Welchen Vertrag?“, hatte Lucy genervt gefragt, während sie sich ins erste Kleid gezwängt hatte.
„Den Ehevertrag“, hatte ihr die Mutter das Gespräch kurz vor Beginn der Show in Erinnerung gerufen.
„Mit wem sollte ich einen Ehevertrag eingehen?“, hatte Lucy geflüstert, damit niemand die Sendung störte oder etwa bemerkte, dass ihre Mutter den Verstand zu verlieren schien.
„Na, mit Adam!“, hatte ihre Mutter geantwortet und Lucy hätte daraufhin beinahe die Präsentation des ersten Kleides abbrechen müssen, weil sie vor lauter Verwirrung für einen Moment vergessen hatte, von ihren Moderationskarten abzulesen.
Während sie ins zweite Kleid wechselte und im Hintergrund ein Interview mit einer Hochzeitskleidschneiderin lief, die über die vielfältigen Körperformen von Frauen sprach und wie man die jeweiligen Vorzüge betonen konnte, lieferte sich Lucy ein weiteres Flüsterduell mit ihrer Mutter.
„Warum sollte ich einen Ehevertrag mit Adam unterzeichnen?“, hatte Lucy mit steigender Panik gefragt.
„Weil das das Happy End ist!“, hatte die Mutter zurückgeflüstert.
„Wer sagt das?“
„Jeder! Wir alle! Du hast dem zugestimmt!“
„Wann? War ich betrunken?“, hatte Lucy mit zunehmender Wut geflüstert.
„Letzte Woche, als wir im Santa Maria waren“, warf ihr die Mutter entgegen.
Ins Santa Maria ging Lucys Mutter immer dann, wenn sie „etwas verhandeln“ wollte. Im Santa Maria gab es jedoch zwei Faktoren, die Lucys Konzentration jedes Mal maßgeblich beeinträchtigten: nämlich Fabio. Und Crema Catalana.
Fabio war Brasilianer und flirtete sich von Tisch zu Tisch, während er Speisen und Getränke verteilte. Mit jedem obrigado brachte er Lucys Magen so sehr zum Flattern, dass er sich nur mit Crema Catalana beruhigen ließ.
Das wusste Lucy. Und das wusste die Mutter.
Aber Lucy hatte offenbar aus all den bisherigen „Verhandlungen“ im Santa Maria nichts gelernt.
Lucy fiel das Essen in der vergangenen Woche wieder ein. Der karamellisierte Zuckerguss der Crema Catalana hatte lauthals geknackt, als sie ihren Löffel durch die Oberfläche … –
„Du hast bloß gesagt, dass wir Adam in die Show einbauen werden“, warf Lucy ihrer Mutter vor. „Kein Wort davon, dass ich ihn heiraten würde! Ich dachte, er trägt ein paar Schokopralinen durchs Bild!“
„Aber es ist doch perfekt so!“, argumentierte die Mutter und ignorierte dabei vollkommen, dass sie dieses vielleicht doch eher wichtige Gespräch an jedem anderen Ort führen hätten sollen als hier, mitten in einer Umkleidekabine.
Während einer Live-Sendung.
Mit minimalem Zeitfenster.
„Ihr habt so viel Ausstrahlung gemeinsam vor der Kamera“, sprach die Mutter ungerührt weiter. „Die Medien interessieren sich für euch.“ Sie schnaufte durch. „Und er wäre bereit, dich im echten Leben zu heiraten. Dann machen wir eine Home Story, ihr besucht einige Events im Laufe des nächsten Jahres und nach einem Jahr könnt ihr euch ohne großes Trara wieder scheiden lassen. Falls ihr das dann überhaupt noch möchtet. Vielleicht ist eure Verbindung ja für die Ewigkeit!“
Lucy starrte die Mutter an und knirschte mit den Zähnen.
Heute war der Tag.
Heute war der Tag, an dem sie sich den ersten Backenzahn ausbeißen würde.
Aber schließlich schluckte sie all den Frust ein weiteres Mal hinunter und stolperte sich durch die Präsentation des zweiten Kleides.
Und nun stand sie hier. Im dritten Kleid. Das Team und vor allem Abrazo hatten entschieden, dass dieses das Kleid werden würde.
Das Produktionsteam hatte für diesen Teil der Sendung eine Reihe an Videos geplant, in denen einige der Fans ihre eigenen Vorstellungen zu Herbsthochzeiten darlegten, dazwischen gab es ein Interview mit einer Mitarbeiterin von Abrazo, die erklärte, wie man mit wenigen Handgriffen allfällige Make-up-Flecken aus dem Brautkleid bekommen würde. Und noch einiges mehr, das Lucy genügend Zeit verschaffen sollte, um in das Kleid zu schlüpfen.
Die Atmosphäre rund um sie herum wurde lockerer, da sie sich dem Ende der Sendung näherten. Bis jetzt hatte alles reibungslos geklappt, alle Einsätze waren wie geprobt gelungen und die Zuseher kommentierten und teilten und likten wie wild. Abrazos Marketingleiterin Tina grinste zufrieden, so sehr es ihr Botox-gestähltes Gesicht zuließ.
Nur Lucys Mutter flüsterte weiter auf sie ein, dass sie doch endlich diesem Vertrag zustimmen sollte.
„Warum ist das jetzt so wichtig?“, keifte Lucy flüsternd zurück.
„Weil Adam dich dann am Ende im Kleid sehen wird!“ Die Mutter sprach mit ihr, als hätte Lucy all dies bereits wissen müssen.
