Idiotie - Pierre Guyotat - E-Book

Idiotie E-Book

Pierre Guyotat

0,0
22,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In seinem letzten Buch erinnert Pierre Guyotat seine Er­­fahrungen als junger Rekrut der französichen Armee in der Endphase des ­Algerienkriegs. Konfrontiert mit militärischem Drill, dumpfer Schikane und blankem Sadis­mus, interniert wegen Ungehorsam, zehrt der Neunzehnjährige von der Gewissheit seiner künstlerischen Berufung. Während er mit großer Sympathie den Freiheitsjubel der algerischen Bevölkerung beschreibt, erlebt er den Rückzug der französischen Armee als eine so stumpfe wie luzide Zeit.

Nachdem Claude Simon im Jahr 1967 aus Protest gegen die Nichtberücksichtigung von »Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten« die Jury des renommierten Prix Médicis verlassen hatte, erhielt Pierre Guyotat den Preis über 50 Jahre später für »Idiotie«.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 348

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Französische Originalausgabe

Idiotie

© Éditions Grasset, Paris 2018

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage

ISBN 978-3-0358-0185-9

© diaphanes, Zürich 2023

 

www.diaphanes.net

Alle Rechte vorbehalten

 

Satz und Layout: 2edit, Zürich

Druck: Steinmeier, Deiningen

Inhalt

 

 Idiotie

Das Läusemädchen

Paris, Herbst 1958, unter der Pont de l’Alma, gegen Mitternacht, die dritte Nacht auf der Straße, seit wir aus Lyon weggelaufen sind, wo ich, Schüler in der Philosophieklasse des Gymnasiums, nach neun Jahren im Pensionat beim jüngeren Bruder meines Vaters lebe, einem Psychiater.

Auf unserer Zeltmatte, die zwischen zwei eingetrockneten Lachen Pisse das Pflaster bedeckt – mich auf den Schmutz einlassen, ihn an mich heranlassen, ihn anfassen, mit ihm umgehen, endlich leben wie ein Mensch: durch diesen Kontakt, dieses „Teilen“ der Armut, wird man zum Heiligen, und auch ich werde mich – nur wie? – mit meiner Liebe zur Sauberkeit, zur Ordnung, dem aussetzen müssen –, kriechen wir in unsere Schlafsäcke; François schläft ein; in der Tasche meiner in den Schlafsack eingerollten Jacke steckt ein kleines Schwarzweißfoto seiner fünfzehnjährigen Schwester, die, als ich sie in Großaufnahme fotografiere, mit ihrem lachenden und in Wirklichkeit blonden Kindergesicht auf mich zukommt. Schiffslichter erhellen die schwarze Unterseite der Bögen; das Wasser plätschert – die Leichen Ertrunkener, die Kadaver geschlagener Hunde; in der Ferne verschmelzen die Lichter der Schiffe und Hausboote mit den Lichtkegeln der auf den Eiffelturm gerichteten Scheinwerfer des Champ-de-Mars.

Er schläft, den Kopf auf der Kapuze des Schlafsacks, mit offenem Mund; ich höre seinen Magen knurren; seit heute Mittag nur ein einziges Baguette für zwei mit großem Appetit. Morgen dann Hunger.

Wenn ich nur eindöse, erfasst mich der Tod, zieht mich in seinen Abgrund fort aus der Welt; schlafen, schnell und tief, dort, wo er mich nicht erreicht. Lautlos, damit er mich nicht finden kann.

Langsam verebbt das Brausen der Hauptstadt; weiter weg, hinter Passy, eine Schwester meiner Mutter; in Bagneux, in den südlichen Vororten, einer ihrer Brüder, mein Pate, Held der Résistance im Landesinnern; auf der anderen Seite der Seine, in Saint-Germain, nicht weit von der Straße, wo die Gestapo den jüngsten Bruder meiner Mutter verhaftet, der dann deportiert worden und im Lager Oranienburg-Sachsenhausen umgekommen ist, eine Schwester meines Vaters, aus dem gleichen Netzwerk, eine Überlebende von Ravensbrück; noch weiter weg, in Boulogne, ein weiterer Bruder meiner Mutter, im Mai 1940 im Wald von Halatte verwundet, France libre, Division Leclerc, Fessan, im Herbst 1944 in den Vogesen verwundet, Indochina, Algerien…

Obwohl ich sie liebe und bewundere, möchte ich sie schon jetzt nicht mehr sehen, und als mir nach dem Tod meiner Mutter nichts anderes übrig bleibt, als die Flucht zu ergreifen, werde ich mich im nächsten Jahr alleine, ohne ihre Unterstützung, der damals noch so weit entfernten Hauptstadt stellen müssen.

Jeden Winter fährt sie aus unserem Dorf im Mittelgebirge – hier spielt Eine Geschichte ohne Namen von Barbey d’Aurevilly –, wo sie, in der Nähe von Krakau geboren, uns sechs zur Welt bringt und unserem Vater, einem Arzt, assistiert, nach Paris, um ihre Schwester, ihre Schwestern zu treffen – eine von ihnen, die am Tag des Münchner „Abkommens“ ins Kloster eingetreten ist, ist Nonne im Benediktinerkloster von Jouarre in Seine-et-Marne.

1954 bringt sie mir von ihrer Reise als zusätzliches Geschenk zu meinem 14. Geburtstag, da ich meine Gouachefarben und das Zeichnen ein wenig vernachlässige und jeden Tag Gedichte schreibe, die nummerierte Ausgabe des Mercurede France mit den Werken von Arthur Rimbaud mit.

Sie ist seit zwei Monaten tot, mein jüngster Bruder ist noch keine elf und ich bin achtzehn. Seit sieben Jahren krank, bettlägrig seit März, von unseren zwei ältesten Schwestern gepflegt, bedauert sie, die an allem Historischen Interessierte – unser ältester Bruder ist seit beinahe dreißig Monaten als Soldat in Algerien –, das Chaos, die Schwäche der Regierung am Ende der Vierten Republik, und freut sich über die ersten Anzeichen der Rückkehr von Charles de Gaulle.

Eines Morgens, ich bin gerade mit dem Fahrrad aus dem Ferienlager in der Touraine zurückgekommen, gehe ich auf ihre Bitte hin aus unserer Mansarde, die mein Bruder und ich über der Wohnung im Dorfzentrum zusammen bewohnen, nach unten, wo sie an einer Rippenfellentzündung erkrankt im Bett liegt: Sie möchte mit mir über das Thema eines meiner Ferienaufsätze sprechen: „Die schöpferische Einbildungskraft“. Will sie sich etwa vor ihrem Tod meines Entschlusses versichern, mein Leben der Kunst zu widmen? Mir, der ich um ihr Leiden weiß, mir jedoch den Tod nicht als Ende vorstellen kann, ihre Angst aber auch ihren Stolz zeigen, sie, die die Welt nur durch das Heilige begreift, durch die heiligen Diener des Glaubens, der Nächstenliebe, der Tapferkeit und der Schönheit, Künstler, Helden und Heilige, berühmte und bescheidene, und die umso mehr Terror, Revolte und Abscheu verspürt – Todeslager, Vernichtungslager –, um mich mein Leben, mein Schicksal, unsere Familienehre einzig um der Inspiration willen aufs Spiel setzen zu lassen?

