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Pierre Guyotat

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Beschreibung

Herkunft berichtet von der sinnlichen, emotionalen, geistigen Formung eines Kindes, das zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in einem Dorf im Südosten Frankreichs in eine alte, katholische Familie ohne Vermögen geboren wurde. Wie die meisten seiner Bücher hat Pierre Guyotat es nahezu vollständig im Indikativ Präsens geschrieben. Die Gefühle, die Fragestellungen, die Gedanken sind die eines Kindes, das nicht aufhört, seine Angehörigen zu befragen, dann die eines Heranwachsenden, der mit vierzehn Jahren zu schreiben beschließt – doch die Ideen, die Überzeugungen, die Konflikte, die sich darin manifestieren, sind die seiner Umgebung, seiner Zeit, seines Orts.
Mit Herkunft lernen wir Pierre Guyotat als genauen Chronisten der von Vernichtung, Besatzung und Widerstand geprägten Kriegsjahre wie als feinfühligen Genealogen der eigenen Schriftstellerexistenz kennen. In einem Stil von intimer Klarheit werden wir Zeugen einer bei aller materiellen Bescheidenheit affektiv äußerst reichen Kindheit.

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Seitenzahl: 282

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Pierre Guyotat

Herkunft

Inhalt

Unsere Mutter, die 1907 als Kind französischer Eltern in Czeladz in der Gegend von Krakau in Polen geboren wurde, fährt als Kind, als Heranwachsende, manchmal in der Kutsche und später im Wagen mit ihren Brüdern und Schwestern durch das Dorf Oswiecim.

1940: Nachdem die Armee geschlagen ist und die Städte besetzt sind, läuft der hitlersche Terror in ganz Polen auf vollen Touren, zerstört die politische, administrative, intellektuelle, spirituelle Struktur des Landes.

Am 9. Januar 1940 morgens um 1:30 Uhr in dem verschneiten großen Dorf Bourg-Argental im Département Loire geboren, meine ich lange Zeit, es sei der 7. gewesen, während unsere Mutter mir zum Geburtstag am 11. gratuliert.

Narvik: Das französisch-englische Bündnis versucht, den Deutschen die über Norwegen verlaufende Eisenerzzufuhr abzuschneiden. Ein Vetter unseres Vaters wird in den Kämpfen getötet. Frankreich, Anfang Juni 1940: Bereits neunzigtausend Getötete, bombardierte Städte, im Norden, im Osten, im Westen; der Exodus. Charles de Gaulle, Unterstaatssekretär im Kriegsministerium in der Regierung von Paul Reynaud, in Mission bei der britischen Regierung, setzt sich, bereits von London aus, bei seinem Ministerpräsidenten per Telefon nachdrücklich für den Vorschlag Churchills ein, beide Nationen, Frankreich und Großbritannien, für den Kampf zu einer einzigen zu vereinigen.

Pierre Viannay, neunundzwanzig Jahre, aktiver Offizier der Infanterie, einer der Brüder unserer Mutter, gefangen im Wald von Halatte nördlich von Paris, entkommt am 14. Juni und erreicht Nordafrika – wo er sich im Juli den ersten Forces Françaises Libres anschließt.

Dauphiné, Umgebung von Grenoble: Anfang Juni kämpft Philippe, dreiundzwanzig Jahre, ein anderer Bruder meiner Mutter, der 1938 das Seminar von Issy-les-Moulineaux verlassen und in Saint-Cyr dem Jahrgang „Zwanzig Jahre danach“ angehört hat, unter dem Kommando des Hauptmanns Gallien und an der Seite des Hauptfeldwebels Abd el-Kader gegen die Deutschen. Auf dem Schlachtfeld von Voreppe wird er zum Leutnant befördert und hilft ein paar Stunden vor dem Waffenstillstand, den deutschen Vormarsch zu stoppen.

*

Winter 1940–1941: Bourg-Argental, im Süden des Départements Loire, eine kleine Region in der Gegend der Départements Ardèche, Rhône und Haute-Loire.

Ich bin fast ein Jahr alt. Ich sitze auf dem Teppich in der „Directoire-Ecke“ unseres Wohnzimmers, vor mir ein Fenster, dessen Konturen der intensive Glanz der Wintersonne verwischt. Das Fenster hat die Form der Sonne. Ein großer Körper beugt sich in dieses Licht, mir gegenüber kauert ein schöner Schatten, hebt mich ganz zu sich herauf, umarmt mich und spricht mir ins Ohr.

Es ist Hubert, gerade zwanzig Jahre, der jüngste von den vier Brüdern meiner Mutter. Es ist die Geschichte – schon jetzt eine Gottheit –, die mich in ihre Arme nimmt, die zu mir spricht.

Dieses lebendige Fleisch, in dem das Blut meiner Mutter pocht, dicht an meinem, wo mit der Milch, die es trinkt, Bewusstsein mit Bewusstsein verschmilzt, bereitet sich vor auf den Gang ins Höllenfeuer; seine Augen, in die im Strahlen der Sonne sich die meinen versenken, werden das Ungeheuer mit seinen Hunden, seinen Knüppeln und seinen Würgeschnüren, seinen Gasen und seinen beißenden Zangen erblicken.

Sein Atem an meinem Ohr – zwei Winter noch, und dieser Atem erschöpft sich, erstirbt unter den Bürden der Misshandlung.

Was antwortet mein Mund ihm in ebendieses Ohr, in dem ein paar Monate später sich die Befehle unweigerlich mit Hundegekläff mischen?

