Hermann Kurz - Isolde Kurz - E-Book

Hermann Kurz E-Book

Isolde Kurz

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Beschreibung

Neue Deutsche Rechtschreibung Isolde Kurz ist auch heute noch eine ambivalente Schriftstellerin. Schon in jungen Jahren selbstständig als Autorin und Übersetzerin, war sie eine Seltenheit im wilhelminischen Deutschland. Später jedoch geriet sie wegen ihres Schweigens im Dritten Reich und ihrer altmodischen Sprache in Kritik. Hervorzuheben sind ihre Werke "Vanadis" und "Florentiner Novellen". Isolde Kurz wuchs in einem liberalen und an Kunst und Literatur interessierten Haushalt auf. Anfang der 1890er Jahre errang sie erste literarische Erfolge mit Gedicht- und Erzählbänden. Null Papier Verlag

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Isolde Kurz

Hermann Kurz

Ein Beitrag zu seiner Lebensgeschichte

Isolde Kurz

Hermann Kurz

Ein Beitrag zu seiner Lebensgeschichte

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-962812-27-0

null-papier.de/536

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Wid­mung

Vor­wort

Ein­lei­tung

Des Dich­ters Ju­gend­jah­re

Nach­le­se aus den Ge­dich­ten der Maul­bron­ner Zeit

Das blaue Ge­nie

Ers­te Schaf­fen­spe­ri­ode

Be­zie­hun­gen zu Mö­ri­ke

Der Dich­ter­kreis um Alex­an­der von Würt­tem­berg

Schwarz-rot-gold

Das Brun­now­sche Haus

Hei­rat

In der Fro­ne der Frei­heit

Neue Schaf­fen­spe­ri­ode

Un­se­re Kin­der­stu­be

Ober­ess­lin­gen

Der Fremd­ling

Treue

Letz­te Le­bens­jah­re.

Dan­ke

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Widmung

Paul Hey­se zu­ge­eig­net

Vorwort

Zwi­schen dem An­fang die­ses Bu­ches und sei­ner Vollen­dung lie­gen schwe­re per­sön­li­che Er­leb­nis­se, die die Aus­füh­rung über Ge­bühr ver­zö­gert ha­ben. Zwei Brü­der, auf de­ren Mit­wir­kung und Teil­nah­me an der Wie­de­r­er­we­ckung der ge­mein­sa­men Ver­gan­gen­heit ich vor al­lem ge­rech­net hat­te, wur­den rasch nach­ein­an­der gänz­lich un­er­war­tet vom Gip­fel des Le­bens weg­ge­ris­sen. Die da­durch ver­an­lass­ten äus­se­ren Ver­än­de­run­gen, mehr­ma­li­ger Orts­wech­sel und end­li­che Auf­ga­be ei­nes lang­jäh­ri­gen Wohn­sit­zes ha­ben die Ar­beit wie­der­holt aufs ein­schnei­dends­te un­ter­bro­chen. Bei die­sen jä­hen Um­wäl­zun­gen ging von den seit lan­ge ge­sam­mel­ten No­ti­zen man­ches Wert­vol­le ver­lo­ren, wäh­rend zu­gleich die Durch­sicht al­ter Tru­hen und ver­ges­se­ner Schub­fä­cher un­ver­mu­tet neu­es Ma­te­ri­al zu Tage brach­te, das die Um­ar­bei­tung der schon ge­schrie­be­nen Ka­pi­tel ge­bie­te­risch for­der­te. So wan­der­ten die­se Auf­zeich­nun­gen mit mir von Ort zu Ort, im­mer ver­folgt von den un­er­war­tets­ten äus­se­ren Hin­der­nis­sen, dass es fast schi­en, als ob der Uns­tern, der über mei­nes Va­ters Le­ben wal­te­te, noch ein­mal auf­ge­gan­gen sei um auch das Zu­stan­de­kom­men die­ser Erin­ne­run­gen an ihn zu hin­ter­trei­ben. Erst auf ei­nem ein­sa­men Strand­ge­biet des tyr­rhe­ni­schen Mee­res, ab­ge­schnit­ten von den li­te­ra­ri­schen Hilfs­mit­teln und fast ganz auf mein Ge­dächt­nis an­ge­wie­sen, ge­lang es mir schliess­lich, sie zu Ende zu füh­ren mit ei­ner Eile, die nur noch dar­auf be­dacht war, neu­en Stö­run­gen zu­vor­zu­kom­men. Dies möge die von mir sel­ber am stärks­ten emp­fun­de­ne Un­voll­stän­dig­keit des Bu­ches er­klä­ren. Auch auf eine letz­te Aus­run­dung muss­te ich ver­zich­ten, da die ers­te Hälf­te sich schon im Druck be­fand, wäh­rend die zwei­te ge­schrie­ben wur­de.

Man su­che auf die­sen Blät­tern kei­ne er­schöp­fen­de li­te­ra­ri­sche Bio­gra­fie; eine sol­che lag von vorn­her­ein nicht in mei­ner Ab­sicht, sie ist Auf­ga­be des Li­te­rar­his­to­ri­kers. Mir lag es vor al­lem ob, die mensch­li­che Er­schei­nung des Dich­ters fest­zu­hal­ten, wie sie durch Erin­ne­rung und Über­lie­fe­rung in mei­ner See­le haf­tet, und ich bin auch den kleins­ten Zü­gen nach­ge­gan­gen, ein­ge­denk der Wor­te des al­ten Plut­arch, dass oft eine An­ek­do­te, ein Wort, eine über­lie­fer­te Ges­te für das Bild ei­ner Per­sön­lich­keit be­zeich­nen­der ist, als eine Staats­ak­ti­on.

Auf­fal­len dürf­te es dem Le­ser, dass von dem Punk­te an, wo mei­ne ei­ge­ne Erin­ne­rung ein­setzt, die Ge­stalt mei­nes Va­ters nicht le­ben­di­ger her­vor­tritt, viel­mehr sich hin­ter der Fa­mi­li­en­grup­pe teil­wei­se fast ver­birgt. Dies ist zum ge­rings­ten Tei­le Schuld der Schrei­be­rin. Gera­de für die Zeit, die ich mit er­lebt habe, geht mir der greif­ba­re Stoff der Dar­stel­lung aus. Es war die Zeit nach sei­nem Rück­tritt aus der Öf­fent­lich­keit, wo sein We­sen sich auf den in­ners­ten Brenn­punkt zu­sam­men­zog. Ein lan­ger Mo­no­log, das war sein Le­ben, so lan­ge ich ihn kann­te, er un­ter­brach ihn auch nicht um zu uns zu re­den. Die schwei­gen­de Macht sei­ner fast un­per­sön­li­chen Ge­gen­wart aber konn­te ich nicht an­ders zeich­nen, als in der Um­ge­bung, auf die sie, wenn auch nur lei­se, wirk­te, vor al­lem in uns selbst, sei­nen Kin­dern. Aus die­sem stark vor­tre­ten­den Rah­men, in dem ich sein Bild ein­zig ge­kannt habe, konn­te und woll­te ich es nicht ab­lö­sen. Ein em­por­ra­gen­der Mensch steht ja nicht al­lein im Uni­ver­sum, auch sei­ne An­ge­hö­ri­gen sind ein Teil von ihm. Und wie man auf­wärts in der Ah­nen­rei­he ger­ne die Züge ver­folgt, die sein We­sen ge­bil­det ha­ben, ist es viel­leicht nicht ohne In­ter­es­se, ih­nen auch ein­mal in der ab­stei­gen­den Li­nie noch wei­ter nach­zu­ge­hen. An Her­mann Kurz ist das land­läu­fi­ge Axi­om, wo­nach ein be­deu­ten­der Va­ter un­be­deu­ten­de Söh­ne ha­ben muss, zu Schan­den ge­wor­den: den glän­zends­ten Ge­gen­be­weis hat mein Bru­der Ed­gar ge­lie­fert. Ihn vor al­lem, der so­viel be­geis­ter­te Lie­be hin­ter­las­sen hat, wird man, hof­fe ich, nicht un­gern in sei­ner Kna­ben­ge­stalt hier wie­der­fin­den; ich habe mich dar­um auch nicht ge­scheut zu er­zäh­len, wie sich der Most zu­wei­len ab­surd ge­bär­det hat, der her­nach einen so ed­len Wein er­ge­ben soll­te. Es war des Zu­sam­men­hangs we­gen un­ver­meid­lich, dass man­ches von mir an­ders­wo er­zähl­te hier wie­der­holt und er­wei­tert wur­de.

Den gröss­ten Dank für ge­leis­te­te Hil­fe schul­de ich der Güte des Herrn Prof. Her­mann Fi­scher in Tü­bin­gen, der mir ein rei­ches von ihm ge­sam­mel­tes Ma­te­ri­al an Brie­fen für mei­ne Zwe­cke zur Ver­fü­gung stell­te. Ohne die­se Pa­pie­re wäre mei­ne Kennt­nis vom Le­ben mei­nes Va­ters un­zu­sam­men­hän­gend ge­blie­ben. Ein­zel­ne cha­rak­te­ris­ti­sche Züge ha­ben mir Ju­gend­be­kann­te von ihm ge­lie­fert, de­nen ich nicht mehr dan­ken kann. Für die spä­te­ren Jah­re dienten mir dann und wann Auf­zeich­nun­gen, die mei­ne Mut­ter noch zu sei­nen Leb­zei­ten ge­macht hat. Von ihr, die in un­ge­trüb­ter Geis­tes­fri­sche bei mir lebt, konn­te ich kein hö­he­res Zeug­nis ab­le­gen, als, in­dem ich über­all die rei­ne his­to­ri­sche Wahr­heit er­zähl­te, auch wo ich in der Auf­fas­sung der Din­ge von ihr ab­wei­che.

