Koma - Pierre Guyotat - E-Book

Koma E-Book

Pierre Guyotat

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Beschreibung

Auch aufgrund des zugesprochenen Prix ­Décembre und einer denkwürdigen Lesung durch Patrice Chéreau in Avignon wurde Pierre Guyotats Buch in Frankreich als ­sensationelle Rückkehr des Autors zu Literatur und Publikum gefeiert. Der Text ­
markiert indes nicht nur ein echostarkes Lebenszeichen, sondern auch einen erstaunlichen sprachlichen Neuanfang mit einer in den darauf­folgenden Jahren äußerst ­produktiven Schaffensphase. Nach Herkunft, dem Bericht eines Kindes, das sich ­angesichts von Krieg und Ver­nichtung und in der Befragung von Glaube und Natur ganz einem Leben als Dichter ­verschreibt, und In der Tiefe, das den engen Zeitraum von nicht mehr als acht Sommerwochen im fünfzehnten Lebensjahr des Autors, zwischen offenem ­Schöpfungsakt und geheimnisvoller Sexualität umkreist, liegt mit Koma nun auch das Buch zu Guyotats langjähriger, psychiatrischer Krise und seiner Befreiung aus dieser vor.


Der als Diktat aufgezeichnete Text bricht mit den Mitteln einer neuen Sprache die Stummheit, den Ekel und die Unmöglichkeit, je wieder »Ich« sagen zu können, auf und zeichnet mit quasi mythisch-biographischen Mitteln einen emphatischen Weg zurück
zu Leben und Kunst.

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Seitenzahl: 174

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Pierre Guyotat

Koma

Aus dem Französischen von Heinz Jatho

diaphanes

Für Pierre Chopinaud, zu Beginn eines schon jetzt schönen Lebens, für seine wache und kluge Assistenz.

Ich danke Diane Henneton, Christophe Constantin und Colette.

Den folgenden Bericht trage ich in mir, seit ich mich, im Frühjahr 1982 einer lebensbedrohlichen Krise entkommen, dazu zwang, wieder in meinem eigenen Namen zu sprechen. Das einzige Gefühl, dessen ich fähig war, war jener Ekel in meiner Kehle und meinem Mund, das Wort „Ich” zu formen und auszusprechen, solange ich noch nicht die Gesamtheit seiner Attribute, und etwas mehr – ich hatte so gelitten unterdessen – wiedererlangt hatte. Wie schreiben, wie überhaupt ans Schreiben denken, wenn man dieses „Ichs” beraubt ist? Ekklesiastes und Hiob dienten mir als Modell für eine Zukunft, die ich nicht sah; am Leben sein, leben; aber wäre es, wenn ich denn zu schreiben imstande wäre, nicht besser, mir wieder meine Figuren – die wirklicher sind als ich – vorzunehmen und ihre Zahl zu vermehren?

In den Momenten, da mir ein wenig von meinem Recht auf Sprache ins Herz zurückkehrte, ein wenig von meiner inneren Stummheit aufbrach, sah ich, vernahm ich diesen Text in normativer Sprache, in Gebetsform, in Klageform, wie ein lindes Bad aus Zorn, wie Improperien im Ton von Palestrina oder Lasso, doch an Gott gerichtet; noch zu nah am Geschehen, um erzählt werden zu können. Dafür müsste ich zuallererst neue Figuren schaffen, müsste in der Ausbildung meiner Sprache und meiner Kenntnis der Welt – und angesichts des Reichtums der anderen – mit meiner Armut vorankommen.

1

Gegen Ende eines der letzten Nachmittage des letzten Jahrhunderts des Jahrtausends stehen wir, Stephen aus Leeds, der aus Hokkaido zurück ist, und ich, im Foyer des Odéon Théâtre de l’Europe in der Warteschlange für eine Sondervorstellung, die die Schauspieler, Tänzer und Musiker der Dörfer Peliatan und Abianbase auf Bali, Indonesien geben, Nachkommen jener Bewohner des einstigen „Insulinde”, die Antonin Artaud im Sommer 1931 an der Kolonialausstellung in Vincennes gesehen hat.

