Naturlieben - Katrina Verde - E-Book
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Katrina Verde

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Beschreibung

Die Buchhändlerin Amina traut ihren Augen kaum, als der berühmte Schriftsteller Luis Kramer - frustriert und in einer Schreibblockade festsitzend - buchstäblich auf ihrer Türschwelle landet.

Der Autor ist eigentlich inkognito in der steirischen Kleinstadt - und dringend auf der Suche nach Erholung. Und Inspiration.

Zufällige Begegnungen zwischen Amina und Luis, spontane Nickerchen in der Frühlingssonne, Palatschinken mit Musikbegleitung sowie unzählige dunkelviolette Krokusse lassen die Luft zwischen den beiden immer häufiger frühlingshaft knistern.

Doch inmitten all der frisch erwachenden Frühlingsgefühle stolpern Amina und Luis jedoch auch über verstörende Pläne, die einen umfassenden Eingriff in die Natur und die Landschaft vorsehen. Kann das klimaschädigende Projekt so kurz vor der Umsetzung noch verhindert werden?

Amina und Luis bemühen sich um Aufklärung. Und dabei wird Luis - so ganz nebenher und fast unbemerkt - immer weiter in das lebendige Kleinstadt-Leben hineingezogen. Aber gerade auch deshalb stellt sich Amina immer häufiger die Frage, wie sie mit der drohenden Abreise des Schriftstellers klar kommen sollte ...

*

Krokuswiesen, Daunenjackenumarmungen und ein frustrierter Schriftsteller: "Naturlieben" ist ein unterhaltsamer Liebesroman über unerwartete Frühlingsgefühle, die Liebe zur Natur sowie die belebende Kraft von Palatschinken - umringt von guten Büchern und dem gelegentlich schrulligen Leben in der Kleinstadt.

Die "Landlieben"-Serie erzählt die Geschichten dreier Frauen zwischen 30 und 40 Jahren, die jede für sich Zufriedenheit im Neubeginn finden - an genau jenem Ort, mit dem sie nicht gerechnet hätten, in genau jenem Moment, in dem sie es nicht erwartet hätten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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NATURLIEBEN

Ein Liebesroman mit Frühlingsgefühlen

KATRINA VERDE

Copyright © 2022 by Katharina Sabetzer

Alle Rechte vorbehalten

Die in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht von der Autorin beabsichtigt.

Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.

Mail: [email protected]

Web: www.katrinaverde.at

Lektorat: Renate Rosner

Covergestaltung: Sibylle Exel-Rauth

Inhalt

Was bisher geschah

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

Epilog

WIE ALLES BEGANN

WEITERE GESCHICHTEN VON KATRINA

VIELEN DANK

ÜBER KATRINA VERDE

Was bisher geschah

Willkommen im steirischen Frühling!

„Naturlieben“ ist – nach „Landlieben“ und „Herbstlieben“ – der dritte Teil meiner „Landlieben“-Serie – und wir begegnen in diesem Buch lauter altbekannten Gesichtern. Falls dies Dein erster literarischer Ausflug in die Weststeiermark ist, stelle ich Dir hier ein paar der wichtigsten Charaktere vor:

Aus „Landlieben“ kennen wir Irene, die zu Beginn des Buchs Hals über Kopf ihr vermeintlich perfektes Leben in Wien zurücklässt und in ihrer alten Heimat – dem Haus ihrer mütterlichen Freundin Nana im weststeirischen Frischthal – Erholung, alte wie neue Freunde und natürlich Tom findet.

Tom ist Nanas Nachbar und kümmert sich um seine Nichte im Teenageralter, Bobby. Diese freundet sich im ersten Teil mit Felix an, dessen Vater Hans in „Herbstlieben“ eine besondere Rolle zukommt. Er ist es nämlich, der Lucy in seinem Gästehaus mit Blick über einen berauschend schönen Apfelgarten Unterschlupf gewährt.

Lucys Geschichte steht im Fokus des zweiten Teils der Serie („Herbstlieben“). Sie stellt ihre steil bergauf gehende Influencer-Karriere plötzlich infrage. Und nachdem der VW-Bus, mit dem sie während einer Live-Sendung direkt vom Set verschwunden ist, mitten in Frischthal liegen bleibt, ist sie auch tatsächlich zu einem längeren Aufenthalt in der Kleinstadt gezwungen. Was sie natürlich regelmäßig in die Nähe von Hans bringt ...

Außerdem begegnen wir seit dem ersten Teil dem immer unterhaltsamen Bürgermeister Otto sowie seiner Partnerin Bella, die beide ehemalige Schulkollegen von Irene sind.

Mitten am Hauptplatz von Frischthal gibt es den Coffee-Shop „Kaffeekränzchen“, der Bella gehört, in dem Irene regelmäßig aushilft und wo sich die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt treffen. Gegenüber dem Coffee-Shop liegt die Buchhandlung „Seitenweise“, in der Nana früher mitgearbeitet hat – und die nun hier, mitten im Frühling und mitten in Aminas Geschichte eine zentrale Rolle übernimmt ...

Lass uns loslegen!

Viel Spaß bei der Lektüre,

Katrina

1. Kapitel

Irgendwann im Laufe des Nachmittags war der Regen in Schnee übergegangen. Amina blickte durch die Auslage auf den weiß bedeckten Hauptplatz, über den nur wenige Fußspuren führten. Das Wetter war seit Tagen schlecht und die Bewohner der Stadt verließen ihre Häuser nur für die nötigsten Wege.

Auch Aminas Buchladen „Seitenweise“ lag seit Tagen ruhiger da als normalerweise. Die Schulkinder, die sonst oft um die Mittagszeit bei ihr vorbeischauten, eilten bei diesem Wetter gleich nach Erklingen der Schulglocke nach Hause. Und auch all die Erwachsenen, die sich sonst im Laufe des Tages auf einen kurzen Streifzug durch die Bücherregale einfanden, blieben derzeit lieber in ihren eigenen vier Wänden.

Amina seufzte und drehte sich um die eigene Achse, blickte in den still in der Abenddämmerung daliegenden Verkaufsraum. Sofort überkam sie das immer gleiche Gefühl von Stolz, wenn sie das Ergebnis der jahrelangen, mit Liebe zum Detail umgesetzten Maßnahmen vor sich sah: die weichen Sitzmöbel, die im Geschäft verteilt standen, allen voran die große Couch im vorderen Teil des Ladens. Dahinter erstreckten sich die ansprechend gestalteten und dekorierten Bücherreihen.

Aminas Blick fiel auf den ersten Büchertisch, der gleich neben dem Eingang stand. Hier sollte eigentlich seit ein paar Tagen ein Sammelsurium an Garten- und Naturbüchern zu finden sein. Lucy, der neu zugezogene Kreativbrunnen der Stadt, hatte mit Amina große Pläne geschmiedet, wie sie langsam den Frühling ins Buchgeschäft einziehen lassen würden. Den ganzen Winter über hatten sie Bücher zu Frühlingsaktivitäten im eigenen Garten, Literatur mit Naturbezug und Anleitungen zu nachhaltiger und umweltschonender Pflanzenauswahl und -pflege gesammelt und zusammengetragen. Zusätzlich hatte Lucy einige besonders einprägsame Naturschilderungen aus alter und neuer Literatur gefunden und eine Art Rätselrallye, die sich irgendwo zwischen der Website des Buchladens, dem dazu gehörenden Instagram-Account und der Dekoration hier im Laden abspielen sollte.

Amina hatte die Planung dafür – vor allem des digitalen Bereichs der Aktivitäten – Lucy und Irene überlassen. Die beiden Frauen waren erst vor wenigen Jahren in der Stadt gelandet – in beiden Fällen kurioserweise aus einer gewissen Not heraus – und brachten seither ihr umfangreiches Kreativwissen in zahlreichen Projekten in und um die Stadt ein.

