Landlieben - Katrina Verde - E-Book

Landlieben E-Book

Katrina Verde

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Beschreibung

Irene wollte niemals zurück aufs Land. Aber als sie sich überraschend mit den Scherben ihres privaten und beruflichen Lebens konfrontiert sieht, bleibt ihr nur der Ort ihrer Kindheit, um Kräfte für einen Neuanfang zu sammeln.

Die Sommersonne, ihre Laufschuhe und ihr attraktiver Nachbar Tom lassen das Landleben jedoch nach einiger Zeit gar nicht mehr so unangenehm erscheinen. Als sich schließlich Erinnerungen an das Leben, das sie in der Großstadt verlassen hat, in den beschaulichen Sommer am Land drängen, erkennt Irene, dass sie eine Entscheidung über ihre Zukunft treffen muss.

Sommerluft, ein Neuanfang und die befreiende Kraft von morgendlichen Laufrunden. „Landlieben“ ist ein Liebesroman zum Wohlfühlen und Abtauchen.

*

Leserstimmen:
"Wunderschön geschrieben, lässt die graue Kompliziertheit des Alltags auf humoristische Art und Weise vergessen."
"Wundervolles Wohlfühlbuch"
"Eine wunderschöne Umarmung in dieser wirbligen Zeit"

*

"Landlieben" ist ein Kleinstadt-Liebesroman mit Sommerstimmung. Es geht um Atempausen, sommerliche Weinberge, neue Freundschaften, grantige Teenager, Unmengen an Kaffee - und natürlich Tom. Und zwischendurch wird auch noch Fußball gespielt.

Die "Landlieben"-Serie erzählt die Geschichten dreier Frauen zwischen 30 und 40 Jahren, die jede für sich Zufriedenheit im Neubeginn finden - an genau jenem Ort, mit dem sie nicht gerechnet hätten, in genau jenem Moment, in dem sie es nicht erwartet hätten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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LANDLIEBEN

Ein sommerlicher Liebesroman

KATRINA VERDE

Copyright © 2020 by Katharina Sabetzer

Alle Rechte vorbehalten

Die in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht von der Autorin beabsichtigt.

Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.

Mail: [email protected]

Web: www.katrinaverde.at

Lektorat: Renate Rosner

Covergestaltung: Sibylle Exel-Rauth

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

Epilog

UND SO GEHT’S WEITER

WEITERE GESCHICHTEN VON KATRINA

VIELEN DANK

ÜBER KATRINA VERDE

1. Kapitel

Irene kramte gestresst in ihrer Handtasche, verzweifelt auf der Suche nach ihrem Telefon. Sie war später dran, als sie es geplant hatte, und die Fußgängerampel vor ihr wollte einfach nicht umspringen. Die Autos brausten rund um die Verkehrsinsel, auf der sie anhalten musste, kein Zeichen von Verlangsamung, auf keiner Seite. Sonne brannte ihr auf den Rücken, verstärkt durch den dunkelblauen Blazer, den sie trug, und für einen Moment fühlte sie sich überhitzt und unbeweglich, wie gefangen.

Als die Ampel endlich grün wurde, eilte Irene über die Straße, mittlerweile mit ihrem Telefon in der Hand, hektisch am Lautstärkeregler klickend, während der vertraute Ton der Verbindungsherstellung in ihr Ohr tutete. Aber am anderen Ende hob niemand ab.

Irene versuchte sich zu erinnern, was sie und Frank heute beim Frühstück besprochen hatten. Ihrer Erinnerung nach hatte er den Nachmittag nicht verplant, während sie bei einem der größten Eisgeschäfte der Stadt die Agentur, die sie gemeinsam mit Frank führte, präsentierte. Eigentlich hätte er jetzt erreichbar sein sollen.

Präsentationen bei Kunden im Lebensmittelbereich waren immer schon ihre Aufgabe gewesen, während sich Frank eher um die B2B-Kunden in ihrem Portfolio kümmerte. Irene hatte ein Händchen für Kampagnen, die sich an unterschiedliche Bevölkerungsgruppen richteten, vor allem, wenn es um Essen oder Trinken ging. Und der Erfolg sprach für sie.

Seit etwas mehr als fünf Jahren führte sie gemeinsam mit Frank ihre Agentur in der Wiener Innenstadt. Irene hatte Frank während ihrer Jahre als Senior Consultant in einer Wiener PR-Agentur kennengelernt. Die Arbeit an einem gemeinsamen Projekt als Kollegen führte zu mehreren gemeinsamen Arbeitsessen, gemeinsam verbrachten Nächten, der ersten gemeinsamen Wohnung und schließlich der gemeinsamen Agentur, die beständig und zufriedenstellend wuchs.

Ihr privates und berufliches Leben griffen unaufgeregt ineinander, manchmal mehr, manchmal weniger, und Irene hätte sich als zufrieden bezeichnet, wenn man sie gefragt hätte. Sie versuchte regelmäßig nicht daran zu denken, dass sie niemand danach fragte.

Und so drängte sie sich an diesem ersten heißen Juni-Nachmittag des Jahres durch die engen Gassen der Innenstadt. Die Touristen waren heute besonders langsam unterwegs und verzögerten Irenes Powerwalk ins Büro immer wieder aufs Neue. Sie blieben unkoordiniert und unerwartet stehen, um die Stadt und jedes ihrer Gebäude fotografisch festzuhalten, um sich zu orientieren, die Straßenschilder zu entziffern und mit ihren Stadtplänen und Google Maps zu vergleichen. Am schlimmsten waren die Reisegruppen, die sich quer über die Gassen verteilten und sich gegenseitig ihre Entdeckungen zuriefen. „Herbert, das musst du gesehen haben!“ Und keine drei Sekunden später rammt dich Herbert mit dem graublonden Schnauzer fast aus dem Weg, weil er nur der Stimme folgend, die seinen Namen rief, losmarschiert ist. Ohne Rücksicht auf Verluste.

Irenes Ungeduld wuchs mit jedem weiteren touristischen Hindernis vor ihr. Mit jeder weiteren Minute Verzögerung fiel ihr auch ein weiteres To-do ihrer unendlich langen Liste an Aufgaben ein, die sie heute noch zu erledigen hatte. Drei Kunden warteten auf ihre Rückmeldung zu aktuellen Kampagnen-Fortschritten, ein Fotograf verlangte nach seinem Briefing und ein Caterer behauptete, seine Rechnung sei noch nicht bezahlt worden. Und das waren mal nur die Punkte, die ihr jetzt auf dem Rückweg ins Büro eingefallen waren. Wer weiß, was sich sonst noch seit ihrem Meeting mit den Eisproduzenten in ihrem E-Mail-Postfach getan hatte.

Satzfetzen aus dem gerade beendeten Meeting liefen ihr zusätzlich zum To-do-Staccato durch den Kopf, in der verzweifelten Bemühung, dass sie die wichtigsten besprochenen Punkte nicht vergaß, während Irene schon wieder anhalten musste, um eine besonders träge Touristengruppe passieren zu lassen. Innerlich stampfte sie mit dem Fuß auf.

Wenn es wenigstens nicht so heiß gewesen wäre.

Die Inhaber des Eisgeschäftes waren ein Brüderpaar, das sich innerhalb weniger Jahre an allen wichtigen Standorten in Wien niedergelassen hatte und sich über lange Schlangen vor ihren Geschäften während der Sommermonate freuen konnte. Vor Kurzem haben die beiden Brüder Investoren gefunden, die eine Expansion des Eis-Imperiums in einige Bundesländer unterstützen würden, verbunden mit der Bedingung, dies nur mit einer ausgeklügelten Marketingstrategie zu begleiten. Das handgestrickte Inhouse-Marketing der Eis-Firma war mit dieser Aufgabe überfordert, weshalb man sich mehrere Agenturen zur Präsentation ins Haus geholt hatte.

Irene war etwas verärgert gewesen, dass Frank sie – trotz freien Terminkalenders – nicht zu dem Termin begleitet hatte. Die Anzahl der teilnehmenden Personen vermittelte dem Kunden immer einen bestimmten Eindruck: Zu viele Agenturmitarbeiter wirkten oftmals zu teuer für den Kunden, zu wenige Mitarbeiter sahen nach zu geringer Manpower aus.