Soeben habe ich die erste der drei finalen Zusammenfassungen der eintausenddreihundertfünfzig Seiten von Progénitures (Sprösslinge) fertiggestellt.

Vor uns ein großes Mädchen, sehr lange rote Haare, in langem schwarzen Mantel – eine Tochter des neuen Ostens?

Wir befinden uns im zweiten Rang des rotgoldenen Zuschauerraums rechts über und schon fast neben der Bühne, sodass wir das Schauspiel, die Körper, die Gegenstände und Instrumente von der Seite her im Profil betrachten.

Ich weiß ein wenig, was Bühne ist, und aufgrund meines teilnehmenden Wesens zittere ich sogleich für die Artisten, für jeden einzelnen, ob Mann oder Frau, deren innere Sammlung oder gewollte Lässigkeit vor dem Auftritt auf der Bühne ich durch den bewegten Vorhang sehen kann. Ich bin weniger als sie oder er, weniger als jeder oder jede dieser Diener und Dienerinnen des Schauspiels, bis ich versuche, mir ihr Leben, ihre Herkunft, die Weise, wie sie ihre Kunst erlernt haben, ihren Geist, ihr Herz vorzustellen: So kann ich mich in meinen Dichtungen zum Diener meiner Figuren machen, die wiederum Diener von jedem und jeder sind.

In der Pause – wo soll ich das ferne Mädchen des Ostens wiederfinden, die Frau, die mir fehlt, seit ich für Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten, das ich auf der ganzen Linie subversiv haben will, um der stärkeren künstlerischen Wirkung willen beschließe, von da ab das Männchen zu unterwerfen (das Weibchen, die Frau ist in dieser Hinsicht zu verbraucht), wobei sich das doppelte Begehren als Schatten (zum Nutzen des Werks, nicht des Lebens), als Monstrum in meinem Inneren erhebt –, in der Pause also murmelt mir, im Gedränge zum Foyer hin, ein großer blauäugiger Gymnasiast, die Brille tief unter einer braungelockten Haarpracht verborgen, zu: „Sie haben die Imagination befreit!”

Ende der Vorstellung. Das während der Vorstellung gedämpfte Licht ist draußen golden und blau. Es ist sehr kalt, überall schon Raureif.

Mit wem soll ich – lächerlich im Vergleich zu dem, was ich als christlich erzogenes Kind mir für mein Leben vorstelle: von den Löwen zerrissen, von einem Stier aufgespießt, von Gottes strafendem Blitzstrahl erschlagen werden; später, als Jüngling, im Bordell zerrissen werden! –, mit wem soll ich, auf der Stelle, um seine Starre aufzulösen, dieses „Glück” fleischlich teilen, diesen Beginn vom Beginn eines Sicherfüllens eines von mir selbst gewollten Schicksals in eben dem Viertel der Stadt, wo ich es mit dem Realen außer mir konfrontiert habe?

Gerade die Vollendung dieses Parcours vom Selben zum Selben, was für ein Schrecken! Und würde der Planet selbst tausendundeinmal zwischen den beiden Punkten wandern, welch ein Elend...

Mit wem? Die junge Frau ist verschwunden... Das Glück hienieden wäre, unablässig zu verführen und zu kopulieren, endlos, ohne ein Nachlassen von Begehren oder Lust; in fast ständiger Verschmelzung – nichts als der kalte Raum, der zu durchqueren ist, um von einem Wesen zu einem anderen zu gelangen, aber um was zu tun? Mein Werk ist auch eine Darstellung dieses Mangels, in der Sprache dieses Mangels. Tag für Tag arbeite ich daran, diese Zwangsläufigkeit bersten zu lassen.

In Bewegung, schnell!

Wir kommen an einem Mann vorbei, der eigene handgeschriebene Gedichte verkauft. Ich kaufe ihm ein Blatt ab und sage etwas weiter die Straße hinunter zu Stephen auf Englisch: „Aber dieser Mann, das bin ich... das müsste ich sein.”