Das Le­ben ei­nes Dich­ters zu schrei­ben ist kei­ne loh­nen­de Auf­ga­be. Denn den Stoff, aus dem der han­deln­de Mensch äus­se­res Le­ben auf­baut, ver­wen­det der Schaf­fen­de zu sei­nen geis­ti­gen Ge­bil­den. Was für den Bio­gra­fen üb­rig­bleibt, ist dann meist nur ein für die Dar­stel­lung we­nig dank­ba­rer Rest, der zu­dem we­ni­ger den Dich­ter selbst, als die Zeit, in der er ge­lebt hat, cha­rak­te­ri­siert. Dies gilt in be­son­ders ho­hem Grad von mei­nem Va­ter. Wen also der hier ge­schil­der­te Le­bens­gang nicht be­frie­digt, der grei­fe zu des Dich­ters Wer­ken. In ih­nen fin­det er sei­ne wah­re Welt, die Welt, für die er ge­bo­ren war, mit al­lem Glanz und al­ler Fül­le, um die das Le­ben ihn be­tro­gen hat.

For­te dei Mar­mi, im De­zem­ber 1905.

Einleitung

Am 10. Ok­to­ber 1873 hat der Dich­ter Her­mann Kurz die Au­gen ge­schlos­sen. Sei­ne Le­bens­ge­schich­te ist bis zur Stun­de noch nicht ge­schrie­ben. Die knapp um­ris­se­ne, aber meis­ter­li­che Por­trätskiz­ze die Paul Hey­se in sei­nem Vor­wort zu der ers­ten Ge­samt­aus­ga­be der Wer­ke von Her­mann Kurz ent­wor­fen hat, ist noch im­mer das ein­zig zu­ver­läs­si­ge Bild, das von dem Dich­ter exis­tiert. Was von an­de­rer Sei­te hin­zu­kam, war häu­fig eher dazu an­ge­tan, die Züge zu ver­wir­ren, als sie deut­li­cher her­aus­zu­for­men. Es gibt viel­leicht kein Dich­ter­los, das einen grös­se­ren Ge­gen­satz zwi­schen in­ne­rer An­la­ge und äus­se­rem Le­bens­gang auf­weist als das sei­ni­ge. Da er ein Freund astro­lo­gi­scher Stu­di­en, ver­steht sich zu poe­ti­schen Zwe­cken, war, so ver­stösst es nicht ge­gen sei­nen Geist, wenn ich von ihm sage, dass er nach der Kon­stel­la­ti­on sei­ner Ge­burts­stun­de zu den son­ni­gen Ju­pi­ters­kin­dern ge­hör­te, dass aber böse sa­tur­ni­sche Ein­flüs­se frü­he in sein äus­se­res Ge­schick ein­grif­fen und sein Da­sein mit Kampf und Not er­füll­ten. Da­her steht sein per­sön­li­ches Le­ben in tie­fem Schat­ten, wäh­rend über sei­nen Wer­ken der Son­nen­schein des sieg­rei­chen Hu­mors, der un­zer­stör­ba­ren Welt­freu­dig­keit lacht. Die­ses Ge­gen­sat­zes zwi­schen Na­tu­rell und Schick­sal sich im­mer be­wusst zu blei­ben, ist für den nach­ge­bo­re­nen Bio­gra­fen nicht leicht, der für des Dich­ters Per­sön­lich­keit ganz auf die schrift­li­chen Zeug­nis­se, vor al­lem auf sei­ne ei­ge­nen Brie­fe, an­ge­wie­sen ist. Hier fin­det er nur den oft herz­bre­chen­den Be­richt über sei­ne Kämp­fe mit der Aus­sen­welt, aber die Er­gän­zung fehlt, die die Brief­emp­fän­ger in Hän­den hat­ten: das Bild der ge­mein­sam durch­schwelg­ten ho­hen Stun­den und des elas­ti­schen Sie­ges­muts, mit dem der Dich­ter nach je­der Ent­täu­schung sich wie­der auf­rich­te­te; denn was sich von selbst ver­steht, das pflegt man in Brie­fen nicht aus­zu­spre­chen. Wer nun sei­ne Lauf­bahn Schritt für Schritt an der Hand die­ser Zeug­nis­se ver­folgt, um sie in den schrof­fen Aus­sen­li­ni­en wie­der­zu­ge­ben, wie sie sich etwa in dem Brief­wech­sel mit sei­nem Ju­gend­freun­de Ru­dolf Kaus­ler dar­stellt, der ist in Ge­fahr, sein Bild viel zu sehr grau in grau zu ma­len, wie es den meis­ten be­geg­net ist, die über ihn schrie­ben.

Da kann es auch beim wärms­ten Be­mü­hen nicht an Ver­zeich­nun­gen feh­len: der­sel­be Mann, von dem Hey­se aus sei­nen trübs­ten Le­bens­jah­ren be­rich­tet, dass, wer sein Schick­sal nicht kann­te, ihn nach dem Glan­ze sei­ner Au­gen, sei­ner frei­en Hal­tung, der Mil­de und freu­di­gen Kühn­heit sei­nes We­sens für einen der Lieb­lin­ge des Glückes hal­ten muss­te, er­scheint in den Dar­stel­lun­gen der Spä­te­ren nicht sel­ten als ein düs­te­rer, früh ver­bit­ter­ter, knor­ri­ger, men­schen­feind­li­cher Son­der­ling. Es ist ih­nen dar­aus kein Vor­wurf zu ma­chen, sie kann­ten ja nur die Nöte, die ihn be­dräng­ten, und die wach­sen­de Ver­ein­sa­mung sei­ner Man­nes­jah­re, aber nicht die fri­schen Hilfs­quel­len, die fort und fort in sei­nem In­nern spru­del­ten. Hey­se al­lein, der aus dem un­mit­tel­ba­ren Aus­tausch schöpf­te, be­sass noch die Mit­tel, die­ser Er­schei­nung die vol­le Le­bens­wahr­heit zu ge­ben. Aber sei­ne un­über­treff­lich schö­ne Schil­de­rung ist nur ein Um­riss und be­schränkt sich auf des Dich­ters letz­te Le­bens­jah­re. Den spä­te­ren Dar­stel­lern liegt es ob, die von Hey­se an­ge­leg­te Skiz­ze zum Ge­samt­bild zu er­wei­tern. Das ist kei­ne leich­te Auf­ga­be. Es braucht dazu aus­ser dem na­hen Ver­traut­sein mit dem Bo­den Alt-Würt­tem­bergs die ein­ge­hends­te Kennt­nis der li­te­ra­ri­schen und po­li­ti­schen Ver­hält­nis­se sei­ner Zeit. Bei­des steht mir nicht zu Ge­bo­te. Und lei­der bin ich nicht ein­mal im­stand, die­se Män­gel durch eine Fül­le le­ben­di­ger Erin­ne­run­gen auf­zu­wie­gen. Fiel doch mei­nes Va­ters bes­tes Le­ben lan­ge vor die Zeit mei­ner Ge­burt, und der Mann, dem als Jüng­ling von sei­ner dio­ny­si­schen Ta­fel­run­de (S. »Das Wirts­haus ge­gen­über«) das be­nei­dens­wer­tes­te Mund­stück zu­er­kannt wor­den war, re­de­te als Fa­mi­li­en­va­ter fast gar nicht mehr, am we­nigs­ten in den spä­te­ren Jah­ren, wo ich erst zu ei­nem Aus­tausch fä­hig wur­de. Ich kann also auch mei­ner­seits nicht den An­spruch er­he­ben, die Lücke be­frie­di­gend aus­zu­fül­len. Doch gibt mir der Be­sitz von in­ti­men Fa­mi­li­en­brie­fen und man­che er­hal­te­ne Über­lie­fe­rung we­nigs­tens einen Ein­blick in die Zeit sei­nes Wer­dens, und der Vor­teil des ge­mein­sa­men Blu­tes lässt mich hof­fen, man­che Züge sei­nes We­sens rich­ti­ger, als dem Frem­den mög­lich ist, zu deu­ten und so dem künf­ti­gen, bes­ser aus­ge­rüs­te­ten Bio­gra­fen die Ge­sichts­punk­te für die Auf­fas­sung des Men­schen und des Dich­ters Her­mann Kurz zu lie­fern.

Als ich mein geis­ti­ges Auge zu öff­nen be­gann, leb­te mein Va­ter schon wie ein le­ben­dig Ver­schol­le­ner. Ein Bann­kreis um­gab den schwei­gen­den Mann, der ihn gleich­sam von der Mit­welt ab­son­der­te. Es war, als wä­ren alle über­ein­ge­kom­men, von dem, was er der Welt ge­ge­ben hat­te, zu schwei­gen. Die mit ihm jung ge­we­sen, sei­ne Freun­de und Mit­stre­ben­den, hat­te das Schick­sal frü­he stumm ge­macht. Das nach­wach­sen­de Ge­schlecht be­sass in je­ner li­te­ra­risch mat­ten Zeit nicht so viel selbst­stän­di­gen künst­le­ri­schen In­stinkt, um sich ohne Hin­weis von aus­sen für eine ech­te Kunst­schöp­fung zu be­geis­tern. Die po­li­ti­sche Par­tei, der er sei­ne bes­ten Man­nes­jah­re ge­op­fert hat, stand sei­ner rei­nen ten­denz­lo­sen Kunst kühl ge­gen­über. In der Li­te­ra­tur wur­de er gar mit Hein­rich Kurz, dem Li­te­rar­his­to­ri­ker, ver­wech­selt. Die Ju­gend sang sei­ne Lie­der nach den Sil­cher­schen Me­lo­di­en und wuss­te nicht mehr, wer der Ver­fas­ser war. Wir fühl­ten uns wie Kö­nigs­kin­der im Exil, de­ren Va­ter sei­ne recht­mäs­si­ge Kro­ne nicht tra­gen darf.