„Am Ende der Sendung steige ich in einen VW-Bus und fahre in den Sonnenuntergang“, antwortete Lucy ruhig. Sie kannte den Ablauf der Sendung auswendig. Da war kein Adam geplant. Nur sie und der VW-Bus und eine romantische Abendstimmung.
„Nun ja“, begann die Mutter, „wir haben das geändert.“
„Nein“, antwortete Lucy, „das war so besprochen. Dort drüben liegen die Schlüssel zum Auto …“ Lucy deutete auf die Kommode, auf der – wie vereinbart – Autoschlüssel für einen eierschalengelben VW-Bus lagen, der vor der Lagerhalle auf sie wartete.
„Das wurde geändert. Du gehst nun zwar raus wie besprochen, aber vor dem Bus wartet Adam, ihr küsst euch und er gibt dann ein Interview. Dann ist die Sendung aus“, erklärte die Mutter.
„Was soll denn das?“, fragte Lucy fassungslos. „Ich soll Adam heiraten? Auf Sendung?“
Passierte so etwas normalerweise nicht nur in Büchern?
In diesem Moment schnappte jedoch die Geduld der Mutter ein. Sie packte Lucy am Unterarm, so fest, dass Lucy sich leicht wand, um dem Schmerz auszuweichen.
„Jetzt stell dich nicht so an, du stures Kind“, sagte die Mutter mit eiserner Stimme, „glaubst du wirklich, dass du bis an dein Lebensende mit deinen pseudomoralischen Plaudereien Geld verdienen wirst?“
Wie bitte?
Lucy holte Luft, aber die Mutter ließ ihr keine Chance. „Sieh es ein, du bist einfach nicht talentiert genug für die große Bühne. Und nachdem du nie einen richtigen Beruf erlernt hast, kann dich nur eine Ehe vor der Armut retten. Dieser Ehevertrag, gegen den du nun wie ein Kleinkind trotzig vorgehst, gibt dir Sicherheit: in erster Linie finanziell, aber vor allem hält es dich auch noch eine Zeit lang im Gespräch. Wir brauchen deine Prominenz, sonst sitzt du in einem Jahr wieder in der Bedeutungslosigkeit.“
Lucy starrte die Mutter an. In wenigen Momenten ihres Lebens war sie jemals sprachlos gewesen, aber hier, jetzt, in diesem Augenblick, fehlten ihr die Worte.
Alle, die jemals irgendwo gesprochen oder gedacht worden sind.
Und vor allem fehlte ihr die Lust, an dieser Scharade weiter teilzunehmen.
Das Kleid schnürte sich immer weiter um Lucys Brust und sie bemühte sich um jeden einzelnen Atemzug. Lucy sah sich um. Niemand rund um sie herum schien von ihrem Disput Notiz zu nehmen, jeder hatte seine Aufgabe, jeder war beschäftigt.
Lucy überschlug die Lage in ihrem Kopf. Es blieben ihr noch zwei Minuten, bis sie zur abschließenden Präsentation des finalen Hochzeitskleids vor der Kamera erscheinen sollte und sich alle Blicke wieder auf sie richten würden. Sie musste schnell handeln.
Lucy zog ihre Mundwinkel leicht nach oben, um ein Lächeln anzudeuten und sofort entspannten sich auch die Gesichtszüge ihrer Mutter.
„Könntest du mir bitte etwas Wasser holen?“, fragte Lucy so höflich es ihr möglich war und hüstelte künstlich.
Die Mutter verdrehte leicht die Augen, wandte sich aber gleich um auf der Suche nach irgendjemandem, dem sie diese banale Tätigkeit delegieren konnte, und rauschte davon.
Lucy hatte nur wenige Sekunden.
So ruhig es ihr möglich war, schritt sie durch den Raum, lächelte unbeteiligt vor sich hin und schnappte sich die Autoschlüssel, die auf der Kommode lagen. Plötzlich fiel ihr Blick auf ihre Jeansjacke: Das geliebte Stück, das ihr die Mutter vor der Sendung vom Leib gerissen hatte, leuchtete wie zur Bestätigung ihres halbausgegorenen Plans in ihr Blickfeld.
Lucy griff nach der Jacke und eilte unbemerkt nach draußen.
Der Bus parkte wie vereinbart vor dem Haus.
Sie lachte leise auf.
Ganz ohne Kameras in ihrem Nacken stieg sie ein und startete den Motor.
Seit dem Semmering machte der Bus Geräusche, die er vermutlich nicht machen sollte, aber Lucy war beharrlich weitergefahren. Sie hatte sich gegen die Autobahn entschieden, nachdem sie auf dem Bus keine Autobahnvignette entdeckt hatte und zudem nicht gewusst hatte, ob der VW-Motor überhaupt mehr als die eigentlich für die Kamera geplanten 500 Meter schaffen würde.
Abgesehen von den eigentümlichen Motorgeräuschen trug sie der tapfere VW-Bus aber nun immer weiter durch die Steiermark.
Kurz nachdem sie aufgebrochen war, hatte sich Lucys Atem langsam wieder etwas beruhigt. Das Gefühl, in ihrem Kleid gefangen zu sein, ließ nach und sie beschloss, das erste Ziel, das ihr einfiel, anzupeilen.
Als sie ans Meer dachte, lenkte sie ihr Auto in Richtung Süden.
Es war rund um Graz, als ihr jedoch eingefallen war, dass sie so gänzlich ohne Ausweis unterwegs war, was ihr nicht nur bei einer allfälligen Verkehrskontrolle Probleme bereiten würde, sondern auch beim Grenzübertritt.
Oder beim Buchen eines Hotels.