Die Geschichte des Menschen: zuerst gehen, dann aufrecht; meine ersten Schritte eines Nachmittags im selben Winter, auf demselben Teppich. Viele Leute um mich herum, draußen im Dorf dichter Schnee, ein Sonnenlicht, das mich blendet, die Hand meiner Mutter auf meiner Schulter und meiner Hüfte, mein rechtes Bein, das sich vorschiebt, meine Arme nach vorn gestreckt, mein linkes Bein… und Knie weiter hinten, mein Vater, der sich zurückzieht, damit ich mich allein vorwärtsbewege.

Neben dem Bild dieses zärtlichen Wesens, Huberts, ein Bild aus dem Jenseits, die Geschichte, ich höre sie, noch bevor ich sie in ihren Illustrationen sehe. Unter der Besatzung ist der Rundfunk auf dem ersten Bord des bretonischen Schrankbetts installiert, in unserem Esszimmer, einem sehr hellen Zimmer, das auf das Dorfzentrum und die Schneise der zur Rhône und nach Süden führenden gepflasterten Landstraße geht.

Die Kohleknappheit zwingt uns, uns den ganzen Tag über in diesem Zimmer aufzuhalten, dem einzigen, das geheizt ist – unsere Kinderzimmer tiefer im Wohnungsinneren, das Zimmer unseres Vaters und unserer Mutter, sind es nur durch den Heizkessel am Eingang, wo das Telefon bis zu zwanzig Mal am Tag und spät nachts, oft im Morgengrauen, läutet. In diesem hellen Zimmer mit Kamin steht ein großer Tisch mit einer Eichenholzplatte über einem bretonischem Backtrog: Hier spielen wir, klettern hinein und verstecken uns. Ist es dieses Loch, in das ich noch nicht steigen kann, um mich der jüngeren meiner beiden Schwestern anzuschließen, oder sind es die Arme meiner Mutter, in denen ich, seit sechs Monaten und acht Tagen am Leben, mittags am 17. Juni 1940 Philippe Pétains Rede zum Waffenstillstand höre? Seine Ansprache vom 25. Oktober, nach seinem Händedruck mit Hitler in Montoire, zweiundzwanzig Tage nach der Verkündung des ersten Gesetzes zum Status der Juden?

*

Vor dem Krieg, zur Zeit ihrer Jura-Studien, Kindermädchen auf den interkontinentalen Dampfern, ist Suzanne, achtundzwanzig, eine der beiden Schwestern meines Vaters, mit der Klassifizierung der griechischen Patrologie an der Universität von Lyon beauftragt; seit dem Beginn der Besatzung ist sie im Untergrund engagiert: Témoignage chrétien, Combat.

Eines Nachts erwache ich plötzlich im kleinen Bett meines Zimmers, fahre auf, mein grauer Plüschbär, der auf dem Bett neben mir für die bevorstehende Geburt meines Bruders bereitliegt, sieht mich an. Das Licht von der Straßenlaterne und vom Mond, das durch die Läden dringt, lässt seine Glasaugen funkeln; der Freund wird zum Feind. Schreie, Keuchen, Zittern. Unsere Mutter nimmt mich in ihre Arme, dann in ihr Bett, legt mich zwischen sich und meinen Vater, der, zwischen zwei Geburten im Gebirge, schläft. Mehrere Nächte bleibe ich in dem, was wie das Allerheiligste wärmt und riecht.

Selbst hinten im Schrank versteckt und aufbewahrt für meinen in Kürze zu erwartenden Bruder, hört der Bär nicht auf, mir Angst zu machen, als der Zeuge einer überwundenen archaischen Phase meiner frühesten Kindheit, die ich bereits verwerfe – alles was vergangen ist, ist unbewusst und also null und nichtig –, der stumme Zeuge meines Stammelns, meines Treibens und auch meiner Träume, meiner kleinen nächtlichen Gebete, der Taubstumme, der immer noch mehr wissen will. Ist dies auch die Entdeckung, dass die Tiere über uns urteilen, über uns, die sie jagen, sie fangen, sie töten?

Am 14. Juli 1941, nach der Wahl des Titels und mehreren Monaten Vorbereitung jeder Art, wird, am Tag nach einem Konzert im Palais Chaillot, wo Charles Munch vor einem breiten Publikum von Franzosen und ein paar Deutschen dieNeunte Symphonievon Beethovendirigiert – Philippe, an der Seite von seiner Frau Hélène (Russin, Waise eines bolschewistischen Vaters und einer menschewistischen Mutter), fühlt angesichts des einigenden Spektakels dieser Schönheit für ein paar Sekunden seine Willenskraft dahinschmelzen –, am 14. Juli also wird die erste Nummer vonDéfense de la France, einer im Herbst 1940 von Philippe und Robert Salmon gegründeten Widerstandszeitung, auf „Simone“, einer Kleinoffsetdruckmaschine, gedruckt – diese gekauft mit dem Geld von Marcel Lebon, einem mit Philippe befreundeten Industriellen, und von der Rue Lhomond zum Domizil unseres Großvaters in der Rue Berteaux-Dumas in Neuilly sowie anschließend in einen Keller in der Sorbonne verbracht. Die Kameraden des Widerstands beginnen die Zeitung sofort in der Provinz zu verteilen. 1942 trifft Philippe den Drucker Grou-Radenez, der für die technische Ausbildung der Aktivisten sorgt.