»Ich bin zwi­schen die Zei­ten ge­fal­len«, sag­te der Dich­ter selbst, wenn er in spä­te­ren Jah­ren sich je ein­mal über sei­ne li­te­ra­ri­sche Lauf­bahn äus­ser­te. Ja, er war zu spät ge­kom­men für die Zeit, wo rein poe­ti­sche In­ter­es­sen im Vor­der­grund des deut­schen Geis­tes­le­bens stan­den. In den bald da­nach aus­bre­chen­den po­li­ti­schen Stür­men ver­stumm­te sei­ne par­tei­lo­se Muse, wäh­rend der Dich­ter selbst zum Kämp­fer wur­de und sei­ne gan­ze per­sön­li­che Exis­tenz für sei­ne Über­zeu­gung ein­setz­te. Nach­dem der Sturm sich ge­legt hat­te, gab es kein li­te­ra­ri­sches Würt­tem­berg mehr, und ein Deutsch­land, das dem Dich­ter hät­te ver­gü­ten und ver­gel­ten kön­nen, gab es über­haupt noch nicht. Un­ter die­ser bö­sen Kon­junk­tur ver­floss sein Le­ben. Als er dann nach sei­nem Tode in den Ge­sam­mel­ten Wer­ken zum ers­ten Mal in ge­schlos­se­ner Ge­stalt vor das Pub­li­kum trat, da wie­der­hol­te sich das »Zwi­schen die Zei­ten fal­len«. Nun gab es zwar ein Deutsch­land, aber die­ses Deutsch­land, das eben erst im gros­sen und gro­ben von dem ge­wal­tigs­ten Werk­meis­ter zu­recht­ge­zim­mert war, hat­te zu­nächst an­de­res zu tun, als äs­the­ti­schen In­ter­es­sen nach­zu­ge­hen, und als es sich end­lich auf die­se wie­der be­sann, da woll­te man in dem neu­en Rei­che al­les neu ha­ben, am neues­ten die Kunst; man leb­te von der Er­war­tung der Din­ge die da kom­men soll­ten und liess sich nur sehr un­ger­ne dar­an er­in­nern, dass es schon vor­dem eine deut­sche Dicht­kunst ge­ge­ben hat­te. Über­dies wur­de jetzt das mit der po­li­ti­schen Füh­rer­schaft ver­bun­de­ne Über­wie­gen des nord­deut­schen Geis­tes auch in der Li­te­ra­tur der Ver­brei­tung ei­nes so spe­zi­fisch süd­deut­schen Dich­ters, wie Her­mann Kurz, hin­der­lich. Und als schlimms­ter Geg­ner kam noch der rohe Na­tu­ra­lis­mus dazu, der wie­der für eine lan­ge Zeit die Wege der wah­ren Kunst ver­schüt­te­te. Wenn zu­vor Her­mann Kurz mit sei­nem küh­nen und trot­zi­gen Wahr­heits­sinn für eine mat­te, durch flaue Schön­fär­be­rei ver­zär­tel­te Pe­ri­ode zu männ­lich und stark ge­we­sen war, so wuss­te die­se, die die Fah­ne ei­nes falschen Rea­lis­mus schwang, wie­der­um nichts mit ihm an­zu­fan­gen, weil sei­ne Wahr­heits­lie­be auf die ty­pi­sche, im­mer wie­der­keh­ren­de Wahr­heit, nicht auf die zu­fäl­li­ge, ein­ma­li­ge ge­rich­tet ist. Aber auch die schlimms­te Kon­junk­tur nimmt ein­mal ein Ende. Zwar nur lang­sam, wie Glet­scher schie­ben, aber un­auf­halt­sam ver­schiebt sich ein Kul­tur­bild. So scheint nun end­lich der Tag für Her­mann Kurz an­zu­bre­chen. Schon in den letz­ten Jah­ren stell­ten sich Zei­chen ein, dass die Erin­ne­rung an ihn zu er­wa­chen be­gin­ne, die Re­clam­sche Uni­ver­sal­bi­blio­thek ver­brei­te­te sei­ne klei­nen fei­nen Er­zäh­lun­gen, dann mit Ablauf der li­te­ra­ri­schen Schutz­frist er­schie­nen als die ers­ten Schwal­ben die Neu­auf­la­gen der gros­sen Ro­ma­ne, de­nen jetzt fort und fort wei­te­re Aus­ga­ben fol­gen, und end­lich brach­te als dan­kens­wer­tes­tes Un­ter­neh­men der Ver­lag von Max Hes­se die neue, von Her­mann Fi­scher, dem Soh­ne des Dich­ters J. G. Fi­scher, be­sorg­te Aus­ga­be der Sämt­li­chen Wer­ke, die durch ei­ni­ge wert­vol­le, in der frü­he­ren Ge­samt­aus­ga­be feh­len­de Stücke er­gänzt und mit ge­die­ge­nen, von lie­be­vol­lem Ver­ständ­nis durch­drun­ge­nen Ein­lei­tun­gen zu je­dem Ban­de ver­se­hen ist. Wie ein Ver­schüt­te­ter aus tie­fem Schach­te steigt der Dich­ter heu­te her­auf, in vol­ler Fri­sche, un­be­rührt vom Fit­tich der Zeit, die so vie­le sei­ner ge­fei­er­te­ren Zeit­ge­nos­sen un­ter­des­sen in Staub und Asche ge­wan­delt hat. Kein Rün­zel­chen auf der blü­hen­den Wan­ge sei­ner Muse. Sei­ne Ge­stal­ten sind noch le­ben­dig und mensch­lich wahr bis in die kleins­te Ne­ben­fi­gur her­ab, Spra­che und Ge­dan­ken sind un­ver­al­tet, jede Zei­le neu und blank, als wäre sie heu­te ge­schrie­ben. So tritt der Dich­ter ei­nem neu­en Ge­schlecht ge­gen­über, auf das der alte Uns­tern nicht mehr wirkt: es gibt heu­te kei­ne li­te­ra­ri­schen Mo­den mehr, da in un­sern Ta­gen al­les und nichts Mode ist; der Zeit­geist wen­det sich wie­der den äs­the­ti­schen In­ter­es­sen, wenn auch noch mit un­ge­nü­gen­den Mit­teln zu, die geis­ti­gen Zoll­schran­ken in­ner­halb Deutsch­lands sind ge­fal­len, und wenn der Sü­den sich des Vor­rechts sei­ner äl­te­ren Kul­tur be­ge­ben hat, um auf das be­weg­te­re Geis­tes­le­ben sei­ner nord­deut­schen Brü­der ein­zu­ge­hen, wenn er so­gar zu die­sem Zweck das Fremd­ar­ti­ge der nie­der­deut­schen Sprech­wei­se über­win­det, so darf er jetzt vom Nor­den das glei­che Ent­ge­gen­kom­men für sei­ne füh­ren­den Geis­ter er­war­ten. Da­mit ist dem Dich­ter, der die Hei­mat­kunst pfleg­te, lan­ge be­vor die­ses neue Wort für eine alte Sa­che ge­prägt war, end­lich der Weg aus der en­ge­ren Hei­mat, die für sei­ne Maas­se zu klein war, in das gros­se Ge­samt­va­ter­land er­öff­net.

Um aber zu be­grei­fen, wie es zu­ging, dass ein Dich­ter von der Stär­ke und Be­deu­tung ei­nes Her­mann Kurz von sei­ner Zeit so un­ter Schutt be­gra­ben wer­den konn­te, muss man sich den Bo­den Alt-Würt­tem­bergs, dem er ent­spros­sen ist, und die Zeit sei­nes Wachs­tums vor Au­gen hal­ten.

Die Schwa­ben gel­ten ge­wiss mit Recht für einen reich be­gab­ten Volks­stamm. Aber auf en­gen Raum zu­sam­men­ge­drängt und von Na­tur mit har­ten Köp­fen be­gabt, ha­ben sie sich von je­her schlecht mit­ein­an­der ver­tra­gen. Das Be­stre­ben, ein­an­der zu ver­klei­nern, ja lie­ber einen ganz Frem­den, wäre er auch min­der ver­dienst­voll, an­zu­er­ken­nen, als einen der Ei­ge­nen, ist ein un­ver­wisch­ba­res Stam­mes­merk­mal. Die­se Sucht, sich ge­gen­sei­tig am Zeu­ge zu fli­cken, die durch das an­ge­bo­re­ne kaus­ti­sche Ele­ment ver­schärft wird, ist so all­ge­mein, dass der Schwa­be sich der­sel­ben kaum be­wusst ist und häu­fig gar kei­nen bö­sen Wil­len da­mit ver­bin­det. Selbst in die Klang­far­be des Dia­lekts hat sich die­se Streit­sucht ein­ge­schli­chen; denn wenn zwei Schwa­ben auf der Stras­se zu­sam­men re­den, scheint es dem un­ein­ge­weih­ten Ohre, als zank­ten sie sich. Erst im Aus­land kommt es ih­nen zum Be­wusst­sein, wie viel scho­nen­der an­de­re Stäm­me un­ter sich ver­keh­ren.