Ein Hotel, das sie nicht einmal bezahlen würde können, weil sie auch ohne Geld unterwegs war.
Und ohne Telefon.
Trotzdem hatte Lucy den alten VW-Bus weiter in Richtung Süden gelenkt, gegen die immer wieder aufflammende Panik tief eingeatmet und versucht, das Klappern des Motors zu ignorieren.
Bald würde sie irgendwo anhalten müssen. Lucy musste etwas trinken, die Toilette aufsuchen. Das Auto schonen.
Aber sie wollte nicht zurück.
Keinesfalls.
Lucy verdrängte jeden Gedanken daran, wie das Team wohl ohne sie die Sendung zu Ende gebracht hatte. Vermutlich hatten sie Adam mehr Sendezeit gegeben.
Lucy schüttelte sich und schloss für einen Moment ihre Augen. Beinahe hätte sie dadurch aber das entzückende Schild einer Autowerkstätte verpasst, das unter einer Reihe an Wegweisern zu zahlreichen Orten, von denen Lucy noch nie zuvor gehört hatte, hing.
Die Werkstatt hieß doch tatsächlich „Mike & the Mechanics“!
Lucy lachte auf und bog auf die Landstraße ein, die sie durch hügelige Landschaften und kleine Orte im abendlichen Dämmerlicht führte. Alles war so saftig grün und üppig verwachsen. Und darüber legte sich das goldene Sonnenlicht der Spätsommersonne, der letzten Sonnenstrahlen, die es über die Bergkette am Horizont schafften.
Zwischen den Feldern entdeckte Lucy einzelne Bauernhäuser, unterbrochen von einer Eisenbahnstrecke, die sich parallel zur Straße, auf der sie fuhr, durch die Landschaft zog.
Lucy folgte weiteren Schildern, die sie zu Mikes Werkstatt führen sollten, und musste dafür noch einige weitere Male abbiegen. Sie passierte eine große offizielle Ortstafel und – direkt dahinter – einen in Holz geschnitzten Willkommensgruß. Lucy fuhr an einem Sportplatz vorbei, einem riesigen Parkplatz, der offenbar zu einem Einkaufszentrum gehörte, und suchte das nächste Schild, das zu Mike führen sollte.
„Wo bist du, Mike?“, flüsterte Lucy nur für sich und lehnte sich übers Lenkrad, während der Motor ein weiteres Mal laut grummelte. Sie bog in eine etwas breitere Straße ab, in der Hoffnung, so wieder zu einer offiziellen Route zu gelangen. Aber gerade als Lucy bemerkte, dass sie mitten auf einem großen Platz gelandet war, spuckte der VW angewidert und fast trotzig ein weiteres Mal vor sich hin, hoppelte noch zwei Meter lang weiter und gab dann den Geist auf.
Mitten neben dem Springbrunnen.
Da war sie nun und lebte ihre eigene Version eines 90er-Jahre-Musikvideos: In einem Hochzeitskleid und einer Jeansjacke stolperte Lucy aus einem alten VW-Bus heraus, es fehlte nur dramatischer Rauch, der aus dem Motorraum stob, und das daraufhin einsetzende E-Gitarrensolo, während sie den Bus kickte.
Aber nichts davon passierte.
Der Bus schwieg, es erklang keine E-Gitarre, nichts rauchte oder staubte. Der Platz, auf dem sie gestrandet war, sah sogar richtig … nett aus. Ihr fiel kein besseres Wort ein. Einladend vielleicht. Freundlich.
Gemütlich.
Der Springbrunnen plätscherte und auf einer Parkbank etwas weiter entfernt unterhielten sich zwei ältere Damen so engagiert, dass sie gar keine Notiz von Lucys Dilemma nahmen.
Lucy sah sich um. Die meisten Geschäfte schienen schon geschlossen zu haben und auch das Café, das kurioserweise „Kaffeekränzchen“ hieß, hatte die Stühle des Schanigartens bereits zusammengestapelt und verstaut, für heute verräumt, bis der nächste Tag anbrach. Aber das Schild über dem Eingang leuchtete noch und sie konnte hinter der Auslage eine Bewegung wahrnehmen.
Vielleicht lieh ihr hier jemand ein Telefon, um Mike oder einen seiner Mechanics zu kontaktieren.
Mit raschen Schritten eilte Lucy auf die Eingangstür zu, öffnete diese und platzte in lautes Gelächter, das abrupt endete, als man sie durch die Tür kommen sah.
Fünf oder vielleicht sechs Personen starrten sie mit offenem Mund an.
Auch Lucy schwieg für einen Moment, etwas verlegen ob ihres Aufzugs, und starrte zurück.
Ganz links stand ein großer, ausgesprochen attraktiver Mann, der sie musterte, als sei sie ein Rätsel, direkt neben ihm eine nicht minder schöne, sehr sportlich wirkende Frau, die ihr ein offenes Lächeln schenkte. Neben den beiden standen zwei Jugendliche mit Smoothies in den Händen, dahinter noch eine ältere Dame und eine weitere Frau, die ähnlich alt wie die sportliche schien.
„Ich wusste es!“, sagte das Mädchen in der Runde plötzlich und sah sich zum Jungen neben ihr um. „Hab ich’s dir nicht gesagt?“ Der Junge sah sie nur verwirrt an.
Daraufhin drehte sich das Mädchen zum attraktiven Paar an ihrer Seite.
„Ich habe euch ja gesagt, dass ihr das mit dieser Herbsthochzeit zu blöd geworden ist und sie einfach abgehauen ist!“
„Was?“, stammelte Lucy, weil ihr nichts anderes einfiel.
