Herrlichkeit - Margaret Mazzantini - E-Book
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Herrlichkeit E-Book

Margaret Mazzantini

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Beschreibung

»Der beste Teil des Lebens ist der, den wir nicht leben können.« Guido und Costantino wachsen im selben Palazzo auf, stammen jedoch aus völlig unterschiedlichen Milieus. Guido ist ein einsames Kind des Bildungsbu?rgertums, das, der Obhut wechselnder Hausmädchen u?berlassen, jeden Abend sehnsu?chtig die eigene Mutter erwartet. Costantino lebt als Sohn des Hausmeisters im Souterrain. Mit Herablassung beobachtet Guido Costantinos Anstrengungen, die Schule zu meistern, und zugleich bewundert er heimlich dessen Entwicklung zu einer kräftigen männlichen Erscheinung. Auf der Abiturfahrt erleben die beiden eine rauschhafte und intensive Zeit, bis sie schließlich einander und sich selbst ihre wahren Gefu?hle gestehen. Kurz danach verlieren sie sich aus den Augen. Guido geht nach London, heiratet und hat bald eine Familie. Costantino bleibt in Rom und betreibt ein Restaurant. Doch immer wieder kreuzen sich ihre Wege, flammen ihre Gefu?hle fu?reinander wieder auf. Können die beiden die sein, die sie sein wollen?

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Als Kinder lernen sich Guido und Costantino in Rom kennen. Sie wachsen im selben Palazzo auf, stammen jedoch aus völlig unterschiedlichen Milieus. Guido ist ein einsames Kind des Bildungsbürgertums, das, der Obhut wechselnder Hausmädchen überlassen, jeden Abend sehnsüchtig die eigene Mutter erwartet. Costantino lebt als Sohn des Hausmeisters im Souterrain. Widerwillig beobachtet Guido Costantinos Anstrengungen, die Schule zu meistern, und zugleich bewundert er heimlich dessen Entwicklung zu einer kräftigen männlichen Erscheinung. Auf der Abiturfahrt erleben die beiden eine rauschhafte und intensive Zeit und gestehen einander und sich selbst ihre wahren Gefühle. Kurz danach verlieren sie sich zunächst aus den Augen. Guido geht nach London, heiratet und hat bald eine Familie. Costantino bleibt in Rom und betreibt ein Restaurant. Doch immer wieder kreuzen sich ihre Wege, flammen ihre Gefühle wieder auf. Können die beiden die sein, die sie sein wollen? »Margaret Mazzantini erzählt so intensiv schmerzhaft und schön von der großen Liebe, dass einem dann und wann der Atem stockt.« CosmopolitanMargaret Mazzantini

Margaret Mazzantini

Herrlichkeit

Roman

Aus dem Italienischen von Karin Krieger

Von Margaret Mazzantini sind bei DuMont außerdem erschienen:

Das schönste Wort der Welt Das Meer am Morgen Niemand rettet sich allein

Vollständige eBook-Ausgabe der im DuMont Buchverlag erschienenen Taschenbuchausgabe 1. Auflage 2016 Alle Rechte vorbehalten Die italienische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel ›Splendore‹ bei Arnoldo Mondadori Editore S.p.A., Mailand © 2013 by Margaret Mazzantini © 2016 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln Übersetzung: Karin Krieger Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln Umschlagabbildung: © plainpicture/Gallery Stock/Andric eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

Für Sergio, noch einmal

I was born like this, I had no choice

I was born with the gift of a golden voice

Leonard Cohen, Tower of Song

Er war der Sohn des Portiers. Sein Vater hatte die Schlüssel zu unserer Wohnung, und wenn wir verreist waren, goss er die Blumen meiner Mutter. Eine Zeit lang hingen zwei hellblaue Schleifen am Hauseingang, seine verblichener als meine, denn er war ein paar Monate älter. Wir begegneten uns in unserer Kindheit immer wieder, er ging runter, ich hoch. Es war verboten, auf dem Hof zu spielen, wo eine große Palme den Frieden der alten Bewohner striegelte. Ein Wohnhaus am Tiber, aus der Zeit des Faschismus. Ich sah ihn vom Fenster aus, wenn er mit dem Ball unterm Arm ins Schilf am Fluss schlüpfte.