Noch bevor ich an die Tür ihres zu jeder Jahreszeit lichtdurchfluteten Zimmers klopfe, das auf die Kirche vor einem dunklen Berg geht, weiß ich, dass sie sich vor dem Spiegel, den ihre Hände kaum mehr halten können, ihr schon ein wenig ausgemergeltes Gesicht pudert und ihre Haare zurecht macht, schwarz, dicht und glänzend wie die ihrer Brüder und Schwestern; beim Schlag der Glocke, die Tag und Nacht jede Viertelstunde läutet, trete ich ein – die Scheiben hinter den Gazevorhängen erzittern von diesem Taufgeläut; auf dem Kamin gegenüber des Bettes Gegenstände aus Polen und Russland; über ihr an der Wand in einem Schrein aus schwarzem Mahagoni eine Muttergottes aus vergoldetem Metall; unter den Büchern auf dem Nachttisch auch Olympio oder Das Leben des Victor Hugo von André Maurois, das mein Vater und sie gekauft haben, um darin nachzulesen, was man mit einem Dichterkind tun soll; rechts neben dem Bett ein Schrank mit diamantförmigem Relief, den wir, wie den Wohnzimmersekretär im Empirestil, nicht öffnen dürfen, und in dem sich anscheinend in einer versteckten Schublade eine Kassette mit Geld für laufende Ausgaben befindet.

Ich setze mich ans Bett, die Blätter mit dem Aufsatz gezückt; ihre Schultern und ihre Brust sind leicht entblößt; im Bett habe ich sie nur liegen gesehen, als wir sie mit meinem Vater am Neujahrsmorgen mit einem Kuss begrüßten, und als sie Ende Mai 1942 meinen Bruder zur Welt bringt, den sie an sich drückt, Schulter und Brust schon zur Hälfte entblößt steht sie vor uns wie zu Christi Geburt, und ich, zweieinhalbjährig, strecke weinend die Arme nach ihr aus, doch sie umschlingt das Neugeborene.

Uns streift der kreisende Lichtkegel des roten Positionslichts eines verspäteten Touristenboots, François’ Mund steht immer noch offen, der Schein auf seinen leuchtenden Zähnen, ich schließe die Augen, öffne sie wieder: Vom unteren Teil des Brückenbogens her hat sich hinter meinem Kopf eine Gestalt herangeschlichen; ich drehe mich im Schlafsack um und richte mich, die Ellbogen auf dem Pflaster, auf. Aus einem Kleiderhaufen zieht die ungeschickte Hand eines nackten, vernarbten Arms die Lumpen nach oben, etwas schnüffelt dort; ich folge der Hand bis zu großen, wulstigen Nasenlöchern, in denen ein Finger mit dreckverkrustetem Nagel bohrt; weiter oben, unter den hochgeschlagenen Klappen einer Soldatenmütze lockige, ein wenig fettige Haarsträhnen; Wimpern, so lang, als seien sie falsch, flattern über der Wange, die im roten Schein rosig glänzt; da bohrt sich der Finger hinein: Läuse?

Wegen der Entbehrungen und der Rationierung erkranken während der deutschen Besatzung und in der frühen Nachkriegszeit mehr Körper an Krätze als zu Friedenszeiten; in der Grundschule kratzen sich viele am Leib, dicker Kopf dünne Beine, von der Rachitis geschwächt; in den Klassenzimmern und den Schulhöfen verbreitet sich das Läusepulver.

… Der ganze Körper bewegt sich, kriecht unter den nun wieder verstreuten Kleiderhaufen, durch den Gestank der getrockneten Pisse wittere ich einen Geruch von Parfüm und Schmutz, der zugleich nach etwas Unbekanntem duftet; ist es der Geruch des Ergusses, den uns manche von uns, wenn sie am Sonntag­abend ins Pensionat zurückkommen, als den Geruch der Intimität, des Geheimnisses der Mädchen beschreiben, wenn sie prahlen, gesehen zu haben, wie sie auf Tanzfesten im Dorf und in den Vorstädten von jungen Arbeitern „rangenommen“ ­werden? Das Gleiche, was ich vor drei Jahren auf der Rückfahrt aus England im Laderaum der Fähre am Tampon des schlafenden Mädchens gewittert habe?

Die Läuse springen auf die Haare in den Nasenlöchern, auf den Flaum, der zwischen ihnen und dem Wulst der dicken, frischen Lippen wächst, die in einem Albtraum erzittern, in dem es zu sprechen, rettende Worte zu finden gilt, um dem Monster zu entkommen. Weiter unten wölbt sich schnurrend wieder das Gesäß, unter dem Lumpen sehe ich Shorts, deren Falten im Lichtschein des still stehenden Schiffes rot schimmern, sie eng umspannen, bis vorne durchlöchert, in der Verjüngung der Schenkel der Hosenladen, aus dem ein Knopf hängt; die Verbindung Hosenladen Hosensaum ist zerrissen, Schamhaar quillt hervor, am Schenkel presst der Stofffetzen einen haarigen Wulst zusammen; eine Bewegung zieht das rechte Knie zum Bauch, durch die Löcher erblicke ich den unteren Rand des Hinterns, die verschmutzte, verkrustete Linie des Spalts zwischen den Pobacken bis zu dem Organ, an dem das zähflüssige, feuchte Fell im roten Schein des Schiffes schimmert, das eine Rauchwolke ausstößt und wieder anfährt; das Ungeziefer belegt den Lumpen; weiter oben rührt sich wieder der Körper, in dem Haufen bewegt sich ein Arm nach oben, über Brust und Kopf hinweg klammert sich die Hand ans Pflaster; aus den Resten eines weißen Hemdes quillt unter den Fetzen einer roten Weste eine weiße Brust mit brauner Brustwarze und schmiegt sich zwischen die Pflastersteine, die andere ist frei; ein Lid öffnet sich, das Auge blickt erst auf das Pflaster, dann auf mich; groß, blau; der Arm verdeckt es, ein zerschnittenes Handgelenk… weiter unten, ich richte meine Brille, hüpft wieder das Ungeziefer, doch nicht wie die Läuse und Flöhe, deren Liebesspiel ich als Kind am Ende der Besatzungszeit auf den Nacken meiner Banknachbarn beobachten konnte: Was ist das für Ungeziefer, mit dem das Mädchen sich abfindet, das es sogar zum Schnurren bringt?

