Herr Blunagalli hat kein Humor - Angelo Colagrossi - E-Book

Herr Blunagalli hat kein Humor E-Book

Angelo Colagrossi

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Beschreibung

Angelo Colagrossi sitzt aufgeregt in einem Zug Richtung Hamburg: Es ist sein Tag, denn ein Filmproduzent hat Interesse an seinem Drehbuch «Amore und so 'n Quatsch». Doch der Zug bleibt im Schneechaos stecken, und aus der Reise wird eine Odyssee. Und während seine deutschen Mitfahrer die Bahn beschimpfen, nach dem Freibier im Bord-Bistro eine Polonaise machen und der niederkommenden Frau im nächsten Abteil beistehen, blickt Colagrossi zurück: auf seine Anfänge im deutschen Showgeschäft, die ersten Drehbücher, das tägliche Ringen mit der neuen Sprache und darauf, wie man sich als temperamentvoller Römer so weit im Norden zurechtfindet. «Frau Lehmann, die am Goethe-Institut in Bologna unterrichtete, war eine der Ersten, die mich deutsch sprechen hörten. Sie war schockiert und gleichzeitig verzaubert, denn dank meines starken italienischen Akzents klang ihre Muttersprache plötzlich ausgesprochen mediterran. ‹Wie schön die deutsche Sprache klingen kann!›, jauchzte sie stolz und ein wenig wehmütig und wünschte mir alles Gute für mein neues Leben in ihrem Heimatland. Dann riet sie mir noch energisch, auf meinen Körper zu achten: ‹Auch wenn du die deutschen Vokabeln einigermaßen beherrschst, nützt es nichts, wenn du sie nicht mit den richtigen Bewegungen kombinierst!› Bei mir war es nämlich so: Alles, was ich in Worte fasste, kollidierte grundsätzlich mit meiner Körpersprache, und es passierte mir immer wieder, dass meine ‹gegenuberredende› Person mit ratlosem Blick vor mir stand, während ich wild gestikulierte. Man konnte die Sprache zwar als Deutsch erkennen – wahrscheinlich am Geräusch –, aber meine Bewegungen passten wohl eher zur olympischen 4 x 100-Meter-Freistil-Schwimmerstaffel, wie ein wohlmeinender Freund es Jahre später beschrieb.»

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Seitenzahl: 150

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Angelo Colagrossi

Herr Blunagalli hat kein Humor

Ein sprudelnder Italiener gefangen in Deutschland

Ich entschuldige mich schon jetzt, falls sich jemand in einer der Figuren dieses Buches wiedererkennen sollte; und ich möchte klarstellen, dass – mit wenigen Ausnahmen– Ähnlichkeiten mit Personen oder Situationen rein zufällig sind.

A.C.

Der Deutschen Bahn gewidmet, ohne die unser Leben sehr viel ereignisloser wäre.

Dies ist mein Tag.

Ein Sonntag, der auf einen Montag fällt. Er beginnt mit einem Telefonat. Endlich hat jemand gelesen, was ich geschrieben habe!

Ich lege auf und bin glücklich – genau wie damals in der Schule, wenn die Klassenarbeiten zurückgegeben wurden. Jeder Lehrer hatte dabei sein eigenes System – human, spannend oder extrem sadistisch.

Ich bin in Italien geboren und zur Schule gegangen. In Rom, Ende der sechziger Jahre, waren die Worte Schulreform und antiautoritäre Erziehung Fremdwörter. Alle Schüler trugen Uniform und wurden mit Gebrüll erzogen. Ich war blond wie ein Kornfeld im Juli und wurde als «Il Tedesco» verspottet – der Deutsche.

Kein Wunder, dass ich ungefähr 30Jahre später in Deutschland landete.

Die besten Noten wurden immer zuerst verteilt, was meine Hoffnungen immer recht schnell sinken ließ – und mein Blick, den ich aus dem Fenster auf das Kolosseum richtete, verdüsterte sich mit jeder weiteren Arbeit, die mich einer Fünf näher brachte…

Umso größer war dann die Erleichterung, wenn ich aufgerufen wurde und es doch gerade so zu einer halbwegs guten Note gereicht hatte. Dann spürte ich es, dieses Gefühl: Eine große Ruhe breitete sich aus. Die hielt aber nur bis zum nächsten Schultag. Dann ging das Elend von vorne los.