Wofür Amina sehr dankbar war, denn ihre digitalen Ambitionen konnte man getrost als nicht-existent beschreiben. Sie war womöglich naiv und wohl auch ein wenig stur, was ihre Ablehnung aller digitalen Kommunikationswege betraf, aber Amina war auch geschäftstüchtig genug, um die Notwendigkeit gewisser Aktivitäten, die sich nur auf den Smartphones ihrer Kundinnen und Kunden abspielten, zu erkennen.

Nachdem die Wetterprognose für diese Woche so unerbittlich kalt und ungemütlich gewesen war, hatten Lucy und sie beschlossen, die Frühlingsaktivitäten im Geschäft um einige Tage zu verschieben.

Und jetzt schneite es auch noch!

Schnee war in diesen Breitengraden Ende Februar nicht ungewöhnlich, aber in den vergangenen Wintern doch eher selten geworden. Der Frühling hatte sich seit ein paar Jahren immer früher und auch immer überfallsartiger blicken lassen und Amina vermisste die angenehme Sonnenwärme, die die ersten Frühlingstage auf der Haut erlaubten, schon sehr.

Wie jedes Jahr Ende Februar war sie überzeugt davon, dass dieser Winter der längste und anstrengendste für ihr Gemüt gewesen war. Aber Amina hatte auch genügend Selbsteinschätzung und Fähigkeit, über sich selbst zu lachen, um zu wissen, dass ihre Ende-Februar-Frühlingssehnsucht ein jährlich wiederkehrendes Phänomen war.

Wie leider auch der letzte Schneefall der Saison.

Als es schließlich Zeit war, den Laden für diesen Tag zu schließen, ging Amina behutsam durch das Geschäftslokal und kontrollierte wie jeden Abend, ob alle Lichter und Geräte abgedreht waren. Dann nahm sie das abgezählte Bargeld, um es im Safe zu verstauen, und bediente gleichzeitig jenen Knopf, der das Rollgitter vor der Eingangstür herunterfahren ließ. Sie aktivierte die Alarmanlage und verließ das Geschäft durch den Hintereingang.

Der Schnee wehte ihr ins Gesicht, als sie die wenigen Schritte bis zu jener Treppe im Hinterhof überwand, die sie nach oben in ihre über dem Buchladen liegende Wohnung bringen würde.

Amina schüttelte sich kräftig, nachdem sie die Wohnungstür hinter sich ins Schloss fallen hat lassen. Während der wenigen Momente, die sie draußen verbracht hatte, war ihr bis auf die Knochen kalt geworden.

Die Wohnung lag dunkel da, einzig der von den Straßenlaternen beleuchtete Schnee warf etwas Licht in ihre Räume. Das Dunkelblau strich über alle Möbel, Bücher und auch die leere Kaffeetasse, die heute Früh auf dem Wohnzimmertisch stehen geblieben war.

Für einen Augenblick, hier mitten in der spätwinterkalten Dämmerung, erlaubte sich Amina, dem schneidenden Gefühl der Einsamkeit nachzugeben, das sie häufig abends beim Betreten ihrer Wohnung überfiel. Dieses eigentümliche Gefühl wie Kälte, die sich wie ein Schneeball von innen heraus durch ihr Körpersystem rollte.

Bis sie das Licht aufdrehte.

Im Bruchteil einer Sekunde flammte oranges, warmes Licht durch ihre Wohnung und ließ auch die eisige Verzweiflung in ihrem Bauch wegschmelzen. Mit wenigen routinierten Griffen wiederholte sie ihr abendliches Winter-Ritual: ein jazziges Saxophon aus den Lautsprechern, ein paar Scheite Holz in den Kachelofen und die Abendnachrichten ohne Ton aus dem Fernseher.

Sie war umgeben von Leben und Bewegung und Wärme und alles in ihrem Bauch fühlte sich wieder richtig an.

Amina aktivierte ihren Wasserkocher, wählte eine Teemischung aus, nach der ihr heute Abend der Sinn stand, und sie schob den Kochtopf, der noch etwas Suppe vom Vortag beinhaltete, auf die Herdplatte, um diese aufzuwärmen.

Während sie aß, blätterte Amina durch ein Magazin, das ihr von irgendeinem Verlag zum Testlesen zugeschickt worden war. Sie ließ sich von unterschiedlichen Artikeln ablenken, die Tipps zum Basteln von diversen Dingen, die niemand wirklich benötigte, gaben. Verzierte Balkontöpfe, selbst gestrickte Hundepullover oder eine Magnetleiste für Fotos. Amina schmunzelte, als sie sich vorstellte, wie ihre Tante Gerti, die resolute Leiterin des örtlichen Strickclubs, auf Hefte wie dieses reagieren würde.

„Das haben wir schon vor vierzig Jahren selbst gemacht“, würde ihre Tante mit verächtlichem Schnauben sagen, „ganz ohne Hochglanzanleitung.“

„Aber viele Leute brauchen die Anleitung“, würde Amina daraufhin jedoch antworten, auch wenn sie der Tante im Stillen recht gab. Aber es war ihr wichtiger, dass die Gegenseite auch zu Wort kam.

„Einmal Juristin, immer Juristin“, würde die Tante dann lächelnd sagen und ihre Wange küssen.

Amina lächelte und leerte die kleine Schüssel, aus der sie ihre Suppe aß. Sie hob den Kopf, als es irgendwo entfernt in ihrer Wohnung kurz piepste. Amina stellte die leere Schüssel in die Abwasch und folgte dem Geräusch in ihr Schlafzimmer, wo ihr Telefon seit dem Vorabend lag.

Trotz der Stille im Geschäft heute Nachmittag war ihr gar nicht aufgefallen, dass sie den ganzen Tag ohne Handy im Erdgeschoß gewesen war.

Übers Display scrollend rutschte sie auf ihren Wollsocken langsam durch den Vorraum zurück ins Wohnzimmer, wo sie sich auf ihren Lesestuhl mit Blick auf den Kachelofen fallen ließ.

Keine der Nachrichten, die sie untertags verpasst hatte, schien wichtig oder dringend zu sein. Was wohl daran lag, dass jeder, der sie tatsächlich in dringenden Angelegenheiten erreichen wollte, wusste, dass er einfach im „Seitenweise“ vorbeikommen musste.

Die aktuellste Nachricht, das Piepsen, das sie von ihrer Zeitschriftenlektüre abgelenkt hatte, war von ihrer Tante Gerti. Als hätte sie gewusst, dass Amina gerade an sie gedacht hatte.

Auf ihrem Display erschienen zahlreiche Fotos, eines nach dem anderen zeigte strahlend blauen Himmel über türkisem Mittelmeerwasser. Dazwischen war immer wieder zur Hälfte das überglückliche Gesicht ihrer Tante zu sehen, das sich vor die diversen idyllischen Hintergründe schob.

„Liebe Grüße von der Insel. Das mit den Selfies übe ich noch. Das nächste Mal kommst Du mit!“, schrieb Gerti. Amina grinste übers ganze Gesicht. Kein Mensch war aktiver als ihre Tante.

Neben dem Strickclub, der sich einmal pro Woche im „Kaffeekränzchen“ traf, organisierte Tante Gerti auch einen Krimi-Buchklub, der monatlich im „Seitenweise“ zusammenkam, und war an allen übrigen Tagen mit ihren zahlreichen Freunden und Freundinnen aus der Stadt unterwegs.

Jetzt eben gerade machten sie die kroatische Insel Hvar unsicher.

Was angesichts des deutlich besseren Wetters dort eine ausgezeichnete Idee war.

Amina scrollte sich ein weiteres Mal etwas langsamer durch die angezeigten Fotos. Dann tippte sie auf den kleinen Button für Sprachnachrichten und diktierte ihrem Telefon: „Danke für die schönen Fotos! Bei uns schneit es seit heute Nachmittag schon wieder, pack für uns ein paar Sonnenstrahlen ein. Alles Liebe!“

Die Sache mit den Sprachnachrichten hatte sich vor etwas mehr als einem Jahr unter all den Pensionistinnen und Pensionisten der Stadt wie ein Lauffeuer verbreitet, da sie dadurch nicht mehr lästig nach ihrer Lesebrille suchen mussten, um Nachrichten in ihr Telefon zu tippen. Nach mehreren Monaten, in denen die für die Seniorinnen und Senioren neuen Kommunikationswege über die gesamte Stadt hinweg erprobt worden waren, war die Nachricht über diese wundervolle Technik auch im „Seitenweise“ angekommen. Und auch Aminas Ablehnung gegen ihr Mobiltelefon schwand ein wenig mit der neu entdeckten Option, Nachrichten sprechen zu können und nicht mehr tippen zu müssen.