An einem Donnerstagmorgen 1942, einem Markttag, unser Vater empfängt und versorgt seine Patienten unten in seiner Praxis – Röntgenapparat, schwarze Vorhänge –, steige ich die hölzerne Wendeltreppe zwischen dem Treppenabsatz an der Küche und dem Wartezimmer hinab; im Rundfunk, oben, die Ouvertüre von La Traviata – seltene Musik tagsüber: Ist es meine Mutter, die, wenn sie vom Einkaufen zurückkommt, das Radio einschaltet und die Zeitung liest? Ich steige hinab, das Wartezimmer ist voll: Arbeiter und vor allem Bauern, Gerüche von Milch, Samt, Drillich, Leder, Kuhmist, von Kräutern, Tieren, Tannenholz, Speichel.

Ich will wieder hinauf, aber eine große Frau mit Flügelhaube, eine Schwester vom Hôpital-Maternité-Hospice, kommt, ihre Hand in der unseres Vaters, aus der Praxis: Es ist Schwester Zoé. Mich sehend, wie ich hinuntersteige und auf sie zukomme, mich ergreifend, das r auf burgundische Art rollend, ruft sie mit lauter und sanfter Stimme: „… welche Würde, welche Würde! das wird mal ein Prälat.“

Ich laufe und ich spreche schon viel, als Régis, mein Bruder, am 23. Mai 1942 geboren wird: Wir treten ins Zimmer meiner Mutter, wo sie sich ausruht mit dem Säugling. Mein Bauch berührt das Tuch, das vom Bettrand herabhängt. Meine Tränen ergießen sich auf ihr Dekolletee. Die Fensterläden vor der Sonne geschlossen, über dem Bett eine russische Ikone der Jungfrau.

Sie zittert, aber vor Gott, vor der Ewigkeit, muss man Würde zeigen. Drei ihrer vier Brüder – für die sie auch eine Mutter ist, denn die ist bei der Geburt des Jüngsten verstorben – haben sich dem Widerstand angeschlossen, zwei dem inneren Widerstand gegen den Besatzer, einer dem Freien Frankreich in Afrika, wo er unter dem Befehl Leclercs und dann Kœnigs im Fezzan kämpft – es heißt, dass sie vor Durst ihre eigene Pisse aus ihren Helmen trinken; von ihren drei Schwestern kämpft eine, Clotilde, fünfundzwanzig Jahre, an der Seite ihrer Brüder.

Eine von den großen Taten des damaligen Freien Frankreich, Ende Mai bis Anfang Juni, in der libyschen Wüste, in der Kyrenaika, auf der Position Bir Hakeim: Fünftausendzweihundert Franzosen von Kœnig widerstehen an der Seite von dreitausendsiebenhundert Briten, ohne Panzer aber mit Panzerabwehrgeschützen, eingegraben mitsamt ihren Waffen, den Italienern von Prestisimione und den Deutschen von Rommel, Männern und Panzern. Rommel schreibt: „An der afrikanischen Front habe ich nie einen so erbitterten Kampf gesehen.“ Dieser Widerstand und der erfolgreiche Ausbruch aus der Umklammerung liefert den britischen Zeitungen die Schlagzeilen: „Bir Hakeim ist zum Ehrentitel und Angelpunkt unserer Kampffront geworden“, „Die Verteidigung von Bir Hakeim erweist sich als eine der glanzvollsten Taten des Kriegs“.

Das Kommuniqué des britischen Generalstabs in Kairo berichtet wie folgt vom Ausbruch der Verteidiger: „Die Truppen der Forces Françaises Libres unter dem Befehl von General Koenig haben eine wesentliche Rolle bei der Vereitelung der feindlichen Pläne gespielt.

Ihre hervorragenden Kampfqualitäten haben ihnen die Bewunderung der Nationen eingebracht.“

Zwei Tage nach dem 14. Juli, der in der ganzen Welt und in Frankreich in der noch nicht besetzten Zone gefeiert wird, nehmen neuntausend Männer der Ordnungkräfte Vichys in der von Heydrich und Bousquet vorbereiteten Operation Vent Printanier mehr als zwölftausend von den dafür vorgesehenen achtundzwanzigtausenddreihundertachtundachtzig Juden fest, solche, die „Ausländer oder ausländischer Herkunft“ sind. Siebentausend von ihnen werden in den überhitzten Glasbau des Vélodrome d’Hiver eingeschlossen.

*

Alles wird knapp und teuer: Milch, Zucker, Mehl, Benzin; selbst außerhalb der Städte, im Gebirge. Die Weigerung, am Schmuggel teilzunehmen oder davon zu profitieren, kommt zur Knappheit hinzu; die Bauern in unserer Gegend sind arm, nur wenige bereichern sich auf dem Schwarzmarkt. Wir, meine Brüder, meine Schwestern und ich, haben damals dicke Köpfe und magere Beine. Die Besetzung der sogenannten Freien Zone am 11. November 1942 verstärkt noch das Schweigen und die Knappheit.

Der Bürgermeister und der Stadtrat, die von Vichy ernannt sind, kollaborieren mit dem Besatzer, zur großen Missbilligung von beinahe allen – Bauern, Handwerkern, Arbeitern, Angestellten. Weil viele unserer Leute sich engagiert haben und auch wegen des Zugriffs Vichys auf den Magistrat, ist Schweigen geboten: Nicht nur, dass unsere Verwandten uns zuliebe auf Lebensmittel verzichten, sie unterdrücken auch ihr Wort; zwei Entbehrungen, die wir schmerzhaft spüren und die wir geheim halten.