Und tatsächlich hatten sich die Brüder gleich in ihrer zweiten Frage danach erkundigt, ob Irene den Account allein betreuen würde. Irene hätte lieber über ihre inhaltlichen Ideen für die Kampagne gesprochen, als sich lange rechtfertigen zu müssen, dass sie genügend erfahrenes Personal beschäftigten, das eine Kampagne dieser Größenordnung bewältigen konnte. Mit Frank an ihrer Seite wäre dieser Eindruck nicht entstanden. Außerdem unterstrich das Erscheinen beider Geschäftsführer die Bedeutung, die die Agentur dem Kunden beimaß.

Irene schnaufte irritiert in Erinnerung an diesen Moment des Meetings. Ihr war der Blick, den sich die Brüder zugeworfen hatten, nicht entgangen. Und auch wenn ihre Präsentation danach besonders konzentriert und mit außergewöhnlich konstruktiven Fragen verfolgt worden war, war Irene verärgert über dieses unnötige Hindernis. Sie wollte diesen Kunden gewinnen – nicht etwa, weil die Agentur den Etat unbedingt benötigen würde. Nein, ihr waren das Eisgeschäft und die Pläne der Brüder sympathisch. Die Produkte beflügelten ihre Kreativität und sie hatte bereits einige Ideen, wie sie die Kampagne gerne anlegen wollte.

Es würde nun aber noch ein paar Tage dauern, bis sich die Brüder entschieden hatten. Irene wusste von zumindest zwei weiteren Agenturen, die auch im Rennen waren, und sie wusste, dass sich Kunden bei so umfangreichen Auswahlprozessen oftmals lange Zeit ließen. Also hieß es warten.

Irene wäre gerne beim schnellen Gehen ihre unzufriedene Anspannung losgeworden, aber es gelang ihr kaum, ein zufriedenstellendes Tempo zu erreichen, während sie durch die Stadt eilte.

Kurz bevor sie ihre Agentur erreichte, liefen drei Volksschulkinder im Zickzack über den Gehsteig und Irene bemühte sich eifrigst darum, eine Kollision zu vermeiden. Sie giftete die Frau an, die sie für die Mutter hielt, lächelte halbherzig, aber freundlich genug den Kindern zu und marterte ihr Hirn nach möglichen neuen Agenturstandorten, die weniger von Touristen und Freizeit-geplagten Menschen umzingelt waren. Aber bevor ihr eine Alternative einfiel, rettete sie sich in den kühlen Eingang des Altbaugebäudes, in dessen Dachgeschoß ihre Agentur lag.

Irene atmete tief durch.

* * *

Im Eingang des Büros empfing sie Stille. Der Empfangstisch war nicht besetzt und auch sonst fehlten die üblichen Geräusche, die den Alltag ihrer Agentur normalerweise begleiteten: das Klappern der Tastatur, das Gemurmel leise geführter Gespräche. Irene hielt inne und ließ sich von der kühlen Luft des klimatisierten Dachgeschoßes umwehen.

Nochmals atmete sie tief durch.

Dann nahm ihr Hirn die automatische Arbeit wieder auf und rief Erinnerungen ab, wo sich die einzelnen Mitarbeiter gerade befanden. Irene wusste von zwei Terminen außer Haus, eine Mitarbeiterin hatte den Nachmittag frei und Stella vom Empfang war wahrscheinlich gerade unterwegs, um eine Besorgung zu erledigen.

Irene ließ sich von der unerwarteten Stille einhüllen. Sie holte sich frisches Wasser aus der Küche, um sich etwas abzukühlen, bevor sie sich endlich an ihre Arbeit machen konnte. Ein weiteres Mal probierte sie, Frank telefonisch zu erreichen, aber erneut hob er nicht ab, also widmete sie sich ihren E-Mails. Vermutlich war er spontan zu einem Termin gegangen und hatte ihr einfach nicht Bescheid gegeben.

Ein lautes Geräusch im hinteren Bereich der Agentur riss sie plötzlich aus ihren Gedanken. Irene hielt die Luft an, erschrocken versuchte sie über den in ihren Ohren pochenden Puls hinwegzuhören, woher der Lärm gekommen war. Sie vermutete den Ursprung des Geräusches dort, wo die Besprechungsräume lagen. In Gedanken ratterte sie die Möglichkeiten durch: ein Windstoß, der ein Buch umgeworfen hatte. Ein Bild, dessen Nagel aus der Wand gefallen war. Oder ihr Gehirn, das ihr einen Streich gespielt hatte. Womöglich hatte sich auch nur der Parkettboden wegen der Hitze bewegt.

Gerade als sie sich wieder ihren Mails zuwenden wollte, hörte sie das Geräusch nochmals. Und diesmal erkannte sie es. Ein Sessel war verrückt worden und sie hörte leise Stimmen.

Irritiert, aber ohne zu zögern setzte sich Irene in Bewegung. Wieder ging ihr Hirn alle Verpflichtungen der Mitarbeiter durch. Eigentlich sollte sie allein im Büro sein …?

Hatte Frank doch noch eine Besprechung hier im Büro anberaumt, von der sie nichts wusste? Langsam näherte sie sich den Besprechungsräumen. Das Geräusch wiederholte sich mittlerweile häufiger, regelmäßiger, dazu Stimmengemurmel, Kichern (Kichern?!), dazwischen das Möbelstück, das verrückt wurde.

Irene quetschte ihr Hirn nach einer Erinnerung aus, im Versuch, der Verwirrung zu entkommen, während sie auf den Besprechungsraum, aus dem das Geräusch kam, zuging. Hatten sie eventuell ein Event in den kommenden Tagen geplant und Stella baute dafür die Besprechungsräume um? Irene war so irritiert, dass sie zielstrebig auf die letzte Tür des Korridors zuschritt. Jene Tür, die zu einem der Besprechungsräume führte.

Noch einmal hörte sie das Verrücken eines Möbelstücks und gleichzeitig eindeutig den Schmerzensschrei einer Frau. Stella!

Irene beschleunigte den Schritt und noch beim Öffnen der Tür rief sie ins Zimmer: „Stella, hast du dich verletzt?“

„Nein“, seufzte die Empfangsmitarbeiterin mit heiserer Stimme. Stella saß mit dem Rücken zur Tür auf dem Konferenztisch, die Beine breit geöffnet, vollkommen aufgelöst und … entspannt?

„Wie bitte?“, Irenes Stimme wurde eiskalt.

„Ich komme gleich“, stöhnte Stella und Irene wurde kurz schwarz vor Augen, als sie die Situation vor sich zu begreifen begann. Wie in einem schnell geschnittenen Film registrierte sie einzelne Dinge: die offene Bluse von Stella. Den hochgerutschten Rock. Zwei umgeworfene Sessel. Ein geöffnetes Fenster. Zwei Champagnergläser. Eine aufgerissene Kondomhülle. Eine aufgerissene Kondomhülle! Der Schmerzensschrei, der keiner war.

Mit der flachen Hand schlug Irene auf den Tisch, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ernsthaft? War das ihr Leben? War es wirklich nötig geworden, Mitarbeiter darauf aufmerksam zu machen, dass sie Sex in Konferenzräumen zu unterlassen hatten?

Irenes Hirn rutschte sofort wieder in den Chefinnenmodus und listete alle möglichen Fragen, die ihr einfielen, auf: Musste sie Stella nun kündigen? Wie desinfiziert man Konferenzräume? Wie kommuniziert man ein Sex-Verbot im Büro an die Mitarbeiter?

Wer war das überhaupt, der Stella offenkundig so in Trance versetzen konnte, dass sie sich nicht einmal von ihrer Chefin ablenken ließ?

Als hätte sie diese Frage tatsächlich laut ausgesprochen (vermutlich war es aber der Schlag auf den Tisch gewesen, der die beiden schlussendlich doch auf dem Weg zum Höhepunkt abgelenkt hatte), tauchte zwischen Stellas Beinen ein leider viel zu bekannter Lockenkopf auf. Frank.