 

Aufwachen inmitten des Brausens, Hupens, der Sirenen, ­Glocken, des Gebimmels, Geschreis, der Pfiffe, leere Taschen, Ausweis, im dünnen Geldbeutel nur vereinzelt Fotos, wo und was essen? Sich waschen an einem Brunnen in den Tuilerien, wo Elendsgestalten ihre Hunde entlausen und baden. Der Hunger zerreißt uns die Eingeweide, so gehen wir in Richtung Place Clichy, die Vorhänge der Jahrmarktbuden öffnen sich: falsche Monster, Stripperinnen, deren Leiber wir beinahe vibrieren hören, junge und nicht mehr ganz junge, selbstbewusst, im noch kühlen Luftzug; als er uns von unserem Hunger erzählen hört, nimmt ein Mann uns mit, hinter die Vorhänge, in einen Raum, wo er, nachdem er vor unseren Mündern ein Aufnahmegerät aufgestellt hat, unsere sich kreuzenden Stimmen wiederholen lässt und aufnimmt, was er uns hat sagen hören; ein kleines Entgelt – wenn wir ihm in eine ansteigende Gasse bis zu einer Tür mit vergoldetem Rahmen folgen, ein großes Entgelt: Endlich einmal schlagen unsere Herzen unisono, seins langsam, meins stoßweise, François bewegt den Zeigefinger von links nach rechts. Der Mann steckt das Geld wieder ein, das er in seiner geöffneten Hand hatte schimmern lassen, doch warum schlägt er nur mir vor – sehe ich denn wirklich aus wie ein Dichter, ich, der ich mir das Gesicht einer Hure wünsche? –, für seine Mädchen ein paar aufreizende Sprüche zu verfassen: gegen frisch gedruckte Scheine, deren Duft mir in die Nase steigt? Doch François zuliebe, der enttäuscht ist, nicht der Auserwählte zu sein, lehne ich ab.

 

In Eile essen, das Viertel wechseln; zurück zu Les Halles; Abfall, Gemüse, Fleisch, überall, auf den Auslagen, das frische oben, unten das weniger vertrauenerweckende; zwischen den Ständen fliegender Eisverkäufer angebissene Waffeln – wir sammeln sie auf, beißen ab; die ein, zwei Tage Hunger schärfen die Sinne, stärken den Willen; ein fetter Mann mit hochrotem Gesicht in einer Lederschürze lässt uns im Hinterhof seiner Wirtschaft Kisten aufräumen, und dann soll ich, mit „etwas Fantasie“, sein Menü verfassen, doch vor dem Essen, als ob er verstanden hätte, wie der Hunger die Einbildungskraft nährt, die ein voller Magen einschläfert; zwei Teller Hachis Parmentier, dann, wegen unserer Gier, für uns zwei zusammen noch einen dritten; über der Bar bringt das Radio nochmals den Ausschnitt der jüngsten Pressekonferenz, auf der General de Gaulle den Aufständischen in Algerien einen ehrenvollen Frieden anbietet.

 

Zu Schulbeginn müssen wir nach Lyon zurück, ohne Fahrschein, ohne Geld; wir trampen ab Porte d’Italie; ein Lastwagen nimmt uns mit und setzt uns abends in der Bourgogne, am Ufer eines Kanals bei Bekannten des Fahrers ab, der weiterfährt, um Fleisch aus dem Norden in den Schweizer Jura zu liefern; kleines Haus, mächtige Schleuse, die Kinder kommen atemlos zurück vom Fischen; in der Dämmerung wird ein Lastwagen kommen, der am späten Morgen in Lyon sein soll.

Zwischen zwei Manövern der Schleuse ein frühes Abendessen, Eintopf, Landwein, die Kinder müssen ins Bett, rennen um uns herum; der junge Ehemann, zur Versorgung der Familie vom langen Wehrdienst befreit: Seine eigene Familie und seine jüngeren Brüder und Schwestern, einer von ihnen ist mit 18 nach Algerien eingezogen worden –, ein Feuermal auf seinem starken Nacken nahe der Schulter, geht hinaus, kommt mit einer Natter zurück, grün mit gelbem Bauch, trägt sie auf seinen Handflächen: Das Baby an der Brust seiner blutjungen Mutter zuckt, doch mit einem Lächeln auf ihren kleinen rosa Lippen  drückt sie mehr Milch aus ihrer Brust. Mit einer Stimme, die zum Rauschen des Wassers da draußen passt, ihren Blick auf den seinen und den ganzen Rest des Körpers gerichtet, erklärt sie uns, dass er neben seiner Arbeit als Schleusenwärter für das Institut Pasteur in Paris Schlangen sammelt, dass wir heute Nacht über seinem Lager schlafen werden; die Natter windet sich um einen Arm, er hebt sie an seinen Hals, wo sich das Tier zusammenrollt, den Kopf unter dem wohlgeformten Ohr, an dem ich den Atem und die Worte des Gatten höre, Liebesgott, auf dem Kopfkissen; nun zieht er die Kleinen aus der Tasche seiner Matrosenjacke, junge, noch unbeholfene Nattern, die sich aber schon um seine Handgelenke wickeln können; Natternweibchen oder -männchen? Zu wenig Gift in den Fangzähnen hinten im Kiefer, ein Haustier, zur Eingewöhnung von Kindern und Besuchern. Nach dem Pariser Dreck nun also Kontakt mit dem Reptil. Zuerst den Körper des Tieres berühren, während der Mann den Kopf festhält, ich nehme es zu weit unten, am Schwanz, die Schlange zieht sich zusammen, ihr aus der Faust hervorstehender Kiefer sperrt sich auf, und er – sein Atem riecht nach Wein, selbst in einem Satz ohne „r“ erkenne ich den Akzent meines Großvaters aus Autun, Rue aux Rats – zu mir: „Du hast ihr Geschlechtsteil berührt, es ist ein Weibchen und du hast ihr wehgetan.“

Daraufhin die kleine Frau – uns durch ihr Alter so nahe, doch durch ihren Zustand so fremd: „Lass ihn, du übertreibst, so sehr hat ihr doch gar nicht wehgetan!“

Die kleinen Nattern werden ungeduldig, der Mann, die Natter um den Hals gewunden, gibt ihnen Milch aus einer Schüssel, die die Frau, das Baby im Arm, aus der Küche geholt hat, wo das Fensterchen auf den Kanal hin geöffnet steht.