Im katholischen Kindergarten, der von den Schwestern des Dritten Ordens unterhalten wird, mit einer mit großen Scheren ausgestatteten Direktorin namens „Meseph“, nehmen alle Mädchen und Jungen ihren Reifen, der an einem Haken in der Wand neben ihrem Kittel, ihrem Halstuch und ihrem Kopfschützer aufgehängt ist. Singen wir Maréchal nous voilà ? Warum nous voilà statt nous voici ? Nous voilà: Wir sind nicht mehr da. Nous voici: Wir sind da. Auch hier muss man schweigen und darf nicht sagen, dass man schweigen muss.

Zu diesem Zeitpunkt beginnt mein Bruder in einem Bett neben meinem zu schlafen, im Jungenzimmer, das zwischen dem sogenannten „freien Zimmer“ und dem Mädchenzimmer liegt, das geräumiger ist und sich tiefer im Wohnungsinneren befindet.

Ich, der ich bereits spreche, warte darauf, dass auch er spricht.

Jeden Abend zeichnet unsere Mutter uns mit dem Daumen ein kleines Kreuz auf die Stirn.

Nachts, durch die sommers geschlossenen Fensterläden und die winters vereisten Scheiben, höre ich unten am Haus das Brausen des Wassers, des Wildbachs auf den Felsen; je mehr uns die Stimme unserer Mutter ins Mysterium des Gotteskindes und des Ewigen Vaters einführt, desto mehr vernehme ich in diesem Tosen, durchdringend im Winter, trällernd im Frühling und schwer im Sommer, die Stimme dieses Gottes, von dem ich fühle, dass ich von ihm stamme; eines Sommers sehe ich vom Kai gegenüber, wie an dem schäumenden, von der Kleinindustrie, der Textilindustrie und der Holzverarbeitung weiter oben verschmutzten Wasser Ratten entlanglaufen. In den Buchten zwischen den Felsen sehe ich auch Fische, Bild des von Gott geschenkten Lebens.

Unser Vater, der sich schon nicht mehr satt isst – aber das Benedicite, vor jeder Mahlzeit, bleibt ernst und freudig –, arbeitet fern im Gebirge. Immer seltener benutzt er das Auto, statt dessen das Motorrad oder, in der langen Schneeperiode damals, von November bis Mitte März, die Skier. Wenn er abends, oder spät nachts, heimkehrt, liegen wir bereits im Bett, aber selbst im Schlaf spüren wir seine Rückkehr.

Bei seinen Patienten, bei den Kindern, die er, manchmal auf dem großen Tisch im Gemeinschaftsraum des Bauernhauses, zur Welt bringt, kommt er wieder zu Kräften. Womit kann er die Entbehrungen kompensieren, unter denen alle Altersgruppen zu leiden haben? Selbst verarmt, ernähren die Bauern und die kleinen Ladenbesitzer in den Dörfern noch die Maquisards, deren Zahl mit dem Mangel und unter der Drohung des obligatorischen Arbeitsdienstes noch zunimmt. Die hohen Tannenwälder zwischen Loire, Ardèche und Haute-Loire beschützen sie. Manchmal, des Abends, steht er da mit einem Hasen oder einer Drossel in der Faust.

Da ich schon ein wenig lesen kann, blättere ich immer wieder in den Alben des Pater Castor, Gédéon Grand Manitou und vor allem Pierre Lapin von Beatrix Potter: das Verbot, Mr. MacGregor, die Angst, der mütterliche Bau, die Kamille.

Unsere Mutter fährt mit dem Fahrrad zu den Höfen und den Weilern an der Grenze zum Département Ardèche, um dort ein paar Eier, ein wenig Butter, Milch zu kaufen.

Im Sommer 1943 vervielfacht unsere Tante Suzanne, seit 1941 verantwortlich für die Zone Süd der Organisation Défense de la France – die Untergrundzeitung erscheint in 300 000 Exemplaren – ihre Fahrten zwischen Paris und Lyon, auf denen sie Zeitungen und gefälschte Papiere transportiert, die auf der zeitungseigenen Presse für Widerstandskämpfer und jüdische Familien hergestellt worden sind. Überall agiert sie mit Kühnheit und Kaltblütigkeit.

Unser Großvater mütterlicherseits, in Les Éparges bei Verdun Hauptmann unter dem Kommando Pétains, transportiert zwischen Paris und Lyon Schriften der Organisation seines Sohnes – obwohl er die Weise seines Engagements missbilligt. Seine Kenntnis der deutschen Sprache hilft ihm bei den Kontrollen.

Am 20. Juli 1943 werden bei einem Treffen im Le Vœu de Louis XIII, einer Buchhandlung in Saint-Germain-des-Prés, eine große Zahl von Mitgliedern von Défense de la France, darunter mein Onkel Hubert und seine Verlobte Geneviève de Gaulle, eine Nichte des Generals, aufgrund einer Denunziation durch ein neueres Mitglied der Organisation festgenommen. Hubert wird zunächst für fünf Monate in Fresnes inhaftiert.

Ich beginne zu lesen, zu schreiben und zu rechnen. Unsere Mutter schlägt auf ihren Knien eine illustrierte Bibel für Kinder auf: alle Geschichten, die etwas mit Nahrung zu tun haben, vom Apfel Evas bis zur Eucharistie… Von allem, was ich höre, von allem, was ich sehe, von allem, was ich bereits lese, träume ich nachts – die Gitterstäbe meines Betts sind Säulen, Portale; die Kugeln Kuppeln: die Taube Noahs und ihr Ölzweig – ich habe Mühe, oder ich brauche lange, zu verstehen, wieso sie das Zeichen für den Rückgang der Wasser ist. Nach und nach legt sich die Geschichte Josephs, der von seinen Brüdern verkauft wurde, über die von der Ermordung Abels durch Kain, über die Wiege Mose auf dem Nil, über die ägyptischen Plagen; bereits in geradezu monumentalen Zeiträumen.