Irene fühlte einen elektrischen Schlag durch ihren Körper jagen, gefolgt von lähmender Taubheit. Für einen Moment fühlte sie weder ihre Beine noch ihre Arme, es kribbelte bis in ihre Fingerspitzen und auch ihr Kopf wurde ganz leicht.

Das war’s jetzt, dachte sie. Jetzt ist alles vorbei.

So fühlt es sich also an, wenn einem der Boden unter den Füßen weggerissen wird.

„Irene“, flüsterte Frank, für einen Moment ähnlich schockiert wie sie, aber vermutlich aus anderen Gründen. „Warum bist du schon im Büro? Du hättest uns nicht sehen dürfen.“

Ernsthaft? DAS fiel ihm in dieser Situation ein?

Aber Frank legte noch eines drauf: Mit einer unbedachten Geste wischte er sich großflächig über den Mund und lenkte gerade damit Irenes Aufmerksamkeit auf sein verräterisch glänzendes Kinn. Und auf sein offenes Hemd. Und die geöffnete Hose. Und das sachgemäß verwendete Kondom.

Irene spürte nur mehr Übelkeit.

Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie Stella die Augen verdrehte, sichtlich genervt davon, gerade unterbrochen worden zu sein.

Das ließ schließlich die Wut durch die Taubheit brechen.

Und löste damit Irenes Zunge.

„Ach, der Chef geht heute selbst auf die Knie! Wie aufopfernd!“, zischte Irene, triefend vor Zorn und Spott, während Franks Augen schmäler wurden.

„Es ist nicht so, wie es aussieht“, sagte er mit ruhiger Stimme, während Stella hochnäsig ihre Fingernägel kontrollierte.

Von all den Dingen, die Frank sich in den vergangenen Minuten gerade geleistet hatte, war es schließlich diese, ihre Intelligenz beleidigende Aussage, die etwas in ihr einrasten ließ.

Es war alles vorbei.

Irene atmete einmal tief durch, um ihr Hirn zum Schweigen zu bringen. Ihre Verantwortung als Arbeitgeberin, als Aushängeschild der Agentur, ihr Leben als private wie berufliche Partnerin von Frank – nichts davon hatte mehr Relevanz.

Nichts davon konnte bleiben. Nichts davon war es wert, diesen Vertrauensbruch, diese öffentliche Demütigung zu ertragen.

„Ich will niemals jemals wieder irgendetwas von irgendwem von euch hören“, sagte Irene mit so tiefer, unaufgeregter Stimme, dass sie selbst überrascht war. Dann drehte sie sich um und ging aus dem Raum.

Vor dem Besprechungszimmer setzte leichtes Zittern ein.

Beweg dich, befahl ihr eine Stimme in ihrem Kopf.

Ein Schritt nach dem anderen.

Geh einfach weiter.

Hol deine Tasche und geh aus dem Büro.

Und Irene folgte den Anweisungen des Überlebenstriebs in ihr. Sie griff nach ihrer Tasche, ihrem Laptop und ihrem Telefon und verließ die Agentur, ohne auch nur einmal zurückzublicken. Erst als sie auf die Straße trat und sich von der Hitze der Stadt einhüllen ließ, atmete sie wieder etwas langsamer.

Frank hatte ihr nicht einmal hinterher gerufen.

2. Kapitel

Nach dem dritten Gin Tonic löste sich der Krampf in ihrem Magen und auch das Zittern der Knie ließ langsam nach. Irgendwo in der Bar lachte eine Männerrunde laut auf und Irenes Wut wurde erneut angefacht. Das selbstgefällige Lachen der fremden Männer erinnerte sie an Frank. Waren dies auch Chefs, die sich nichts scherten, die sich nahmen, was sie wollten?

Als wäre sie in ihrem eigenen Albtraum gefangen, wiederholte sich die Szene aus dem Besprechungsraum immer und immer wieder in ihrem Kopf. Stellas vollkommen unbeeindruckter Blick. Franks Reaktion. Keiner der beiden hatte sich auch nur ansatzweise dafür geniert, beim Sex unterbrochen worden zu sein! Niemandem war es unangenehm gewesen, dass es gerade sie war – Franks Freundin! Stellas Chefin! –, die die beiden erwischt hatte!

Auch der dritte Gin Tonic hatte die Fassungslosigkeit noch nicht abtöten können. Oder die Erinnerung auslöschen.

Der Barkeeper füllte ihre Schüssel mit Knabbereien unaufgefordert nach und stellte ihr ein Glas Wasser daneben.

Irene sah ihn hasserfüllt an. Er lächelte leicht und zuckte mit den Schultern.

Sie hätte gerne eine Freundin angerufen, aber ihr fiel niemand ein, mit dem sie hätte reden wollen. Außerdem war ihr Telefon abgedreht, wie sie verwirrt bemerkte. In ihrem leichten Rausch hatte sie für einen Augenblick Mühe, sich zu erinnern warum, aber schließlich fiel ihr ein, dass sie das Telefon während des zweiten Gin Tonic abgeschaltet hatte. Nachdem Frank zum fünften Mal angerufen hatte. Was auch immer er ihr nun noch sagen wollte.

Wahrscheinlich wollte er wissen, wohin er ihre Sachen schicken sollte.

Irene lachte bitter auf und erregte erneut die Aufmerksamkeit des Barkeepers, der sie fragend ansah. Diesmal zuckte sie mit den Schultern.

„Wie oft sehen Sie Leute wie mich hier an der Bar?“, fragte sie ihn. Er lachte leise.

„Täglich“, sagte er.

„Und was machen die anderen?“, fragte sie.

Er dachte kurz nach.

„Die meisten steigen irgendwann in ein Taxi und fahren nach Hause“, antwortete er.

Nach Hause …

Sie hatte kein Zuhause mehr. Nur mehr eine Wohnung, für die sie die Hälfte der Miete bezahlte. In der sie ihre Sachen aufbewahrte. In der Frank und Stella vielleicht auch …

Sie atmete tief durch, um die Übelkeit zu bekämpfen.

„Und was machen die ohne Zuhause?“ Irene lachte, um den Barkeeper davon abzulenken, wie ernst sie die Frage eigentlich meinte.

Er lächelte sie an. „Jeder hat irgendwo Wurzeln …“, murmelte er vielsagend und wandte sich einem Pärchen am Ende der Bar zu.

Wurzeln. Irenes Hirn lief langsamer als normalerweise und sie begann, den dritten Gin Tonic zu bereuen. Sie griff nach dem Wasserglas, das ihr der Barkeeper vorhin aufgedrängt hatte, nun dankbar dafür. Sie trank gegen den Nebel in ihrem Gehirn an, gegen die immer wieder aufwallende Übelkeit, gegen die Panik, nicht zu wissen, wohin sie wollte. Sie brauchte Bewegung. Sofort.

Irene bat um die Rechnung, gab dem Barkeeper ein großzügiges Trinkgeld.

„Alles Gute“, sagte er, während sie vom Barhocker rutschte.

Sie sah ihn eine Zeit lang an, ihre Reaktionszeit verzögert vom Alkohol und dem Drama des Nachmittags.

„Ich würde jetzt sehr gerne etwas Bedeutsames, Weises oder Cooles sagen, aber mir fällt einfach nichts ein“, gestand Irene. „Wenn man ein Klischee lebt, ohne es zu merken, und das auch noch implodiert – nur aufgrund eines Zufalls! –, dann hat man jede Coolness verspielt.“ Irene lachte bitter.

„Morgen ist ein neuer Tag“, hörte sie den Barkeeper noch hinter sich. Dann trat sie hinaus auf die Straße.

3. Kapitel

Irene ließ sich durch die Straßen treiben. Sie folgte einigen Touristengruppen, bog gelangweilt in eine kleine schattige Gasse ein und verfluchte jede Person, die ihr entgegenkam und nicht auswich. Sie hatte keinen Platz, nirgendwo. Gehen half. Das lenkte ab. Brachte sie auf andere Gedanken. Weg von der düsteren Wahrheit, dass sie auf einen Schlag ihren Job und ihr Zuhause aufgeben musste. Ohne selbst daran schuld zu sein. Die nachlassende Trunkenheit machte sie durstig. Während sie sich bei einem Foodtruck anstellte, um Wasser zu kaufen, wurde sie von einem Touristen-Ehepaar angesprochen und nach dem Weg zum Bahnhof gefragt.