„Du bist doch Lucy, oder?“, fragte das Mädchen und schlürfte an ihrem Smoothie.
Lucy nickte.
„Ist das hier das Kleid?“, fragte das Mädchen unbeirrt weiter.
Lucy nickte wieder und das Mädchen kniff die Augen zusammen und lächelte dann wohlwollend.
„Es ist wirklich das schönste Modell der drei“, sagte sie dann freundlich mit ganz sanfter Stimme.
Lucy starrte sie immer noch verwirrt an.
„Warum bist du hier?“, fragte das Mädchen und erntete dafür ein scharf geflüstertes „Bobby!“ aus drei unterschiedlichen Richtungen.
Das schien jedoch Lucy endlich aus der Überraschung zu schütteln.
„Du heißt Bobby?“, fragte Lucy, sich langsam an die Situation gewöhnend.
Das Mädchen nickte.
„Cooler Name“, sagte Lucy.
„Ich weiß“, antwortete Bobby.
Die sportliche Frau verdrehte lachend die Augen.
„Sie ist 15“, sagte sie daraufhin, als würde das irgendetwas erklären.
„Waren wir das nicht alle mal?“, antwortete Lucy.
„Tom sicher nicht“, lachte Bobby, „der war immer schon erwachsen und alt.“
Auf einmal lachten alle im Raum auf und Lucy wurde von einer akuten Sehnsucht erfasst, die sie noch nie zuvor verspürt hatte. Irgendetwas an diesen freundlichen, liebevollen Scherzen löste in Lucy ein Gefühl aus, das sie nicht anders als „Sehnsucht“ benennen konnte.
Aber für den Moment schob sie dieses Gefühl zur Seite und ließ das Gelächter verhallen, bis sich wieder zahlreiche neugierige Blicke auf sie richteten.
Ach ja, es wusste ja immer noch niemand, warum sie hier war.
„Ich brauche einen Mechaniker“, sagte Lucy schließlich und ließ ihren Blick über die freundlichen Gesichter schweifen, „mein Auto … also der VW-Bus da draußen … er fährt nicht mehr.“
Mehrere Köpfe streckten sich an ihr vorbei, um nach draußen auf den Platz sehen zu können, und plötzlich sprachen alle durcheinander. Lucy verstand nur einzelne Wortfetzen und Namen, die durch den Raum flogen. Auch Mikes Name war mehrmals dabei, jedoch leider sehr häufig in Kombination mit italienischen Küstenorten, was nichts Gutes für die Öffnungszeiten von „Mike & the Mechanics“ verheißen dürfte.
Mindestens vier Personen kramten auch sofort nach einem Telefon, man wollte einige Leute gleichzeitig anrufen, während die freundliche junge Frau, die bis jetzt im Hintergrund gestanden war, sich einen Weg durch die Gruppe bahnte, Lucys Arm nahm und sie zu einem Sessel führte.
„Kaffee oder Alkohol?“, fragte sie mit einem Lächeln.
„Beides?“, antwortete Lucy zögerlich.
„Bella, sie muss heute noch Auto fahren“, rief die ältere Dame durch den Raum.
„Ich weiß nicht, ob der Bus heute nochmals anstartet“, antwortete der Junge.
„Dann braucht sie einen Schlafplatz!“, rief Bobby aufgeregt und wandte sich an die ältere Dame. „Nana, sie kann doch bei dir übernachten!“
„Aber wo denn?“, antwortete die Dame, Nana offenbar, freundlich. „Irenes Zimmer ist eine Baustelle.“
„Na ja, so schlimm ist es auch wieder nicht“, antwortete die sportliche Frau und wandte sich an Lucy: „Mein Badezimmer wird gerade renoviert“, erklärte sie daraufhin, als könnte diese Information irgendetwas bewirken.
„Als ob du dort noch oft schlafen würdest“, murmelte Bella kichernd und Lucy stieg ein weiteres Mal aus der Konversation aus, als sich alle lachend Kommentare an den Kopf warfen, die die sportliche Frau rot werden ließen, bis der attraktive Mann sie an sich zog und sie zärtlich über ihrer Augenbraue küsste.
Wieder wurde Lucy von diesem tiefsitzenden Gefühl der Sehnsucht überwältigt und sie schluckte mehrmals, räusperte sich und rutschte auf ihrem Sitz hin und her, damit sie die Tränen, die ihr plötzlich hinter den Augen brannten, zurückhalten konnte.
„Gibt es hier eventuell ein Hotel?“, fragte Lucy, als sie der Meinung war, ihre Stimme wäre wieder stabil genug.
Erneut richteten sich alle Blicke auf sie.
„Ich habe jedoch kein Geld“, ergänzte sie. „Derzeit.“ Lucy schluckte. „Und auch keine Kleidung.“ Die vielen Mienen ihr gegenüber wurden weicher. „Also, ich kann natürlich auch im Bus schlafen.“ Lucy schluckte erneut. „Wenn man ihn irgendwohin transportieren kann, wo er nicht stört.“
„Sie könnte im Gästehaus schlafen“, schlug Bobby vor.
„Welches Gästehaus?“, fragte Bella, die Lucy nun eine Tasse mit Espresso sowie ein vollgefülltes Schnapsglas reichte.
Lucy sah Bella verständnislos an.
„Der Grappa gehört in den Kaffee“, sagte Bella zu ihr und wandte sich dann wieder an Bobby. „Welches Gästehaus?“, fragte sie erneut.