Unsere Mutter erklärt uns, um welches Volk es sich in dieser Dichtung handelt, dass es immer noch von dieser Welt ist, dass sie es in ihrer Kindheit, für uns damals die Geburt der Welt, mithin der Garten Eden, dass sie dieses Volk, das aus ihm kommt, gekannt hat – weiß sie damals, außer durch das, was ihre Brüder und Schwestern wissen, irgendetwas von der Behandlung, die diesem Volk durch Hitler in Polen zuteil wird? –, während ich gleichzeitig erwache und zittere und an seinem Ursprungsepos teilhabe. Als Kinder sind wir damals selbst dieses Volk, es gibt erst ein einziges, und selbst das gibt es noch nicht. Adam ist der erste Mensch, seine ersten Nachkommen können wir benennen, von ihnen lesen, von ihren Taten hören, aber danach, was ist das für ein Volk, mit seinen Patriarchen, seinen Richtern, seinen Königen, seinen Märschen, seinen Zornesausbrüchen, seinen geheimnisvollen Leidenschaften?

Es ist die erste Welt, die ich zugleich mit der entdecke, die ich ganz aus der Nähe sehe; die Abzählreime machen mir fast alle Angst, nicht aber der Brennende Dornbusch, dessen Bild ich so lange fixiere, bis es knistert und prasselt. Lange Zeit fühle ich mich wohl nur in dieser Herkunft, die durch die Verkündigung, die Geburt, die Epiphanie, näher heranrückt, weil diese in den Gottesdiensten um Weihnachten vor uns nachgespielt werden. Wir sind vom selben Volk wie Christus, der von David abstammt, der von Adam, dem ersten Menschen abstammt. Und weil Christus Jude ist, ist es auch sein Vater, Gott.

Zur selben Zeit, da ich beginne, mir die heimischen Orte einzuprägen, sie mir, ohne sie zu sehen, vorstelle, beginne ich, ein paar Episoden der Bibel, vor allem die handgreiflichsten, an diese mir vertraut werdenden Stellen zu versetzen.

Aus einem brennenden Misthaufen mache ich den Brennenden Dornbusch; durch irgendeine auf Augenhöhe liegende, mit Wasser gefüllte oder ausgetrocknete Felsspalte lasse ich die Armee des Pharao hindurchmarschieren wie zwischen den beiden Mauern aus Wasser im Roten Meer; manchmal, wenn der Himmel von einer neuen und plötzlichen Frische, rötlich oder golden ist, stiller als gewöhnlich, sehe ich das Manna der Wüste fallen – Schnee, Brötchen, Krümel –, ich spüre es auf meinen Schultern, könnte es in die Hand nehmen; irgendein schweres und vergoldetes Spielzeug wird zum Goldenen Kalb; irgendein vom Sturm umgeworfener Kilometerstein wird zur Gesetzestafel; oder es wird, einfacher, ein strahlender Zwischenraum zwischen zwei Wolken zum Eingang des göttlichen Palasts, unserer „künftigen“ Bestimmung.

Was ist die „Zukunft“ für ein kleines Kind, das nicht über die bombardierten Straßen irrt, in den Viehwaggons steckt, am Eingang zur Gaskammer?

Wenn unsere Mutter uns von einer bevorstehenden Befreiung spricht – der Befreiung Israels vom Pharao, der Frankreichs von Hitler –, wie spüren wir kleinen Kinder, dass, was wir noch nicht umschreiben können, Frankreich seiner Freiheit beraubt ist? Aber das Bild der Jakobsleiter, mit der Treppe, die vom Keller, vom unterirdischen Gefängnis – Aufstieg zur Freiheit – hoch in den Himmel führt, erscheint mir, ebenso wie das Licht, damals mehr als eine Figuration der Hoffnung, die ich im Herzen meiner Mutter pochen fühle, denn als die einer Filiation, die zu verstehen ich noch nicht imstande bin.

Es ist die Geschichte vom Turm zu Babel und das Echo von ein paar deutschen Stimmen, was mich verstehen lässt, dass andere andere Sprachen sprechen und dass es neben uns noch viele andere Menschen gibt.

Unter der Drohung durch die Bomben steigen von Saint-Étienne, von den Tälern der Ondaine und des Gier, im Winter 43–44 Polinnen hinauf zu den sogenannten „guten Ländern“ auf der anderen Seite des Pilat-Massivs, am Südhang, auf unserer Seite, Richtung Rhône, um mit unserer Mutter ihre Sprache zu sprechen: Wo im Dorf schlafen sie? Wo verwahren sie ihre Kinder? Morgens lassen sie sich zwischen Küche und Wohnzimmer auf Schemeln nieder und stricken, selbst mit farbenreichen Kleidern, Blusen und Kopftüchern bedeckt, bunte Wollsachen. Sie sprechen viel untereinander, und wenn wir durch die Wohnung laufen, drücken sie uns an sich. Unsere Mutter antwortet ihnen, zwischen der Pflege, die sie uns, zusammen mit Jeanne, unserem Dienstmädchen, angedeihen lässt, und den empfangenen und getätigten Telefonaten – über den Ernst der Beschwerden ist schon nach der Stimme und den oft im Patois, einer Variante des Franko-Provenzalischen, gegebenen Erklärungen zu urteilen, denn dann müssen Namen und Aufenthalt der Patienten an irgendjemanden im Gebirge weitergegeben werden, der sie dann, bei der Durchreise, in diesem oder jenem Café, Laden oder Ausschank, wiederum an unseren Vater weitergibt.