Heute bin ich Autor. Ich gebe keine Klassenarbeiten mehr ab, sondern reiche Ideen für Filme, Manuskripte und fertige Drehbücher ein und warte dann darauf, dass sie dem gefallen, dem ich sie gegeben habe. Und das dauert manchmal etwas länger.

In diesem besonderen Fall wartete ich geschlagene sechs Monate.

Nun hat sich Herr Endruweit, ein bekannter Hamburger Film- und Fernsehproduzent, aber endlich gemeldet. Genauer gesagt: Er lässt melden. Nur erfolglose Produzenten melden sich persönlich.

Die sehr freundliche Sekretärin des erfolgreichen Herrn Endruweit teilt mir mit quäkender Stimme mit, dass Herrn Endruweit das Drehbuch, das ich ihm geschickt habe – Amore und so ’n Quatsch –, in dem eine fränkische Krankenschwester Anfang 30 erst in Berlin viel Pech und dann in Italien das Glück findet, sehr gut gefällt. Und dass er sich freuen würde, mit mir darüber zu sprechen. In Hamburg.

Ich sehe förmlich das Gesicht der Sekretärin vor mir; sie grinst ganz sicher, und in dem Moment, als ich mich bedanken möchte, legt sie auf. Leider hat mir ihre knarzende Stimme nicht verraten, wie gut genau das Drehbuch Herrn Endruweit gefallen hat.

Sagt sie Projekte auch mit dem gleichen routiniert-freundlichen Ton ab? Nein. Dann meldet man sich einfach nicht mehr. Schweigen ist Gold. Und eine Absage.

Ich habe, wie gesagt, sechs Monate gewartet. Deshalb bin ich erst einmal völlig euphorisch und wähle von den drei Terminen, die mir die Sekretärin anbietet, spontan den letzten aus – den in zwei Wochen–, um jene Ruhe auszukosten, wie sie sich früher auch nach der Rückgabe von Klassenarbeiten ausbreitete.

Und um die Vorfreude möglichst lange zu genießen.

In der Theorie ist das eine gute Idee; in der Praxis eher nicht, denn Autoren grübeln ja schon berufsbedingt. Bei mir geht es ungefähr neunzig Sekunden, nachdem ich aufgelegt habe, los.

Immer und immer wieder hallen die Worte der Sekretärin durch meinen Kopf. Und dann diese grelle Stimme!

«…hat ihm sehr gut gefallen…» – das hat sie gesagt, ich bin ganz sicher!

Aber was heißt das genau?

«…hat ihm sehr gut gefallen…», im Sinne von: Wir drehen ab nächster Woche? Oder eher: Da ist ja schon viel Schönes dran? Oder etwa so: Ich will Ihnen hier in Hamburg persönlich ins Gesicht schleudern, was Sie da für einen Schwachsinn abgeliefert haben?

Autoren in dieser schlimmen Lage muss man ablenken. Mit Zoobesuchen oder weihnachtlichem Plätzchenbacken. Aber nicht mal mein sehr temperamentvoller Kater namens Sport vermag das im Moment.

Ich quäle mich durch die Hölle der nächsten zwei Stunden. Versuche dies und tue das. Bringe Worst- und Best-Case-Szenarien zu Papier. Diskutiere am Telefon mit Vertrauenspersonen und meinen Co-Autoren alle Möglichkeiten.

Kurz bevor ich in meiner Not nach der Fernbedienung greife, um eine der älteren Damen auf einem Astro-Kanal um Hilfe zu bitten, rufe ich die freundliche Sekretärin von Herrn Endruweit an und sage ihr, dass sich in meinem Kalender jetzt doch eine Lücke ergeben hat.

Ich nehme den allerersten Termin.

In 48Stunden.

36Stunden später

Heute ist mein Tag! Und jetzt ist es wirklich mein Tag! Das ist mir sofort klar, als ich durch einen Schrei von Kater Sport geweckt werde, der durch die geschlossene Tür dringt. Mit einem gewagten Sprung auf die Klinke öffnet er die Tür und miaut laut am Rande des Bettes.

Mein Kater weckt einen Sieger.

Er weiß das zwar nicht, aber ich bin davon überzeugt – oder besser gesagt, ich wage davon zu träumen.