Bahnhof! Das war eine Idee! Ihr Hirn begann, wieder an Fahrt aufzunehmen: ein Blick auf die Uhr, als würde sie dort den Fahrplan ablesen können. Dann traf sie eine Entscheidung.

Das Touristen-Ehepaar sah sie verwirrt an, offenbar hatte sie nicht geantwortet. Sie erklärte den beiden den kürzesten Weg zu ihrem Ziel und setzte sich selbst in Bewegung.

Motiviert vom Gin Tonic ließ sie keine Zweifel und kein Zögern aufkommen. Falls der Fahrplan noch gleich war wie vor 15 Jahren, konnte sie den nächsten Zug erreichen.

* * *

Nach einer guten Stunde Zugfahrt erschien ihr ihre Idee nicht mehr so sensationell wie noch vor Kurzem in der abendlichen Hitze mitten unter Touristen in der Innenstadt. Das Gefühl der Niederlage, des Scheiterns nagte an ihr.

Ihr Hirn hatte ein Eigenleben entwickelt. Wenn es ihr nicht regelmäßig Szenen der Begegnung mit Stella und Frank ausspielte, verhöhnte es sie mit aufwühlenden Fragen, eine schmerzhafter als die andere: Wann war sie so blind geworden, dass sie die Fragilität des Lebens, das sie sich aufgebaut hatte, übersehen hatte? Wie konnte sie Frank so viel Vertrauen schenken? Welche Anzeichen hatte sie übersehen? Warum fiel ihr keine einzige Person ein, die sie jetzt sehen wollte? Sogar ihre aktuelle Reise, zurück an jenen Ort, an dem sie zumindest kurzfristig willkommen sein dürfte, war ein Kompromiss.

Irene spürte, wie die Wirkung des Gin Tonic endgültig nachließ und zu den Schmerzen ihres Geistes gesellte sich der obligate Kopfschmerz. Ein Kellner drehte seine Runde durch den Waggon, also bestellte sie Wasser und Rotwein. Solang sie allein war, ging sie den Schmerzen aus dem Weg.

* * *

Kurz bevor ihre Haltestelle ausgerufen wurde, wurde Irene fahrig. Der Alkohol machte sie unruhig. Außerdem war es draußen finster geworden und die Stille im fast leeren Zug irritierte sie.

Ganz hinten im Waggon saß ein Mann und schnarchte. Sie hatte vor einer halben Stunde in einen anderen, kürzeren Zug umsteigen müssen, der nun alle paar Minuten an einer Haltestelle stehen blieb. So nach und nach tröpfelten die Fahrgäste in die Landschaft, die wegen der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen war, aber die Luft, die bei jeder Station durch die Tür in den Waggon wehte, war vertraut. Es roch nach Sommerferien und Kokosschokolade, nach Ausflügen ins Freibad und der Klarheit eines Sommergewitters.

Irene erlaubte sich, in lang vergessen geglaubte Erinnerungsfetzen zu verschwinden, ausgelöst von den Gerüchen der Landschaft, und kehrte so für Momente zurück in eine Welt, in der sie nie erwachsen gewesen war, in der sie keine Verantwortung gehabt hatte. Aus der sie um jeden Preis weggewollt hatte, solang sie dort leben musste.

Das Leben ist voller Ironie, dachte sich Irene.

Ihre Station wurde aufgerufen und mit zittrigen Beinen und vom Alkohol benebeltem Gehirn bewegte sie sich zum Ausgang. Der Schaffner verabschiedete sich bei der Tür. Sie war viel zu betrunken, um sich über ihren Auftritt Gedanken zu machen, aber für einen Moment erkannte sie die Neugier, die in seinen Augen lag. Wer war die Frau in ihrem eleganten dunkelblauen Kostüm, die offenkundig nach Alkohol roch und nichts außer einer Handtasche bei sich hatte, schien er sich zu fragen. Gute Frage, dachte Irene, während sie ihm zunickte. Die Antwort kannte wohl niemand.

Dann trat sie hinaus auf den Bahnsteig, hinaus in die dunkle Sommernacht, leicht durchbrochen vom spärlich beleuchteten Bahnhof. Was für ein Elend.

Selbst in dieser zurückhaltend beleuchteten Umgebung erkannte Irene, dass sich rund um den Bahnhof seit Jahren nichts verändert hatte. Das Gebäude war beinahe baufällig, so wenig Beachtung war ihm geschenkt worden. Nicht einmal die Aufschriften und Graffiti der Jugendlichen schienen mehr geworden zu sein in den vergangenen 15 Jahren. Ein paar ausgeblichene Schriftzüge zogen sich über die bröckeligen Wände des Wartehäuschens. Wenn es nicht einmal mehr die Jugend wert fand, hier zu rebellieren, war man wirklich ein bedauernswerter Fall.

Verloren.

Vergessen.

Wie sie.

Irene seufzte, übermannt von Selbstmitleid. Der Zug fuhr wieder an und sie blieb allein am Bahnsteig stehen. Niemand war mit ihr ausgestiegen und während sich das Brummen der Lok in die Ferne verabschiedete, setzte ein bodenloses Gefühl von Einsamkeit ein. Was machte sie hier nur?

Es dauerte Minuten, bis sie die Geräusche der lauen Sommernacht wahrnahm. Das Zirpen der Grillen, das weit entfernte Lachen aus einem Garten, der etwas weiter südlich vom Bahnhof lag. Das leichte Surren des beleuchteten Schilds der Haltestelle.

Frischthal.

Sie musste sich bewegen. Wieder merkte sie, wie die Betrunkenheit nachließ, aber der Nebel immer noch über ihrem Hirn lag.

„Mach etwas!“, sagte Irene laut und nur für sich.

Also suchte sie nach ihrem Telefon, wohl wissend, dass sie den Anruf nicht mehr weiter vor sich herschieben konnte. Ihr Display zeigte zahllose vermisste Anrufe, Nachrichten und E-Mails an. Der Großteil von Frank. Frustriert stöhnte Irene auf und stampfte mit dem Fuß auf den Boden.

Sie ignorierte die Nachrichten und umging jede Ablenkung, indem sie einen Namen ins Suchfeld eingab, den sie seit Jahren nicht mehr angerufen hatte. Zu all dem Elend, das sie bereits empfand, gesellte sich jetzt auch noch schlechtes Gewissen dazu. So heftig, dass sie das Gefühl hatte, ihr schnürte es die Kehle zu.

Beweg dich, befahl ihr die Stimme in ihrem Kopf erneut und endlich klickte sie auf den Telefonhörer neben dem Namen.

„Irene?“ Die Stimme am anderen Ende krächzte. Verschlafen. Oder einfach nur alt. Hoffentlich nur verschlafen. Irene verlor sich in Gedanken. Das schlechte Gewissen drückte auf ihren Magen.

„Hallo?“, sagte die Stimme am anderen Ende und riss Irene aus der Stille.

„Ja“, sagte sie leise. Dann hörte sie nur ein oder zwei Atemzüge. Sie wusste, sie musste mehr sagen. Sich entschuldigen. Zumindest dafür, die andere Person aufgeweckt zu haben. Aber ihr fiel nichts ein.

„Ich bin am Bahnhof“, brachte sie nach einigen Augenblicken des gemeinsamen Schweigens heraus.

„Bist du betrunken?“, wurde sie nun gefragt. Irene hörte den Ärger in der Stimme, der die Verwirrung und jedenfalls die Sorge übertönte.

„Ja, Nana“, sagte sie leise. Dann übermannte sie ein Schluchzen und Tränen, die den ganzen Tag darauf gewartet hatten, sich zu zeigen, brachen aus ihr hervor. So heftig, dass Irene ohne ein weiteres Wort einfach auflegte.