Mit den kleinen Nattern in der Tasche führt er uns in einen Schuppen unter einer großen, im aufkommenden Wind zitternden Buche, unten, zu ebener Erde auf Brettern, die auf festgestampfter Erde liegen, stehen die engmaschigen Käfige, in denen sich die Vipern winden, das Gift durch die Gefangenschaft noch stärker; eine Leiter führt nach oben, wo Sommerstroh den Boden bedeckt; wir öffnen unsere Schlafsäcke und breiten sie aus; der Ehemann hat die kleinen und die große Natter wieder in ihren Käfig gesteckt und schließt hinter sich die Tür; durch ein Loch in der Lehmwand sehen wir, die Lichter im Haus und jene der Schleuse erlöschen; es ist windig, wir hören das Knarren der Äste und, zwischen den Böen, unter der Strohschicht, die einen Rest sommerlicher Wärme ausstrahlt, das Gewimmel der Schlangen in ihren Käfigen, Männchen zu Weibchen.

In dieser Ruhe, im Schutz des vergangenen Dufts des nährenden Getreides – Versteck der verbotenen Liebe, Blut auf dem Gold, Zufluchtsort der Verfolgten –, wir sind gesättigt und schlafen bald ein. In meinen Träumen erscheint mir die Viper, die ich nach der Bibellektüre mit unserer Mutter „Athalie“ genannt hatte, wie die Königin Judäas, Apostatin des Einzigen Gottes, Verehrerin Baals, Idol des Feindes, dessen Name allein schon dämonisch anmutet, Kinderfresser, Lügner: Im Sommer hängt sie aus einem Loch in der Mauer hinten im Garten, tagelang, dunkelrot schimmernd, reckt von Zeit zu Zeit ein Drittel ihres Körpers und hält ihn gestreckt, es glitzert der Kopf und vibrierend züngelt die Zunge, denn irgendwo in den Blumenrabatten, in weiter Ferne, zuckt ein kleines Nagetier oder ein Sperling, magisch zieht es sie hin, rasenden Herzens, auf es los, die Zähne hineinschlagen, es erlösen von der Qual, um seines Fleisches Willen gierig, sein Leben zu fristen; in den Dachziegeln rüttelt ein Windstoß, als er sich legt, höre ich Stimmen, Männchen und Weibchen, verschlungen; ich schlafe wieder ein, im Sonnenaufgang wird der Wind nachlassen.

 

Nach dem Aufstehen helfen wir dem Ehemann, die Käfige in seinen Laster zu laden. Bei Tisch dampft der Milchkaffee; das Baby saugt an der Brust; durch das Schweigen des Paares kann ich es saugen hören; sie, ihr zerknittertes Gesicht über der strahlenden Brust wiegt sich vor und zurück, die Lider gesenkt, er, in seiner Stimme noch ein Zittern; das Auge des Babys, dessen Mund sich von der Brust gelöst hat, wandert schon von einem Blick zum anderen; vom Kanal her die Sirenen der Kähne; nichts ist verlässlicher als Verpflegung, Säugling, Volk.

 

Der Sattelschlepper bremst am Hang: Sie hat den Säugling wieder in die Wiege gelegt, berührt in weißem Hemd und roter Hose die Riemen der Rucksäcke, die wir geschultert haben, und bläst ein wenig Dampf aus ihren frisch geschminkten Lippen; vor ihrem so sauberen Körper, der sich dem meinen, beinahe ausgewachsenen, nähert, lassen meine Muskeln nach – in dieser duftenden Wärme, wie früher, wenn ich mich meiner Mutter näherte, um mit ihr zusammen die gleiche Seite zu lesen und ich ihr Gehirn diese nach und nach sich vorstellen hörte; doch hier sind es die hervorstehenden Brüste, ihre Rundung, der Abdruck der Brustwarzen, die Spur von Milch auf dem leichten Stoff und eine von weiter unten hervorströmende Wärme, ihr Erschauern im wiederkehrenden Licht, ihr Atem in den geballten Fäusten. Wie, in der Nähe dieses nährenden Leibs, der jederzeit umarmt, penetriert werden könnte, nur das erschaffen, was ich will, da ein einziger Blick von ihr jegliche schöpferische Spannung erschlaffen lässt, in meine innere Vision eindringt und dort die ganze geheime Kraft aufweicht, sie vergewaltigt; und die Lust an Stelle des Begehrens.

 

 

Laideronnette

In der Hitze Mitte Juli 1959 atmet die von den Gummizügen befreite und in meinen Armen geschüttelte Pappe einen Duft nach Kurzwarenhandlung, der durch den der Schenkel Laideronnettes, die ihn gepackt und verschnürt hat, noch einmal verstärkt wird.

Die Rue Marie-Rose ist leer – auf dem Weg durch eine der Nachbarstraßen habe ich aus dem geöffneten fünften Stock zwischen an den Fensterläden hängenden Pflanzen die Arpeggien des Mignon aus Robert Schumanns Album für die Jugend spielen hören, die mir Mutter auf unserem Pleyel beigebracht hatte, und ich stelle mir vor, wie er sie komponiert, mit einem seiner vielen Kinder auf dem Schoß, das die höchste Note jedes Arpeggios anschlägt, aus dem sich die Melodie zusammensetzt.

 