„Bei Hans!“, antwortete Bobby, und da Lucy weder Hans noch ein Gästehaus kannte, widmete sie sich lieber den Getränken vor ihrer Nase.
Lucy beugte sich zum Schnapsglas. Der scharfe Geruch des Grappas stieg ihr sofort in die Nase und kitzelte sie leicht.
In den Kaffee, hatte Bella gesagt. Was für eine Zeitverschwendung.
Lucy setzte das Glas an und in einem langen Zug stürzte sie den Grappa hinunter. Die Flüssigkeit brannte sich durch ihren Hals, bis sie sich im Bauch wärmend ausbreitete und für einen Moment den Druck darin linderte.
„So geht das natürlich auch“, kommentierte Bella und kicherte.
Als nächstes roch Lucy am Espresso.
„Köstlich“, murmelte sie und führte nun auch die Tasse an ihre Lippen.
„Und Hans wäre das recht, wenn jemand im Gästehaus übernachtet?“, fragte die Frau, die vermutlich Irene hieß, nach, als sich Lucy wieder den lustigen Menschen rund um sie herum widmete. Irene klang ausgesprochen skeptisch.
Der Junge zuckte mit den Schultern, was Bobby zu einem Augenverdrehen verleitete.
„Natürlich wäre es ihm recht“, antwortete sie, „das Haus ist schon seit Monaten fertig, er kümmert sich nur nicht darum, dass jemand davon weiß.“
Vermutlich-Irene drehte sich nach dem attraktiven Mann um. „Weißt du davon?“, fragte sie ihn.
„Wir haben, ehrlich gesagt, nicht davon gesprochen“, antwortete er, „aber es wäre schon wahrscheinlich, dass es so ist, wie Bobby sagt.“
Das Mädchen verschränkte ihre Arme mit triumphierendem Blick.
Lucy merkte, wie sich Müdigkeit über ihren Kopf in den gesamten Körper ausbreitete. Entweder lag das an der Wirkung des Alkohols oder der überwältigenden Fürsorge dieser fremden Menschen vor ihr. Eine sie langsam lähmende Schläfrigkeit kroch über ihre Schultern und begann auf ihren Nacken zu drücken.
Sie nahm einen weiteren Schluck vom Espresso, den sie mit wesentlich mehr Zurückhaltung trank als den Grappa, und ließ den bitteren Geschmack über ihre Zunge laufen, der sich über den Gaumen ausbreitete. Sie summte erfreut. „Wirklich köstlich“, murmelte sie, mehr für sich, aber Bella schien sie gehört zu haben, denn sie drückte leicht auf ihre Schulter.
„Tolle Jeansjacke übrigens“, sagte Bella. Lucy lachte auf und überraschte sich selbst mit dem verbitterten Tonfall, der dem Lachen zugrunde lag.
„Sie hätte es leider nicht vor die Kamera geschafft“, sagte Lucy, als würde das ihr eigenartiges Auflachen erklären können.
„Schade“, sagte Bobby, die sich nun wieder ihr zugewandt hatte und sie mit einem kühlen, fast analytischen Blick musterte.
„Dürfen wir jetzt schon darüber sprechen, warum du hier bist?“, fragte das Mädchen dann ruhiger.
„Bobby!“, flüsterten wieder mehrere Stimmen aus unterschiedlichen Richtungen. Der Junge neben ihr richtete sich ein wenig auf, runzelte die Stirn.
Bobby zuckte aber bloß mit den Schultern. „Das Ende der Folge war eigenartig“, sagte sie und wandte sich wieder an den Jungen. „Ich habe dir ja gesagt, dass da irgendetwas nicht in Ordnung war. Lucy verschwindet nicht einfach aus der Sendung. Schon gar nicht, wenn ständig davon die Rede war, dass sie bald in dem Kleid wiederkommen würde.“ Bobby drehte sich zu ihr. „Es ist wirklich sehr schön.“
„Danke“, antwortete Lucy und lächelte leicht, gerade als die Tür zum Café aufging und ein freundlicher rotwangiger Mann hereinstürmte und lauthals in die Runde fragte, warum denn ein VW-Bus mitten am Hauptplatz stehe. „Ist das schon wieder eine Marketingaktion, von der ich nichts weiß?“ Sein freundlicher Gesichtsausdruck wurde plötzlich besorgt, um nicht zu sagen verärgert, aber die vielen Leute im Café kicherten nur verschmitzt.
Bella drückte erneut ihre Schulter. „Otto hat es Tom und mir noch immer nicht verziehen, dass wir vor einem halben Jahr … sagen wir … den Frühling begrüßt haben.“
Lucy sah sie neugierig an. Bella lächelte. „Irene und ich hatten ein wenig mit selbstgemachten Energieriegelrezepten herumexperimentiert und schließlich hatten wir die Idee, diese draußen am Hauptplatz gemeinsam mit frühlingshaften Smoothies zu verteilen. Tom“, sie deutete auf den anderen Mann in der Runde, „gehört ein Sportgeschäft und er hat uns damals einen seiner Verkäufer geschickt, der dazu ein bisschen über Sportausrüstung für die warmen Temperaturen gesprochen hatte. Das war alles eigentlich sehr schön!“
„Aber ohne Genehmigung!“, grummelte der Neuankömmling, woraufhin Bella die Augen verdrehte.
„Wir hatten keinen Platz im Schanigarten!“, antwortete Bella so entnervt, wie man eben klang, wenn man einen Streit schon sehr häufig geführt hatte.
„Es kann sich nicht einfach jeder mitten am Hauptplatz aufstellen und Dinge verteilen, wie es ihm Spaß macht!“, ließ der Mann nicht locker und wieder kicherten alle Umstehenden.