Aminas Telefon piepste erneut leise und unaufdringlich und sie kicherte über Tante Gertis Antwort: „Kein Mensch zelebriert seine Februar-Melancholie jedes Jahr so sehr wie Du! Es wird jedes Jahr wieder Frühling. Versprochen!“ Den Worten folgten zahlreiche küssende Smileys und Amina grinste ihr Handydisplay erfreut an.

Schließlich legte Amina ihr Telefon zur Seite und machte sich auf die Suche nach jenem Buch, das sie vor zwei Tagen zu lesen begonnen hatte. Die Saxophonklänge aus ihren Lautsprechern folgten ihr zu all jenen Plätzen ihrer Wohnung, an denen sie üblicherweise ihr aktuelles Buch liegen ließ: das linke Nachtkästchen neben ihrem Bett, die schmale Ablage neben ihrer Badewanne, die Oberfläche der Mikrowelle sowie den Couchtisch und die Frisierkommode, die Tante Gerti in ihrem Vorraum aufgebaut hatte, die Amina jedoch nur zur Ablage ihres Wohnungsschlüssels und der Post verwendete.

Amina kratzte sich am Kopf, lachte über sich selbst, als sie ihr ratloses Spiegelbild im Wohnzimmerfenster sah und erinnerte sich dann daran, dass sie das Buch am Nachmittag ins Geschäft geholt hatte. Nachdem es ja so ruhig gewesen war, hatte sie sich einige Zeit des Lesens auf ihrer Sitzgarnitur mitten im Laden erlauben können.

Für einige Sekunden wog Amina ab, ob sie das Buch im Geschäft liegen lassen und sich einen Film anschauen sollte. Aber schließlich siegte die Neugier darüber, wie es ihren Charakteren weiter ergehen würde und sie wickelte sich in ihren Daunenmantel, schlüpfte in ihre Ugg-Boots und stapfte nochmals die Treppen zum Geschäft hinunter.

Amina brauchte kein Licht, um den Weg zur Sitzgarnitur zu finden, so vertraut waren ihr die Distanzen. So hell leuchtete der schneeweiße Hauptplatz durch die Auslagenfenster.

Sie fand das Buch, wie erwartet, auf dem Couchtisch, der neben den gemütlichen Sitzmöbeln im Verkaufsraum stand. Gerade als sie nach dem Buch griff, hörte sie einen lauten, überraschten Aufschrei, gefolgt von einem dumpfen Aufprall und genervtem Stöhnen. Amina sah sich verwirrt um, versuchte die Richtung der Geräusche zu orten und nahm dann kuriose Schattenbewegungen vor dem Geschäft wahr, die sich bei näherer Betrachtung als rudernde Arme herausstellten.

Amina lief zur Tür, überwand die zahlreichen Schlösser und rief, noch während sie die Eingangstür aufriss, durch das Sicherheitsgitter hindurch: „Brauchen Sie Hilfe?“

Die erste Antwort, die sie erhielt, war ein erneutes, aber deutlich verärgertes Aufstöhnen.

„Wie bitte?“, fragte Amina nach, nicht sicher, ob die grummelnden Laute nicht eventuell doch Wörter gewesen waren.

„Geh weg!“, hörte sie daraufhin eine tiefe Männerstimme sagen. „Geh einfach weg!“

2. Kapitel

Amina richtete sich empört auf und betätigte jenen Knopf, der das Rollgitter vor ihrem Geschäft zu heben begann. War das ein Scherz? Erschrocken überlegte Amina für einen Moment, ob sie eventuell den diesjährigen Faschingsdienstag verpasst hatte, der in diesen Breitengraden üblicherweise über die Maßen gefeiert wurde, aber innerhalb kürzester Zeit erinnerte sie sich ans „Faschingskränzchen“, das im „Kaffeekränzchen“ gegenüber gefeiert worden war.

Und an ihre Begleitung an diesem Abend.

Und warum sie diesen Faschingsdienstag eigentlich aus ihrer Erinnerung gestrichen hatte.

Ihr Date an diesem Abend hatte sich als wesentlich älter herausgestellt, als er es in seinem Online-Profil angegeben hatte. Amina, selbst gerade erst frisch auf der anderen Seite von 40 gelandet, hatte kein grundsätzliches Problem mit dem Alter ihrer Dates. Sie hatte ein Problem mit falschen Angaben in Online-Profilen. Und mit Uneinsichtigkeit, wenn es um ihre Empörung ging. „Es ist doch nur eine Zahl!“, hatte der Mann damals zu seiner Verteidigung vorgebracht.

„Du siehst nicht einmal mehr aus wie auf dem Foto!“, hatte Amina geantwortet.

„Heute ist Fasching, da sieht niemand aus wie sonst …“, gab der Mann zurück und hat bedauernswerterweise wiehernd gelacht.

Vielleicht hatte Amina auch weniger etwas gegen falsche Angaben in Dating-Profilen, sondern eher etwas gegen schlechten Humor.

„Ein weiteres Tinder-Prachtstück“, hatte Tante Gerti den unlustigen Mann bezeichnet, nachdem er von Aminas Freunden, allen voran Otto und Hans, in ein Taxi gesetzt worden war – natürlich nicht, ohne ihm das Versprechen abzunehmen, sich niemals wieder in Aminas Nähe blicken zu lassen.

Amina schüttelte sich leicht in Erinnerung an diesen missglückten Abend, der sich bedauerlicherweise in eine beschämend lange Liste kurioser Dates reihte, und verbannte den Gedanken daran wieder in jenen Teil ihres Kopfes, der fürs Vergessen zuständig war.

Das Rollgitter vor der Ladentür hatte mittlerweile einen guten Meter Sicht auf die Straße freigegeben und Amina hockte sich hin, um besser sehen zu können.

Das Bild, das sich ihr bot, hätte tatsächlich aus einem Slapstickfilm stammen können. Vor ihr lag halb ausgestreckt ein Mann im Schnee, um ihn herum verstreut entdeckte Amina einen Koffer, eine leere Leinentasche, einige Blätter Papier sowie mehrere Dosen mit Bohnensuppe. Amina hob erst ihre Augenbrauen, dann langsam ihren Kopf und studierte die Szenerie vor ihren Augen. Sie hielt erst inne, als sie in ein wütendes Augenpaar blickte.

„Geh weg, habe ich gesagt“, wiederholte der Verunfallte mittlerweile eher beschämt als verärgert.

„Was ist passiert?“, fragte Amina unbeirrt.

„Es schneit“, grollte der Mann mit so viel Ablehnung, dass Amina kurz zusammenzuckte.

„Ich helfe Ihnen“, sagte sie ruhig und duckte sich unter ihrem Rollgitter durch, begann die einzelnen herumliegenden Stücke einzusammeln, bevor der Schnee sie völlig durchweicht hätte.

„Wo müssen Sie denn hin?“, fragte sie unbeirrt, während sich ihr Gegenüber mit Mühe aufsetzte, ihr aber nicht antwortete.

„Haben Sie Schmerzen?“, setzte Amina fort und streckte ihre Hand aus, um dem Mann aufzuhelfen. Aus irgendeinem Grund musterte er sie von Kopf bis Fuß und wirkte dabei gar nicht mehr verärgert, sondern fast ein wenig amüsiert.

In Aminas Hirn kribbelte es leicht, irgendeine Erinnerung löste sein Gesicht bei ihr aus und die Synapsen arbeiteten. Aber sie kam im Moment nicht drauf …

„Schickes Outfit“, riss der Mann sie aus ihren Gedanken und Amina sah an sich herunter.