Blöd nur, dass im selben Moment der Wecker losgeht. Um nicht das ganze Haus aufzuwecken, geht mein Arm mit Schwung in Richtung Schlummertaste, wobei ich die arme Mieze voll ins Gesicht treffe. Sport macht seinem Namen alle Ehre und landet schwungvoll und halbwegs elegant auf dem Boden. Sein empörter Schrei beeindruckt mich jedoch nur geringfügig, denn ab jetzt bin ich auf dem Weg nach Hamburg!

Das Frühstück gelingt mir noch ganz gut, aber als der Installateur wegen des kaputten Wasserhahns anruft, fehlen mir die Worte. Den Fehler kann ich noch ganz gut beschreiben, aber ob ich einen neuen Mittelflansch brauche, weiß ich nicht. Ich weiß nicht mal, was ein Mittelflansch ist.

Dazu kommt, dass der Mann nur Düsseldorfer Platt spricht.

Als ich ihn höflich frage: «Können Sie auch Hochdeutsch?», ist es ganz aus.

«Du brauchen Mittelflansch?» Der Handwerker behandelt mich wegen meines unüberhörbaren Akzents wie jemanden, der nur die internationale Ausländer-Babysprache versteht – in voller Lautstärke.

«Ich bin nicht taub! Ich bin Italiener!», brülle ich zurück.

«Watt schreien Sie denn so?»

Nun ist der Arme völlig verwirrt. Ich stammele eine Entschuldigung und lege auf.

Dabei lebe ich seit vielen, vielen Jahren in Deutschland. Aber Italiener bleibt man eben sein Leben lang – auch, ohne eine Pizzeria aufzumachen.

Trotzdem schreibe ich meine Drehbücher auf Deutsch – also… auf Neu-Deutsch, das kann ich richtig gut. Und ich schreibe es mit dem allergrößten Selbstbewusstsein, seit ich von Italien nach hierher gezogen bin. Alt-Deutsch ist erst später dazugekommen.

Als ich mein Notebook durchforste, das ich nach Hamburg mitnehmen will, stoße ich auf einen sehr frühen Drehbuchversuch aus dem Jahr 1993.Es handelt sich dabei ganz offensichtlich um einen meiner allerersten schriftlichen Kontakte mit der Sprache der Dichter und Lenker. In diesem Drehbuch geht es um einen Politiker und den Detektiv Jakob, der im Auftrag einer eifersüchtigen Frau ermittelt…

BILD 1.Vor Haus Außen/​Abend

Es ist Winter. Es schneidet. Jacob sitz im Auto und beobachtet ein Haus direkt gegenüber. Der Opa sitz sich vor Fernsehen an. Familien feiert Silvester. Rothaarige in Badenmantel und Bettina und Carsten streiten. Hinter Jacob, im Auto, sitz Frau Holzmann die Kundin. Sie ist nicht zu sehe.

BILD 2.Im Auto Innen/​Abend

Jacob im Auto mampf ein Berliner aus eine Tüte. Er blick starr auf den Fenster der Rothaariger.

Jacob: 23,58 alle ruhig. Objekt befindet sich nicht im Haus.

Aus den Ruckbank Frau Stimme.

Frau Holzmann: Doch!

Jacob: Nein ist es nichts! und außerdem mischen sie sich nicht dauernden in meinen Job.

Frau Holzmann: Schnauze! Ich zahle. Da es ist ja wohl mein gute recht zu sehen wie sie arbeiten.

Jacob: Heute hätten wir mal eine pause machen können.

Frau Holzmann: Bringen Sie mir ein Foto wie mein Mann darauf komm da machen wir pause.

Jacob: Warum reden sie nicht mit ihr Mann!?

Sie kommt hoch.

Frau Holzmann: Ich rede nicht mit einem Betrüger!

Jacob: Runter!

Turmuhr schlagt 00:00 ein Feuerwerk geht’s los.

Frau Holzmann: Frohes neues Jahr, Herr Jacob.

Ihr hand kommt von hinter hervor.

Jacob: Frohes neues Jahr, Frau Holzmann.

Die Tür geht auf.

Frau: (entsetz) Los gehen sie, holen sie mir das Fotos.