Siebter Stock ohne Lift. Unter den Kippfenstern des Treppen­absatzes dort oben eine offene Tür, eine Nähmaschine schnurrt, ein geschäftiges Mädchen mit Zöpfen ordnet Ballen auf dem Boden, auf den ich den Karton mit Knöpfen, Borten und Stickereien stelle; aus der Mansarde eine müde und heisere Stimme: „Gib’ dem jungen Mann eine Minze…“, mit zwei von Nadeln schon ganz zerstochenen Fingern befühlt und betastet die Kleine den Kragen des Blazers, des letzten Kleidungsstücks, das meine Mutter für mich ausgesucht hat und den ich in der Hitze anbehalte, wenn ich mit der Solex die Lieferungen ausfahre; zwischen den Pantoffeln mauzt eine weiß-gelbe, trächtige Katze: „Seit die Flugzeuge vorbeigeflogen sind, fürchtet sie sich… es ist niemand mehr im Haus, alle sind sie bei der Parade“; nachdem ich das Glas geleert und die Kleine so fest an mich gedrückt habe, dass sie erblasst, gehe ich wieder hinunter; gegenüber der Solex auf dem Bürgersteig ein Fenster, dessen Läden von einem plötzlichen Windstoß oder vom Rückstoß der Erschütterung der Überschallflüge offenstehen: Aus der schmutzigen Öffnung riecht es nach Sonnencreme, ich blicke hinein und lausche: Nackt und weiß hängt ein Fuß von einer roten Form auf einen Fransenteppich herunter, der Klang einer Schallplatte, die sich im Halbdunkel ohne Musik dreht. Mein Blick durchdringt die Dunkelheit wie beim Eintritt in eine Kirche; von vorne wandert er die Zehen hoch, die Staubspur an der Ferse, den Knöchel, die lange Wade, das gestreckte Knie mit deutlich hervorstehendem Gelenk, den pickligen Schenkel, das nackte Fell, das schwarz, blauschwarz und glänzend über dem sichtbaren Relief des Organs lockt; darin verfängt sich ein Finger und schiebt die roten Wülste bei Seite; zwischen mageren Hüften atmet ein schlanker Bauch; ein muschelförmiger Nabel, dann weiter die Brüste, klein, hart, ihr Zittern im unregelmäßigen Atem bringt die Brustwarzen zum Glänzen – von welchem Licht, von hinten oder aus einer Ecke des Zimmers? –, die die zwei beringten Finger der anderen Hand nun nicht mehr kneten; grauweiße Brust, wie ein nacktes Rohr steht der Hals hervor, rundes Kinn, stark gezeichnete Lippen, auf der unteren ein brennender Zigarettenstummel, lange falsche Wimpern schlagen auf die Wangen; der kleine Körper zuckt im Traum oder wegen eines Flohs; unter frischen Fransen, gelockt, blau-schwarz mit schaumigen Reflexen, eine glatte, glänzende, hohe, runde Stirn. Im Inneren scheint alles Ordnung zu sein, Willen, Begehren, Vergangenheit, Zukunft, selbst die Träume: wegen eines Traums oder eines Hauchs aus einem Inneren, dessen Tiefe sich mir verschließt, doch dessen Nachgeruch ich kenne, Internat, baldiger Wehrdienst, öffentliches Exkrement, Cresyl, was weniger auf eine Privattoilette schließen lässt, als auf einen öffentlichen Abort, ein Hinterhofklo, dreht sich der Körper nach rechts, die Rundung der Pobacken erhellt die rote Form als eine aus dem Bett gleitende Daunendecke, eine Falte des Lakens, die blau gestreifte Nackenrolle, ein Stuhl, an dessen gerader Rückenlehne oben eine Unterhose hängt, sehr kurz, rosa, ohne Spitze, ich suche den BH, aber auf der rechten Seite der gleichen Rückenlehne bewegt sich leise eine Unterhose, weiß, ebenfalls kurz, doch mit einem Spitzenrand: Ein Schatten tritt vor der Wand aus dem Halbdunkel im Hintergrund hervor, ein Körper erscheint, nackt und sehr weiß, vor einem Pelz, so schwarz wie der im Bett, reckt sich ein Glied, wird von einer barschen Hand heruntergedrückt, der Körper krümmt sich, eine Hand hebt den Arm des Plattenspielers, den ich nicht sehen kann, die Platte bleibt stehen und der Klang des sinnlosen Drehens hört auf; eine lang gezogene Kruppe, eingefallene Pobacken, das Gesicht wendet sich zum Spalt der Fensterläden, gleicher Mund, gleiche Nasenlöcher, gleiche Stirn, gleiche Fransen, nur die Augen ohne falsche Wimpern, groß, direkt, die Pupille tiefschwarz, Wut, weiß rosa blau, doch gerunzelte Stirn; etwas breitere Schultern, Flaum über der Oberlippe, um die flachen Brustwarzen, den Bauchnabel, dicht in der Achselhöhle, von dem Geruch nach abgewischtem Exkrement bewegt sich der Körper auf dem Laken, das Bein mit dem fülligen Schenkel streckt sich, der Fuß sucht am Rand der verblassten roten Daunendecke, ein Gähnen endet mit einem kleinen Rülpser, der stehende Körper öffnet sich, breitet die Arme aus, legt die Fäuste über dem Kopf zusammen, flaumige Achselhöhlen, geht in die Knie, der Körper stürzt auf die Matratze, auf das Mädchen, seine Zwillingsschwester, die beiden Körper schmiegen sich aneinander, seine Beine, haarig, ihre, glatt, kreuzen sich, reiben sich, ich höre ihre Münder sich küssen, die Spucke glucksen, die Zähne klirren, die Hände greifen, drücken, streicheln, suchen, graben, Härchen aneinander reiben, Gelenke sich anspannen und entspannen, ­aneinanderstoßen, Häute hochgeschlagen, gleiten, die lange Kruppe sich heben, die schmalen Pobacken sich nach unten bewegen, nach oben, nach unten, den Flaum an der Wölbung von Schweiß glänzen, das Mädchen sich, ermattet, auf die rote Seite fallen lassen, ich höre Wimmern, ersticktes Hecheln, Stöhnen, leises, lautes Lachen – wer von beiden furzt da sanft?

Mein Geruchssinn folgt dem von Nachbeben gefolgten Lendenstoß bis die Körper sich voneinander lösen; zöge ich mich aus der Öffnung zurück, würde sich das die beiden umspielende Licht verändern und er würde den Kopf nach der Straße wenden, bliebe mir dann genug Zeit, um die Solex zur Kreuzung zu schieben?

Doch mit geballter Faust stößt sie seine Brust zurück und sinkt in die Tiefe der Matratze zurück: Zwingt sie ihn, sein pralles Glied zurückzuziehen? Ihn sehe ich besser, seine Lenden zucken, sein Mund öffnet sich wieder, stößt einen leisen kehligen Schrei aus; als ihre Handgelenke aufeinandertreffen, sehe ich zwischen ihren Pelzen nur einen roten Glanz, er will sie wieder nehmen: Sie setzt sich mit einer Bewegung ihrer Lenden wieder auf, lässt sich zur Seite rollen, auf die Daunendecke, die auf dem an das verfaulte Parkett genagelten Rest des gelben Linoleums liegt, geht in die Hocke, kriecht auf allen Vieren nach hinten, ihre hohen Hinterbacken verschwinden im Halbdunkel, ich versuche, dort nicht schon das sich öffnende Loch zu sehen, aus dem das Exkrement hervordringen wird, doch ihr Gesicht, dem durch die Fensterläden dringenden Licht zugewandt, strahlt, eine Brust ist durch den hängenden Arm verdeckt, die Augen stehen weit offen, Pupillen und Hornhaut glänzen, – hat sie mich gesehen, und wozu dieses Gewackel mit dem Hintern und der an ihrem Mund glänzende Schaum? Was hat sie im Spalt zwischen den Vorhängen von mir gesehen? Haare, Stirn, Augen, Brille, Nasenlöcher, Mund, Kinn, entblößte Brust… der Unterleib wird durch die Wand verdeckt.

Er sitzt auf dem Laken, die Vorderarme auf den angezogenen Knien, erigiertes Glied an den Falten unter dem Bauchnabel, neblige Augen im Rauch der Zigarette, die seine schwere Hand zitternd hält, Stimmbruch, durch das ganze Zimmer hallend: „… Du wirst schon sehen, mein Schatz!“

Was für wilde Kinder, die aus einem Inzest zwischen zwei Defäkationen auf einem Hinterhofscheißhaus geboren werden!