Natürlich. Sie trug bereits ihr Lounge-Outfit – und das waren die ältesten und ausgebeultesten Leggings, die diese Welt gesehen hatte, dazu eine Strickweste aus Tante Gertis Sortiment von vor mehr als zehn Jahren. Darüber trug Amina zwar ihren geöffneten Daunenmantel, aber natürlich hatte sie die Schürze nicht abgenommen, die sie sich beim Aufwärmen ihrer Suppe vorhin umgebunden hatte, und so leuchteten zahlreiche hüpfende Comic-Schafe von ihrem Bauch aus durch die Straße.

„Sind Sie auf den Kopf gefallen?“, fragte Amina schließlich. Wer blieb lieber auf der eiskalten Straße sitzen und zählte Schürzen-Schäfchen, als dass er sich aufhelfen ließ?

Der Mann schüttelte den Kopf, blickte für einen Moment auf den Boden und streckte dann – mit weiterhin gesenktem Blick – seine Hand aus. Amina griff danach, ließ sich nicht von der kalten, rauen Handfläche ablenken und zog leicht an, um ihm schließlich auf die Beine zu helfen.

„Danke“, murmelte er, plötzlich von jeglicher Energie verlassen. Also wiederholte Amina ihre Fragen ein weiteres Mal, aber er behauptete, er hätte keine Schmerzen.

„Kommen Sie ins Warme“, sagte Amina und rollte den Koffer durch ihre Eingangstür ins Geschäftslokal. Sie aktivierte die erstbeste Lichtquelle, die in ihrer Nähe war – eine Lichterkette aus roten und glitzernden Herzen, die offenbar noch niemand nach dem Valentinstag abgenommen hatte.

Der Mann humpelte leicht, als er ihr ins Geschäft folgte, dann ließ er seinen Blick erst über die erleuchteten Herzen, dann über den Büchertisch beim Eingang und schließlich über die restliche Einrichtung des Geschäfts gleiten.

Er lachte auf. In einem Tonfall, den Amina als spöttisch, fast bitter empfand.

„Natürlich“, murmelte der Mann, „of all the places in the world …”

„Hm?”, summte Amina, erwartete sich aber keine Antwort mehr.

Ihr unerwarteter Gast schien irgendwie in Gedanken versunken zu sein, sein Blick starr auf die Bücher gerichtet, während er sich mit seinen Händen unbedacht durch seine Haare fuhr. Trotz des wärmenden Rots der Lichterkette war sein Gesicht aschfahl mit dunklen Augenringen, die seine Wangenknochen betonten. Er sah komplett durchnässt aus, beobachtete Amina weiter.

„Haben Sie einen Platz, wo Sie bleiben können?“, fragte Amina sanft und überraschte nicht nur sich selbst damit, sondern offenbar auch ihren Besucher. Er sah in ihre Richtung, als hätte er für einen Moment vergessen gehabt, dass sie weiterhin neben ihm stand. Amina probierte es mit einem Lächeln und endlich, endlich bewegte sich auch die Mimik des Mannes ein wenig. Sein Gesicht wurde etwas weicher rund um die Augenwinkel, während er seinen Blick wieder auf die Bücherreihen richtete.

Ein Lebenszeichen. Immerhin.

„Ich habe eine Adresse bekommen von meinem … –“, der Mann unterbrach sich, „ich habe irgendwo eine Adresse notiert. Ich dachte, man kann vom Bahnhof zu Fuß dahin gehen.“ Er seufzte. „Kein Mensch hat mir gesagt, dass es hier schneit.“ Wie um sich selbst nochmals zu vergewissern, ob er nicht träumte, sah er durch die Eingangstür nach draußen. „Warum schneit es um diese Jahreszeit immer noch?“

„Es ist Februar“, antwortete Amina neutral, als hätte sie sich nicht auch schon den ganzen Nachmittag vom Schnee irritieren lassen.

Der Mann drehte sich zu ihr und ihre Blicke trafen sich.

Direkt.

Und ungefiltert.

Nachdem der Mann seit Minuten jegliche Interaktion und Reaktion vermieden hatte, fuhr diese direkte Kontaktaufnahme über ihre Augen wie ein Blitz durch Amina durch.

Sie vibrierte.

Das gute Vibrieren.

Wie Neugierde. Oder Vorfreude.

Und auch der Mann schien leicht zu zucken.

Das hatte sie ja noch nie erlebt!

Diese dämlichen roten Lichterherzen schienen einen Filmfilter über die Realität zu legen oder was auch immer da gerade diesen Blitz ausgelöst hatte.

Amina richtete ihren Blick auf die Sitzgarnitur leicht rechts hinter der Schulter des Mannes, das schien ihr für den Moment eine sichere Blickrichtung zu sein.

„Es ist Februar“, wiederholte der Mann schließlich, „in der Tat.“ Aminas Höflichkeit war wie ein Reflex und deshalb richtete sie ihren Fokus erneut auf das Gesicht des Mannes. Die Müdigkeit war immer noch da.

Aber als sich ihre Blicke ein weiteres Mal trafen, setzte sich erneut irgendeine Form von Energie in Bewegung.

Du liest zu viele Liebesromane, Amina!

Wie schon zuvor schien der Mann die Hälfte seiner Aussagen eher für sich vor sich hin zu murmeln. Also beschloss Amina, die Datumsbestimmung und den Wetterbericht fürs Erste sein zu lassen und sich wichtigeren Fragen zu widmen.

„Wissen Sie, wie Ihre Gastgeber heißen?“, versuchte sie es erneut.

„Laura … Lena … Lucy …?“, er nannte ein paar Namen. Dann schnaubte er durch die Nase. „Sie kennen ja sicher nicht jede Person in dieser Stadt …“ Er ließ den Satz leise auslaufen, nachdem sich Amina beim Stichwort „Lucy“ in Bewegung gesetzt hatte.

* * *

„Ich denke, einer deiner Gäste ist auf meiner Türschwelle gelandet“, informierte Amina Lucy nach einer herzlichen Begrüßung übers Telefon. Während Lucy überrascht schwieg, schmunzelte Amina über ihre eigene Formulierung. In der Tat war der Mann auf ihrer Türschwelle gelandet.

Amina betätigte den Lichtschalter über der Kassa, hinter der sie telefonierend stand.

„Aber wir haben das Gästehaus erst ab morgen vermietet“, gab Lucy schließlich zurück. Das Gästehaus war ein ehemaliges Wirtschaftsgebäude, das – nunmehr renoviert – vor gut eineinhalb Jahren als ersten Gast überhaupt Lucy selbst beherbergt hatte. Und wie es das Schicksal wollte, fand Lucy im Eigentümer des Gästehauses und des angrenzenden Wohnhauses, Hans, erst einen Freund und schließlich auch eine große Liebe.

„Dann ist es wohl nicht dein Gast“, antwortete Amina nüchtern. „Er wusste den Namen und die Adresse nicht genau.“

„Warum ist er überhaupt bei dir?“, fragte Lucy und Amina erzählte kurz nach, was sich in den vergangenen Minuten zugetragen hatte.

Während sie sprach, kam der Mann einige Schritte auf sie zu und gerade als Amina wieder auflegen wollte, hob sie den Kopf und konnte – durch das Licht über ihrer Kassa – das erste Mal so richtig aufmerksam das Gesicht des Mannes erkennen.

„Luis Kramer“, flüsterte Amina überrascht und der Mann bremste abrupt und mit erschrockener Miene ab.

„Das kannst du gar nicht wissen!“, rief Lucy schockiert ins Telefon. „Ich habe das niemandem erzählt!“ Lucy atmete scharf ein. „Woher weißt du das?“, fragte sie dann panisch nach.

„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst“, sagte Amina zu Lucy überraschend gefasst. „Luis Kramer steht gerade in meinem Geschäft, nachdem er vor meiner Tür ausgerutscht ist, und ich muss jetzt auflegen.“ Wieder trafen sich ihre Blicke und das beständige Knistern zwischen ihnen, angefeuert von der Tatsache, dass schriftstellerische Prominenz in ihrem Buchladen stand, ließ Amina mit dem Hörer an ihrem Ohr pausieren.