Jacob lässt alles fallen und rennt los. Feuerwerk gehen los, Opa mit Hund.

Jacob: Pssss, da kommt jemand.

36Stunden und 10Minuten später

Das Rechtschreibprogramm auf meinem Notebook schafft es leider nicht, alle Fehler, die ich zur Korrektur anbiete, in sauberes Deutsch zu verwandeln. Und so lese ich allzu oft die Meldung Keine Rechtschreibvorschläge. Das ist ausgesprochen frustrierend. Bei manchen Wörtern weiß ich bis heute nicht, wo ein Umlaut hingehört, geschweige denn, wie das Wort dann korrekt ausgesprochen wird.

Ein Satz wie «Das Buffet ist eröffnet» hört sich in meinen romanischen Ohren an wie der Titel eines türkischen Popsongs.

Ein Pole sagt: «Das Biffet ist ereffnet», was ich richtig lustig finde.

Ich sage: «Das Buffet ist eroffenet» – für mich fast perfektes Deutsch. Leider sind da nicht alle meiner Meinung.

Deshalb rufe ich meistens: «Essen ist fertisch!» Das versteht jeder.

Heute scheint das Essen allerdings nicht fertisch zu werden, weil ich viel zu aufgeregt bin und ein Kürbisrisotto kein Gericht ist, das man einfach so an einem Reisetag (oder sagt man Reistag?) zubereitet. Die empfindliche Masse, die man ständig rühren muss, brennt an – egal, das bringt mich nicht aus dem Tritt.

13:00Uhr– Düsseldorf, auf dem Weg zum Hauptbahnhof

Ich bekomme heute zwar kein Mittagessen, aber dafür einen bleibenden Eindruck vom deutschen Winter. In diesem Land schneit es nicht oft, und wenn, dann bin ich auf dem Weg zum Hauptbahnhof. Erst wenn der Schnee geschmolzen ist, «sieht man die ganze Scheiße», sagte doch mal dieser deutsche Fußballmanager, dessen Name mir jetzt nicht einfällt. Er hatte recht. Der Schnee ist noch nicht geschmolzen, und deshalb bemerke ich den riesigen Hundehaufen nicht. Nichts ahnend trete ich mit der Fußspitze hinein, fluche parallel in meiner Muttersprache und auf Deutsch – in der Hoffnung, dass das Hundeherrchen mich hören kann: «Zozzone! Welcher Altehackfresse hat hier die Hund hinmachen lassen!»

Nur mit Mühe schaffe ich es, diesen Tag dennoch zu loben. Dies ist mein Tag, und den lasse ich mir von nichts und niemandem kaputt machen. Erst recht nicht durch getarnte Hundehaufen! Ich lobe auch schnell noch den Tag, an dem ich mich gegen Hunde und für Katzen entschieden habe. Katzen sind majestätisch, eigensinnig und vor allem sauber – Eigenschaften, die sie zu den bevorzugten Tieren ganzer ägyptischer Dynastien machten. Dass sie einen morgens rüde wecken, nehme ich da gern in Kauf.

Ich mache mir die Schuhe am verschneiten Bordstein sauber, was deutliche Spuren hinterlässt und jedem den Grund dieser Aktion erklärt. Eine alte Dame, die mich beobachtet, kommentiert das mit der Bemerkung: «Datt brengt Jäld.»

Wo soll was brennen?

Ich rate ihr, schnell die Feuerwehr zu rufen. Die Düsseldorferin meint aber, in einen Hundehaufen zu treten brächte Geld.

Ich weiß zwar nicht, wo da ein Zusammenhang besteht, aber es soll mir recht sein. Schließlich bin ich geschäftlich unterwegs.

13:29 – Uhr Düsseldorf Hauptbahnhof

Am Hauptbahnhof angekommen, stelle ich mich brav in die Schlange vor dem Schalter. Drei Leute sind vor mir, dann bin ich dran. «Guten Tag, ein Fahrkarte hin und zuruck nach Hamburg, zweite Klasse, und eine Reservierung Platz, bitte», bringe ich in meinem besten Deutsch vor – fast ohne Fehler. Ich mache ein fröhliches Gesicht und lege das Geld auf den Tresen. Die sympathische und pummelige Bahnbeamtin mit der Föhnfrisur lächelt und sagt: «You have to buy your ticket at the automat.»