Er senkt seine langen Wimpern und knabbert an seinen Kniescheiben.

 

Ich ziehe mich zurück, nehme wieder die Solex, fahre bis zur Avenue Bosquet, wo ich einer alten Privatiere helfe, einen Krimi zu schreiben. Durch das mit Samt ausgeschlagene Treppenhaus gehe ich in den zweiten Stock; mir öffnet das Mädchen, eine kleine Blondine, ihre Brüste duften nach ihrer Küche – von der ich gerne essen würde, mit den frischen Fingern, die es zubereiten –, führt mich, weißbeschürzt, ins Hintere der weitläufigen Wohnung, die mit Ahnenporträts aus dem 19. Jahrhundert dekoriert ist; vor einer schweren Staffelei sitzt in einem Erker mit rot-gelb-grünen Fensterscheiben eine alte Frau mit einem schwarzen Band um den Hals und Pinsel in der erhobenen Hand; ich gehe um einen Tisch aus schwarzem Mahagoni, auf dem eine grüne Decke liegt, auf der eine große Schreibmaschine steht – die ich besser gebrauchen könnte als sie, doch ich habe kein Geld, um mir eine gebrauchte zu kaufen; in einem zylinderförmigen Käfig, dessen Oberteil in der Dunkelheit verborgen liegt, ahmt ein grüner Papagei mit roten Backen die sanften Klänge der gedämpften Einrichtung nach: Husten der alten Frau, Knarren des Parketts, Stimmengewirr auf der Avenue, das Drehen des Pinsels im Mischbecher, meine Schritte: Kurz erschaudere ich in Gedanken an die Umarmung der Zwillinge in der Hitze, die hier größer ist; ich habe meine Krawatte nicht neu gebunden; ich gehe auf die alte Frau zu, die mir, ohne den Pinsel aus der Hand zu legen, die andere Hand entgegenstreckt, die ich küsse, wie ich es, seit meine Größe es erlaubt, seit meiner Kindheit tue: Die Leinwand riecht gut, aber das Bild ist hässlich, eine dicke Kruste Farbe, das Motiv so verborgen, dass man nichts erkennen kann; der Papagei gerät in Aufregung, flattert, beißt in die Luft; ich setze mich an den Tisch, in der Schreibmaschine noch das Blatt mit dem Text, an dem wir zuletzt gearbeitet haben: Ich bekomme Lust, auf ein neues Blatt ein wenig von dem Text zu tippen, an dem ich während meiner Fahrten im Kopf arbeite, um ihn zu behalten; aber schon muss ihre Sache wieder in Angriff genommen werden, die in der Rue ­Montorgeuil spielen soll, durch die sie in der Zwischenkriegszeit einmal nachts mit ihrem Mann, ebenfalls einem Privatier, im Taxi vom Theater zu den Boulevards gefahren ist, und im Milieu der Austernverkäufer, wo sie wegen einer Demonstration beim Rocher de Cancale anhalten mussten; wir entwerfen eine Liebesgeschichte zwischen einem Austernhändler und seiner jungen Halbnichte aus der Bretagne: Den Pinsel in der Hand und den Kopf vor ihrem Bild hin- und herwiegend, schlägt mir die Alte erst einen Satz vor und dann Ideen für einen ganzen Absatz, ich schlage Varianten vor; wenn sie sie annimmt, tippe ich sie; die brüchige Stimme der Alten bringt einen neuen Satz hervor, einen wichtigen, über den sie sich freut, die letzten Worte lauten: „im Herzen der Liebe“, der Papagei wiederholt sie, meine auf der Tastatur schwitzenden Finger tippen sie, doch mit meinem inneren Ohr höre ich: „Angst vor der Liebe, Angst vor der Liebe“ und zugleich das Geräusch der Exkremente, die an den Hinterbacken der Zwillingsschwester in der Rue Marie-Rose bersten, doch mein Mund bewegt seine und ihre Lippen. Am Ende der Sitzung, küss’ wieder die Hand, gehe ich zum kühlen Eingang zurück: dort wartet die Kleine auf mich – was kann sie für eine alleinstehende, nur mit sich selbst beschäftigte Alte bloß kochen? –, in der Hand der Umschlag mit dem Geld, nicht zugeklebt, ich nehme ihn nicht, sie, ihre Wange errötet, führt ihn zum Mund, beleckt seine Ränder, leckt nochmals, drückt die beiden Ränder zusammen; der Kleber wird den Speichel tilgen… den die Hitze getrocknet hätte; das Zimmerchen, in dem sie nahe des Eingangs schläft, steht offen, über einem Berg aufgeschlagener Laken hängt Unterwäsche, hinten im Halbdunkel das Rauschen von Wasser.

 

Ich gehe in die Rue Marie-Rose zurück, geschlossene Läden vor geschlossenem Fenster, ich gehe in den Hinterhof, leeres Scheißhaus, geschlossen.

Ich treffe Freunde, Lieferanten, Studenten, Richtung Vin­cennes, Laideronnette sitzt hinter Liba, Shorts an Shorts, auf einer 125er. Seit ich vor zwei Monaten aus Lyon nach Paris davongelaufen bin, arbeite ich als Lieferant für eine kleine Näherei auf dem Boulevard Montparnasse, die von einem älteren, sehr eleganten Herrn geführt wird, der mich an meinem ersten Tag, hungrig und ohne mir etwas vorzustrecken oder Trinkgeld zu geben, Sandwiches kaufen schickt, die er über seinen Schablonen und Proben hockend verzehrt, doch als er am Abend erfährt, dass ich kein Dach über dem Kopf habe, weist er mir im Hinterzimmer des Geschäfts einen Schlafplatz zu, wo ich auf einem Haufen Segeltuch aber kaum schlafen kann, da mich das Bild meines Vaters quält, der neben dem Elternschlafzimmer alleine in dem Zimmer meines älteren Bruders schläft – der im Westen Algeriens seinen Wehrdienst leistet –, das wir „Zimmer frei“ nennen, seine und meine Angst eng umschlungen.