Amina sah, dass sich der Mann nicht ganz entscheiden konnte, ob er die metaphorische Flucht nach vorn oder die reale Flucht durch ihre Tür hinter ihm antreten sollte: Bleiben oder gehen, in der Wärme sich weiter Aminas Fragen stellen oder durchnässt und mit vom Sturz gekränkten Ego zurück hinaus in den dichten Schneefall?

Aber es war schließlich Lucy, die am anderen Ende der Telefonleitung die Entscheidung für ihn traf. Sie seufzte in Aminas Ohr. „Ich komme ihn sofort holen“, sagte sie dann, „achte drauf, dass ihn sonst niemand sieht.“ Dann legte sie auf.

„Warum darf Sie niemand sehen?“, fragte Amina und die Miene von Luis Kramer verfinsterte sich wieder. Er zuckte mit den Schultern.

„Okay“, sagte Amina langsam und fühlte sich plötzlich sehr müde. Sie deutete zur Sitzgarnitur. „Nehmen Sie doch Platz. Lucy wird bald hier sein und Sie zu Ihrer Unterkunft bringen.“ Der Mann folgte ihrem Blick, drehte sich wieder zu ihr und nickte. Dann schlurfte er zur Couch, zog sich umständlich den Mantel aus, ließ ihn einfach auf den Boden fallen und nahm schließlich Platz.

Amina aktivierte die kleine Kaffeemaschine, die sie für Notfälle und Tage, an denen sie es nicht über den Hauptplatz ins „Kaffeekränzchen“ schaffte, neben der Kassa installiert hatte.

Als sie schließlich die Tasse mit dampfendem Kaffee vor Luis Kramer abstellte, sah sie jedoch, dass er eingedöst war. Im Sitzen. Sein Kinn war bis nach vorn auf sein Brustbein gefallen und er atmete tief und laut.

Amina beobachtete ihn für einen Moment und schmunzelte im Stillen für sich, während sie die gerade vergangenen kuriosen Minuten Revue passieren ließ und sich mit ihrem Buch, das ja eigentlich der Grund dafür war, warum sie ins Geschäft gekommen war, in einen Sessel neben der Couch fallen ließ.

Luis Kramer. In ihrem Geschäft. Das konnte man sich nicht ausdenken.

* * *

Es dauerte nicht lang, bis Lucy an die Auslagenscheibe klopfte, um ihre Ankunft anzukündigen. Amina legte ihr Buch zur Seite und sah lächelnd zu Luis Kramer, der immer noch schlief.

Sie tippte mit dem Zeigefinger an ihre Lippen und deutete mit ihrem Kopf zum schlafenden Gast auf ihrer Couch, als sie Lucy durch die Tür ließ.

„Ist er einfach eingeschlafen?“, flüsterte Lucy kichernd und Amina nickte.

„Wir müssen ihn trotzdem aufwecken“, sagte Lucy dann, „wir können ihn ja nicht hier schlafen lassen!“

„Schade“, sagte Amina schneller als ihr lieb war und erntete einen eindringlichen, aber auch sehr ernsthaften Blick von Lucy.

„Du darfst niemandem erzählen, dass er hier ist“, sagte Lucy daraufhin fast beschwörend.

„Wie bitte?“, fragte Amina nach. „Warum nicht?“

„Das weiß ich auch nicht“, gab Lucy zu, „aber ich habe mit seinem Agenten oder Manager oder was auch immer eine Ewigkeit verhandelt, bevor er die Reservierung bestätigt hat. Außerdem habe ich gefühlt Hunderte Seiten Verschwiegenheitserklärungen unterschrieben. Wir haben es nicht mal den Kindern erzählt.“

„Wie wollt ihr das vor Bobby geheim halten?“, stellte Amina die erste Frage, die ihr zu diesen Informationen in den Kopf schoss. Bobby war die beste Freundin von Felix, Hans’ Sohn, und zeigte, seit sie ihre grantigen Teenager-Jahre zum Großteil hinter sich gelassen hatte, einen manchmal fast überbordenden Forschungsdrang, den man getrost auch als schamlose Neugier bezeichnen konnte.

„Bobby ist siebzehn“, antwortete Lucy, als wäre das eine Erklärung und Amina lachte leise auf. Bobbys Alter wurde so oft als Grund für ihr Verhalten verwendet, dass es nahezu ein stadtweiter running gag geworden war. Aber es war in Aminas Augen besonders lustig, dass gerade Lucy, die erst vor Kurzem hier gelandet war, bereits diese Angewohnheit übernommen hatte. Vermutlich, weil die beiden sehr viel Zeit miteinander verbrachten, da Bobby und Lucys Quasi-Stiefsohn Felix unzertrennlich waren.

„Ich werde es niemandem verraten“, versprach Amina, auch wenn sie immer noch nicht verstand, warum. „Aber es wäre doch schön, wenn er mal ins Geschäft … –”

„Nein“, unterbrach sie Lucy ungewöhnlich harsch, „keine Termine. Keine Besuche vom Bürgermeister – (Noch eine Person, vor der man die Anwesenheit von Luis Kramer kaum verheimlichen würde können, dachte Amina.) – keine Verpflichtungen, keine Fotos. Und so weiter. Ich habe drei Seiten mit Verboten zu Hause herumliegen.“ Lucy lachte leise auf. „Ich muss gestehen, auf viele dieser Dinge, die sein Management verbietet, wäre ich gar nicht gekommen. Die Liste ist fast inspirierend!“ Lucy zwinkerte ihr zu, lächelte dann aber verständnisvoll. „Ich weiß, dass du ihn gerne hier im Geschäft hättest. Das würde sicher ein paar Leute interessieren …“

„Ein paar Leute?“ Amina erhob ihre Stimme. „Du weißt ganz genau, dass sie uns seine Bücher wie warme Semmeln aus der Hand reißen, wenn etwas Neues von ihm erscheint.“

Lucy nickte. „Ich hätte da ja eh auch ein paar Ideen …“ Aber sie unterbrach sich gleich wieder selbst, richtete ihre Schultern gerade und schüttelte den Kopf. „Nein, wir müssen diesmal unsere Ideen und Bedürfnisse wirklich hintanstellen“, seufzte sie. „Ich weiß zwar wirklich nicht, warum sein Management ihn gerade jetzt für ein Monat in unser Gästehaus verpflanzt, aber …“ Lucy schlug sich mit der Hand auf den Mund.

„Er bleibt ein Monat?“, fragte Amina nach und Lucy verdrehte die Augen über sich selbst.

„Von mir hast du nichts erfahren!“

Amina erntete erneut einen strengen Blick von Lucy und wandte sich dann lächelnd in Richtung Couch, um den prominenten Schriftsteller aus seinem Nickerchen aufzuwecken.

3. Kapitel

Am nächsten Morgen hatte der Schneefall nachgelassen. Amina war mit dieser nervösen Energie im Bauch erwacht, die seit dem Vorabend immer wieder aufflackerte: einer Mischung aus Vorfreude und Neugierde. Wie bei einem guten Buch, wenn sich das Schicksal der Protagonisten endlich zum Guten wendet, wenn die Auflösung, der Weg zum Happy End sich abzuzeichnen beginnt.

Amina lächelte, als sie sich wie fast jeden Morgen in der Reihe der ersten Kunden im „Kaffeekränzchen“ anstellte. Es war erst wenige Minuten nach 8 Uhr und die vier oder fünf Personen vor ihr waren alle in dicke Mäntel und Mützen gewickelt, angepasst an diesen späten Nachschlag, den der Winter ihnen am Vortag serviert hatte.

Über der Stadt hielten sich beharrlich graue Wolken, die aber seit den Morgenstunden optimistisch heller geworden waren. Die Gehsteige waren bereits geräumt, aber auf dem Springbrunnen in der Mitte des Platzes sowie auf jeder anderen Oberfläche, die nicht als Gehweg oder Straße diente, lag der frisch gefallene Schnee zentimeterhoch.