Seine Mutter putzte frühmorgens Büros. Er war sehr selbstständig, stellte sich den Wecker, öffnete den Kühlschrank und goss sich Milch in die Tasse. Sorgfältig setzte er seine Mütze auf, knöpfte den Mantel zu. Wir sahen uns jeden Tag ungefähr an derselben Stelle. Ich war viel verschlafener als er. Meine Mutter hielt mich an der Hand, er hingegen war stets auf sich allein gestellt. Ciao. Ein Geruch nach Keller begleitete ihn, nach städtischem Untergrund. Er machte drei Schritte und einen Hüpfer. Drei Schritte und einen Hüpfer.

Ich hatte keine Geschwister, verbrachte meine Stunden allein. Auf dem Teppich liegend mit einer Puppe in der Hand, die ich kämpfen ließ, die ich schießen ließ. Samstagnachmittags nahm meine Mutter mich mit in die Buchhandlung oder ins Theater. Nur sonntags hatte ich beide Eltern. Mein Vater kaufte sich Zeitungen und las sie auf einem Ledersofa des Klubs, in dem wir zu Mittag aßen. Manchmal fuhren wir auch Rad, er hielt am Fluss an und machte mich auf die Vögel aufmerksam, die mit der Strömung Richtung Meer trieben.

Ich aß in der Küche, ungewürzte Mahlzeiten ohne jeden Gehalt, in Gesellschaft einer abgewandten Haushaltshilfe, die das Geschirr spülte. Sie wechselte oft, aber für mich war es immer dieselbe, eine duldsame, doch feindselige Gestalt, die es meiner Mutter ermöglichte, mich meine ganze Kindheit über allein zu lassen. Georgette war Architektin, übte ihren Beruf aber nicht aus. Sie engagierte sich bei Italia Nostra und war einer krampfhaften Leidenschaft für jede Art von kulturellen Ehrenämtern verfallen, weshalb sie keinen festen Tagesablauf hatte.

Wenn sie nach Hause kam, zog sie sich die Schuhe aus und erzählte meinem Vater von ihren großartigen Treffen, von ihren Kämpfen gegen den Abriss des historischen Stadtkerns. Sie war Belgierin, Tochter italienischer Auswanderer, und stammte aus bescheidenen Verhältnissen. Also richtete sich ihr ganzer Hunger, als sie erwachsen war, auf das exquisite, intellektuelle Brot, das ihr als Kind zu Hause, in der Familie eines einfachen Bahnwärters, so gefehlt hatte.

Mein Vater war dagegen ein stiller und in seinen Beschäftigungen eintöniger Mann. Für mich ein reizloser Rivale mit stumpfem Schwert. Er liebte meine Mutter abgöttisch und betrachtete sie, wie auch ich, voller Qual: als einen Paradiesvogel, der sich in diese Wohnung verirrt hatte, nur kurz in unseren vier Wänden herumflatterte und uns den Atem raubte.

Der Treppenabsatz war oval, mit Marmorrauten in Grün und Schwarz, die Brüstung aus ziselierter Bronze und der Fahrstuhl eine elegante Kabine aus Kirschbaum und Glas, die frei sichtbar im Treppenhaus hinauffuhr. Die schwarzen Drähte des Räderwerks liefen langsam und geschmiert. In der ehrwürdigen Kabine, die mit ihrem Geruch nach Holzwachs und mit ihrem Schummerlicht an einen Beichtstuhl erinnerte, besahen sich die Gäste im Spiegel und rückten während des Aufstiegs, der sie von der Welt abhob und sie für eine kurze Zeit sich selbst überließ, einen Kragen oder ihren Gesichtsausdruck zurecht. Nur ein paar Häuser weiter lag der Justizpalast, auf unserem Absatz befand sich die Kanzlei eines Notars und, ein Stockwerk höher, die eines angesehenen Rechtsanwalts. Während meiner ganzen Kindheit dachte ich über die nach oben fahrenden Leute nach, über ihre Gesichter, ihre Kleidung, ihre Gefühle.