In die­sem Lan­de ge­deiht das Ta­lent nicht durch För­de­rung, son­dern durch Ge­gen­satz und Wi­der­stand: das dick­köp­fi­ge Phi­lis­te­ri­um ist dort der Nähr­bo­den des Ge­ni­us, der mit ihm zu kämp­fen hat. Das ist ein Krieg auf Tod und Le­ben, wo­bei meis­tens der Ge­ni­us auf die Dau­er sei­ner Er­den­ta­ge un­ter­liegt, um dann spä­ter in ver­klär­ter Ge­stalt auf­zu­er­ste­hen und den Kampf mit bes­se­ren Aus­sich­ten fort­zu­set­zen. Al­ler Ruhm Alt-Würt­tem­bergs geht von sei­nen Dis­si­den­ten aus. Die­se sind sämt­lich Ge­schwis­ter von Schil­ler ab, zwar un­gleich an Ta­lent und Tem­pe­ra­ment, aber gleich an wet­ter­fes­tem, not- und tod­ver­ach­ten­dem Idea­lis­mus. Ein Fa­mi­li­en­zug, der sie von wei­tem kennt­lich macht, ist ihre trot­zi­ge Ge­bär­de; sie wol­len stets mit dem Kopf durch die Wand. Sie sind eben kei­ne Olym­pier, sie sind Ti­ta­nen­kin­der. Eine Aus­nah­me bil­det Mö­ri­ke, der die um­ge­ben­de Welt sich an­passt, in­dem er sie mit sei­ner spie­len­den Fan­ta­sie, fast ohne es zu be­mer­ken, voll­kom­men um­ge­stal­tet. Die­ser leb­te denn auch un­an­ge­foch­ten da­hin, die Phi­lis­ter ta­ten ihm nichts zu­lei­de, er ver­kehr­te mit ih­nen auf du und du, und sie be­merk­ten gar nicht, dass er ein Ge­nie war, son­dern hiel­ten ihn für ih­res­glei­chen.

Al­lein nicht nur der Phi­lis­ter war in Würt­tem­berg dem auf­stre­ben­den Ge­ni­us hin­der­lich, auch sei­ne Geis­tes­ver­wand­ten ver­leg­ten ihm den Weg. Das klei­ne Land war ja viel zu reich an Ta­len­ten, um ih­nen al­len Raum zur Ent­fal­tung zu ge­ben; an den Gren­zen aber war die Welt mit Bret­tern ver­na­gelt. Wer dar­über hin­aus­stürm­te, der konn­te im Elend zu­grun­de ge­hen wie Waib­lin­ger, oder wie Höl­der­lin als ein Schiff­brü­chi­ger zu­rück­keh­ren. Da­rum ging es, wie es oft in be­gab­ten aber ar­men Fa­mi­li­en zu ge­hen pflegt, wo ein je­der sein Ta­lent und sei­ne In­di­vi­dua­li­tät zur Gel­tung zu brin­gen sucht und kei­ner den an­dern recht auf­kom­men lässt. An­der­wärts er­eig­net sich ge­ra­de das Um­ge­kehr­te: man bil­det Cli­quen zur ge­gen­sei­ti­gen An­prei­sung und För­de­rung, dass der Frem­de glau­ben könn­te, in eine gan­ze Pflanz­schu­le von Ge­nies ge­ra­ten zu sein. In Würt­tem­berg aber fehl­te es dem Ge­ni­us von vorn­her­ein an Ver­kün­di­gern. Soll­te ein ein­hei­mi­sches Er­zeug­nis dort Aner­ken­nung fin­den, so muss­te es zu­vor ex­por­tiert und mit ei­ner aus­wär­ti­gen Mar­ke wie­der ein­ge­führt wer­den. Ein preus­si­scher Haupt­mann war es, der die ers­te Aus­ga­be von Höl­der­lins Ge­dich­ten ver­an­lasst hat. In un­sern Ta­gen hat der Nor­den be­gon­nen, den Ruhm des halb­ver­schol­le­nen Mö­ri­ke zu ma­chen, wie er zu­vor den Uh­lands ge­macht hat­te. Von Schil­ler ganz zu schwei­gen. Nicht um­sonst singt Mö­ri­ke von die­sem:

der an Herz und Sit­te Ein Sohn der Hei­mat war, Stellt sich in uns­rer Mit­te Ein ho­her Fremd­ling dar.

Das war es, was ihm schliess­lich sei­ne Gel­tung gab, dass er als Fremd­ling wie­der­kam. In echt schwä­bi­schem Sinn hat ein­mal Theo­bald Zieg­ler den Ur­sprung der Re­dens­art »er ist nicht weit her« un­ter­sucht. Dass er nicht weit her war, liess auch Her­mann Kurz nicht in sei­ner vol­len Be­deu­tung er­schei­nen, ge­ra­de sein star­kes Hei­mat­ge­fühl, das ihn hin­der­te, den Bo­den Würt­tem­bergs zu ver­las­sen, ist ihm in der Hei­mat schäd­lich ge­wor­den. Nicht als ob es den Schwa­ben an Sinn für ihre hei­mi­schen Pro­duk­te ge­brä­che, sie tun sich viel­mehr auf die gros­se Men­ge ih­rer schöp­fe­ri­schen Geis­ter recht viel zu­gu­te; aber sie ha­ben nun ein­mal die Nei­gung, die­sen bei Leb­zei­ten den Brot­korb so hoch wie mög­lich zu hän­gen. Das wun­der­li­che Stam­mes­selbst­be­wusst­sein, das sie so oft ge­trie­ben hat, ihre Gros­sen als quan­ti­té nég­li­ge­a­ble zu be­han­deln, fin­det sei­nen klas­si­schen Aus­druck in dem köst­li­chen Vers von Eduard Pau­lus:

Der Schel­ling und der He­gel, Der Schil­ler und der Hauff, Das ist bei uns die Re­gel, Das fällt uns gar nicht auf.

Auf ei­nem so son­der­ba­ren Bo­den war die be­rühm­te alte »Schwa­ben­kul­tur« auf­ge­baut. Frei­lich, es war ihr auch an­zu­se­hen. Sie um­fass­te die gan­ze Welt des Ge­dan­kens und be­sass doch nicht das kleins­te Fleck­chen, auf dem sie sich sicht­bar nie­der­las­sen konn­te. Das macht: sie war aus­sch­liess­lich Män­ner­sa­che; die Schwä­bin­nen, we­nigs­tens die des Mit­tel­stan­des, ta­ten nicht mit, sie be­harr­ten mit Über­zeu­gung in der Un­kul­tur. Es gab kei­ne ge­sell­schaft­li­che und äs­the­ti­sche Er­zie­hung durch die Frau; bei der Hei­rat brach ent­we­der die Ent­wick­lung des Man­nes ab, oder es trat bei ihm eine völ­li­ge Tei­lung des in­ne­ren und des äus­se­ren Men­schen ein. Da­her blieb die­se Kul­tur eine rein li­te­ra­ri­sche, die aus dem Stu­dier­zim­mer der Poe­ten und Ge­lehr­ten nicht ein­mal bis in die nächs­te Um­ge­bung den Weg fand, so­dass, wäh­rend das Fa­mi­li­en­haupt zu den Ster­nen am geis­ti­gen Him­mel zähl­te, häu­fig die nächs­ten An­ge­hö­ri­gen in ei­ner fast bäu­ri­schen Un­wis­sen­heit und Form­lo­sig­keit da­hin leb­ten. Es hat et­was Schau­er­li­ches, sich die Welt­wei­te die­ser Geis­ter und dazu die er­drücken­de Enge ih­res leib­li­chen Da­seins vor­zu­stel­len. Dazu kommt, dass fast alle ta­lent­vol­len jun­gen Leu­te durch die Ar­mut zum un­ent­gelt­li­chen Stu­di­um der Theo­lo­gie ge­trie­ben wur­den und dass eine Land­pfar­rei das ge­wöhn­li­che ir­di­sche Ziel der Ti­ta­nensöh­ne war. Der Weg da­hin führ­te durch die Pfor­te des »Lan­dex­amens« in die klös­ter­li­che Zucht der nie­de­ren Se­mi­na­ri­en und von da in das be­kann­te »Tü­bin­ger Stift«. In die­sem Stift, der wah­ren Stief­mut­ter un­se­rer gros­sen Geis­ter, wur­den sie in den Ent­wick­lungs­jah­ren von al­lem äus­se­ren Le­ben fern­ge­hal­ten und sys­te­ma­tisch zu je­ner viel­be­ru­fe­nen stift­le­ri­schen Un­welt­läu­fig­keit er­zo­gen, die ih­nen spä­ter das Wei­ter­kom­men auf je­dem an­de­ren als dem von der An­stalt vor­ge­schrie­be­nen Wege so sehr er­schwe­ren muss­te.

Wenn es oh­ne­hin die Art der schöp­fe­ri­schen Na­tu­ren ist, sich un­ter dem Ein­druck ih­rer in­ne­ren Ge­sich­te schwe­rer in der Welt zu­recht­zu­fin­den als der ge­wöhn­li­che Men­schen­schlag, so hat Alt-Würt­tem­berg sei­nen ge­nia­len Män­nern noch ge­flis­sent­lich Ket­ten um Ket­ten an die Füs­se ge­legt.