„Guten Morgen, Amina“, begrüßte sie Bella, die Inhaberin des „Kaffeekränzchen“, freundlich. Amina lächelte zurück und gab ihre Bestellung auf. An Tagen, an denen Lucy auch frühmorgens ins „Seitenweise“ kam, orderte Amina meist zwei sehr große, üppige Lattes mit Karamell, dazu mehrere Stück Kuchen, je nachdem, was es gerade im Angebot gab.

Aminas Buchladen lag in einem Haus mitten am Hauptplatz, an das zu beiden Seiten weitere Häuser angrenzten. Das Geschäft selbst konnte man entweder durch den Haupteingang direkt am Hauptplatz betreten oder man umrundete den gesamten Häuserblock und ging durch einen kleinen Innenhof zum Hintereingang, neben dem auch der Zugang zu Aminas Wohnung über dem „Seitenweise“ lag.

An diesem Morgen wählte Amina den etwas weiteren Weg, der sie zum Hintereingang führte, weil sie sich nach den Abenteuern des vorangegangenen Abends und vor allem aufgrund ihrer von der Vorfreude ausgelösten Rastlosigkeit an diesem Morgen ein wenig die Beine vertreten wollte.

Beim hinteren Eingang in ihr Geschäft schnappte sie sich eine aktuelle Tageszeitung vom frisch gelieferten Stapel und machte es sich in einem jener Lehnstühle gemütlich, den man durch die Auslage nicht sehen konnte. Amina vertiefte sich in die aktuellen Nachrichten und fand auch ein ausgezeichnetes Essay eines Philosophen auf den hinteren Seiten der Zeitung, das sie mehrmals nachdenklich innehalten ließ.

Tief in Gedanken versunken wurde Amina dann auch von Lucy aufgefunden, die ebenso über den Hintereingang durchs Geschäft trat.

„Ich musste mich heute von Hans hierher führen lassen“, regte sich Lucy in gespielter Empörung auf, „erst die Kinder zur Schule und dann mich hierher. Es fehlte gerade noch, dass ich ein Jausenpaket mitbekommen hätte.“

„Warum hast du nicht den Lese-Bus genommen?“, fragte Amina. Lucy fuhr üblicherweise mit dem Fahrrad von einem Eck der Stadt ins nächste, griff aber bei Schlechtwetter oftmals auf den alten VW-Bus zurück, den sie beide vor Kurzem zu einem Lese-Bus umfunktioniert hatten.

„Der Bus hat … Schneepause …“, Lucys Stimme wurde immer fast ein wenig zärtlich, wenn sie über den alten VW-Bus sprach. Es war der Bus, der vor fast eineinhalb Jahren genau hier am Hauptplatz seinen Geist aufgegeben hatte und Lucy zu einem längeren Aufenthalt in Hans’ Gästehaus gezwungen hatte. Mittlerweile war er wieder fahrtüchtig und wurde eben dafür herangezogen, diverse Aktionen außerhalb des „Seitenweise“ zu veranstalten. Denn manche Menschen brauchten es, dass die Literatur bis zu ihnen vor die Haustür kam.

Lucys Verhältnis zu diesem Bus war jedoch ein ausgesprochenes Mysterium. Sie verfluchte ihn ebenso häufig, wie sie ihn lauthals lobte, sprach von dem Auto oftmals, als wäre es ein enger Bekannter. Aber vor allem der gesamte Aberglaube, den Lucy mittlerweile drumherum gesponnen hatte, amüsierte Amina ohne Ende. Lucy war überzeugt, dass der Bus Magie verströmte, wenn es nötig war. Nicht anders konnte sie es sich erklären, dass der Bus genau hier, in dieser Stadt, fast direkt vor dem „Kaffeekränzchen“ schließlich gestreikt hatte.

Was Lucy ins Gästehaus geführt hatte.

Und somit auch auf die rosa Wolke, die sie seit mehr als einem Jahr mit Hans bewohnte.

Vermutlich um seine magischen Kräfte zu schonen, durfte der Bus am heutigen Schneetag nicht aus der Garage. Amina grinste und deutete auf den Kaffee und die Süßigkeiten aus dem „Kaffeekränzchen“, die schon für Lucy bereitlagen.

Lucy ließ sich mit einem Seufzer in den zweiten Lehnstuhl neben Amina fallen und trank gierig aus dem Kaffeebecher.

„Du hast den schönsten Beruf der Welt“, sagte Lucy.

„Du doch auch“, antwortete Amina, aber Lucy winkte nur ab.

„Ich plappere dir nur immer alles nach“, warf sie ein und Amina hob überrascht ihre Augenbrauen. Lucy war in so viele Projekte in der Stadt involviert, dazu kam der bunte Alltag mit Hans und seiner Familie. Man würde eher meinen, ein Job wie Aminas – das tägliche Öffnen ein und desselben Geschäfts, die Beschäftigung mit so langsamen, langwierigen Themen wie Bücher, Geschichten und Lesen allgemein – wäre Lucy viel zu langweilig und zu wenig abwechslungsreich. Auch wenn sie mit Lucy in all den Monaten ein für beide zufriedenstellendes Arrangement der Zusammenarbeit gefunden hatte, hätte Amina niemals gedacht, dass Lucy sich für mehr als das digitale Shop-Marketing und ein paar Stunden pro Woche im Verkauf interessieren würde.

„Warum sagst du das?“, fragte Amina.

Lucy nahm nochmals einen Schluck von ihrem Kaffee und sah Amina dann direkt an.

„Wann immer ich in dieses Geschäft komme, liest du irgendetwas“, sagte sie dann. „Und man fühlt sich sofort ruhiger, wenn man dich lesen sieht.“

Amina lachte leise auf. Das hatte sie ja noch nie gehört!

„Wahrscheinlich ist Luis Kramer deshalb gleich eingeschlafen, als er sich gestern auf die Couch gesetzt hatte“, gab Amina lachend zurück, aber Lucy verdrehte genervt die Augen.

„Lass mich zuerst den Kaffee fertig trinken, bevor ich wieder an den Gast aus der Hölle denke“, grummelte sie und Amina riss ihre Augen überrascht auf.

„Wie bitte?“

„Nichts“, sagte Lucy und machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Erzähl!“, forderte Amina sie ein weiteres Mal auf.

Lucy verdrehte noch einmal die Augen.

„Er ist so anstrengend!“, beklagte sie sich dann. „Nicht nur, dass er auf der Heimfahrt gestern kein Wort geredet hat. Er hat mich danach auch eine Viertelstunde lang jeden Handgriff im Gästehaus erklären lassen, ohne ein einziges Mal den Mund aufzumachen, nur um sich am Ende mit einem ‚Ist das alles?‘ über die Größe des Gästehauses lustig zu machen!“ Lucy setzte sich auf und beugte sich nach vorn. „Natürlich bin ich ein wenig empfindlich, wenn es um das Gästehaus geht, aber alle bisherigen Gäste fanden alles immer so charmant. Und nett!“ Sie seufzte. „Es hat sich bis jetzt auch niemand darüber beschwert, dass man sich sein Frühstück selbst richten muss. Das ist einfach nicht anders möglich!“ Lucy sah Amina direkt an. „Wir können ja nicht fremde Leute zu uns an den Esstisch holen, bei uns herrscht zu jeder Mahlzeit ohnehin schon Chaos mit den Kindern und Abu und Bobby und all den anderen Menschen, die bei uns ein und aus gehen.“

„Wollte er mit euch frühstücken?“, fragte Amina und dachte an den irritierenden Mann, dessen abweisende Art so gar nicht mit seinen Büchern und den Geschichten, die er erzählte, zusammenpasste.

Lucy schüttelte den Kopf. „Ich denke, er wollte etwas bestellen.“ Sie seufzte noch einmal. „Aber ich habe das seinen Leuten, die bei mir gebucht haben, mehrmals gesagt und auch geschrieben, dass wir keine Speisen zubereiten.“

Amina dachte kurz nach. „Ich denke, er wird sich zu helfen wissen.“

„Was ist, wenn er verhungert!?“, fragte Lucy plötzlich panisch.