So muss ich auch, um meine Sicht der Welt in meine Dichtungen zu übersetzen und meine Figuren darin erscheinen und sprechen zu lassen, meine Muttersprache verwandeln. Desgleichen muss ich auch oft, wenn ich im Alltagsleben Ideen, Gefühle, intime Erregungen übersetzen will, es in einer anderen Sprache tun als der Nationalsprache; um aus diesem Wort etwas anderes als einfach ein Wort machen zu können: eine Gemütsbewegung, eine Handlung, ein Ereignis, wie man sie im Theater oder im Kino oder in beispielhaften Biographien findet; um einem Wort seine organische Gemütsbewegung zu bewahren – die Emotion des Ereignisses –, die in der natürlichen Sprache nahe am Lächerlichen ist; um endlich zu sprechen, wie man zu sprechen in der Lage sein müsste, von Mensch zu Mensch (im Werk bedarf ich darüber hinaus einer Gründungsszene, jener der Sklaverei, damit das Wort sich erfüllt), von Mensch zu „Gott”. Aber vor allem weil ich im gewöhnlichen Leben die zur Befruchtung des Werks dienende Gabe des Worts nicht gebrauchen möchte, Mensch unter Mitmenschen bleiben möchte, verberge ich zeitweise hinter einer fremden Sprache, mit dem Theater oder dem Roman entnommenen Wendungen und Interjektionen, die ich zu Zwecken des Ausdrucks umarbeiten kann, Worte und Emotionen, die mich als außerhalb des Gewöhnlichen Stehenden erkennbar machen könnten.

Dieser Mann meines Alters, mit löchrigem Mantel, dessen Hände über seinen in regelmäßigen Versen geschriebenen Gedichten zittern, das wäre ich, wenn ich nicht ich wäre. Er ist derjenige, der zu sein mein Werk und nicht zuletzt auch dessen soziale Konsequenzen mich hindern. Das Werk, das ich mache, ist zweifellos in mir und in meinen Händen wie eine Art Fürbitte, die sich zwischen mich und die Welt oder Gott schiebt.

Ich weiß nicht, woher die Gabe kommt, die man mir zuschreibt und die ich immer als eine Ungerechtigkeit empfunden habe, ich weiß nicht, woher ich die Kraft habe, mit der er mich ein Werk schaffen lässt, ich habe mir niemals irgendein Verdienst, irgendeinen Willen zugeschrieben.

Da ich lediglich meiner Neigung gefolgt bin, immer nur meine natürlichen Neigungen ausgebeutet, keine anderen Lehrer als mich selbst und unsere Vorfahren gekannt, immer innerhalb meiner selbst, ohne äußeren Ratschlag, gearbeitet habe, gehört alles, was das Wenige, das zu sein ich fühle, umgibt, adelt, erbaut – dieser Kern, dieser Ursprung (die erste Sorge jeden Denkens ist der Ursprung), dieser quasi embryonale Ursprung, dieser Embryo – der Ordnung des Phantoms an.

Meine Wahrheit ist in diesem Ursprung, nicht in dem, was sich durch Leben, Werk, Ruhm, Legende um ihn herum gegründet hat; vielleicht in einem Vor-meiner-Geburt, in meiner Nicht-Existenz (eher im Ungeborenen denn im Erreichten). Das, was ich vorher bin, das ist es, was zählt; das Danach ist nicht wichtig: menschliche Empfängnis, Geburt, Werk. Anders gesagt: nichts, entweder in der Welt verstreute Gene oder die Absicht eines Gottes.

Ich kann mich noch immer nicht mit der Vorstellung abfinden, dass das Talent – oder auch selbst das Genie – in Betracht kommt. Was ich dem Embryo hinzufüge, ist vielleicht nicht von dieser Welt. Sehr oft, vielleicht zu oft, scheinen mir die größten Taten der menschlichen Geschichte, die größten Werke, die größten Entdeckungen – die ich liebe und aus denen ich meine Kräfte beziehe – nichtswürdig verglichen mit dem, zu was ich den Menschen für fähig halte.