Des Dichters Jugendjahre

Her­mann Kurz ist am 30. No­vem­ber 1813 zu Reut­lin­gen ge­bo­ren, der ehe­ma­li­gen frei­en Reichs­stadt, die ein De­zen­ni­um zu­vor würt­tem­ber­gisch ge­wor­den war. Die Ein­drücke, die er dort emp­fing, ha­ben all sei­nem spä­te­ren Dich­ten und Schaf­fen die Grund­far­be ge­ge­ben. Ich sel­ber ken­ne die al­ter­tüm­li­che, von den Geis­tern der Döf­fin­ger Schlacht um­schweb­te Ju­gend­stadt mei­nes Va­ters nur aus sei­nen Dich­tun­gen; das Reut­lin­gen, das ich spä­ter mit Au­gen sah, ist da­von so völ­lig ver­schie­den, dass es mir nie­mals mög­lich war, bei­de in ein Bild zu­sam­men­zu­fas­sen. Sei­ne El­tern wa­ren, als ich zur Welt kam, lan­ge tot. Über­haupt kann­te ich kei­nen von sei­nen frü­he­ren An­ge­hö­ri­gen, als sei­nen ein­zi­gen Bru­der, der ihn um we­ni­ge Jah­re über­leb­te. In mei­ner Kin­der­fan­ta­sie spiel­te die müt­ter­li­che Fa­mi­lie, das alte Frei­herrn­ge­schlecht von Brun­now, un­ter des­sen Re­li­qui­en wir her­an­wuch­sen, eine gros­se Rol­le, wäh­rend der vä­ter­li­chen Vor­fah­ren nie von uns ge­dacht wur­de. Das war sehr be­greif­lich: mein Va­ter sprach uns nicht von ih­nen, und mei­ne Mut­ter hat­te sie nicht ge­kannt. Sein Schwei­gen rühr­te je­den­falls zum Teil da­von her, dass er die­se Ge­stal­ten schon in Poe­sie ver­wan­delt hat­te und dass es ihm ge­gen die Na­tur ging, das dich­te­ri­sche Ge­we­be in sei­nem Geis­te wie­der auf­zu­lö­sen und den nack­ten his­to­ri­schen In­halt her­aus­zu­ho­len. Für ihn wa­ren sie nun­mehr völ­lig das, was sei­ne Fan­ta­sie aus ih­nen ge­macht hat­te. Ich hielt also, be­vor ich sei­ne »Fa­mi­li­en­ge­schich­ten« kann­te, nicht viel auf die­se ehr­sa­men Reut­lin­ger Glo­cken­gies­ser und Sprit­zen­meis­ter, und mit der Of­fen­her­zig­keit, die Kin­dern ei­gen ist, sag­te ich ei­nes Ta­ges zu mei­nem Va­ter: »Es ist ei­gent­lich doch recht scha­de, dass un­se­re Mama nicht lie­ber einen Stan­des­ge­nos­sen ge­hei­ra­tet hat, dann wäre ich jetzt auch eine Ge­bo­re­ne.« Er ant­wor­te­te lä­chelnd, aber doch mit ei­nem ge­wis­sen Nach­druck: »Du bist schief ge­wi­ckelt, lie­bes Kind, wenn du dir viel auf dei­ne müt­ter­li­chen Ah­nen ein­bil­dest, die als Raub­rit­ter auf ih­ren fes­ten Bur­gen sas­sen und harm­lo­se Wan­de­rer plün­der­ten. Da wa­ren dei­ne Ah­nen vä­ter­li­cher­seits ganz an­de­re Leu­te: re­gie­ren­de Bür­ger­meis­ter und Se­na­to­ren ei­ner klei­nen Re­pu­blik, die über Le­ben und Tod, über Krieg und Frie­den zu ent­schei­den hat­ten.« Die­se Wor­te im­po­nier­ten mir sehr, und von da an be­trach­te­te ich die Reut­lin­ger Vor­fah­ren mit ganz an­de­ren Au­gen, ob­gleich ich mich in ihre har­te und enge Welt doch nicht hin­ein­zu­den­ken ver­moch­te.

Sie rei­chen ur­kund­lich bis ins fünf­zehn­te Jahr­hun­dert zu­rück, wo sie als freie Bau­ern auf ih­rem ei­ge­nen Erb und Le­hen sas­sen. Um 1483 war ein Hanns Kurtz von Ös­ter­reich mit ei­nem Grund­stück bei Kir­chen­tel­lins­furt be­lehnt wor­den. Von da an ver­schwin­det der Name Kurtz nicht mehr aus den An­na­len der frei­en Reichs­stadt. Es wird sei­nen Trä­gern nach­ge­rühmt, sie hät­ten frü­he das Stre­ben ge­zeigt, zur geis­ti­gen Ari­sto­kra­tie des Lan­des auf­zu­rück­en. Je­den­falls er­schei­nen sie schon in den äl­tes­ten Ur­kun­den als ein frei­mü­ti­ges, un­ter­neh­men­des, wohl auch et­was hoch­fah­ren­des, da­bei aber kern­haf­tes und tüch­ti­ges Ge­schlecht, das als­bald mit per­sön­li­chen Zü­gen her­vor­tritt. Auch die Wan­der- und Aben­teu­rer­lust, die vie­le Glie­der spä­ter­hin weit über die Erde ver­streut hat, zeigt sich zei­tig: im 16. Jahr­hun­dert be­glei­tet ein Se­bas­ti­an Kurtz Kai­ser Karl V. als Fug­ger­scher Agent nach Ita­li­en und wird durch sei­ne Auf­zeich­nun­gen zur wich­ti­gen Ge­schichts­quel­le für den Schmal­kal­di­schen Krieg. Die Fa­mi­lie schrieb sich ab­wech­selnd Kurtz, Kurz und Cur­ti­us; un­ser Zweig hielt an dem äl­te­ren »tz« fest, bis im Jah­re Achtund­vier­zig mein Va­ter, sei­nem sonst so aus­ge­präg­ten his­to­ri­schen Sinn ent­ge­gen, das »t« aus dem Na­men strich, weil jetzt je­der Zopf fal­len müs­se. Die Nach­kom­men ha­ben aus Pie­tät die von ihm be­stimm­te Schreibart bei­be­hal­ten, ob­wohl sie stets das Auf­ge­ben der äl­te­ren Form be­dau­er­ten. Un­ser Fa­mi­li­en­wap­pen, ein gol­de­ner Löwe, der, auf grü­nem Drei­berg ste­hend, eine schwar­ze Haus­mar­ke in den Pran­ken hält, wur­de im An­fang des sieb­zehn­ten Jahr­hun­derts ver­lie­hen. Ein an­de­rer Zweig, der bald ausstarb, er­hielt für die in Kriegs­zei­ten dem Kai­ser ge­leis­te­ten Diens­te ein Wap­pen, wor­auf der rö­mi­sche Rit­ter Cur­ti­us dar­ge­stellt ist, wie er auf weis­sem Ross in gol­de­ner Rüs­tung in den von Flam­men um­zün­gel­ten Ab­grund sprengt. Un­sern Ast be­grün­de­te ein Mi­cha­el Kurtz, der zu Ende des sieb­zehn­ten Jahr­hun­derts an der Spit­ze ei­ner gros­sen Werk­statt für Glo­cken und Feu­er­sprit­zen stand und sei­ne Er­zeug­nis­se durch die Schweiz und einen gros­sen Teil Deutsch­lands ver­sand­te. Von ihm wird be­rich­tet, er sei ein­mal auf vier­zehn Tage in den Turm ge­setzt wor­den, weil er ge­gen die vie­len Steu­ern op­po­nier­te, und bei sei­ner Frei­las­sung habe er einen Schein aus­stel­len müs­sen, dass er nicht, wie er ge­droht, den einen oder an­dern Rats­herrn, wenn sie bei sei­nem Haus vor­über in die Kir­che gin­gen, nie­der­schies­sen wür­de. Man trau­te ihm zu, dass er der Mann wäre, sei­ne Dro­hung wahr zu ma­chen, denn man hat­te ein mit zwei Ku­geln ge­la­de­nes Feu­er­rohr bei ihm ge­fun­den. Auf die­sen Feu­er­kopf folg­te sein eben­so ener­gi­scher Sohn Jo­han­nes, je­ner viel­ge­wan­der­te Ur­u­r­ahn mit dem spa­ni­schen Leib­fluch und dem »bor­dier­ten Hüt­lein«, bei dem mei­nes Va­ters Fa­mi­li­en­ge­schich­ten be­gin­nen. Das »bor­dier­te Hüt­lein«, das der wa­cke­re Zunft­meis­ter und Rats­herr als Zei­chen sei­ner Wür­de trug, wur­de in der Ver­wandt­schaft sprich­wört­lich bis auf un­se­re Ge­ne­ra­ti­on; denn so oft ei­ner aus der Fa­mi­lie den Kopf et­was hoch trug, hiess es von ihm: »er hat das bor­dier­te Hüt­lein auf«. Die­ser Jo­han­nes, der sich im Aus­land in sei­ner Kunst sehr ver­voll­komm­net hat­te, brach­te das vä­ter­li­che Ge­wer­be erst recht in Flor. Nach sei­ner Rück­kehr hei­ra­te­te der statt­li­che jun­ge Meis­ter jene lieb­li­che, durch einen Vor­mund um ihr Ver­mö­gen ge­prell­te Schaf­hir­tin, de­ren Ge­schich­te in der »Reut­lin­ger Glo­cken­gies­ser­fa­mi­lie« er­zählt ist.