„Achtung, Achtung! Die Spaßpolizei ist wieder unterwegs!“, antwortete Bella und Lucy sah zum Mann, der zwar immer noch grantig schaute, aber gleichzeitig auch damit kämpfte, dass seine Mundwinkel nicht zu sehr zuckten. Schließlich siegten diese doch und er musste lächeln, bis sein Gesicht wieder so freundlich aussah wie bei seiner Ankunft.
Er zwängte sich an allen vorbei zu Bella und murmelte etwas von „diese Frau macht mich noch fertig“, aber Lucy konnte es zwischen den lachenden Kommentaren nicht genau genug verstehen.
Schließlich küsste er Bella so herzhaft, dass sie sich in Lucys Schulter verkrallte, um die Balance zu halten. Danach stürzten sich die beiden in eifriges Geflüster aus „Wie war dein Tag?“ und „Was essen wir heute?“, während Lucy verwirrt zu den anderen Personen der Runde sah.
Die ältere Dame, Nana, wenn sie sich recht erinnerte, hatte sich mittlerweile ihr gegenüber hingesetzt. „Ein langer Tag, hm?“, fragte sie fürsorglich und Lucy nickte.
„Warum steht nun der VW-Bus mitten am Platz?“, fragte der Mann, nachdem er seine ausführliche Begrüßung mit Bella abgeschlossen hatte.
„Das ist meiner …“, antwortete Lucy leise.
Der Mann sah sie neugierig an, blickte kurz zu ihrem leeren Kaffeehäferl sowie zum leeren Schnapsglas, sah dann zu Bella und dann wieder zu ihr.
„Das ist kein Parkplatz“, sagte er ruhig und die gesamte Runde begann, genervt aufzustöhnen und zu lachen.
„Otto ist unser Bürgermeister“, erklärte Nana grinsend. „Er fühlt sich für jeden Pflasterstein verantwortlich.“
„Irgendwer muss das ja machen“, murmelte Otto, der Bürgermeister, grinste aber freundlich.
Lucy setzte sich leicht auf und hielt ihm ihre Hand hin. „Ich heiße Lucy“, sagte sie, als er ihre Hand nahm, „der Bus hat leider mitten am Platz seinen Geist aufgegeben, noch bevor ich ‚Mike & the Mechanics‘ gefunden habe.“
„Mike ist gerade in Jesolo“, sagte Otto unbeirrt und irgendjemand hinter ihr murmelte ein „Das habe ich ja gesagt!“.
Lucy grinste. Irgendwie mochte sie das freundliche Chaos hier im Café.
„Lucy ist ein Star“, warf Bobby nun erklärend ein und aus irgendeinem Grund wurde Lucy davon rot im Gesicht. Sie machte eine abwehrende Handbewegung, die Bobby mit einem „Stimmt ja wohl!“ quittierte.
„Es tut mir leid“, sagte Otto zögerlich, „dass ich dich … Sie … nicht erkannt habe.“
Lucy schüttelte den Kopf und wollte gerade erklären, dass sie bei Weitem nicht berühmt war, aber der Junge setzte sich diesmal über alle hinweg und erklärte Otto: „Du könntest sie auch nur kennen, wenn du dich für Hochzeiten interessierst.“
„Das stimmt überhaupt nicht“, antwortete Bobby. „Lucy kennt man schon als Sängerin. Und früher hat sie einfach über interessante Themen gesprochen. Das mit den Hochzeiten macht sie erst seit Kurzem.“
„Du interessierst dich für Hochzeiten?“, fragte Otto Bobby und sein Blick lief zwischen den beiden Jugendlichen hin und her, die – wenn Lucy richtig lag – noch viel zu jung aussahen, um sich für Hochzeiten, egal zu welcher Jahreszeit, interessieren zu können.
Bobby verdrehte die Augen, aber der Junge grinste halbseitig: „Sie recherchiert …“
„Felix!“, zischte Bobby dem Jungen entgegen, damit er aufhörte zu sprechen.
Die anderen Erwachsenen schienen plötzlich alarmiert, aber auch amüsiert zu sein, während Nana lächelnd den Kopf schüttelte.
„Ich will halt vorbereitet sein“, sagte Bobby leise und trotzig.
„Wofür?“, fragte Otto unbeirrt weiter.
„Na, falls sie heiraten, …“, murmelte Bobby mittlerweile mit leicht roten Wangen. Sie warf Felix einen giftigen Blick zu, der Junge zuckte aber nur mit den Schultern.
In Ottos Augen blitzte etwas auf und er grinste plötzlich wie ein Schulbub.
„Wer heiratet?“, fragte er langsam und erntete dafür einen freundlichen, aber warnenden Knuff in seinen Bauch von Bella.
„Niemand heiratet“, antwortete Bella und Lucy sah, wie sich Irene verwirrt umsah und alle Gesichter der Anwesenden musterte, während Tom mit einer Hand seinen Nacken massierte und auf den Boden starrte.
In Bobbys Gesicht war die Verlegenheit mittlerweile von deutlich erkennbarem Ärger abgelöst worden und Lucy wusste, es konnte sich nur mehr um Sekunden handeln, bis sie …
„Na, Tom und Irene! Tom wollte immer schon im Herbst heiraten und Herbst ist bald und da sollte man vorbereitet sein!“, schimpfte Bobby in die Runde, drehte sich daraufhin auf dem Absatz um und stürmte aus dem Café.
Felix und Tom ließen gleichzeitig die Schultern hängen und sahen sich an.