2

Gegen Ende des Jahres 1972, nachdem ich das zweijährige Zusammenleben mit einer Frau krachend beendet habe, treibt mich, während ich am Text eines im nächsten Jahr aufzuführenden Schauspiels arbeite, die sich in mir vollziehende Transformation der Schrift in Sprache auf die Straße: Ob vom Anblick eines fast nackten, ganz weißen Körpers im Klo des Kinos Le Louxor in Barbès in der Pause des Satyricon, gegen den die vollgeschissene Türe schlägt und der von vielen groben, braunen Händen betatscht wird, zum erneuten Anblick der Männer vor den Gängen der Bordelle der Goutte-d’Or – mein vorgeburtliches Vorgefühl fühlt sich vom Gold, dem männlichen Samen meiner sich fortpflanzenden Hurenjungen, bestärkt.

Als kleines Kind bleibe ich auf dem gegenüberliegenden Trottoir stehen, um von der Straße her den bis zu einem Gärtchen im Hintergrund reichenden Flur unseres dörflichen Krankenhauses zu betrachten.

Später betrachte ich andere Gänge mir gegenüber im Arbeiterviertel, Kinder mit geflickten Nachkriegskleidern, die am Eingang lehnen, während andere spielen, sich raufen, sich im Dunkeln umschlingen.

Bei der ersten Rollenverteilung während der Proben ziehen wir François K. hinzu. Als ich ihn kennen lerne, arbeitet er als junger Schauspieler ohne Vertrag auf der Baustelle für den Umbau des großen Bürogebäudes in der Rue de la Boétie. Er ist wohnungslos, lebt und arbeitet an Ort und Stelle. Wir unterhalten uns, er sagt mir, wo er herkommt, erzählt von seiner Mutter, die mit seinem Vater die Économiques Troyens in Chaumont-sur-Marne betreibt und der darüber hinaus auch dem General de Gaulle in der Boisserie die Haare frisiert.

Dann, als ob ich auf der Stelle die Worte, das Gebot meines aktuellen Texts in die Realität umsetzen müsste, frage ich ihn, ob er sich nicht ausziehen wolle, was er, umgeben von den großen Farbeimern, dem Putz, zwischen Schemeln und Planen, mit Anmut tut: Seine Stimme ertrinkt in einem unauslöschlichen kindlichen Kummer, in Speichel, Rotz und Tränen.

Der Geruch nimmt zu, je mehr er sich, seine Augen tief in den meinen, auszieht.

Während der Aufführung – sowohl in der Fassung mit mehreren, als auch in jener mit zwei Personen – sitzt er inmitten der Bühne nackt auf Schlachtabfällen, die wir morgens direkt vor Ort aussuchen: Manchmal muss man auf die Haufen steigen, um unter den aus einer Sackkarre gekippten Fleischstücken, den sich ergießenden Rippen, Knorpeln, Hörnern, Schwänzen, Fellen und blutigen Vliesen das perfekte, das auffälligste Stück zu finden.

Er spricht den ganzen Text mit einer Sanftheit und Heftigkeit, er donnert ihn, stößt ihn aus, singt ihn.

Noch lange Zeit danach leben wir mitunter zusammen. Er schreibt, er zeichnet, manchmal mit seinem Blut, bisweilen ritzt er sich den Körper. Und so ist es eine gekerbte, blutige Haut, die er mir, im Schweiß der Umarmung oder während der gemeinsam erledigten häuslichen Verrichtungen, zu liebkosen gibt.

In manchen Winternächten stelle ich mein Fahrzeug, ein Wohnmobil, in dem ich wieder lebe und arbeite, in Barbès neben der Hochbahn ab, wobei das Heck auf dem Fußgängerübergang steht. Wir umschlingen uns unter den Stößen der den Übergang querenden Menge bei offenen Vorhängen auf der aufgeklappten Rückbank.