Sie stolperte auf eine Bank zu, die mitten am Bahnsteig stand. Der Bank fehlte eine Planke im Rückenteil, aber nichts konnte Irene mehr egal sein in diesem Moment. Ihre Tränen öffneten die Schleusen zu all den verwirrenden, schmerzhaften Gefühlen, die sie seit dem Nachmittag zu vergessen versucht hatte. Die Enttäuschung und Irritation über Franks Verhalten, die Verzweiflung über den Zusammenbruch ihres als sicher empfundenen Lebens, die Angst vor der Zukunft, die Orientierungslosigkeit.

Irene hatte immer einen Plan. Selbst in Situationen, die kaum planbar waren, wusste sie meistens einen Ausweg oder zumindest eine Marschrichtung. Sie war niemals ohne Ziel, niemals ohne Idee, wie es weitergehen konnte. Und nun saß sie hier, mitten im Nirgendwo, und hatte nichts außer ihrer Handtasche bei sich. Sie heulte und schluchzte, wissend, dass sie hier niemand hören konnte. Schon gar nicht bei dem Lärm, den die Grillen machten.

Minuten oder Stunden später ließen die Tränen langsam nach. Irenes Gesicht glühte von der Anstrengung des Heulens und sie fühlte sich so müde, wie seit Jahren nicht mehr. Sie kramte in ihrer Handtasche nach Taschentüchern. Im Hintergrund war der Motor eines Autos zu hören, das immer näherzukommen schien. Als es nah genug war, um von der bedauerlichen Laterne des Bahnhofs beleuchtet zu werden, erkannte sie Nanas alten Jeep.

Sie war gekommen.

Und durch all die Schmerzen, die ihren Körper bis in die Fingerspitzen ausfüllten, brach ein Funke Hoffnung, nicht gänzlich allein auf der Welt zu sein.

* * *

Irene erhob sich und ging langsam auf den Jeep zu. Die Scheinwerfer blendeten sie und sie nutzte die Zeit, in der sich ihre Augen an das viele Licht gewöhnen mussten, um endlich ihre Nase zu putzen. Die Tür des Jeeps öffnete sich, aber die Person, die ausstieg, war nicht Nana. Nana war klein und zierlich und sicher nicht größer als der Jeep. Sicher auch nicht so muskulös.

Irene fluchte laut vor sich hin, als würde das dabei helfen können, den Nebel aus Alkohol und Tränen und Gefühlen, der offenkundig ihre Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigte, zu lichten.

Also blieb sie stehen.

„Irene?“, fragte eine dunkle, eindeutig männliche Stimme über den laufenden Motor hinweg.

Sie nickte zaghaft.

„Nana schickt mich“, sagte der Mann ungeduldig, „steig ein.“

„Ich kann Sie nicht sehen“, sagte Irene leise.

Sie hörte den Mann ungeduldig schnaufen, aber er beugte sich zurück ins Auto und drehte den Motor ab. Die Scheinwerfer erloschen und nur mehr das Licht des Bahnhofs beleuchtete die surreale Szene.

Der Mann trat um die geöffnete Autotür herum auf sie zu. Er trug alte Jeans und ein noch älteres T-Shirt. Er war groß. Und sichtlich verärgert.

„Wo ist dein Gepäck?“, fragte er sie, seinen Unmut nicht verbergend. Er sah sich am Bahnsteig um, aktivierte die Taschenlampe an seinem Telefon und leuchtete den Weg auf und ab.

„Ich habe keines“, murmelte Irene. Sie hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Sie fühlte sich nicht in der Lage, mit einem Fremden in irgendeiner Form zu interagieren.

Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie er sie von Kopf bis Fuß musterte.

„Steig ins Auto“, wiederholte er, etwas ruhiger, aber immer noch streng genug.

Die Müdigkeit wallte ein weiteres Mal durch sie durch, also gab sie auf. Wenn das die einzige Möglichkeit war, diesem düsteren Loch von Bahnhof zu entkommen, sollte es so sein.

Irene setzte sich schließlich in Bewegung und nahm am Beifahrersitz Platz. Sie schnallte sich an und starrte aus dem Fenster. Dumpf und weit entfernt, wie in einer anderen Realität, nahm sie wahr, wie der Mann neben ihr ins Auto stieg und anstartete. Sie hörte ihn leise sprechen, vermutlich am Telefon.

„Ich habe sie gefunden“, sagte er leise.

Und: „Sie hat kein Gepäck bei sich.“

Dann einige Male „Nein“ und „Ja“ und „Ich weiß nicht“. Dann lachte er leise und legte auf.

Irene schloss die Augen. Wenn das ihr Leben war, wollte sie nichts mehr davon hören, sehen oder spüren.

4. Kapitel

Irene erwachte bei Sonnenlicht, umgeben von Vogelgezwitscher. Sie spürte eine dicke Decke rund um sich, ihr Kopf lag weich gebettet. Die Luft roch nach frühem Morgen und die Bettwäsche nach ihrer Kindheit. Für einen Moment fühlte sie sich glücklich.

Dann setzte der Kopfschmerz ein.

Und die Erinnerung.

Durchbrochen von einem elendig trockenen Mund, der zum Teil nach Gin, zum Teil nach Rotwein schmeckte. Ihr Magen rebellierte leicht.

Schließlich fiel ihr ein, wo sie war.

Und all die Schmerzen kehrten wieder.

Irene bohrte ihr Gesicht tiefer in den Polster, zog die Decke über ihren Kopf und versuchte, die Realität auszublenden, aber das Pochen in ihrem Kopf war stärker und verhinderte jeglichen Versuch, sich weiter im Traumland zu verstecken. Sie brauchte Wasser. Und Kopfwehtabletten.

Sie schlug die Decke zurück und sah, dass sie immer noch ihr Kleid vom Vortag anhatte. Wie war sie überhaupt in einem Bett gelandet? Die Frage blieb unbeantwortet, als Irene bemerkte, wo sie sich befand, und sich von der Vertrautheit der Umgebung, der wohlbekannten Einrichtung im Zimmer ablenken ließ.

Es war alles wie früher. Die vielen Bücher im Regal an der Wand, das offene Fenster, das den Blick auf die Äcker neben dem Grundstück freigab, der Dachgiebel aus dunklem Holz über ihr, die altmodischen Balken, die den Raum und das Dach stützten, das Vogelgezwitscher vor dem Fenster, das Versprechen eines neuen Tags.

Langsam setzte sich Irene in Bewegung. Verdrängte die Erinnerung an früher, an die glücklichen und unglücklichen Stunden, die sie hier verbracht hatte. Verdrängte die Erinnerung an den Vortag. Verdrängte das schlechte Gewissen, das sie quälte, weil sie erst jetzt wieder hier war. Weil sie damals alles hinter sich gelassen hatte, ohne zurückzublicken. Ohne Kontakt zu halten.

Was für ein verkorkstes Leben!

In ihrer Handtasche fand sie Schmerztabletten. Dann tappste sie langsam vom ersten Stock ins Untergeschoß. Trotz der verquollenen Augen fand sie den Weg in die Küche ohne Probleme. Beschämt dachte sie daran, dass es auch nicht das erste Mal war, dass sie mit einem fürchterlichen Kater durchs Haus schlich.

Wie spät war es eigentlich?

„Du bist früher munter als gedacht“, sagte eine Stimme hinter ihr, als sie in die Küche trat. Irene fuhr herum und sah sich einer Frau gegenüber, die schwächer und kleiner schien, als sie sie in Erinnerung hatte. Sie trug dünne graue Leggins und eine weiße Tunika, ein Anzeichen dafür, dass es ein heißer Sommertag werden würde. Ihre Haare waren grau, kräftig und fielen ihr lang über die Schulter. Aber das Gesicht war dünn und von Falten übersäht, die gesamte Statur wirkte so zerbrechlich, dass Irene kurz der Atem stockte.

„Guten Morgen Nana“, sagte sie leise, weil sie schon wieder Tränen in den Augen spürte.

Nanas Blick bohrte sich durch sie durch wie immer. Ihre Augen waren klar und blau und unverwüstlich und strahlten die gleiche Sicherheit aus wie eh und je. Nana nickte leicht.

„Guten Morgen Irene“, sagte sie ruhig und Irene schluckte die Enttäuschung, dass Nana sie bei ihrem echten Namen nannte, runter. Niemals hatte sie sie Irene gerufen, außer wenn sie sich gestritten hatten. Sie hatte immer Kosenamen für sie, vor allem morgens, wenn Irene nicht aufstehen wollte.