„Das war jetzt meine Schuld“, murmelte der Junge, aber Tom schüttelte den Kopf.
„Ist trotzdem etwas, worüber ich mit ihr reden sollte“, antwortete Tom und setzte sich in Bewegung, um dem Mädchen zu folgen.
„Ich komme besser mit“, sagte Felix.
Das Café blieb still, bis die Tür auch nach den beiden ins Schloss gefallen war und Lucy musterte erneut alle Gesichter, die sie umringten.
Irene sah etwas blass aus. „Wir haben noch gar nie übers Heiraten gesprochen“, flüsterte sie plötzlich. „Nicht einmal miteinander. Und schon gar nicht mit Bobby.“
Nana berührte Irene an der Hand und zog sie auf den Stuhl neben sich. Bella lehnte sich an Otto und grinste alle an.
„Aber wir haben sehr ausführlich darüber gesprochen“, kicherte sie.
„Wer ist ‚wir‘?“, fragte Irene mit besorgter Miene.
„Die Stadt, die Gäste im Café …“, antwortete Bella.
„… die Leute, die zum Bürgertag ins Rathaus gekommen sind, …“, warf Otto ein.
„… einige der Kunden im ‚Seitenweise‘ …“, steuerte Nana bei.
Irene lachte auf. „Ihr macht euch lustig über mich, oder?“
Die anderen lachten auch, schüttelten aber den Kopf.
Lucy lächelte. Es war doch irgendwie kurios, wie groß das Interesse an einer vermeintlichen Hochzeit sein konnte, sei es im YouTube-Livestream oder in einer Kleinstadt wie dieser hier.
„Wo bin ich hier überhaupt?“, fragte Lucy daher plötzlich. Sie war mit ihrer Suche nach der Autowerkstatt so beschäftigt gewesen, dass sie die die Ortsschilder auf dem Weg bis ins „Kaffeekränzchen“ nicht einmal wahrgenommen hatte.
„In Frischthal“, antwortete Otto, der Bürgermeister, stolz und richtete sich auf.
„Im ‚Kaffeekränzchen‘“, antwortete Bella gleichzeitig und sah nicht minder stolz aus.
„Am Hauptplatz“, steuerte Nana zur Ortsdefinition bei.
„In Sicherheit“, sagte Irene, aber es klang irgendwie wie eine Frage.
Lucy hielt ihren Blick, schüttelte dann aber leicht den Kopf. Sie war vielleicht geflohen, aber nicht, weil sie in Gefahr gewesen war.
Sie seufzte. Dann stand sie auf.
„Es tut mir leid, dass ich euch alle aufgehalten habe, aber ich werde mich nun langsam um das Auto kümmern müssen. Oder um eine Unterkunft.“ Lucy versagte für einen Moment die Stimme. Es war vermutlich nicht ihr hellster Moment gewesen, in einem Brautkleid in ein desolates Auto zu steigen und ohne Geld und Handy eine Reise anzutreten.
„Lucy“, sagte Irene leise und so sanft, dass Lucy ihren Kopf hob, „lass uns helfen.“ Irene lächelte. „Die Leute hier haben Erfahrung mit … sagen wir … gestrandeten Frauen.“
Nana schnaubte durch die Nase und lachte auf. „Du hattest zumindest deine Handtasche mit“, sagte sie zu Irene, aber diese ließ sich nicht weiter davon beirren. Sie lächelte Lucy nur weiterhin zu.
Dann richtete sie ihren Blick auf Otto. „Otto, wir haben ja mehr als einen Mechaniker in der Stadt“, sagte sie ruhig. „Irgendjemand wird den VW-Bus ja abholen und in eine Werkstatt bringen können.“
„On it“, antwortete Otto und zückte sein Telefon. Er verschwand hinter der Theke, wo sich ein weiterer Raum befinden dürfte. Lucy folgte ihm mit ihrem Blick.
Die Tür zum Café ging wieder auf und Bobby, Tom und Felix kamen zurück.
„Ist wieder alles okay?“, fragte Irene sanft und ließ sich von Bobby umarmen.
„Wir haben mit Hans telefoniert“, erzählte Tom.
„Du kommst mit mir mit“, sagte Felix zu Lucy. „Ins Gästehaus!“
Lucys Blick wandte sich an Irene, die freundlich nickte.
„Wir bringen dich“, sagte sie daraufhin.
Lucy erwachte im Morgengrauen und wusste für einen Moment nicht, wo sie war. Es dauerte einige Sekunden, bis ihr das Drama des Vortags wieder einfiel.
Adam, ihre Mutter, das Brautkleid.
Lucys Magen zog sich leicht zusammen und in ihr begannen sich unterschiedliche Gefühle zusammenzubrauen.
Zur Ablenkung hob sie ihren Kopf und suchte den Raum ab, in dem sie lag. Das riesige Bett stand auf einer Art Galerie, die man über eine schmale Treppe erreichte und von wo aus man den gesamten großen Wohnraum darunter überblicken konnte. Am Fußende des Betts stand eine sehr alt wirkende Truhe, über die sie am Vorabend ihr Brautkleid einfach darüber geworfen hatte und danach in ihrer Unterwäsche ins Bett geschlüpft war.
Bevor sie zu Tom, Irene, Bobby und Felix ins Auto gestiegen war, hatte sie sich von Bella und Otto verabschiedet, die ihr beide versichert hatten, dass sie sich um den VW-Bus kümmern würden. „Du kannst dir sicher sein, dass Otto nichts Ungeplantes auf ‚seinem‘ Hauptplatz herumstehen lässt“, hatte ihr Bella verschwörerisch zugekichert, „und wenn er es selbst wegtragen muss.“ Lucy musste lachen, hauptsächlich über die freundliche Art, in der sich diese Freundesgruppe übereinander lustig machte.