In Wirk­lich­keit hiess sie Ma­ga­re­te; der Dich­ter hat ihr die­sen Na­men ge­nom­men, schwer­lich aus Irr­tum, son­dern weil er ihn für die im »Wit­wen­stüb­lein« er­zähl­te Ge­schich­te sei­ner ei­ge­nen Va­ters­schwes­ter, der be­kann­ten »Frau Dote«, brauch­te, und hat ihn durch den gleich­falls poe­ti­schen Na­men ei­ner an­dern Va­ters­schwes­ter Do­ro­thea er­setzt. Herr Jo­han­nes war ein hef­ti­ger und ehr­süch­ti­ger Mann, der nicht die ge­rings­te ihm zu­ge­füg­te Un­bill er­tra­gen konn­te; aber als bei dem gros­sen Bran­de sei­ner Va­ter­stadt, dem er als Sprit­zen­meis­ter zu weh­ren hat­te, ein lang­jäh­ri­ger Freund sein gan­zes ihm an­ver­trau­tes Hab und Gut ver­un­treu­te, nahm er die­sen Schlag ge­dul­dig als gött­li­che Schi­ckung hin und be­gann ge­tros­ten Muts sein Hand­werk von neu­em. Was von ihm in der »Reichs­städ­ti­schen Glo­cken­gies­ser­fa­mi­lie« er­zählt wird, scheint durch­weg auf Tat­sa­chen zu be­ru­hen, wo­ge­gen bei der ro­man­ti­schen Lie­bes­ge­schich­te sei­nes Soh­nes Franz eben­so wie in der sei­nes En­kels »Wie der Gross­va­ter die Gross­mut­ter nahm« der his­to­ri­sche Zet­tel stark mit dich­te­ri­schem Ein­schlag ver­webt ist. Da­ge­gen sind die Per­sön­lich­kei­ten hier wie in den nach­fol­gen­den Ge­schich­ten ge­treu nach den Über­lie­fe­run­gen und zum Teil nach der Erin­ne­rung ge­zeich­net, be­son­ders je­ner letzt­ge­nann­te Gross­va­ter, der alte pa­tri­ar­cha­li­sche Se­na­tor Jo­han­nes, der »Herr Ehni« des Dich­ters, der als Sie­ben­un­dacht­zig­jäh­ri­ger we­ni­ge Tage vor sei­nem Tod in Ge­gen­wart sei­nes En­kels Her­mann beim Schei­ben­schies­sen den Meis­ter­schuss tat. Die­sem lie­bens­wür­di­gen Greis wird eine an den Jün­ger Jo­han­nes er­in­nern­de Sanft­mut nach­ge­rühmt, wel­che Ei­gen­schaft bis da­hin nicht zu den vor­wie­gen­den Stam­mes­merk­ma­len ge­hör­te. Züge von ihm fin­den wir spä­ter in der hei­me­li­gen Ge­stalt des al­ten glo­cken­gies­sen­den »Amts­bür­ger­meis­ters« der »Hei­mat­jah­re« wie­der, dem so­gar ein ver­steck­tes Kenn­zei­chen bei­ge­ge­ben ist: die Zinn­be­cher, aus de­nen der Wa­cke­re sei­ne Gäs­te labt, tra­gen das Kurtz­sche Fa­mi­li­en­wap­pen, den Lö­wen, der auf dem Drei­berg steht. Es liegt ein un­wi­der­steh­li­cher, aus dem Ge­mü­te flies­sen­der Zau­ber über der Schil­de­rung sei­nes Heim­we­sens – »eine Heim­stät­te, wo wir ewig ver­wei­len möch­ten«, nennt es der geist­vol­le Kürn­ber­ger in sei­nen »Li­te­ra­ri­schen Her­zens­sa­chen«.

Vom Ur­ur­gross­va­ter bis zur un­ver­ge­ss­li­chen »Frau Dote« hat der Dich­ter vier Ge­ne­ra­tio­nen sei­ner Fa­mi­lie in ih­ren Ei­gen­hei­ten und ih­rer Um­ge­bung ge­schil­dert; ih­nen schliesst sich noch das Bild vom al­ten Va­ter­hau­se sei­ner Mut­ter in Tü­bin­gen an, das im ers­ten Buch der »Denk- und Glaub­wür­dig­kei­ten« so le­ben­dig ge­zeich­net ist. Über die ei­ge­nen, früh ver­lo­re­nen El­tern aber geht der Dich­ter mit we­ni­gen ein­ge­streu­ten Wor­ten rasch hin­weg; wohl nicht, weil ihn sein Ge­dächt­nis auf die­sem Punkt im Sti­che liess, son­dern aus ei­ner Scheu des Ge­fühls­le­bens, die ihm ge­ra­de über die Nächs­ten und Teu­ers­ten den Mund ver­schloss. Es wa­ren auch kei­ne Erin­ne­run­gen so hel­ler und freu­di­ger Art, die ihn mit dem ei­ge­nen Va­ter­haus ver­knüpf­ten.

Sein Va­ter Gott­lieb Da­vid Kurtz, der schon im drei­und­vier­zigs­ten Jah­re an der Schwind­sucht starb, war ein Mann von vor­wie­gend geis­ti­gen In­ter­es­sen, ein hel­ler Kopf, da­bei glü­hen­der Ver­eh­rer Schil­lers, der glück­lich war, wenn sein be­gab­ter Äl­tes­ter schon als klei­ner Jun­ge Schil­le­ri­sche Bal­la­den und an­de­re Ge­dich­te re­zi­tier­te. Aber er hat­te den kauf­män­ni­schen Be­ruf ohne in­ne­re Nei­gung er­wählt, und die­ser brach­te ihm kein Glück; da er nun oben­drein selbst eine Fort­schritts- und Dis­si­den­ten­na­tur war, sich auch durch einen Auf­ent­halt in der Schweiz grös­se­re Ge­sichts­punk­te an­ge­eig­net hat­te, konn­te es ihm in der sto­cken­den Enge sei­ner hei­mi­schen Ver­hält­nis­se nicht all­zu­wohl sein. Er wur­de ein Par­tei­gän­ger sei­nes un­glück­li­chen Lands­manns, des »Welt­ver­bes­se­rers« List, und spann da­bei nach dem Zeug­nis sei­ner Gat­tin »kei­ne Sei­de«. Wie der gros­se Na­tio­nal­öko­nom um jene Zeit in sei­ner Hei­mat­stadt an­ge­schrie­ben war, be­weist des Dich­ters Be­richt, dass, wenn er in der Kna­ben­zeit sich ir­gend­wie nicht in den her­ge­brach­ten Schlen­dri­an fü­gen woll­te, er­schreck­te Ba­sen ihm zu dro­hen pfleg­ten: »Wart, dir wird es ge­hen wie dem List!« – Durch un­glück­li­che Un­ter­neh­mun­gen kam mein Gross­va­ter um den gröss­ten Teil sei­nes Ver­mö­gens. Der Kum­mer über die­ses Miss­ge­schick, zu dem sich das kör­per­li­che Lei­den ge­sell­te, ver­düs­ter­te sei­nen frü­hen Le­bens­abend und trüb­te den Hu­mor, der als Fa­mi­li­en­zug auch ihm nach­ge­rühmt wird. Dar­un­ter hat­te die Ju­gend des Soh­nes zu lei­den. Die bei­den wa­ren ganz ge­schaf­fen, sich zu ver­ste­hen, aber wie es häu­fig zwi­schen ei­nem reiz­ba­ren Va­ter und ei­nem leb­haf­ten Soh­ne zu ge­hen pflegt, sie fan­den den Weg nicht zu ein­an­der. Zwi­schen dem kränk­li­chen, ver­stimm­ten Mann und dem be­gab­ten, tem­pe­ra­ment­vol­len Kna­ben kam es häu­fig zu Miss­ver­ständ­nis­sen, die noch in der See­le des Soh­nes schmerz­lich nach­zit­ter­ten, als er sel­ber ein ge­reif­ter Mann war. Als düs­ters­ter Schat­ten aus sei­ner Ju­gend­zeit be­glei­te­te ihn die Erin­ne­rung an des Va­ters Ster­be­stun­de. Es war am 13. April 1826, dass den Lei­den­den in Ge­gen­wart der Sei­nen der Tod er­eil­te. Man glaub­te ihn schon ver­schie­den, und der zwölf­jäh­ri­ge Sohn Her­mann hielt ihm ein Licht an den Mund, um zu se­hen, ob er noch atme. Da öff­ne­te der Ster­ben­de noch ein­mal die Au­gen und liess einen gros­sen Blick über ihn hin­rol­len, in dem das er­schro­cke­ne Kind einen Vor­wurf über die­se letz­te Stö­rung zu le­sen glaub­te. – Des Va­ters un­be­frie­di­gen­des Schick­sal muss dem jun­gen Her­mann Kurz vor al­lem vor­ge­schwebt ha­ben, als er im Jahr 1841 ei­nem neu­ge­bo­re­nen Nef­fen die Ver­se schrieb:1

Du bist, o Kind, von ei­nem Stam­me, Dem es noch sel­ten hier ge­lang, Ein schö­ner Stern war sei­ne Amme, Doch lei­der stets im Un­ter­gang. Die einen sind im Sand ver­sun­ken, Von dump­fem Miss­ge­schick be­drängt, Die an­dern sind im Sch­lund er­trun­ken, Vom jä­hen Mut da­hin­ge­sprengt. Stets un­voll­en­de­te Ge­schi­cke, Der An­fang gross, das Ende klein! Wird das so blei­ben mit dem Glücke? Das Hal­be nie ein Gan­zes sein? Sei du es denn, in des­sen Le­ben Vol­len­det ist der Vä­ter Haus, Dein, dein sei un­ser erns­tes Stre­ben, Und führ es du ans Ziel hin­aus. Dir sei’s, mein Lieb­ling, zum Ge­win­ne, Was edel war an uns und echt, Du un­ser Erbe und be­gin­ne Ein neu­es glück­li­ches Ge­schlecht.