Meine Mutter antwortet ihnen, immer träumerisch.

Eines Abends im selben Winter, ich liege zu Bett, erhole mich von einem schwierigen Einlauf. Unsere Mutter sitzt am Kopfende und gibt mir eine Schale Bouillon zu trinken. Draußen, Nacht, Schnee und Stille, bis auf den göttlichen Wildbach, der das Eis klirren lässt. Die Instrumente des Einlaufs blinken noch auf dem Fußboden in einer Zimmerecke. Unsere Mutter legt ihre an der Schale erwärmte Hand auf meinen schmerzenden Bauch; am Kai ertönen Stimmen. Der Puls unserer Mutter, an der Verbindung von Handgelenk und Arm, beschleunigt sich; das Schlagen der Türen klingt anders als bei zivilen Fahrzeugen, diese Stimmen verstärken und überstürzen sich von meinen Ohren bis hin zu meinen Eingeweiden mit den gewaltigen Stößen des Bachs: die Sprache des Teufels in der, eisigen, Gottvaters.

*

März 1944, Hubert, über Compiègne nach Deutschland deportiert, wird ins Lager Neuenbremme bei Saarbrücken verlegt – systematisch herbeigeführte Erschöpfung, Kriechen, Lastenschleppen, stundenlanges Stehen auf Zehenspitzen, Prügel, Fußtritte, Appelle von morgens bis abends, Hunde, Galgen; hundert Gramm Brot täglich und eine Gemüsesuppe; drei Fünftel der Deportierten erliegen den Entbehrungen vor der fünften Woche; keiner übersteht drei Monate; Hubert hält sechsundachtzig Tage durch – im Lager von Oranienburg-Sachsenhausen, nahe Berlin, wo sich auch der älteste Sohn Stalins, Jakov, befindet, der dort Suizid begeht.

Im April, während er zugleich mit der Arbeit für die Défense de la France fortfährt (seine harten und weitblickenden Leitartikel zeichnet er „Indomitus“), baut Philippe den Maquis Seine-et-Oise auf, der den alliierten Vormarsch auf Paris erleichtert.

31. Mai 1944, Revier des Lagers Sachsenhausen: Der alte Monsieur de Vaumecourt, ein deportierter Résistant, findet Hubert, tuberkulös und mit nur noch einem Drittel seines Körpergewichts, getötet durch eine Phenolspritze.

Im Juni 1944 wird Suzanne, die Schwester meines Vaters, in Paris beim Transport von Personalausweisen für jüdische Familien verhaftet; drei Tage lang von der Gestapo, Avenue Foch, gefoltert, wird sie über Compiègne nach Ravensbrück in Brandenburg verlegt. Nacht und Nebel. Gaskammer, Verbrennungsöfen, Block für medizinische Experimente – Knochenmarkstransplantationen an jungen polnischen Widerstandskämpferinnen. Geschlagen, ausgehungert, Hundebisse an den Beinen. An manchen Sonntagen, wenn die Wächter sich langweilen, werden die Deportierten, Mädchen, Frauen, alte Frauen gezwungen, sich zu entkleiden und vor ihnen völlig nackt zu defilieren, während jene die Hunde an der Leine, bewaffnet, besoffen, lachend und rülpsend die nackten Gestalten eine nach der anderen kommentieren.

Im Herbst wird sie ins Lager von Königsberg an der Oder verbracht, neunhundert Frauen, voller Ungeziefer, zwei Jahreszeiten ohne Wäsche zum Wechseln, beschäftigt mit Erdarbeiten, unter –25°, –30° bald (in Brandenburg ist im Oktober schon Winter), bis Dezember nur mit einem Kleid und einem winzigen Pullover ausgerüstet, bis man ihnen ein zusätzliches Kleidungsstück hinwirft, dürftiger Mantel, Spitzenkleid oder Regenmantel. Planierungsarbeiten an einem Flughafengelände, bei heftigem Wind, der sie manchmal zu Boden reißt. Eine Gruppe von Deportierten löst, vor eine Art Pflug gespannt, Erdklumpen aus dem Boden, die eine andere Gruppe abtransportiert; andere reißen mit Pickeln Waggongleise aus der vereisten Erde; andere entwurzeln im Wald, fünf Kilometer vom Lager entfernt, Bäume, laden sie in die Loren, entladen sie woanders.

Rückkehr ins Lager zu Fuß, kurzer Schlaf in nicht getrockneten Kleidern.

Eine Suppe am Tag: draußen, auf der Baustelle; im Stehen; der Napf am Boden gefroren. Nahrungsentzug unter nichtigen Vorwänden. Appelle von früh bis spät, mit Hunden und Peitschen. Schläge, Anspucken, Fußtritte.

Zulassung zum Revier nur bei 40° Fieber, und nur abends. Niemals behandelte Ruhr; Wunden aus Vitaminmangel, kaum je verbunden.