«Entschuldigung, ich kann mit diese Gerät, die Automat-Maschine, nichts anfangen, und außerdem geht meine Zug in zwanzig Minuten», antworte ich noch immer freundlich – auf Deutsch!

«Sorry, but I don’t sell tickets to Hamburg, please go to the automat.»

Dann wendet sie sich dem Mann hinter mir zu.

«Nee, Moment. Ich habe Geld, habe nett gefragt, und ich will nach Hamburg! Und Sie verkaufen mein Fahrkarte jetzt sofort. Und wieso sprechen Sie Englisch mit mir?»

Ohne es zu merken, werde ich etwas lauter und ziemlich rot im Gesicht.

Ein Sicherheitsmann mit der Statur eines Gorillas nähert sich und bittet mich eindringlich, den Platz augenblicklich frei zu machen.

Ich denke nicht daran, bleibe stur stehen und verlange, sofort mit dem zuständigen Verantwortlichen zu sprechen.

«Der hat Besseres zu tun», sagt der Gorilla.

«Ich habe hier neulich auch ein Fahrkarte gekauft, wieso geht jetzt nicht?», frage ich wieder etwas lauter.

«Die Fahrkarte nach Hamburg kann man auch am Automat kaufen», lautet die Antwort.

Ich will das aber nicht. Schon aus Prinzip nicht.

«Dann zeigen Sie mir die Fahrkarte, die Sie hier gekauft haben», sagt die Beamtin endlich auf Deutsch und erhebt sich.

«Wo gehen Sie hin?», frage ich, als ich merke, dass sie abhauen will.

«Mit Ihnen spreche ich nicht mehr», sagt sie und ergreift die Flucht ins Hinterzimmer.

Die Leute hinter mir schimpfen und wechseln den Schalter.

Das gibt’s doch nicht. Ich schaue mich um und sehe, dass mich alle anstarren und den Kopf schütteln, als hätte ich was Schlimmes gesagt.

Mir reicht’s!

Ich renne raus, fahre per Taxi wieder nach Hause und suche hektisch in allen Schubladen die alte Fahrkarte, finde sie endlich in der Küche unter einem Stapel Prospekte. Dann rase ich mit dem Taxi zurück zum Hauptbahnhof – ein teurer Spaß. Wieder stelle ich mich in der Schlange an, aber die Frau mit der komischen Frisur ist nicht mehr da. Als ich endlich dran bin, sage ich dem mageren Beamten, der jetzt an ihrem Platz sitzt, nochmal, was ich will. Ohne einen Kommentar bekomme ich plötzlich mein Ticket mitsamt Platzreservierung und die Bahn mein Geld. Was war das denn jetzt? Aber ich habe keine Zeit zum Nachdenken. Ich muss nach Hamburg, egal, was passiert. Atemlos renne ich zum Gleis, und in der letzten Sekunde, kurz bevor die Türen schließen, springe ich in den Zug. Was für ein Glück! Was wäre passiert, wenn ich den Zug verpasst hätte? Und dass nur, weil eine Beamtin ihren schlechten Tag hatte! Beinahe hätte sie das Schicksal meines Drehbuchs bestimmt.

Dem Jahrhundertschneegestöber entronnen, das das gesamte Rheinland unter sich begraben will, finde ich meinen Waggon zweiter Klasse. Einundzwanzig – mein reservierter Platz! Statt Großraum ein Abteil. Mit Fensterplatz. Zum Glück in Fahrtrichtung. Ich kann nicht fast vier Stunden lang vorwärts fahren und rückwärts sitzen – das fühlt sich so an, als überquerte man mit geschlossenen Augen eine dichtbefahrene Straße und nähme gleichzeitig einen kräftigen Schluck Olio extra Vergine di Olive. Das Ergebnis: Man muss kotzen.

Doch auf meinem Platz sitzt ein Mann im grauen Anzug, Typ Versicherungsvertreter um die fünfzig, mit Brille im Tabaksbeutelgesicht. Und schon fangen die Probleme an. Der Kopf des Mannes lehnt an der Scheibe; er schläft mit offenem Mund, wobei sein warmer Atem für einen breiten nebligen Film auf der eh schon verschmierten Scheibe sorgt. Soll ich ihn wecken? Oder hoffen, dass er aufwacht, wenn der Zug losfährt, sodass ich dann meinen Platz einnehmen kann? Macht mein Tag etwa wieder eine kleine Pause?