Irene schluckte gegen das Pochen im Kopf an, gegen die vielen Gefühle und gegen die Verlegenheit, hier vor Nana zu stehen.

Nana seufzte leicht, dann setzte sie sich in Bewegung. Ging an Irene vorbei zur Kaffeemaschine und stellte die Tasse, die sie in Händen gehalten hatte, darunter.

„Es gibt Frühstück“, sagte sie ruhig mit neutraler Stimme, „bedien dich.“

Schweigend arbeiteten sie nebeneinander. Nana kümmerte sich um ihren Kaffee, Irene fand ein Wasserglas und nahm ihre Kopfwehtabletten ein. Dann lehnte sie sich an die Küchenzeile und beobachtete Nana, bis diese innehielt und sich ihr zuwandte.

„Ich …“, begann Irene, aber ihr fiel zu viel gleichzeitig ein. Sie hatte das Gefühl, sie musste sich entschuldigen. Für alles. Vor allem für den Überfall gestern Abend. Aber die richtigen Worte fanden keinen Weg.

„Ich …“, versuchte sie es erneut, aber verlor den Mut, als sie in Nanas blaue Augen blickte. Irene seufzte und sah zu Boden.

Nana stieß sich von der Küchenzeile ab und berührte Irene leicht am Oberarm.

„Leg dich nochmals hin“, sagte sie dann, „wir haben Zeit.“

5. Kapitel

Irene verschlief den ganzen Tag. Erst als die Sonne vor dem Fenster langsam das Ende des Tages ankündigte, war sie wach genug, um wieder Durst und Hunger zu verspüren. Hauptsächlich Durst.

Widerwillig schlug Irene die Decke zurück und überwand sich, aufzustehen. Direkt neben ihrem Zimmer war ein Badezimmer und ohne Licht aufzudrehen, um dem schattigen Raum genügend Helligkeit zu geben, schälte sie endlich ihr Kleid vom Vortag von sich, ebenso die Unterwäsche, die sie darunter getragen hatte. Sie fühlte sich eklig und abstoßend. Ohne zu zögern, stellte sie sich unter die Dusche, trank aus der Wasserleitung, während ihr das Wasser über den Kopf brauste. Langsam begann sie, wenn auch nur ansatzweise, wieder ein Gefühl für sich selbst zu verspüren.

Eingewickelt in ein Badetuch huschte sie zurück in ihr Zimmer und kramte im Kasten herum. Nana hatte in den vergangenen Jahren einiges umgeräumt, aber Irene fand ein Regal mit alten Kleidungsstücken aus ihren Teenagerjahren. Sie zog ein weites Sommerkleid, das nicht einmal damals modern gewesen sein konnte, hervor. Fürs erste musste dieses den Zweck erfüllen, ihren mittlerweile erwachsenen Körper ausreichend zu verhüllen.

Ihr auf Erledigung gedrilltes Gehirn begann damit, eine Einkaufsliste zu erstellen. Sie benötigte Unterwäsche, normale Straßenkleidung und vieles mehr. Sie dachte an die Kleidung, die sie in ihrer Wohnung zurückgelassen hatte. Der Gedanke, diese jemals selbst wieder abzuholen, war absolut unvorstellbar.

Irene seufzte und kramte weiterhin planlos durch ihre alten Kleidungsstücke. Ganz hinten im Regal versteckt fand sie Sportschuhe, ihre alten Laufschuhe, und unwillkürlich musste sie lächeln. Irene lief immer noch regelmäßig, aber nicht mehr so schnell wie damals. Früher war jeder Lauf eine Herausforderung, eine Möglichkeit, ihre Grenzen auszuloten, sich zu überwinden. Heutzutage lief sie zum Spaß. Sie mochte die körperliche Anstrengung, die so im Gegensatz stand zur Anstrengung, die der Stress im Job mit sich brachte.

Mit sich gebracht hatte.

Irene schluckte gegen die Erinnerung des Vortages an.

Sie ließ die Sportschuhe mitten im Raum stehen und beschloss, der Begegnung mit Nana nicht mehr weiter aus dem Weg zu gehen.

Sie fand die alte Frau in einem Schaukelstuhl hinter dem Haus, ein Buch im Schoß, eine Karaffe mit eiskaltem Wasser neben sich. Irene entdeckte zwei Trinkgläser und wieder schien sie von Emotionen, die sie schon lang nicht mehr empfunden hatte, übermannt zu werden.

Als sie sich näherte, hob Nana den Kopf, betrachtete sie einen Augenblick und legte dann ihr Buch zur Seite. Sie füllte das zweite Trinkglas mit Wasser und nickte leicht in diese Richtung. Irene nahm das Glas und trank gierig.

Außer dem Schaukelstuhl fand sich keine Sitzgelegenheit auf der Terrasse hinter dem Haus, also nahm Irene direkt auf dem Holzboden Platz. Sie lehnte sich an die Hausmauer und richtete ihren Blick in die gleiche Richtung, die auch Nana für sich gewählt hatte.

Vor Irenes Augen erhob sich ein mächtiger Zaun aus unterschiedlichen Pflanzen: Bäume und Büsche, alle wohlbekannt, aber wesentlich höher gewachsen, seit sie sie das letzte Mal gesehen hatte. Hinter den Büschen befand sich ein weiteres Grundstück und durch die Hecken konnte man die blaue Farbe eines anderen Hauses durchschimmern sehen.

Als Irene ein Teenager gewesen war, hatte hier ein sehr altes Ehepaar gewohnt, das in den Sommermonaten Tag für Tag im Garten gesessen war und die Leute, die in der Gegend vorbeigekommen sind, beobachtet hatte. Gelegentlich sah man sie Zeitung lesen, aber meistens saßen sie auf ihrer Gartengarnitur und sahen auf die Straße hinaus.

In einem Eck von Nanas Gartens entdeckte Irene ein Hochbeet mit noch eher zaghaft gewachsenen Pflanzen. Wie es eben typisch war für den Frühsommer, der erst seit wenigen Tagen erkennbar war, aber mit seinen Temperaturen bereits einen intensiven Vorgeschmack auf die Sommermonate lieferte.

Das Grundstück war riesig und Erinnerungsfetzen an früher durchzogen ihr Hirn. Glück, Lachen, Trauer, Streit, Liebe – all das war erlebbar gewesen hier in dieser grünen Oase. Aber kein Gefühl war so stark gewesen wie die Sehnsucht nach der Welt dahinter, außerhalb der Kleinstadtgrenzen, fern der geschützten Welt. Damals war es hier einfach nicht genug.

Irene seufzte im Versuch, die brennenden Tränen abzuwenden, aber es gelang ihr nicht.

Aus dem Augenwinkel sah sie verschwommen, wie Nana ihr nicht nur ihren Blick, sondern ihren gesamten Körper zuwandte. Irene schluckte.

„Schön, dass du hier bist“, sagte Nana leise.

„Es tut mir leid“, flüsterte Irene.

Nana lachte leicht auf. „Was genau?“

Irene dachte nach.

„Dass ich dich gestern aufgeweckt habe.“

Nana nickte leicht.

„Dass ich heute den ganzen Tag geschlafen habe.“

Nana nickte noch einmal.

„Dass ich nie zurückgekommen bin.“

Nana verharrte regungslos, sah sie an. Irene hob den Blick und fand sich den bekannt starken, blauen Augen gegenüber. Dem Blick, dem nichts entging, der aber auch nichts verschleierte.

„Jetzt bist du ja da“, sagte Nana und lehnte sich in ihrem Schaukelstuhl zurück, richtete ihren Blick wieder in den Garten, zu den drei Birken, die das Eck des Grundstücks auf einer Seite markierten.

Sie schwiegen eine Weile.

„Was brauchst du jetzt?“, fragte Nana dann in die Stille hinein.

„Einen Ort zum Schlafen. Und Zeit“, antwortete Irene ohne zu zögern zu ihrer eigenen Überraschung.

Nana nickte wieder. „Und sonst?“

„Ich muss nochmals ganz von vorn anfangen“, sagte Irene leise und Nana wandte sich ihr wieder zu.