Während einer Sommernacht in der Rue des Islettes reißt uns eine Menge von dem Kohleofen los, an dem wir uns mit Mädchen aus dem Maghreb wärmen, hinein ins Innere des Bordells, wo wir uns im Rotlicht in der Enge und unter Schreien umarmen; wieder auseinander, fühle ich einen Schmerz unten am Schenkel, und draußen blute ich. Es ist ein Messerstich, dessen Narbe zehn Jahre später unter der Rasierklinge der Krankenschwester bei den Vorbereitungen für ein stripping meiner Venen zutage treten wird.

Zwanzig Jahre später wird der Körper von François, entstellt und aufgedunsen, auf dem Friedhof Père-Lachaise verbrannt und eingeäschert werden.

Dann, im März 1975, die Verteidigung von Mohamed Laid Moussa, einem jungen Algerier, damals Lehrer in einer Palmenpflanzung, den ich 1968 in der Wüste getroffen habe und der in Marseille des Mordes angeklagt ist; die Vorbereitung seines Prozesses, die ich fast allein übernehme, seine Ermordung bei der Entlassung aus der Haft verstärken meine Präsenz bei seinen Brüdern im Exil: Da man mir vor und nach seinem Tod alle Mahlzeiten spendiert, die ich in den Vierteln zu mir nehme, bleibe ich abends lange in den Gasträumen der Restaurants, wo nach Betriebsschluss manchmal die Stühle zusammengestellt werden und man, sind die Tische beiseite geräumt, einem Sänger zuhören kann, dem der eine oder andere aus dem Publikum den Namen seines heimatlichen Douar oder seiner Verlobten nennt, damit der Sänger sie in seinem Gesang unterbringt. Und jeder schiebt ihm Geldscheine in den Ausschnitt seines Hemds. Ihr Exil ist das meine, in meiner eigenen Sprache. Manchmal beschließe ich die Nacht auf einer Bettstatt im Abstellraum neben der Küche, wo mir die jungen Kellner oder der Koch ganz nahe und unter der Decke Fotos von ihren sehr jungen Verlobten oder der Ehefrau mit den noch sehr kleinen Kindern zeigen.

Bei einem dieser Wirte, er nimmt von mir keine Bezahlung an, erscheint Noureddine, neunzehnjährig, Leuchte der Religion, gebürtig aus Adékar, Große Kabylei, der Einzige, den ich nicht anrühre, weil er später – was ich aber damals noch nicht weiß – unter seinem Vornamen, dann unter seinem Familiennamen, die Leitfigur meiner Dichtungen sein wird, von Samora Mâchel bis heute in Labyrinthe: erst als Hurenjunge, dann als Befreiter, dann wieder als Hurenjunge, wenn auch als Führer seines Begleiters, so doch von einem Bordell ins andere verschoben.

Damals folge ich nach getaner Arbeit jedem x-Beliebigen überallhin. Mein Vergnügen, wie Asmodeus, der Dämon der Sinnlichkeit und der unreinen Liebe, der verbietet, sich der Frau zu nähern, das Leben kennenzulernen und mich ins Getümmel zu stürzen, ist viel größer als das, ein Glück zu genießen, das im Vergleich zu dem, was ich damals schreibe, lächerlich ist, das aber die Umstände, die Orte, die manchmal komischen, manchmal gefährlichen Körper, sehr stark machen.

Mit der Liebe kommen die Drogen. Eines Nachts, um das Jahr 1976 herum, wird mir in einem langgestreckten Atelier in einer Stadt im Norden ein Stück eines über mir von Hand zu Hand gereichten, runden Kuchens mit sechsunddreißig Kerzen (die Anzahl meiner Lebensjahre) angeboten; ich esse. Fast unverzüglich zieht es mich vom Boden hoch, und ich werde, meine Arme an die Lehne des Sessels geklammert, davongetragen. Ich erwache mittags auf der Matratze (dem Strohsack) eines Engels mit beachtlichen Eiern, von der D., der halb so alt ist wie ich, und ich erst drei Nächte später wieder aufstehen, um etwas zu essen.