Nach sieben Tagen des Lieferns von Grossisten, Zwischenhändlern zu Heimnäherinnen in Zimmern in Stadt und Vorstadt, von Palazzos zu Luxusgeschäften, vom Zentrum in die Vorstadt – ein verrußtes, schwarz-grünes Paris, Fabriken, Schornsteine, Rauch –, erschließt sich mir die Hauptstadt und der Kranz ihrer Vorstädte; überall ein kleines Trinkgeld, ein Glas Limonade oder eine Minze; in einem kleinen, uralten Geschäft mit Schirmen, Borten und Kurzwaren in der Nähe von Saint-Roch verweile ich noch ein wenig an der Bar, ein großzügiges Trinkgeld in der Tasche und die Minze getrunken; an den Wänden Fotografien mit Kolonialszenen in Sepia: der Besitzer, ein Limousin mit ­runder Brille, grauer Bluse, Baskenmütze, dessen drei Vettern ersten Grades als kleine Kinder in Oradour verbrannt sind, schiebt zwei rote, von goldenen Ringen gehaltene Vorhänge bei Seite, redet, das Glas in der zitternden Hand: Da steht seine Frau, aus einer nach Frankreich geflohenen vietnamesischen Familie, in einem schwarzen Kleid mit Punkten, rote Mohnblume im schwarzen Knoten, ihre Hand streicht über die Schulter ihrer molligen Tochter, zu Haar werdender Flaum über der Oberlippe, schwarzes Haar, das unter der bebänderten Achselhöhle hervorquillt, unter einem grauen Leibchen aufragende Brüste, kurvige Hüften, auf dem Stuhl, in kurzen roten Shorts mit bis zum Schenkelansatz hochgekrempeltem Saum; von ihrer Nähmaschine hebt sie den Blick zu mir, Blau glänzt im fahlen Gelb zwischen ihren geschlitzten Lidern, die Falte wiederholt sich auf der Stirn; mein Blazer und meine Bildung wecken Vertrauen; später setze ich sie mit nackten Beinen im Luftzug einer Metrolüftung auf meinen Gepäckträger, wir überqueren die Seine; an der Theke des Roten Kreuzes, wo wir, ein paar andere und ich, manchmal unsere Lieferungen tauschen; Liba, ein Pole, dem Priester aus dem Land herausgeholfen haben, läßt mit seiner schönen rustikalen Sprache das Rot ihrer Lippen glänzen…

Unterwegs Richtung Marneufer hinter Lagny, Abendessen in den Satteltaschen; die 125er fährt voraus oder hinter uns her, Laideronnette, die wir wegen des Stücks aus den Contes de ma mère l’Oye und wegen ihres Haars und ihres Schnäuzchens so nennen, legt mit geschlossenen Augen ihren Kopf auf die Schulter des schönen Liba, dessen Lenden man spätnachts glänzend in Saint-Germain aus der Dunkelheit kommen sieht, Zigarettenrauch über seinem Lockenkopf; Schwärme von Ungeziefer kreisen unter den Ästen unseres Badeorts: Hinter dem Tunnel unter der Bahnlinie Metz-Paris geht es kurz den von Rattenlöchern durchlöcherten Felsen zum Fluss hinunter, die Strömung in seiner Mitte ist uns seit Ende des Frühlings vertraut, weiter, ein verlassener, zerstörter Gasthof, Gebüsch wächst an den Überresten der tapezierten Wände, Scherben von Porzellankrügen, angelaufenes Kupfergeschirr an einem Mauerrest, eine Holztreppe windet sich zum geborstenen Dach, Rahmen ohne Bilder oder Fotografien, Feuerstelle voller Exkremente, Schlangenhäute auf Matratzenauflagen. Dort zieht sich Laideronnette mit kleinen Schreien aus; in einem Zweiteiler, nicht nackt, eher knapp bekleidet, schwimmt, atmet sie zwischen uns, wie ich, wie Liba und ich: Sportboote rasen mit Bug in der Luft in der Mitte der Strömung nach Westen, die Wellen schwemmen Jugendliche an den Rand, manche von ihnen sind „von arabischer Haut“, von jener, die damals Angst macht.

 

Vor uns schwimmen Bisamratten, mühen sich ab, die schnurrbärtigen Schnauzen über der Wasseroberfläche, Liba ahmt sie nach, sie kehren um und schwimmen auf uns zu, Laideronnette ist außer Atem, wir müssen zurück zum Ufer, sie, keuchend, zwischen den Löchern aus dem Wasser ziehen, hoch ins Gras: Eine dicke Falte ihres Organs zuckt außerhalb des Saums unter schlammbenetzten Härchen; um den Saum darüber zu ziehen, fasse ich ihn mit den Fingern an, Libas Hand legt sich auf meine, zwingt meine Finger dazu, unter den nassen Stoff zu dringen, mit dem Zeigefinger zuerst den empfindlichen Schlitz unter dem dichten Schamhaar zu berühren… ich spüre, wie ich erbleiche, während Laideronnette wieder Farbe bekommt; ihr ganzer Körper zittert, Libas Finger lösen sich von den meinen; selbst nass riecht sie noch nach Kurzwarenhandlung, ein ­bisschen nach Pelz; ihre runden Brüste beben unter dem bläulichen Oberteil, die eine im goldenen Licht des Vorspiels des sommerlichen Sonnenuntergangs, die andere unter meinem Schatten. Die Hand auf sie legen, wie auf die erleuchtete Seite des Globus und auf seine Nachtseite, Limousin und Vietnam? Die Bisamratten drehen in der Strömung, spürt sie meine Finger auf dem nassen Fell ihres Organs? Der Atem des hockenden Liba, dessen breite Brust noch tropfnass ist, pfeift in meinen Ohren von der Anstrengung des Schwimmens, und darunter, näher, von einem doppelten Begehren: Will er nicht nur, dass ich die Kleine nehme, sondern mich auch dazu verleiten, mich anfassen, mich nehmen zu lassen, nachts, wenn er zum morgendlichen Treffen Rad an Rad mit wütendem Blick zu uns zurückkommt, die Falte seines rechten Mundwinkels bis zum dicken Nasenloch vertieft; die anderen sind im Gebüsch des Gasthofs auseinandergelaufen; hinter dem Maisfeld pfeift ein Zug aus dem Osten; dann im kleinen Tunnel; ich traue mich nicht, meine Finger zurückzuziehen, das Gleiten könnten wir beide, sie und ich, als heimliche Lust empfinden; und auf dem vom Unwohlsein geschwächten, jungen, kolonialen Körper einer Mestizin… der Respekt ist stärker als das Begehren; der Lärm, den das Ende des Zuges verursacht, bringt uns alle drei wieder auf die Beine.

Nach Mitternacht lasse ich Liba in Saint-Germain seinen Schritt richten – doch was weiß ich schon, ich, der seit seiner Jugend von Bordellen träumt, in denen sich der Samen der traurigen gefangenen Jünglinge entlädt, davon, wie ihn die erwachsenen Besucher auskosten, von den Paarungen zwischen Männern, die erregen und feucht machen? Nichts, noch nichts, noch lange nichts: nur einige wenige lästerliche Worte, die allein schon innerlich auszusprechen, die organische Realität zunichtemacht.