„Es ist alles weg“, sagte Irene und die Tränen belegten ihre Stimmbänder, „der Job, die Wohnung …“, sie schluckte mehrmals, „… der Mann.“

Nana hob neugierig die Augenbrauen und Irene schluchzte auf.

„Es war alles mit ihm verbunden“, murmelte sie zwischen den Schluchzern, „und er hat alles kaputt gemacht.“

„Wie?“, fragte Nana.

Irene schüttelte den Kopf, um die Erinnerung loszuwerden, aber es half nichts.

„Mit der Empfangsassistentin.“ Sie schluchzte und lachte gleichzeitig auf.

Nana holte Luft, sagte aber nichts.

„Im Besprechungszimmer“, sagte Irene durch die Tränen und schnaufte daraufhin wütend, „am Tisch im Besprechungszimmer.“ Die Abscheu und Wut und Enttäuschung waren aus jeder Silbe herauszuhören.

Nana legte ihren Kopf schief und sah weiterhin ruhig zu ihr. Irene wusste, das war das meiste an Mitleid, das sie von Nana erhalten würde. Ein schiefgehaltener Kopf und Aufmerksamkeit. Immerhin.

„Ich habe seit Jahren nicht mehr so viel geheult“, sagte Irene nach einigen Minuten und wischte mit den Händen über ihre Augen, ihr Gesicht, aber das half kaum. Sie hätte ein Taschentuch gebraucht, konnte aber nicht aufstehen. Wollte nicht weggehen. Die wenigen Augenblicke gemeinsam mit Nana waren die komfortabelsten und ruhigsten Momente seit einer gefühlten Ewigkeit. Die Stadt und das Büro, Frank und Stella, waren so weit weg. Wieder drückte Müdigkeit auf ihren Kopf und Irene lehnte sich weiter zurück an die Hausmauer.

„Ich habe jeden Fehler gemacht, vor dem du mich jemals gewarnt hast“, sagte Irene schließlich und sie hörte Nana lachen.

„Es war mein Fehler, zu glauben, dich davor beschützen zu können“, sagte Nana mit so freundlicher und ruhiger Stimme, dass Irene erneut Tränen über die Wangen liefen.

„Darf ich ein paar Tage hierbleiben?“, fragte Irene nach einigen Augenblicken.

„Selbstverständlich“, antwortete Nana schnell, „solang du möchtest.“

„Danke“, flüsterte Irene.

Sie saßen gemeinsam auf der Terrasse und ließen den Abend über den Garten hereinbrechen. Irgendwann griff Nana wieder zu ihrem Buch und las weiter. Solang das Licht ausreichend war.

Als die ersten Fledermäuse in der Dämmerung erkennbar waren, zogen sie sich ins Haus zurück.

„Schlaf gut“, sagte Nana ruhig, als Irene wieder in den ersten Stock hinaufstieg, wo sich ihr Schlafzimmer befand. Wieder kein Kosename. Irene seufzte.

Es war Waffenstillstand, aber Nana hatte ihr noch nicht vergeben.

6. Kapitel

Irene kam langsam zu sich, wand sich zwischen der Realität des neuen Tages und der Illusion des Traums, der sie noch nicht loslassen wollte. Irgendwann ließ die Müdigkeit nach und sie schlug ihre Augen auf. Ein Moment der Orientierungslosigkeit passierte schnell, dann fiel ihr wieder ein, wo sie war. Warum sie hier war. Und die Unruhe überkam sie.

Auch wenn es bereits sehr hell war, schien der Tag noch jung zu sein. Auch die Vögel klangen, als wären sie gerade erst aufgewacht, und die Welt vor ihrem Fenster hörte sich noch unberührt vom Alltag an.

Irene streckte sich. In Ermangelung von Kleidung hatte sie nackt geschlafen, bei offenem Fenster, nur bedeckt von einer dünnen Sommerdecke. Sie spürte die weiche Bettwäsche auf ihrer Haut, genoss die Freiheit, sich unbemerkt nackt bewegen zu können. Sie seufzte leise und atmete die frische Morgenluft ein.

Beweg dich, sagte die bekannte Stimme in ihrem Kopf und gleichzeitig fiel Irenes Blick auf ihre alten Laufschuhe, die sie gestern mitten im Zimmer stehengelassen hat.

Schnell schlug sie die Decke zurück. Sie wusste, was sie zu tun hatte.

* * *

Die ersten Schritte waren ungewohnt. Ihr Körper fühlte sich steif an, die Muskeln kalt, obwohl sie die Wärme ihres Betts noch im Nacken spürte. Sie hielt ihr Tempo zurück, lief nicht so schnell, wie sie es gerne gewollt hätte, um den Druck und die Angst und die Schmerzen loszuwerden. Sie kontrollierte ihren Lauf, konzentrierte sich auf ihre Schritte, auf das Zwicken in den Knöcheln, das nach ein paar Minuten nachließ. Sie beobachtete ihren Atem und zählte mit.

Sie lief durch einige Wohnstraßen, in denen noch kein Mensch zu sehen war. Es musste noch früher sein als angenommen. Irene ließ sich von ihrer Erinnerung leiten, bis sie einen Schotterweg entlang eines schmalen Flusses, der unter einer verwachsenen Böschung dahinplätscherte, erreichte. Hier war es schattiger und ein leichter Lufthauch kühlte vom Wasser herauf und gab ihr Kraft, weiterzulaufen.

Sie kannte den Weg, hatte eine Ahnung, wohin sie gelangen würde, wenn sie dem Fluss ein Stück folgte.

Irene spürte, wie ihr Körper lockerer wurde, die Muskeln wurden wärmer und langsam gab sie die Kontrolle auf. Ließ ihre Beine das Tempo bestimmen, atmete schneller und richtete sich dabei auf. Ihre Arme wurden lockerer und das Zwicken in ihren Schultern ließ nach.

Das ist Freiheit, kommentierte die Stimme in ihrem Kopf. Irene schloss ihre Augen und genoss die Anstrengung. Die Leichtigkeit des Durchatmens. Den vertrauten Geruch der Luft.

Der Weg mündete nach einiger Zeit in den Parkplatz eines Einkaufszentrums, das Irene noch nie gesehen hatte, aber sie kannte die Gegend gut genug, um sich davon nicht irritieren zu lassen. Früher war hier eine unbenützte Wiese gewesen.

Langsam lief sie über den noch leeren Parkplatz, der Asphalt bereits jetzt unerbittlich heiß, aufgewärmt von der Hitze der vergangenen Tage, die hier ohne jeglichen Baumschatten leicht gespeichert wurde.

Irene spürte Durst und erstmals auch wieder etwas wie Hunger, also beschloss sie, zurückzulaufen.

Auf dem Rückweg entdeckte sie weitere Neuerungen, etwa einige Wohnhäuser in unmittelbarer Nähe zum Einkaufszentrum, die unfassbar hässlich waren, deren Balkone aber vor Leben und Freundlichkeit strotzten. Die Menschen, die hier lebten, schienen im Wettbewerb zueinander zu stehen, wer die üppigeren Blumen und bequemeren Balkonmöbel besaß. Jede einzelne Wohneinheit strahlte Zufriedenheit und etwas Einladendes aus, das in Irene eine unbekannte Sehnsucht auslöste. Sie schüttelte den Kopf, um das Gefühl und die damit verbundene Verwirrung loszuwerden.

Nach einigen Minuten landete sie wieder auf der Hauptstraße, die ins Stadtzentrum führte, und Irene entdeckte bekannte Gebäude: Wohnhäuser von ehemaligen Schulfreundinnen, kleine Geschäfte, die es schon immer gegeben hatte, unterbrochen von einigen neuen Geschäftslokalen. Der Brunnen am Hauptplatz plätscherte leise vor sich hin und das erfrischende Geräusch zog Irene an, motivierte sie dazu, stehen zu bleiben.

Sie keuchte vor Anstrengung und hielt ihre Hände unter das kalte Wasser, bis sie taub wurden und fuhr sich dann damit über den Nacken und durch ihre Haare.