Noch viel später kann ich nicht verstehen, warum diese Hälfte mit fortschreitender Zeit nicht als solche erhalten bleibt: Sodass er 20 ist, wenn ich 40 bin, er 25 ist, wenn ich 50 bin...

(In den großen Hitzewellen des Sommers 1976 irrt ein Freund, J.-J. Abrahams, L’Homme au magnétophone, gemeinsam mit seinem siebenjährigen Sohn Yaweh, von Passanten ernährt, in seinem 2CV durch Paris.)

Wenn Noureddine in den Winternächten, während der ich auf meiner Matratze arbeite, von seiner Arbeit als Barmann zurückkehrt, kommt er und setzt sich mir gegenüber auf den Stuhl mit seinem angeborenen Geruch nach Zeder, Korkeiche, Wacholder, zerdrückten Oliven und Benzoeharz, den die Kälte, aus der er kommt, noch verstärkt: Er erzählt mir Kamingeschichten von seiner Großmutter und von den Bergen. Er ist es auch, der ich gerne gewesen wäre, einfach, edel und schön wie die Natur und der Handel, mit vielen Kindern in den Lenden.

3

Anfang März 1977 kommt David, ein Freund, der Maler und Photograph ist, zu mir. Ich arbeite damals an Encore Plus Que la lutte des classes (EPQ) – Noch mehr als der Klassenkampf, einer Dichtung, die vom erbitterten Echo der Worte, die ich nachts in den Vierteln höre oder sage, erfüllt ist. Seit ein paar Wochen haben wir den Plan, per Anhalter nach Asien, in die Türkei zum Berg Athos zu fahren.

Ich bin damals so viel mit meinem eigenen Wagen gereist, dass ich gerne einmal in einen anderen steige.

Doch unter meinen Fingern ist da noch das Werk, Stimmen, die ich aus meinen Eingeweiden befreien muss, und so will ich den Aufbruch verschieben. Dann birst in mir, vor meinem Freund, die alte Frage von Werk und Leben.

Seitdem übt dieses Dilemma keine Kraft mehr aus: Je mehr ich physisch in die Sprache eingreife, desto mehr habe ich das Gefühl zu leben; eine Sprache in Worte zu bringen, ist ein Willensakt, ein physischer Akt.

Eine Debatte zwischen Literatur und Leben, ja, vielleicht, aber nicht zwischen dem, was ich schreibe, und dem Leben; denn was ich mache, ist das Leben.

Nichts Schlimmeres für ein mit einigem Willen begabtes Wesen, als eine wohlüberlegte Entscheidung zurückzunehmen – in diesem Fall die Reise zu zweit bis an die Grenzen Chinas. Die ganze innere Ordnung kommt zum Umsturz.

Am nächsten Tag halte ich nachmittags die Klinge des kleinen fischförmigen Messers, das mir meine Freundin Agnès geschenkt hat, an meine Kehle – sie ist schon abgemagert, und die Aorta tritt hervor.

Ein algerischer Freund, der vorbeikommt, packt mich am Arm.

Am selben Abend kommt aus Orléans, wo er wohnt und arbeitet, mein Bruder R., um mich abzuholen.

In einer Ecke des Wohnzimmers sitzend, nehme ich meine Arbeit vor einem gelben Heft wieder auf, fülle die Seiten ganzflächig mit Verweisen und Schriftblöcken, die auf dem Blatt wie eingerahmt wirken.

Ich schreite fort im Klang des Lebens, das ich eben verlassen habe, dem der Nächte, der Hinterzimmer, der Hurenwinkel.

Was ich bis jetzt nur ein paar Stunden, ein paar Tage durchlebt habe, in der Wüste, im Haushalt, das richtet sich in mir ein, schneidet alle meine Gesten von meiner Mitte ab. Nur die Arbeit, die Sprache, die Komposition der Figuren, die Orte, die Akzentuierung einer jeden Stimme gemäß dessen, was sie tut, nur das ist es, was mich in der Nähe zu einer Welt festhält, die für mich nur noch für die fünf Sinne der anderen existiert.