Amina lachte kurz auf. „Er wird ja wohl ein bisschen Überlebensdrang haben und sich zur Not in ein Lokal setzen.“ Sie lachte nochmals auf und auch Lucy schmunzelte leicht.

„Ich hätte nicht gedacht, dass er so … unnahbar sein würde“, sagte sie dann leise. „Ich hatte mich schon gefreut. Ein ganzes Monat lang so viel kreative Energie in unserer Nähe, das ist doch eigentlich was Tolles!“

Amina lächelte ihrer Freundin zu. „Er hat müde ausgesehen“, sagte sie dann nachdenklich.

„Wann?“, Lucys Augen blitzten schelmisch auf. „Als er auf deiner Couch eingeschlafen ist?“

Amina lachte und beugte sich nach vorn. „Ich werde ein Schild anfertigen und an die Couch hängen: Auf diesem Sitzmöbel saß und schlief Luis Kramer. – Das bringt uns sicher einige Kundschaft!“

Lucy lachte auf. „Ich werde die Kurzbeschreibung auf der Website und auf Instagram ändern: „Seitenweise – das Buchgeschäft, in dem Luis Kramer für dreieinhalb Minuten geschlafen hat.“

Nun lachten sie beide und ließen das Gespräch langsam zu den wichtigsten Erledigungen des Tages übergehen, während sie ihr gemeinsames Frühstück beendeten.

Magda, eine ihrer Angestellten würde bald, kurz vor Ladenöffnung erscheinen. Es gab Lieferungen einzusortieren und Amina rechnete mit zahlreichen Kunden, die ihre Bestellungen abholen würden, nachdem nun endlich der Niederschlag nachgelassen hatte und man wieder ohne große Rutschgefahr außer Haus gehen konnte.

* * *

Im Laufe des Vormittags wurde es noch heller vor den Auslagenfenstern und es sah beinahe danach aus, als wären ein paar Sonnenstrahlen zu erkennen. Amina kniff die Augen zusammen, um das Leben auf dem Hauptplatz vor ihrem Geschäft genauer erkennen zu können, als die kleine Türglocke läutete und Nana durch die Eingangstür trat.

Sie winkte der alten Frau zu, die sich erst dem Tisch mit den Neuerscheinungen, den Amina gleich nach Ladenöffnung aufgebaut hatte, widmete.

„Ich brauche noch das Buch für Gertis Buchklub“, sagte Nana ohne Umschweife und Amina griff nach dem Stapel vorbereiteter Bücher, den sie in der Nähe der Kassa positioniert hatte. Der Buchklub hatte eine große Anzahl an Mitgliedern, die zwar nicht regelmäßig zu den Treffen erschienen, aber treu das jeweils vereinbarte Buch lasen. Amina hatte sogar die eine oder andere Person im Verdacht, gar nie zu den Treffen zu kommen, aber dennoch monatlich auf Gertis Auswahl zurückzugreifen.

Die Oprah der Weststeiermark hatte Amina ihre Tante deshalb einmal genannt. Aber weder Gerti, die für den Witz wohl zu alt war, noch Lucy, die dafür wohl zu jung war, lachten darüber, also schmunzelte Amina nur immer wieder selbst und im Stillen über ihren eigenen Humor.

Amina bot Nana einen Kaffee an und sie unterhielten sich, während sich die Tasse füllte. Angefangen vom Wetter und dessen Prognose für die kommenden Tage, über die neuen Bücher auf dem Tisch neben dem Eingang sowie über die nächsten Stationen des Bücherbusses. Nana war eine der umtriebigsten Persönlichkeiten der Stadt, mit allen bekannt und befreundet – und sie genoss vor allem unter den Jugendlichen und jungen Erwachsenen enorme Popularität, die aus jahrelangen Vorlesestunden für Kinder herrührte.

Nana hatte jedoch vor ein paar Jahren mit der wöchentlich abgehaltenen Veranstaltung aufgehört, aus Altersgründen, wie sie selbst sagte. Aber Amina vermutete, dass sie für die veränderten Bedingungen, die mit neuen Kindergenerationen entstanden, zu müde geworden war. Die Aufmerksamkeitsspanne der Kinder war im Lauf der Jahre deutlich kürzer und die guten Kinderbücher ebenso weniger geworden. Außerdem hatten die Kinder der Stadt mittlerweile ein derart dichtes Freizeitprogramm, dass ihnen die Stunde hier im „Seitenweise“ oft nicht in den Alltag passte.

Amina wusste aus Erzählungen ihrer Tante, dass diverse Jugendliche in den ersten Jahren der Vorlesestunden einfach mit ihren Fahrrädern zum Geschäft gekommen waren, sich eine Stunde lang die nächsten Kapitel des aktuellen Buchs angehört hatten und dann wieder verschwunden waren. Diejenigen, die noch bleiben und ihre Eindrücke erzählen wollten, hatten sich mit Nana im Anschluss an die Veranstaltung noch stundenlang ausgetauscht, während die anderen ganz ohne Nachbesprechung wieder gegangen waren.

Es war Nana ein Anliegen gewesen, dass sich die Auseinandersetzung mit den vorgelesenen Abenteuern hier im „Seitenweise“ für die Kinder nicht wie Hausübung oder irgendeine Schulaktivität angefühlt hatte, sondern dass sie einfach von ihrer Neugierde angetrieben wurden, es sich Woche für Woche zur gleichen Zeit im Geschäft gemütlich zu machen.

Nachdem Nana die Vorlesestunden beendet hatte, hatte Aminas Tante versucht, diese in geringerer Frequenz weiterzuführen. Aber seit die Stunden nicht mehr immer zur gleichen Zeit am gleichen Tag stattgefunden hatten, hatten viele Kinder – und ihre Eltern – auf den Termin vergessen, bis die Veranstaltungsreihe schließlich gänzlich aufgelassen worden war.

Als Amina das Geschäft vor etwa fünf Jahren von ihrer Tante übernommen hatte, gab es die Vorlesestunden bereits nicht mehr – und sie hatte auch nur mehr selten daran gedacht. Es war schon eine große Herausforderung, die Erwachsenen beständig für Bücher und gute Geschichten zu interessieren, da blieb für die Kinder wenig Zeit.

Bis Lucy mit der Idee zu ihr gekommen war, die Geschichten aus dem Geschäft heraus zu den Menschen und vor allem zu den Kindern zu bringen. Während der warmen Monate fuhr der umgebaute VW-Bus also mindestens einmal pro Monat zwischen Hauptplatz, Sportplatz, Einkaufszentrum und den Schulen hin und her und ermöglichte den Kindern und ihren Eltern, ihre alten Bücher für neue, noch nicht gelesene einzutauschen.

„Sollten wir die Vorlesestunden wieder einführen?“, fragte Amina Nana plötzlich und riss die alte Frau aus der intensiven Lektüre eines Klappentexts.

„Wie bitte?“, fragte Nana lächelnd nach.

„Sollten wir die Vorlesestunden wieder einführen?“, wiederholte Amina. „Für die Kinder. So wie du das immer gemacht hast.“

Nana musterte sie kurz, weiterhin lächelnd. „Was auch immer du machen möchtest“, antwortete sie unverbindlich.

„Dann lass es mich anders formulieren“, sagte Amina, „hättest du Einwände, wenn wir deine Veranstaltung erneut starten würden?“ Nana holte kurz Luft, aber Amina ließ sich nicht unterbrechen. „Und du bist herzlich eingeladen, dich wieder zu beteiligen. Oder mir zu sagen, dass ich dich mit diesen Dingen in Ruhe lassen sollte.“ Amina grinste.

Nana nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse.

„Natürlich fehlen mir die Stunden“, sagte sie leise, „aber es hatte sich in den letzten Jahren, bevor wir damit aufgehört haben, die Qualität verändert.“

„Inwiefern?“, fragte Amina nach.

„Die Eltern gingen nicht mehr nach Hause“, seufzte Nana und Amina lachte auf.