Ich verweile bei diesem Aufzug, weil er das mechanische Element war, das unten und oben verband, die Straße mit unserer Wohnung, den Lärm mit der Stille leerer Orte. Die Portiersfamilie hatte keine Veranlassung, ihn zu benutzen. Sie waren die einzigen Mieter im Souterrain. Eine dunkle Treppe führte ins Kellergeschoss, dorthin, wo die Tür zu ihrer Wohnung lag. Ich sah sie nie kommen oder gehen. Nur selten, samstagsnachmittags, konnte man sie auf dem Rückweg vom Großmarkt treffen, wo sie für den ganzen Monat einkauften. Der Vater trug Packungen mit geschälten Tomaten und Pflanzenöl auf den Schultern. Die Kinder waren bescheiden gekleidet, wegen der Kälte mit zugeknöpften Jacken, das ältere Mädchen trug Ohrwärmer aus weißem Fell. Im Gegensatz zu seinem Bruder hob es die Augen und schaute mich an, und es sah wirklich so aus, als wollte es einer anderen Welt die Stirn bieten. Ein neugieriges Kaninchen, das eine Zukunft jenseits seines Stalls wittert. Nicht so Costantino. Ich kann mich nicht erinnern, damals je sein Gesicht gesehen zu haben. Immer nur diesen gebeugten, nachgiebigen, kräftigen Rücken. Er verschwand. Hatte es eilig, zu verschwinden. Es schien ihr Festtag zu sein, ihre Freude.

Ich stellte mir ihre feuchte Wohnung vor, das billige Essen, verstreut auf dem Plastiktischtuch vor dem blau flackernden Fernseher. Der Vater Raucher, mit einer Schuppenflechte auf der Stirn, die Mutter klein wie ein Stöpsel. Der hartnäckige Geruch nach der Lauge, mit der sie die Treppen putzte, war ihr wohl schon in die Haut gedrungen, die Hände rot bis hoch zu den rissigen Ellbogen. Und jeden Abend um sechs, wenn die Portiersloge schloss, verkrochen sie sich alle unter derselben Neonlampe, die Schulaufgaben auf dem Küchentisch.

Ich lernte auf dem Fußboden, mit dem Rücken an der Wand neben der Wohnungstür. An dieser Wand habe ich bestimmt einen Abdruck hinterlassen, wie ein anstoßender Pferdehintern im Stall. Es war ganz einfach der Ort, der der Welt, dem Lärm des Lebens am nächsten war. Die Wohnung leer, nur hinten Licht in einem Zimmer, wo die Haushaltshilfe bügelte. Die Gestalt einer Frau, die nicht meine Mutter war. Wie eine dieser Vogelscheuchen, die Weinberge bewachen. Ich wäre lieber allein gewesen, hätte die Grausamkeit der Vernachlässigung lieber hingenommen als diesen Betrug. Das Auswandererland Italien begann in jenen Jahren die ersten Migrantenströme aufzunehmen. Als unsere alte, sardische Putzfrau in ihre Heimat zurückkehrte, öffnete Georgette den Frauen aus Somalia, dem Maghreb und Eritrea die Tür. Sie überließ mich ihrem Geruch und ihrem Lächeln, dem Lächeln afrikanischer Masken. Für ausländische Putzfrauen war ich das ideale Kind, ein stiller, beinahe unsichtbarer Körper. Gequält von ihrer düsteren Sehnsucht verschwanden sie Richtung Waschküche. Es war meine erste menschliche Übung, bis über beide Ohren unter all diesen karierten Schürzen zu stecken und in Gesellschaft dieser ganze Zivilisationen entfernten Existenzen auf Distanz zu bleiben. Ich lernte, dass das magische Reich dieser Existenzen das Bügelbrett war. Die Hitze in Verbindung mit einer immerfort wiederholten Bewegung ermöglichte ihnen die völlige Entsagung von der Wirklichkeit, sie knüpften an ihr unterbrochenes Schicksal an, an einen Pfahlbau, an einen dreckigen Markt mit Saatgut und Ziegen. Manchmal zeigten sie mir Fotos von ihren Kindern, und ich betrachtete sie, diese posierenden, von Armut verhärteten Schnäuzchen.