Eines Abends bei Freunden meines Bruders, als alle beim Abendessen sitzen, alle außer mir, der nicht mehr essen kann, steigert das Geräusch von Gabeln, Messern, Tellern die Angst, die mich ausgestreckt hält und alle meine Glieder steif macht.

Wer? Was? Welcher Schock wird mich aus diesem stummen Schrecken herausholen?

Einmal, 1947, während einem meiner ersten Kinogänge nach dem Krieg, berichtet, vor dem Hauptfilm und nach den damals so finsteren wie frivolen „Nachrichten”, ein kurzer Film von der Behandlung und Heilung eines an Amnesie erkrankten Mannes. In einem großen, ein wenig finsteren Saal, niedrig und lang, wie man sie in Goldrausch und Gier sieht, stellen Therapeuten (der Patient selbst liegt völlig bekleidet unter Hypnose auf einem Bett abseits der Szene links vorne) nach Angaben von Bekannten des Mannes (eines Soldaten, der vielleicht von der europäischen oder asiatischen Front zurückgekehrt ist) den Ort und den Zeitpunkt der Verletzung nach; rechts im Hintergrund des Saals brät eine Krankenschwester auf einem Kohleofen Spiegeleier. Das Fett beginnt in der Pfanne zu brutzeln, die Therapeuten legen die Ohren des Patienten auf den Kissen frei, das Brutzeln wird stärker, auch andere Geräusche werden ringsum immer lauter, der Patient – sein Bein beginnt zu zittern, dann sein Körper, dann der Rumpf, endlich erreichen alle Geräusche Maximalstärke – sitzt auf und hält seine Arme nach vorne. Er antwortet auf Fragen zunächst nach seiner unmittelbaren, dann seiner immer ferneren Vergangenheit...

Nach einer politischen Kundgebung, wo der Staub und die Parolen meine Not vergrößern, fällt die Entscheidung, mich einzuliefern.

4

Jean G., der Bruder meines Vaters und ein renommierter Neuropsychiater, bringt mich in die Klinik des Doktor Brisset in Ville d’Avray im Westen von Paris.

Doktor Brisset versteht mich sehr schnell und berücksichtigt meinen Zustand und das Werk, das ich mache. Mein Onkel sagt ihm, dass ich mir etwas antun wolle. Man bringt mich nach oben, in ein ziemlich geräumiges, aber niedriges Zimmer. Mit einem kleinen, vergitterten (geschlossenen?) Fenster, fast auf Deckenhöhe. Mein Onkel beruhigt mich, aber in dem Moment, da er mit der Krankenschwester weggeht, wird mir klar, dass man mich einsperren wird – es gibt eine Art Durchgangsschleuse – und mich betrogen hat. Die Tür wird von außen abgeschlossen, ich bekomme keine Luft. Die Sommerluft... Man bringt mir Essen und bereits Beruhigungsmittel.

Eine zivile Gefangenschaft, viel härter als die militärische, die ich durchgemacht habe.

Am späten oder am darauffolgenden Nachmittag kommen als erster Besuch meine Freunde C. und J., in deren Armen ich weine. Aber ein Marienkäfer mit sieben Punkten öffnet und schließt seine Hautflügel auf C.s nackter Schulter.

Ein paar Tage später holt man mich herunter in ein Zimmer im zweiten Stock. Es hat einen kleinen Balkon aus hellem Holz, auf dem ich wieder anfange, die Geräusche des Sommers zu vernehmen, es hat schöne Möbel, eine Art Schreibtisch, der eine ganze Ecke einnimmt und auf dem ich, als ich eines Nachts jäh auffahrend erwache, sofort das kleine gelbe Heft deponiere. Eine kleine Krankenschwester, rund und fröhlich, Mutter zahlreicher Kinder zweifellos, stellt mir jeden Morgen eine Infusion aus Anafranil und Glukose bereit.