„Wie bitte?“

„Du hast schon richtig gehört“, schmunzelte Nana, „früher kamen die Kinder allein oder sie wurden hier abgegeben, während die Eltern ihre Besorgungen erledigt haben.“ Sie lächelte. „Und dann kam eine neue Generation an Eltern, die ihre Kinder nicht mehr aus den Augen gelassen hat. Oder, noch schlimmer: Das Erwachsensein so abgelehnt haben, dass sie alles gleich erleben wollten wie ihr Kind.“ Nana verdrehte die Augen. „Da saßen dann plötzlich Erwachsene zwischen den Kindern und haben meine Fragen beantwortet, die anderen Kinder eingeschüchtert und grundsätzlich einfach die Stimmung ruiniert.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Dann wollte ich nicht mehr.“ Nana trank einen weiteren Schluck. „Und die Stunde war für manche Kinder auch zu lange. Länger als 20 Minuten hört dir kaum mehr wer zu. Auch die Erwachsenen nicht mehr.“ Nana lachte auf. „Manche haben mich auch mit ihren Handys gefilmt! Ich frage mich warum? Sollen sie sich doch das Audiobook kaufen! Aber glaubst du wirklich, das schaut sich später jemand nochmals an, wenn eine alte Frau einer Schar Kinder eine Geschichte vomFranz von der Nöstlinger vorliest?“

Amina lachte auf.

„Das heißt also, so eine Veranstaltung funktioniert eher, wenn wir sie ohne Handys und ohne Eltern veranstalten“, fasste Amina zusammen und Nana nickte eifrig.

„Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen“, sagte Amina schließlich und Nana grinste.

„Ich sehe, wie sich die Zahnräder in deinen Gehirnwindungen bereits in Bewegung gesetzt haben“, schmunzelte Nana und widmete sich dann wieder dem Klappentext des Buches in ihren Händen.

Amina sah sich im Laden um, ob irgendjemand der Kunden ihre Hilfe benötigte. Hinter mehreren Bücherregalen war Lucys eifriges Geschnatter zu hören, wahrscheinlich machte sie gerade irgendeiner eifrigen Leserin ein Buch schmackhaft. Amina hörte nicht, was Lucy sagte, wurde aber auch sogleich von einer anderen Kundin abgelenkt, die drei Bücher zur Kassa brachte.

Amina kassierte, winkte dazwischen auch Nana zu, die sich verabschiedete und widmete sich dann dem beständigen Strom an Lesern, der für einen Moment zu ihr ins Geschäft schaute – auf der Suche nach einer guten Geschichte oder einem Ausflug in andere Welten.

4. Kapitel

Eine gute Woche später war es März geworden und der Schnee war geschmolzen. Nach einigen, wettertechnisch eher unentschlossenen Tagen begann dieser Morgen mit strahlendem Sonnenschein und der frischen Luft, die eindeutig den beginnenden Frühling ankündigte. Wenn auch nur für ein paar Stunden oder Tage.

Amina startete ihren Tag wie immer mit einem kurzen Besuch im „Kaffeekränzchen“, wo Bella darauf beharrte, dass sie gleich mehrere Schokocroissants einpacken sollte. Eines pro Person würde nicht genügen. „Irene hat sich diesmal selbst übertroffen“, versprach die Inhaberin des Coffee-Shops.

Auch diesmal balancierte Amina Lucys und ihren eigenen Kaffee über den Hauptplatz, wo sie auf einen unheimlich verschlafen wirkenden Bürgermeister traf.

„Otto“, rief ihn Amina bei seinem Vornamen, um auf sich aufmerksam zu machen, „was ist los? Bella war grad eben fit wie ein Turnschuh und du traumwandelst durch die Stadt!“ Amina grinste Otto zu, der mehrmals blinzeln musste, um überhaupt erkennen zu können, wer da mit ihm sprach.

Aber langsam hellte sich seine Miene doch etwas auf, wenn auch bei Weitem nicht so freundlich, wie man es von ihm eigentlich gewöhnt war. Amina runzelte ihre Stirn, während Otto leicht verärgert knurrte.

„Haselnuss“, stieß Otto hervor, dann nieste er herzhaft.

„Wie bitte?“, fragte Amina nach. Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach.

Otto verdrehte die Augen und atmete schnaufend ein und aus. „Diese Haselnusspollen bringen mich noch um!“ Noch einmal nieste er. „Ich habe meine Medikamente nicht rechtzeitig abgeholt und bin diesen furchtbaren Pollen vollkommen ungeschützt ausgeliefert!“ Wütend gestikulierte Otto mit seinen Händen. „Wenn ich könnte – und glaub mir: Ich habe es schon mehrmals versucht, aus unseren Gemeindegesetzen herauszulesen –, wenn ich könnte, würde ich jeden einzelnen Haselnussstrauch in dieser Stadt ausreißen lassen.“ Er schnaufte noch einmal tief durch, während Amina versuchte, ihr Lachen zu verbergen. „Gefährdung der Ausübung der Amtsgeschäfte des Bürgermeisters müsste doch eigentlich Grund genug sein, oder?“

„Ich denke nicht, dass sich die Einwohner verbieten lassen würden, Haselnusssträucher pflanzen zu lassen“, gab Amina lächelnd zu bedenken und Otto grinste verschmitzt.

„Das nicht“, sagte er, „aber alle Pflanzen, die wir als Stadt mittlerweile setzen, sind allergikerfreundlich.“ Er lächelte. „Und wir bieten heuer erstmals Schulungen für allergikerfreundliche Gärten an. Wenn ich die Haselnuss schon nicht ausrotten kann, dann versuche ich, wenigstens die Anzahl dieser tödlichen Pflanzen zu minimieren.“

Bei „tödliche Pflanzen“ war es um Aminas Zurückhaltung schließlich doch geschehen und sie brach in lautes Gelächter aus. Zum Glück war Bella gerade in diesem Moment aus dem „Kaffeekränzchen“ herausgeeilt und begrüßte ihren Mann mit all der Vorsicht, die sie einem grantigen Allergiker gegenüber aufbringen musste, was immer noch herzzerreißend kitschig und fast ein wenig unangenehm war, sodass sich Amina für einen Moment wegdrehte.

„Ich habe dazu ein paar Bücher im Geschäft“, sagte Amina, als sich Bella und Otto wieder in einen öffentlichkeitstauglichen Abstand zueinander bewegt hatten.

„Wozu?“, fragte Bella.

„Zur Gartengestaltung allgemein natürlich, aber auch zum Thema Gärten für Allergiker“, erklärte Amina, „das wird tatsächlich immer wichtiger, da Allergien durch die Klimakrise immer häufiger vorkommen. Auch dazu habe ich ein paar Bücher … –“

„Mach doch einen Büchertisch bei der Veranstaltung“, schlug Bella vor, „oder kommt mit dem Bus vorbei!“

„Hm? Wohin?“

„Zu den Allergiker-Schulungen“, sagte Bella.

„Schulungen für allergikerfreundliche Gärten“, korrigierte Otto automatisch und Bella verdrehte die Augen.

„So viel Zeit habe ich nicht, um so lange Titel auszusprechen“, lachte sie und küsste Otto auf die Wange.

Bevor sich die beiden erneut nur einander widmeten, drehte sich Amina weg und verabschiedete sich. „Ich denke darüber nach“, rief sie den beiden zu, wohl wissend, dass weder Bella noch Otto auf die soeben entwickelte Idee vergessen würden.

So waren die beiden eben: Otto war stets ums Wohl der Stadt bemüht, während Bella sich immer darum kümmerte, dass die vielen kleinen Betriebe der Stadt voneinander profitierten.

Während sie den Weg zurück ins „Seitenweise“ antrat, erstellte Amina eine Liste an Büchern, die zu Ottos Schulungen passen würden.

Tief in Gedanken versunken bog sie schließlich in den kleinen Hof ein, der zum Hintereingang ihres Geschäfts führte – und war fast ein wenig überrascht, als sie Lucys VW-Bus blitzblank und in der frühen Morgensonne blinkend vorfand.

---ENDE DER LESEPROBE---