*

Juli 1944, der Maquis Nord des Ardèche, des Haute-Loire und des Sud-Loire bedrängen die deutschen Truppen, die von den amerikanischen und französischen Truppen, im Tal der Rhône und auf den Querstraßen, nach Norden, gegen die Ebene des Fourez, zurückgedrängt werden. Mit unserer Mutter sind wir im Gebirge, am Pass des Tracol, der Grenze zwischen den Départements Loire und Haute-Loire. Alle fünf wohnen wir bei den Bâchers in der Hofwirtschaft: in zwei kleinen Zimmern mit schrägen Wänden; unsere Mahlzeiten – Topinambur, Kohlrüben – nehmen wir in einem kleinen Esszimmer mit Blumentapete, neben dem Gastraum, in dem sich Bauern, Fernfahrer, Forstarbeiter, Handelsreisende drängen. Mit Marinette und Sylvette, den großen Mädchen des Hauses, spielen wir viel auf der Wiese hinter dem Bauernhof und auf dem gepflasterten Hof vorne. Abends sehen wir zu, wie sie die Kühe im Stall melken: Marinette, die Blonde, den kräftigen Körper in der Korsage geschnürt und mit stark ausgewaschener Schürze, zieht das rustikale Euter über dem Eimer. Wenn der Eimer voll ist, glänzen auf ihrer Brust und ihrem lachenden Gesicht, auf das sich im Halbschatten das Rot der untergehenden Sonne malt, Milchspritzer.

Tagsüber nimmt uns unsere Mutter mit in den Wald gegenüber dem Bauernhof auf der anderen Straßenseite. Ich will hinüber zu dem großen Grenzstein zwischen den Départements, will meinen Fuß in das eine und das andere setzen und einen Unterschied spüren.

Zuerst laufen wir am Rand einer für uns sichtbaren und uns endlos vorkommenden Partie dieses Waldes entlang, es sind sehr ausgedehnte Hochwälder von dunkler Farbe, die Wälder von Taillard mit ihrem 1381 Meter hohen Kulminationspunkt, dem Pyfara. Wasserscheide zwischen dem Norden und dem Süden dessen, was wir, ein Echo des Gelobten Landes, von dem unsere Mutter uns morgens und abends erzählt, als Frankreich wahrzunehmen beginnen, das Frankreich im Stand der Befreiung.

Von dem Weg am Waldrain können wir unten, in den südwestlichen Ausläufern jenes großen, von Tannen und Kastanien bestandenen Massivs, etwa zwölf Kilometer von hier, hinter der kurvenreichen, von Weiler zu Weiler führenden Straße, in einem immer etwas nebligen Loch, unser Dorf mit seinen roten Dächern erkennen. Wir betreten den Forst – Überreste von Maquis-Biwaks, Lichtungen, purpurroter Fingerhut, Molche –, am Tag machen wir zwei Märsche.

Jeden Abend, wenn wir schon zu Bett sind, muss unser Vater noch einmal hinaus. Oft läutet im Bauernhof das Telefon nachts, und er muss aufstehen, sich ankleiden und in der gefährlichen Dunkelheit losfahren, hinunter ins Städtchen oder hinauf ins Gebirge.

Einmal steht an einem Spätnachmittag Mitte Juli, wie jeden Sommer, das Stück Wald, das ans Dorf angrenzt und das man die Châtaigneraie nennt, in Flammen. Von oben sehen wir die Feuersbrunst im verdämmernden Tag. Der Bach, der unten im Dorf die ersten Bäume von den alten, am Wasser gebauten Arbeitervierteln trennt, entspringt in ebendem Forst, an dessen Rain stehend wir das Kaff in Flammen sehen. Diese abnehmende Rötung, die sich in der des Sonnenuntergangs verliert, ist sie für uns, für unsere Mutter, das Zeichen des zu Ende gehenden Kriegs – in diesem Teil Europas zumindest?

Am 20. Juli, dem Tag des gescheiterten Attentats auf Hitler, wird Philippe bei Auvers-sur-Oise verwundet: sechs Kugeln in den Arm, in die Brust, in den Schenkel, in den Fuß und in die Schulter.

Clotilde, eine der Schwestern unserer Mutter, die im Widerstand aktiv ist, wird in Fresnes gefangengenommen und eingesperrt.

*

Beim alliierten Vormarsch im Rhône-Tal lässt unser Onkel Pierre seine Kompanie algerischer Schützen im Haus unserer Familie in Saint-Jean-de-Bournay, wo unsere Tante K. allein mit ihren Kindern lebt – ihr Mann ist in Deutschland in den Offizierslagern gefangen, flieht, wird ergriffen und ins Gefängnis der Festung Colditz geworfen – Quartier nehmen.

In den Kämpfen, die den Rückzug der Deutschen und den Vormarsch der aus der France Libre hervorgegangenen, vom lokalen Maquis unterstützten Truppen begleiten, gerät unser Dorf unter Beschuss: Gewehrfeuer, Maschinenpistolen. Zusammen mit ein paar Überbleibseln der Miliz und der französischen Gestapo verfolgen die Nazis die Maquisards bis in den von uns gemieteten Garten. Unser Vater wird mit anderen Männern des Städtchens festgenommen und unten an unserem Haus, an der Druckerei, an die Wand gestellt und durchsucht.

Die Post, über der wir wohnen, ist das Ziel deutschen Feuers. Wir verstecken uns unter den Betten des Mädchenzimmers, im nicht abgebrannten Teil des Kastanienwaldes oder bei unserer Tante Chantal weiter oben im Viertel Cotaviol. Unser Großvater Viannay sitzt an dem Fenster, das auf das Dorfzentrum geht. Ein paar Millimeter neben seinem großen weißen Bart durchschlägt eine Kugel das Fensterglas.

Wir sehen, ich sehe, von eben diesem Fenster die Flucht der von Vichy ernannten Gemeinderäte und anderer Kollaborateure in schwarzen Frontantriebswagen nach Nordosten und Süden.

Ende August ist General de Lattre mit der 1. Armee auf dem Marsch, um Saint-Étienne zu befreien. Wegen der bevorstehenden Kämpfe werden viele Kinder der Industrie- und Bergbaustadt in die Dörfer des Massivs evakuiert.