Die­sel­ben Ge­dan­ken und Emp­fin­dun­gen hat­te er schon drei Jah­re frü­her in ei­nem Brief an Eduard Mö­ri­ke aus­ge­spro­chen:

»Die­ses Miss­lin­gen näm­lich, von dem ich sag­te, scheint den Mei­ni­gen – von der ge­gen­wär­ti­gen Ge­ne­ra­ti­on lässt sich noch nichts sa­gen – an­ge­bo­ren : mein Va­ter hat­te die gröss­ten An­sprü­che auf ein ge­lun­ge­nes Le­ben und ist bit­ter ge­täuscht wor­den; und eben­so ist es mit On­keln und Vet­tern ge­gan­gen: die einen taug­ten gar nicht in die Welt, die an­dern ha­ben mit dem bes­ten Wil­len und Ver­stand nichts Ge­schei­tes her­aus­ge­bracht (ich kann sa­gen just die, die den Fa­mi­li­en­cha­rak­ter ent­schie­den an sich tru­gen; an In­dif­fe­ren­ten hat’s nicht ge­fehlt, die vor­wärts ge­kom­men sind), so­dass sich ei­ner, der das in sei­nem Blu­te fühlt, oft fra­gen mag: wird die­ser Ty­pus so fort­dau­ern oder kommt zu­letzt ei­ner, dem For­tu­na das gibt, was sie sei­nen Vor­fah­ren so oft hin­hielt und wie­der zu­rück­zog?« – Je­ner Nef­fe, dem er die im sel­ben Brief er­wähn­te, sau­er zu ver­die­nen­de »Vollen­dung« zu­ge­dacht hat­te, soll­te ih­rer frei­lich nicht teil­haft wer­den, denn er starb im frü­hen Kin­desal­ter.

Ich ge­ste­he, dass ich den auch sonst in der Fa­mi­lie ver­brei­te­ten Aber­glau­ben, als ob ihre Glie­der zum Un­heil prä­des­ti­niert sei­en, mei­ner­seits nie be­grif­fen habe. Ich weiss frei­lich nicht, wer die »im Sch­lund Ver­sun­ke­nen« sind. Die von dem Dich­ter ge­schil­der­te Ah­nen­ga­le­rie zeigt lau­ter Cha­rak­ter­köp­fe, die sich mit ih­ren Ei­gen­hei­ten und ih­rem Wil­len durch­zu­set­zen wuss­ten. Um Her­mann Kurz’ dor­nen­vol­les Dich­ter­los zu er­klä­ren, be­darf es kei­nes be­son­de­ren Fa­mi­li­e­nuns­terns, die po­li­ti­schen und so­zia­len Kon­stel­la­tio­nen sei­ner Zeit und sei­nes klei­nen Va­ter­lan­des ge­nü­gen dazu vollauf. Und wenn Goe­the recht hat, dass das höchs­te Glück der Er­den­kin­der die Per­sön­lich­keit ist, so darf sich die­ses Ge­schlecht so­gar ein be­güns­tig­tes nen­nen, denn es hat zu al­len Zei­ten star­ke Per­sön­lich­kei­ten her­vor­ge­bracht. Ich will von der spä­te­ren Ge­ne­ra­ti­on, ne­ben dem Dich­ter selbst, nur sei­nen Lieb­lings­vet­ter, den eid­ge­nös­si­schen Obers­ten und Prä­si­den­ten des Ber­ner Gross­rats, Al­bert Kurtz nen­nen, von dem er uns Kin­dern gern das küh­ne Stück er­zähl­te, dass die­ser, als einst in Bern ein Eng­län­der sich in an­ge­trun­ke­nem Zu­stand in den städ­ti­schen Bä­renzwin­ger hin­ab­ge­las­sen hat­te, den Un­se­li­gen mit ei­ge­ner höchs­ter Le­bens­ge­fahr der fürch­ter­li­chen Ge­sell­schaft ent­riss, frei­lich schon zer­fleischt und als Lei­che.

War die Stel­lung zum Va­ter eine schwie­ri­ge, so stand der Kna­be sei­ner Mut­ter um so in­ni­ger nahe. Sie war eine Toch­ter des aus west­fä­li­scher Fa­mi­lie stam­men­den aka­de­mi­schen Buch­drucker­herrn Schramm aus Tü­bin­gen, eine zar­te, stil­le, sin­ni­ge Na­tur, von der nach den Auf­zeich­nun­gen des jün­ge­ren Soh­nes der Dich­ter die fei­ne Auf­fas­sung mensch­li­chen We­sens und Trei­bens und die Mil­de des Cha­rak­ters ge­erbt hat, wäh­rend der poe­ti­sche Sinn vom Va­ter stam­men soll. Ob sich das letz­te­re so ohne wei­te­res be­haup­ten lässt, möch­te ich je­doch be­zwei­feln. Dass mein Gross­va­ter dem fan­ta­sie­vol­len Kna­ben die Ro­ma­ne, die die­ser wirr durch­ein­an­der las, aus den Hän­den nahm oder viel­mehr riss und ihm da­für Rei­se­be­schrei­bun­gen und der­glei­chen un­ter­schob, zeugt zwar von päd­ago­gi­scher Weis­heit und von gu­tem Ge­schmack, und dass er den Aber­glau­ben in je­der Ge­stalt ver­folg­te, macht sei­nem Ver­stand Ehre; dass er aber den Ra­tio­na­lis­mus so weit trieb, auch mit den al­ten »Volks­bü­chern« in Feh­de zu lie­gen, spricht ge­ra­de nicht für poe­ti­schen Sinn. Dass das ei­gent­lich Poe­ti­sche den­noch von Sei­ten der Schwert­ma­gen stammt, glau­be ich aber ger­ne, denn die Pfar­re­rin Kenn­gott, be­kannt un­ter dem Na­men der »Frau Dote«, des Kauf­manns Da­vid Kurtz äl­tes­te Schwes­ter, die die zwei­te Er­zie­he­rin des Dich­ters wur­de, war selbst ein le­ben­di­ges His­to­ri­en­buch und be­sass da­ne­ben eine so gros­se Fan­ta­sie, dass die­ser ihr im »Wit­wen­stüb­chen« sa­gen konn­te: »Ich weiss, wie schnell du ein Mär­chen zu­sam­men­bringst, wenn man eins von dir ha­ben will.« Von die­ser köst­lich fri­schen, tem­pe­ra­ment­vol­len Frau mit der un­ver­sieg­ba­ren Lau­ne und dem dras­ti­schen Mut­ter­witz, de­ren We­sen, frei­lich in viel en­ge­rem Rah­men und un­ter viel be­schei­de­neren For­men, man­nig­fach an die be­rühm­te »Frau Rat« er­in­nert, ist au­gen­schein­lich die Lust am Fa­bu­lie­ren in die Fa­mi­lie ge­kom­men und der Hu­mor, der die Welt über­win­det. Da­ge­gen ist der si­che­re psy­cho­lo­gi­sche In­stinkt, der sich oft in den Brie­fen der Mut­ter Kurtz aus­spricht, dem Ro­man­dich­ter als schätz­ba­res Kun­kel­le­hen zu­ge­fal­len. Hin­ter der kraft­vol­len Sil­hou­et­te der Frau Dote tritt frei­lich die Mut­ter des Dich­ters mit ih­ren zar­ten, fast hin­ge­hauch­ten Li­ni­en et­was zu­rück, aber eine un­be­deu­ten­de Frau ist sie dar­um kei­nes­wegs ge­we­sen. Bei al­ler Zart­heit zei­gen ihre Brie­fe eine gros­se Selbst­stän­dig­keit des Den­kens, so be­son­ders, wenn sie ih­ren Her­mann wie­der­holt er­mahnt, sich auch der neue­ren Spra­chen zu be­fleis­si­gen, da er sie ein­mal nö­tig ha­ben kön­ne, und vor al­lem den Wi­der­wil­len ge­gen das Fran­zö­si­sche zu über­win­den, das nun ein­mal Welt­spra­che sei. So weit dach­te nie­mand in ih­rer Um­ge­bung. Auch ein emp­find­li­ches äs­the­ti­sches Ge­fühl ist ihr ei­gen: ein­mal pras­selt sie in hel­le Ent­rüs­tung auf, als der eben­so fein ge­ar­te­te Sohn sich vor­über­ge­hend in ei­ner ro­he­ren Aus­drucks­wei­se ge­fällt, wo­mit die Ka­me­ra­den ihn an­ge­steckt ha­ben, und vom Kla­ri­nett­bla­sen rät sie ihm ab aus dem­sel­ben Grun­de, wes­halb einst Al­ki­bia­des die Flö­te ver­warf.