 

Während ich am rechten Ufer der erleuchteten Seine durch die Gruppen der letzten Heimkehrer der Nationalfeier fahre, spüre ich, dass mein Vater nach der Rückkehr von seinen letzten Visiten in den mondbeschienenen Bergen zu dieser Stunde in einem weißen Nachthemd in das große Bett steigt, allein, von meiner Flucht gequält, ich spüre, wie er sich anstrengen muss, um hineinzusteigen, sich hineinzulegen, wie seine Muskeln sich entspannen, wie er in seinem Gedächtnis Momente ihrer Liebe kehrt und wendet, Momente, von denen ich nur träumen kann, Momente des Kriegs, der Zeugung eines jeden von uns, des Fötenwachstums im Schoß seiner Liebsten – so nenne ich, fern von ihm, in der Tiefe meiner seltenen schwachen Momente, meine Mutter, seine Frau –, unserer Geburten, unserer ersten Worte, Schritte, sein Mund formt Fragmente des Gebets oder der Ablehnung, bis er im Schrecken seines sich auf die Seite wendenden Körpers einschläft, ohne den ihren zu berühren, wenigstens ihr Abdruck auf dem Laken, da sie aufgestanden ist, um am Fenster vor sich hinzuträumen… doch was kümmert ihn ein großer, unsteter Jugendlicher, der aus seinem Samen entstanden ihm keine Ehre macht, Rhythmus stammelt, Melodien murmelt, jungfräulich, unfähig, sei es aus Langeweile oder weil er immer Besseres zu tun hat, sich länger als sieben Minuten auf Philosophie, Mathematik zu konzentrieren, unfähig, aus größerer Höhe als der eigenen Körpergröße zu springen, ein Mädchen zu besteigen… ich, sein Sohn? Er, gelehrt, verliebt, verlobt, verheiratet, Schwiegersohn, großzügiger Schwager, zusammen mit den anderen Männern des Viertels mit ­erhobenen Händen an der Mauer von Miliz und Gestapo gefilzt, wir, kleine Kinder, gehen über den Platz in den Schutzraum, mit den Gemeindedienern, den Beamten des Kantons, des Departements, den Armen, den Geburtshelfern ganzer Generationen, den virtuosen Heilern von Knochenbrüchen, die wahrer Arbeit geschuldet sind, sieben Jahre Angst an der Seite der erkrankten Mutter, Beschützer seines Vaters, seiner Mutter…

Zwei Tage nach meiner Flucht nehme ich zum ersten Mal im Leben ein Taxi, da man mich gewarnt hat, dass mein Pariser Onkel und er nach mir suchen, und ich befürchte, dass sie mich in der Metro, im Bus oder auf der Straße erkennen könnten, und ich Paris als bedrohlich empfinde, in die Vorstadt fliehe, bei einem Stopp am Carrefour Médicis sehe ich sie die Straße überqueren, sehe meinen Vater taumeln, sich mit der Hand an einem Pfosten festhalten, und ich muss an mich halten, um nicht auszusteigen und zu ihm hinzulaufen; als ich ein paar Tage später wieder in Paris bin, halte ich auf einer meiner Fahrten an diesem Pfosten an, lege die Hand darauf: Wenn es einen Gott gibt, der mein Handeln sieht, so urteile er über meine Seele!

Nach der Pont de l’Alma fahre ich zu mir nach Passy, einer Mansarde Rue Chernoviz; fließendes Wasser eine Etage tiefer, ohne Tisch, ich schreibe auf dem Bett sitzend auf meinen Knien, ein Klappfenster von der Größe eines Buchs. Als ich in die Straße einbiege, sehe ich am Ende der Straße einen Mann in einem Dreireiher in der Hitze vor dem Tor sein Notizbuch hervorholen. Polizei? Gestern habe ich, anderthalb Jahre lang werde ich noch minderjährig sein, meinem Vater einen Emanzipationsantrag geschickt, postlagernd an eine Adresse im Börsenviertel, Freunde haben versprochen, das Terrain zu sondieren, bevor ich dort mit meinem Ausweis vorstellig werde. Soll ich den Rückzug antreten oder hinfahren? Die Autos entlang der Bürgersteige sehen leer aus. Ich mache kehrt, fahre Richtung Trocadéro, drehe dort ein paar Runden mit den Fahrzeugen, bis sich mein Herzrasen etwas gelegt hat, und fahre zurück in die Straße, der Mann ist immer noch da, sitzt auf der Motorhaube eines Autos und raucht eine Zigarre, deren Geruch mich an der Kreuzung von Passy erreicht; auf der Solex fahre ich auf meine Haustür zu; er schüttelt sein Streichholz aus, kommt auf mich zu, streckt mir die Hand entgegen: „Pierre?“; es ist der Detektiv, den mein Vater zwei Monate zuvor mit Hilfe meines Pariser Onkels auf mich angesetzt hat. Er ist jung, und da er mich gefunden hat und sich einer guten Entlohnung sicher ist, will er sich jetzt amüsieren; sein Auto, ein gebrauchtes Cabriolet, steht Rue de Passy; von der Seine dringen Hitzewellen zu uns; auf dem wildledernen Sitz ein durch und durch asiatisches Mädchen, ihre weißen Brüste stecken in einem schwarzen Seidenkorsett und die Flanken in etwas, das man auf dem Dorf noch nicht zu sehen bekommt, einer Jeans, lose schwarze Strähne, auf die sich ein Mund mit grau-rosa Lippen öffnet, und, weiter oben, geschlitzte Lider, die so eng beieinander stehen, dass nur die Mitte der schwarzen Iris sichtbar ist: Will er mich etwa mit ihrer Hilfe an einen Ort locken, wo mein Vater dann mit allen Attributen seiner Wut in Erscheinung treten wird? Ich bringe die Solex vor meine Haustür, klappe den Ständer auf, gehe zum Cabriolet zurück; das Mädchen macht mir zwischen ihnen Platz: Leder, leichter Tweed, Zigarre, ihre Haare, ihre kaum bedeckte verschwitzte Haut, das Mahagoni des Armaturenbretts, alles riecht nach der Verderbtheit der Stadt; ich ziehe die Schultern ein, meine Ellbogen, meine Fäuste, wir fahren durch die geteerte Brise Richtung Étoile; er bleibt stehen, parkt das Cabriolet in einer zu den Champs-Élysées hin abfallenden Straße; sie steigt aus, nimmt meine Faust in ihre kleine, zarte Hand, ihr Fingernagel, den ich rosig, lang gesehen habe, streicht über eine meiner Handlinien; der Portier, ein Jugendlicher mit goldenen Tressen, Pockennarben im leuchtenden Gesicht, hebt den roten Vorhang für uns an; ich möchte davonlaufen: Jäh geht es die Treppen hinunter, golden und rot, ein Slowfox steigt aus dem glitzernden, dunklen Schacht, bis zu den Brüsten entblößte Schultern von Mädchen, Frauen, Rauch, ein schluchzendes Saxophon, das Mädchen steigt die Treppe hinunter, nimmt mich wieder an die Hand, zieht mich mit.