Eines von ihnen, ein Junge, zwei oder drei Jahre älter als ich – sein Name klingt wie viele Namen dieser Zeit revolutionär –, kommt eines späten Nachmittags mit dem Autobus zu uns.

Er schläft in einem dritten Bett in unserem Zimmer, er spielt mit uns, er hat sehr wenig Kleidung, aber ein Schulhemd. Ist er eines der überlebenden Kinder der École Tardy im Quartier du Soleil, das von den Alliierten bombardiert wurde und wo zehn Kinder getötet worden sind? Wir, die wir nach Land riechen, nach Wald, nach Gras, nach Tanne, nach frischer Luft: Milch, Kuhfladen, Kaffee, wir bemerken sehr schnell seinen Stadtgeruch, das Arbeiterviertel.

Unsere Mutter führt uns auf den Höhen um das Dorf spazieren. Zusammen mit ihr zeigen wir ihm die Natur: die Pflanzen, die Eidechsen, die Vögel, die Frösche, das Wasser; wenn wir allein mit ihm sind, ziehen wir die Würmer aus der Erde, wir fangen Heuschrecken, wobei wir die kleinsten lebend essen. Manchmal, wenn es uns gelungen ist, in der Küche Zündhölzer und einen Rest einer Reibfläche aufzutreiben, grillen wir, ungesehen von unserer Mutter, die in ihrem Liegestuhl unter den Tannen liest, am Boden kleine Schnecken und schwarze Ameisen, die wir vor ihm verzehren. Wir erfinden Prüfungen: Durchquerung von Dornen, Annäherung ans Vipernloch unten an der östlichen Gartenmauer, mit offenem Mund durch einen Mückenschwarm laufen; und, eines stürmischen Nachmittags – Donner von den Fabriken weiter oben am Bach –, sich über ein Beet mit jungen Brennnesseln wälzen. Blitze, Donner, Insektenschwärme, feuchte Luft, die vom Wildbach und den Ratten aufsteigt; Geschrei von Katzen auf der Mülltonne aus Beton, auf der anderen Seite des Kais; wir stoßen ihn vor uns her in die Brennnesseln, wir wälzen uns mit ihm, der schreit, weint, um sich schlägt. Wieder auf den Beinen und die Haut an den Schenkeln, den Knien, den Armen, am Hals, bereits voller Ausschlag, laufen wir den Garten hinauf, wo wir, neben dem Brunnen, einer einfachen Tonne, durch die das Wasser einer Gebirgsquelle fließt, um weiter unten, nach seinem Austritt aus dem Spundloch, den Garten zu bewässern, in das Gewächshaus treten, in dem der Gärtner sein Werkzeug und seine Gemüse- und Blumensetzlinge verwahrt; für den Fall von Wespen- und Bienenstichen hält er auch eine mit einem Lumpen verschlossene Flasche Essig bereit. Wir betupfen uns gegenseitig mit Essig; aber in mir regt sich bereits ein Schmerz, der stärker ist als der des Stichs, nämlich das Gefühl, die größte jemals auf Erden verübte, nie wieder gutzumachende Grausamkeit begangen zu haben; und das an dem, der damals für mich der Schwächste ist, dem Arbeitersohn, dem Ausgebombten/Entkommenen, dem Flüchtling; soziales Verbrechen und Verrat am gegebenen Wort, weil wir unserer Mutter, wie von ihr bei seiner Ankunft verlangt, versprechen, ihn unter unseren Schutz zu nehmen. Zurück in der Wohnung zum Nachmittagsimbiss, der Aufsicht meiner Mutter entzogen, steige ich allein wieder nach unten, um mich hinzusetzen und mich platt auf dem Bauch in das Brennnesselbeet zu legen, und ich beschließe, lebenslang jeden Tag, d.h. am nächsten Tag, am übernächsten… wieder dorthin zurückzukehren. Ich höre den Wagen meines Vaters, wie er das Gewölbe unter unserem Haus durchquert und im Hof wendet, um sich, den Kühler voran, vor der Einfahrt aufzustellen. Ich stehe auf und verstecke mich in einer der Hütten rechts hinten. Nicht weil mich mein Vater nicht allein im Garten überraschen soll, sondern damit er nicht sieht, wie ich mich kasteie, denn unter dem Blick Gottes, der zu dieser Zeit stets da ist, darf außer mir keiner diesen Akt der Bestrafung und Erlösung sehen. Die stärksten Handlungen müssen geheim bleiben. Was könnte ich für dieses Kind tun, um die Grausamkeit, die ich an ihm verübt habe, zu tilgen? Mit welcher Liebe es durchdringen?

Ein paar Tage, nachdem die Truppen der 1. Französischen Armee die Berge des Ardèche passiert haben, kommen Einheiten der amerikanischen Armee die unser Dorf in Richtung Col de la République und Saint-Étienne durchquerende Nationalstraße 82 herauf und halten an. Die GMC-Lastwagen, die Jeeps und die Panzer mit ihren rasselnden Raupen stoppen im Zentrum an der Place Jeanne-d’Arc vor dem Postgebäude, in dem wir ganz oben wohnen. Die Nationalstraße ist an dieser Stelle stark gewölbt, und so neigen sich die Fahrzeuge zu uns hinüber, zum Trottoir; die Bevölkerung akklamiert mit dem örtlichen Akzent; danach Verteilung von Schokolade und Kaugummis, die Soldaten lassen uns in die Panzer steigen. In dieser Zeit des noch universalen europäischen Imperiums existiert Amerika für uns nur durch Christoph Kolumbus, die Indianer, die schwarzen Sklaven und jetzt den Panzer