Bei­de Söh­ne ha­ben die Früh­ver­stor­be­ne als ein stil­les, rüh­ren­des Hei­li­gen­bild ver­ehrt; von ihr wur­de in der Fa­mi­lie auch der ari­sto­kra­ti­sche Zug in der Na­tur des Dich­ters ab­ge­lei­tet. Sie hat­te eine für ihre Zeit und ih­ren Stand durch­aus nicht ge­wöhn­li­che Bil­dung und schrieb mit flies­sen­der gleich­mäs­si­ger Hand – im Ge­gen­satz zu den selt­sa­men Kratz­füs­sen und dem fos­si­len »Go­tisch« der Frau Dote – ein mo­der­nes, fast rei­nes Deutsch. Auch ihre jün­ge­re Schwes­ter, die im Jah­re 1863 ver­stor­be­ne Pfar­re­rin Mohr, von der noch eine Erin­ne­rung wie ein blas­ser Schein in mei­ne ei­ge­nen Kin­der­jah­re fällt, hob sich durch ein fei­ne­res und vor­neh­me­res We­sen von ih­rer Um­ge­bung ab, soll je­doch der Schwes­ter nicht gleich­ge­kom­men sein. Von die­sen Ju­gend­ein­drücken schreibt sich je­den­falls des Dich­ters Vor­lie­be für zar­te weib­li­che Na­tu­ren her, die in ge­drück­ten Ver­hält­nis­sen ih­ren an­ge­bo­re­nen Adel be­wah­ren. Sol­che spür­te er im Le­ben ger­ne auf und hat ih­ren Ty­pus auch im »Weih­nachts­fund« in der sanf­ten und fast se­he­risch tief bli­cken­den Ge­stalt der Schus­te­rin ge­zeich­net, die zwi­schen den der­ben Fi­gu­ren der Um­ge­bung her­vor­schim­mert wie eine in gro­bes Ge­stein ein­ge­spreng­te Golda­der. Trotz der ge­rin­gen Sorg­falt, die da­mals auf die Mäd­chen­er­zie­hung ver­wen­det wur­de, hat­te der ci­vis aca­de­mi­cus Schramm er­klärt, dass jede sei­ner sechs Töch­ter et­was ler­nen dür­fe, ent­we­der Ma­len oder Mu­sik; mei­ne Gross­mut­ter mit zwei an­dern Schwes­tern hat­te das Ma­len ge­wählt, was ihr denn als Wit­we, frei­lich in be­schei­dens­ter Form, zu­gu­te kom­men soll­te, da sie durch An­ma­len von Bil­der­bo­gen (zu zwei Kreu­zern pro Stück!) einen klei­nen Zu­schuss er­warb, wo­bei ihr der jün­ge­re Sohn Ernst, wenn er die Schul­auf­ga­ben fer­tig hat­te, des Abends noch ein paar Stun­den be­hilf­lich war. Es gibt ein rüh­ren­des, alt­vä­te­risches Fa­mi­li­en­bild, sich die bei­den, Mut­ter und Sohn, bei der Öl­lam­pe oder dem Talg­licht über ih­ren Bil­der­bo­gen zu den­ken, wie sie müh­sam ein paar Kreu­zer zu­sam­men­ver­die­nen, das Ta­schen­geld für den be­gab­ten Äl­tes­ten, der da­mals schon als Zög­ling in der Maul­bron­ner Klos­ter­schu­le sich auf das theo­lo­gi­sche Stu­di­um vor­be­rei­te­te.

Der Dich­ter cha­rak­te­ri­siert das We­sen sei­ner Mut­ter in we­nig Wor­ten, in­dem er sagt, dass sie alle Ei­gen­schaf­ten zur Füh­re­rin des her­an­wach­sen­den Jüng­lings ge­habt hät­te, dass es ihr aber bei ih­rer Mil­de und Sanft­mut gänz­lich an der Schnei­de ge­brach, die ei­nem Kna­ben ge­gen­über er­for­der­lich ist. Des­halb rief die Wit­we in schwie­ri­gen Fäl­len, wo die müt­ter­li­che Au­to­ri­tät nicht aus­reich­te, die im Nach­bar­hau­se woh­nen­de Schwä­ge­rin Kenn­gott zu­hil­fe, die das Re­gie­ren von Grund aus ver­stand. Mit welch an­mu­ti­ger Über­le­gen­heit die alte Frau da­bei zu­we­ge ging, ist im »Wit­wen­stüb­lein« zier­lich dar­ge­stellt. Des Au­tors aus­führ­li­che Schil­de­rung sei­ner Schul­nö­te und wie schalk­haft klug die Frau Dote als stri­cken­de Muse sei­nen la­tei­ni­schen Pe­ga­sus zum Wett­lauf an­feu­er­te, hat­te Hey­se in sei­ner Aus­ga­be der Ge­sam­mel­ten Wer­ke aus künst­le­ri­schen Grün­den ge­op­fert, und es hät­te viel­leicht da­bei sein Be­wen­den ha­ben dür­fen, weil die Haupt­ge­schich­te, von die­sem Ge­strüp­pe be­freit, sich wirk­sa­mer ab­hebt. Fi­scher hat die ge­stri­che­nen Stel­len und da­mit die et­was be­schnit­te­ne Ge­stalt der Frau Dote wie­der er­gänzt; was die Kunst da­bei ver­liert, hat die Au­to­bio­gra­fie ge­won­nen. Vi­el­leicht ist die­ses Ka­pi­tel auch kul­tur­ge­schicht­lich nicht ganz un­wich­tig; es zeigt, wie sau­er un­sern Vä­tern der Weg zur Schu­le ge­macht wur­de und was die gute alte Zeit, aus der Nähe ge­se­hen, für ein kno­chen­har­tes Ge­sicht hat. Mit Grau­sen er­in­ne­re ich mich ge­wis­ser Mas­senexe­ku­tio­nen in der Schu­le, von de­nen mein Va­ter in der Erin­ne­rung selbst noch grau­send er­zähl­te.

In dem halb klös­ter­lich, halb mi­li­tä­risch ein­ge­rich­te­ten Se­mi­nar dau­er­te die stren­ge Zucht, wenn auch na­tür­lich ohne kör­per­li­che Stra­fen, fort; wie ihr der Ju­gen­d­über­mut an al­len Ecken und En­den Schnipp­chen schlug, ist in den »Ju­gen­derin­ne­run­gen« er­götz­lich zu le­sen. Noch aus­führ­li­cher hat der Dich­ter das Maul­bron­ner Trei­ben in dem frü­he­ren Schluss der »bei­den Tu­bus« dar­ge­stellt. Man­che der dort ein­ge­floch­te­nen An­ek­do­ten habe ich ihn als selbs­t­er­leb­te er­zäh­len hö­ren, wie über­haupt in al­len sei­nen Schrif­ten, den ein­zi­gen »Son­nen­wirt« viel­leicht aus­ge­nom­men, ein gut Stück Au­to­bio­gra­fie ver­wo­ben ist.

Ein fri­scher, geis­tig an­ge­reg­ter Zug ging durch die gan­ze Pro­mo­ti­on,2 der Her­mann Kurz an­ge­hör­te, und die welt­ab­ge­schie­de­ne Lage des al­ten schö­nen Klos­ters in­mit­ten tief­dunk­ler Wäl­der, sei­ne herr­li­chen, da­mals et­was ver­fal­le­nen Bau­for­men, reg­ten den Hang zur Poe­sie und Ro­man­tik mäch­tig auf. Nicht nur zu sol­chen nächt­li­chen Aben­teu­ern wie den Klet­ter­par­ti­en über die Dä­cher und der Ent­de­ckung des be­rüch­tig­ten Blut­flecks an der Mau­er in Dr. Faus­ti Ge­mach (zu wel­chem Fund je­doch Mut­ter Kurtz ket­ze­risch be­merk­te: »Ich glaub’s ge­wiss nicht, dass den Faust der Teu­fel ge­holt hat«) ta­ten sich die Ka­me­ra­den heim­lich zu­sam­men; man pfleg­te auch ganz in der Stil­le idea­le In­ter­es­sen, die im Se­mi­nar als Al­lo­tria ver­pönt wa­ren, und man­cher, der spä­ter ein zah­mer Phi­lis­ter wer­den soll­te, hat da­mals mun­ter sei­nen Pe­ga­sus mit­ge­tum­melt. Da wur­de ein »Maul­bron­ner Mu­senal­ma­nach« ge­führt, zu dem die mehr oder min­der be­gab­ten Mit­ar­bei­ter ihr Bes­tes an Poe­sie oder Witz bei­ge­steu­ert ha­ben. Von den dar­in ver­ewig­ten Na­men ist nur der des »Pri­mus« Eduard Zel­ler, des nach­ma­li­gen Ber­li­ner Phi­lo­so­phie­pro­fes­sors, der Öf­fent­lich­keit be­kannt ge­wor­den. An den­sel­ben Zel­ler ist ein lau­ni­ges Ge­dicht mei­nes Va­ters ge­rich­tet, worin sich die Stro­phe fin­det:

»Zel­ler, lie­ber Zel­ler, sage, Was ich in dem Her­zen tra­ge, Denn die Phi­lo­so­phen kön­nen Al­les was es gibt be­nen­nen.«

Be­weis, dass je­der von den bei­den Sieb­zehn­jäh­ri­gen sei­nen künf­ti­gen Be­ruf vor­aus­ge­nom­men hat­te. Der Al­ma­nach ist zwar von mei­nes Va­ters Hand ge­schrie­ben, aber die Kin­der sei­ner ei­ge­nen Muse ent­hält er nicht; die­se, die ne­ben den di­let­tan­ti­schen Ver­su­chen der an­dern schon die Lö­wen­kral­le zei­gen, ste­hen in ei­nem be­son­de­ren Heft; dar­un­ter so­gar ei­ni­ge sei­ner bes­ten ly­ri­schen Sa­chen ne­ben andrem ganz un­rei­fem, wie es dem Al­ter des Ver­fas­sers ent­sprach. Aus sei­nem spä­te­ren rück­bli­cken­den Ge­dich­te »Maul­bronn« sieht man, wel­cher Vor­früh­ling die­se zei­ti­gen Blü­ten her­aus­ge­lockt hat.

»Aber nachts, wenn alle schlie­fen, wacht’ ich bei der Lam­pe Licht For­schend in des Le­bens Tie­fen, denn die Ruhe kannt’ ich nicht. Doch es kam ein Früh­ge­wit­ter über mei­nen Le­bens­traum, Und ein Dop­pel­re­gen­bo­gen stand an mei­nes Him­mels Saum. Lieb und Freund­schaft, wie er­hell­ten sie mein dunkles Herz zu­gleich! Wie mit Leid und Freu­de mach­ten sie mein ar­mes Le­ben reich!3 Und in man­chem lei­sen Lie­de lös­t’ ich dunklen Her­zens­drang, Das in scheu­en Tö­nen zwi­schen fer­nem Wald­ge­büsch ver­klang. –«