In diesem Moment wacht der Versicherungsvertreter auf. Einfach so. Na bitte! Leider würdigt er weder mich noch seine Fahrkarte eines Blickes. Seinen Tag macht man wohl am besten selbst. So wie Risotto, Liebesbriefe und das eigene Bett.

Also ergreife ich die Initiative: «Entschuldigung, aber diese Platz ist meine.» Dann erzähle ich ihm noch etwas über mein Problem mit der Fahrtrichtung, doch der Mann schaut nur verständnislos. Kein Wunder – schon das Wort ‹Ruckwarts› hört sich bei mir so an wie die Zauberburg von Harry Potter.

Der vorwurfsvolle Hundeblick, mit dem er mich ansieht, nachdem er seine Siebensachen zusammengeklaubt und sich auf einen anderen Platz verdrückt hat, spricht Bände. Aber der Vertretertyp scheint einfach nur müde zu sein, denn er nickt fast im selben Moment wieder ein, in dem er sich auf dem ungeliebten Platz niedergelassen hat.

Unser völlig überheiztes Sechser-Abteil ist zum Glück nicht vollbesetzt. Die beiden Sitze links neben meinem frisch eroberten Fensterplatz sind leer; ich kann mich also breitmachen. Mir gegenüber sitzt eine nette Omma, die in einen warmen, selbstgestrickten khakifarbenen Schal hüstelt und in einen Julia-Liebesroman mit dem sinnigen Titel «Schwester Carina glaubt an das Glück» vertieft ist. Eine Omma, die von der Liebe träumt.

Eine hochschwangere Frau schiebt sich durch den engen Gang an unserem Abteil vorbei. Ihre Haare sind wasserstoffblond. Hoffentlich nicht gefärbt. Das wirkt sich doch sonst auf das Ungeborene aus! So rund, wie sie ist, muss sie einen ganzen Kegelverein da drin haben. Oder das Kind kommt im Wintermantel und mit einem Riesen-Kuschelbären im Arm zur Welt.

Ah! Glück gehabt. Ich höre, wie die Schwangere die Tür nebenan aufschiebt und sich mit einem lauten Plumps an meiner Rückwand niederlässt.

So, jetzt schreibe ich sofort eine SMS und sage Bescheid, dass ich schon im Zug sitze und sogar eine Fahrkarte am Schalter ergattert habe: «Hallo, Hr. Endruweit, fahre gleich los mit ICE 610, mit Bord-Bistro! Komme 18:30Uhr in HH an. Freue mich auf unseren Termin. Ciao, Angelo C.»

Raus ist sie, die SMS.

Und schon grüble ich wieder, ob ich in dieser jungen Geschäftsbeziehung alles richtig mache: Wieso habe ich das mit dem Bord-Bistro geschrieben? Jetzt denkt der, ich lasse mich im Zug volllaufen! Und unter Filmleuten fliegt man doch! Wie soll ich Herrn Endruweit in einer SMS erklären, dass ich bei dem Schneegestöber lieber gemütlich im Zug sitze, als mich im Flugzeug durchschütteln zu lassen, um am Ende in Hannover notzulanden?

Auch nach Deutschland kam ich 1989 mit dem Zug – aus Bologna, meiner Universitätsstadt. In der «Citta’ Rossa», der roten oder kommunistischen Stadt, lebte ich nach dem Abitur zehn Jahre lang und studierte fünf Jahre «Disciplina Arte Musica e Spettacolo» mit den Schwerpunkten Film- und Theaterwissenschaften – und vergaß das meiste prompt.

Geboren und aufgewachsen bin ich allerdings in Rom. Ich bin ein Romer und kein Römer! Und wie jeder weiß, spinnen die Romer – und die lästigen Pünktchen auf dem «Römer» passen nicht zu mir.

In Bologna hatte ich gerade meinen ersten Deutschkurs hinter mir, als ich mich entschloss, nach DUsseldorf auszuwandern.

Meine italienische Familie konnte es nicht fassen – von Rom nach DUsseldorf! Die Stadt ist ja berühmt. Aber doch nur für ihr Monster!