„Das ist kein Trinkwasser“, lallte eine Stimme hinter ihr und Irene zuckte zusammen, fuhr erschrocken herum. Auf einer Bank im Schatten einer riesigen Linde, die den Eingang zum Park neben dem Rathaus markierte, saß ein Mann in ihrem Alter. Die Körperhaltung und auch die halb geschlossenen Augen schrien nach durchzechter Nacht.

„Nicht schrecken“, kicherte der Mann, etwas zeitverzögert, aber dennoch auf ihre erste Reaktion gemünzt.

„Ich dachte, ich bin allein“, sagte sie und schalt sich gleichzeitig, dass sie geantwortet hatte. Sie hatte zwar lange genug am Land gelebt, um sich vor Betrunkenen nicht zu fürchten – die große Anzahl an Festen ermöglichte einem, sich bereits früh eine Routine im Umgang mit Feiernden anzueignen. Sie wusste daher allerdings auch, dass sich Gespräche oder gar Diskussionen mit Illuminierten niemals auszahlten.

Ihr rann der Schweiß von der Stirn, mehr noch als während des Laufs, was eine übliche Reaktion war, wenn sie das hohe Lauftempo nicht kontrollierter reduzierte. Noch einmal drehte sie sich zum Brunnen und sammelte etwas Wasser in ihren Handflächen, um damit ihre Stirn zu kühlen.

Sie hörte den Mann hinter sich leicht fluchen. Als sie sich umdrehte, bemerkte sie, dass er Schwierigkeiten hatte, von der Bank aufzustehen.

„Brauchst du Hilfe?“, rief sie ihm zu, während er doch langsam stehend zu Balance fand.

Er richtete seinen Blick auf sie und langsam wurde dieser ärgerlich, fast wütend. Irene zog eine Augenbraue hoch, um ihre Verwirrung zu verschleiern. Als er ihr in die Augen sah, blitzte etwas in seinem Blick auf und löste in Irene für einen Moment ein fast vergessen geglaubtes Gefühl aus: Neugier.

Und das knisterte in ihrem Nacken.

„Niemals“, keifte er sie an.

Das Knistern erlosch so schnell, wie es gekommen war und Irene fühlte sich provoziert. Dreh dich um und geh, rief die Stimme in ihrem Kopf, aber sie atmete dagegen an, gebannt von dem fremden Mann vor ihr, mit den dunklen Augen und dem sportlichen Körper, seine elegante Fitness nicht einmal beeinträchtigt von seinem offenkundig übernächtigen Zustand.

„Glaubst du wirklich, du kannst hier einfach so auftauchen und Andrea nimmt dich wieder auf?“, zischte ihr der Mann entgegen.

„Wie bitte?“, antwortete Irene scharf, obwohl sie ihn sehr wohl verstanden hatte. Sein Lallen hatte nachgelassen, aber dennoch brauchte sie einige Augenblicke, um zu verstehen, dass er Nana bei ihrem eigentlichen Namen, Andrea, genannt hatte.

„Wer bist du überhaupt?“, fragte sie fassungslos und Wut machte sich ungebremst in ihr breit.

„Sie hat nicht auf dich gewartet.“ Er flüsterte nahezu, was seinem Zorn noch mehr Kraft gab. „Glaubst du, du kannst hier einfach auftauchen, zweimal nach Nana heulen und schon springt der ganze Ort für dich?“

Sie gingen beide langsam aufeinander zu und starrten sich wütend an. Nach einigen Schritten waren sie sich nah genug, dass Irene ihn als jene Person erkannte, die sie vor zwei Nächten am Bahnhof abgeholt hatte. Die Erkenntnis beruhigte ihre Gesichtszüge und der Mann verlangsamte seinen Schritt.

Noch bevor sie etwas erwidern konnte, drehte sich der Mann plötzlich von ihr weg und übergab sich in einen Mistkübel, der zwei Schritte von ihm entfernt am Gehsteig stand.

„Ach, verdammt!“, fluchte Irene lauthals quer über den Hauptplatz und stampfte auf.

Was war bloß aus ihrem Leben geworden? Von der beständigen Regelmäßigkeit einer erfolgreichen Agentur, zufriedener Kunden und einer – zumindest bis vor Kurzem – funktionierenden Beziehung war sie in einem Irrsinn gelandet. Kaum war sie aus ihrem eigenen Hin und Her aus Trunkenheit und verletzter Benommenheit aufgewacht, fand sie sich an einem unerträglichen Hitzemorgen am Ende der Welt wieder und stritt mit einem Fremden, der kurz vor einer Alkoholvergiftung stand.

Was sollte das alles?

Sie fluchte noch einige weitere Male etwas leiser vor sich hin, bis sie neben dem Mann stand, der mittlerweile halb über dem Mistkübel lehnte, seinen Arm am Rand aufgestützt und seine Stirn darauf abgelegt.

Irene berührte ihn mit ihren noch vom Brunnenwasser kalten Finger im Nacken und er zuckte kurz zusammen.

„Geh weg“, murmelte er in seinen Arm.

„Vergiss es“, antwortete Irene streng, „ich bringe dich jetzt nach Hause.“

„Geh weg“, sagte er nochmals, hob aber seinen Kopf.

„Nein.“

„Beeil dich“, sagte Irene ungeduldig. Sie drehte ihm den Rücken zu und deutete auf ihre Schulter. „Halt dich fest.“

Zu ihrer Überraschung spürte sie kurz darauf seine Hand genau dort, wo sie hingedeutet hatte und sie setzte sich in Bewegung.

„Du bist verschwitzt“, murmelte er.

„Ich bin gelaufen“, antwortete Irene trocken.

Nachdem sie nicht wusste, wo der Mann wohnte, ging sie in Richtung Nanas Haus los. Sollte Nana noch nicht munter sein oder nicht wissen, wo er wohnte, konnte er zumindest bei ihnen im Garten seinen Rausch ausschlafen.

Obwohl, so wie er vorhin Nana verteidigt hatte, schienen sich die beiden gut zu kennen. So gut, dass er auch über Irene Bescheid wusste. Das kurz aufflammende schlechte Gewissen wurde gleich wieder von der wütenden Unruhe überdeckt, die seit ihrer Abreise aus Wien immer wieder aufflammte. Sie hätte noch mehr laufen sollen, um sich besser zu fühlen.

„Ich bin normalerweise …“, begann der Mann hinter ihr zu sprechen, aber Irene unterbrach ihn sofort.

„Ich will es nicht wissen“, sagte sie lauter als nötig.

„Aber ich …“, fing er nochmals an.

„Sei still!“

„Warum?“

„Ich will nicht mit dir reden.“

„Warum?“

Weil du mich irritierst.

„Weil du unfreundlich warst und ich jetzt nicht reden will“, sagte Irene schließlich mit einem Seufzen.

Sie gingen schweigend bis zu Nanas Haus, wo Nana selbst bereits im Garten saß und aus einer riesigen Kaffeetasse trank. Falls sie überrascht war, ließ sie es sich nicht anmerken. Nur eine Augenbraue zuckte leicht, als sie den Betrunkenen, der sich an Irenes Schulter in den Garten führen ließ, sah und erkannte.

Dieser kicherte leicht und murmelte etwas wie „Erwischt!“, als er Nana sah, dann ließ er Irenes Schulter los und steuerte den leeren Liegestuhl neben Nana an, ließ sich drauffallen und schloss seine Augen.

„Harte Nacht?“, fragte Nana sanft. Er lachte leise, antwortete aber nicht.

Nana wandte ihren Blick Irene zu und musterte sie von Kopf bis Fuß, die dunkelbraunen Haare, die sie schlampig nach oben gedreht hatte und die uralten Sportsachen, die sie aus ihrem Kasten ausgegraben hatte. Dennoch huschte etwas wie Zufriedenheit über Nanas Blick.

„Wie spät ist es?“, fragte Irene.

„Etwa halb sieben“, antwortete Nana.

Irene nickte. „Ich gehe unter die Dusche“, sagte sie dann, froh, dass Nana wie immer keine Fragen stellte.

Aus dem Liegestuhl war leichtes Schnarchen zu hören und sowohl Nana als auch Irene mussten leise lachen.

---ENDE DER LESEPROBE---