Lucy hatte nicht ganz durchschaut, in welcher Beziehung sie alle zueinanderstanden. Bella und Otto sowie Tom und Irene schienen jeweils ein Paar zu sein, aber wie die Kinder und auch Nana ins Programm passten, war ihr nicht ganz klar.
Nana war gestern Abend auf ein altes Waffenrad gestiegen, nicht ohne Lucy zuvor noch mehrmals zu „Eis oder Limonade“ einzuladen, aber Lucy wusste nicht genau, wann und wohin sie kommen sollte.
Sie wusste auch nicht, wie weit sie an diesem Tag überhaupt kommen würde, denn sie war weiterhin ohne Geld und ohne zivilisationstaugliche Kleidung. Und nun auch ohne Auto.
Es war schon dunkel gewesen, als die lustige Familie sie gestern hierhergebracht hatte. Kaum war das Auto in der Hofeinfahrt stehen geblieben, war Felix in ein großes Wohnhaus gestürmt und kurze Zeit später mit einem Schlüssel in der Hand wieder erschienen. Die vier hatten sie schließlich zu diesem Gästehaus auf der anderen Seite des Hofes gebracht, das vor allem Tom und Irene mit vielen „Aaahs“ und „Ooohs“ begutachtet hatten. Offenbar war das Gästehaus sehr neu.
Je länger sich Lucy im Haus umgesehen hatte, desto mehr hatte die Scham ihren gesamten Körper ergriffen. Diese bedingungslose Freundlichkeit, dieses Vertrauen, das ihr einfach so entgegengebracht wurde, machten sie sprachlos und verlegen.
Lucy hatte sich gefühlt Hunderte Male bei Irene und Tom und auch Bobby und Felix bedankt. Sie war irritiert und beschämt gleichermaßen, dass sie von diesen vollkommen fremden Menschen unaufgefordert unter ihre Fittiche genommen worden war.
Bald darauf hatten sich alle zurückgezogen und Lucy in der Stille des ländlichen Abends zurückgelassen. Kaum allein, hatte sie sich einfach nur mehr das Kleid ausgezogen und ins Bett gelegt, in der Hoffnung, möglichst schnell einzuschlafen und alle Gedanken – die guten wie die schlechten – damit ausschalten zu können.
Es war jedenfalls wunderschön hier. Das kleine Gebäude wirkte frisch renoviert und gänzlich neu eingerichtet. Im Erdgeschoß fand man eine kleine Kochnische sowie eine riesige hellgraue Couch, an deren Rücken halbhohe und gut gefüllte Bücherregale standen. Die Couch war mit Blickrichtung auf eine riesige Fensterfront gerichtet, die ums Eck ging und am Vorabend nur den Blick auf die stockfinstere Nacht freigegeben hatte.
Lucy hob ein weiteres Mal den Kopf und sah diesmal am Brautkleid vorbei in Richtung der halbhohen Fensterfront, durch die der beginnende Tag zu erkennen war.
Aber das waren doch …
Lucy schlug die Decke zurück und beeilte sich, ins Erdgeschoß zu kommen.
Sie blinzelte.
Direkt vor dem Fenster lag eine schmale Terrasse vor einem Wiesenstück, das wenige Meter danach in einen Obstgarten überging. Ein Apfelbaum nach dem anderen erstreckte sich vor ihren Augen, so weit, bis der Boden etwas abschüssig wurde und sich die Bäume leicht zu senken begannen – und dadurch den Blick auf die weitläufige Landschaft dahinter eröffnete.
Lucy entdeckte in der Ferne einige Hügel, die mit Weingärten überzogen waren, dazwischen immer wieder vereinzelte Häuser und kurvige Straßen.
Aber das Besondere war vor allem das Licht. Von der linken Seite erhob sich gerade die Sonne für diesen Tag und legte einen warmen goldroten Filter auf das saftige Grün vor ihren Augen. Die Tautropfen auf den Grashalmen und Blättern funkelten in den ersten Sonnenstrahlen und in der Ferne sah es aus, als ob leichter Nebel zwischen den Hügeln aufsteigen würde.
Das erste Mal seit ihrer Abreise wünschte sich Lucy ihr Telefon herbei, um diese beeindruckende Morgenstimmung festhalten zu können. Sie verdrängte den Gedanken daran aber schnell wieder.
Lucy sah sich hastig in dem großen Wohnraum des Gästehauses um und fand eine Decke, die auf der Couch zusammengelegt lag. Sie wickelte sich darin ein und schob dann die große Glastür, die einen Teil der Fensterfront bildete, auf. Sofort strömte frische, feuchte und noch nicht ganz sonnenwarme Luft herein und Lucy ertappte sich dabei, mehrere tiefe Atemzüge zu machen.
Fast hektisch begann sie, alle Eindrücke zu benennen: die Farben im Spiel der aufgehenden Sonne, die beinahe reifen Äpfel vor ihren Augen, diese frische Luft und vor allem die nicht vorhandenen Geräusche einer Großstadt. Hier war es nahezu still, einige Grillen zirpten und Vögel zwitscherten, aber man hörte kein Hupen, keine Hubschrauber, keine Presslufthammer und keine Motoren aufheulen.
Lucy atmete noch einmal tief ein.
Sie ließ sich auf die kühlen Steine der schmalen Terrasse vor dem Fenster nieder und achtete darauf, dass sie auf der Decke saß.