Wie festgeleimt, unverrückbar, ließ ich mich auf dem Boden neben der Tür von der Dunkelheit durchdringen, von der Finsternis zudecken. Ich wartete auf meine Mutter, auf ihre schlanken Waden, auf die Zipfel ihres Mantels, auf die Stimme der einzigen Frau, die in dieser Wohnung wohnen durfte und die mein ganzes Herz beanspruchte. Und obgleich ich wütend war, ließen mich die Sehnsucht nach ihr und allein schon die Vorstellung, sie wiederzusehen, in Tränen zerfließen, im zärtlichsten, trostlosesten Kummer tiefer Zuneigung. Ich lag neben dieser Tür wie ein leeres Gehäuse, ausgehöhlt durch grauenhafte Vermutungen, mit der fixen Idee, ihr könnte etwas zustoßen. Jedes Anrucken des Fahrstuhls war eine lange Pause, ein schmerzliches Zusammenzucken, gefolgt von einem Luftanhalten, während ich betete und zu einer fügsamen Maus wurde, die auf ihren Käse wartet. Oh, wie gut kenne ich den Klang von bremsendem Eisen, von sanft schließendem Holz! Bis ans Ende meiner Tage wird er mich begleiten, dieser sehnsuchtsvolle Klang des Wartens, dessen Berechtigung so oft verweigert und durchkreuzt wurde. Schritte, die näher zu kommen scheinen, sich dann jedoch unaufhaltsam entfernen, die woandershin gehen, zu einer anderen Familie.

In dieser zusammengekauerten Haltung fand mich mein Vater. Er glaubte, meine Angewohnheit, auf dem Fußboden zu lernen, mit den Büchern auf den angewinkelten Beinen, sei eine Denkmethode. Er war Hautarzt, kam blass nach Hause, grau geworden wie ein Stück leer gekochtes Suppenfleisch, er zog durch die Soße bekannter Orte, schaltete das Licht ein und legte seinen Regenmantel ab.

»Na, Guido, was hast du heute gemacht?«

Dass ich nicht antwortete, spielte keine Rolle. Von seiner Gegenwart ermuntert, folgte ich ihm, doch es war, als folgten wir gemeinsam einem Trauerzug, denn unseren Leben voran schritt Georgettes Abwesenheit. Häufig aßen wir allein, wenn ihre Verpflichtungen sich bis spät in den Abend zogen.

Ich kämpfte gegen den Schlaf, und wenn ich nicht mehr konnte, fiel ich um wie ein erschossener Kämpfer. Ich wusste, dass sie es auch spätnachts nie versäumte, sich über mein Bett zu beugen, mich zu küssen, ihre Nase in mein Haar zu wuscheln und die Finger meiner geöffneten Hand zu zählen. Im Schlaf lebendig begraben, träumte ich von ihrer Liebe, die zu spät kam, die erst kam, wenn ich nicht mehr aufwachen konnte, und ich weinte, weil ich mich nicht im wachen Zustand an ihr erfreuen konnte, nicht in der Wirklichkeit.

Ihr Bruder Zeno wohnte zwei Stockwerke über uns in einem Penthouse, das an einen goldenen Sumpf erinnerte, an ein spätrömisches Kaiserreich.

Er war Kunstkritiker, ein hochgewachsener, kräftiger und leidenschaftlicher, jedoch düsterer Mann, seine Augen blank wie zwei Stahlkugeln, sein Blick brennend. Seine Wohnung mit den stets zugezogenen Vorhängen war ein Reliquiar alter Kataloge und angehäufter Gemälde, das außer ihm nur von Skulpturen und ihren Schatten bewohnt war. Er empfing Kunsthändler, irr blickende Künstler, lakustrische Kirchengestalten. Der Vatikan war gleich um die Ecke, nur wenige Meter Luftlinie entfernt. Von der Terrasse seines Arbeitszimmers aus sah man die Kuppel des Petersdoms, die Rundfenster im hellen Dach, den Flug der Vögel ringsumher.

Dort gab er mir eine der ersten Lektionen in Kunst. An einem frostkalten, windigen Tag, sodass ich mir einen Schnupfen holte. Ein Rückzug nach drinnen in die Wärme war nicht möglich. Mit den Händen vor dem fahlen Himmel fuchtelnd erzählte er mir von Bramantes ursprünglichem Bauplan, dann von Sangallos miserablem Entwurf mit seinen albernen Pendentifs, den Michelangelo danach ausgehebelt hatte, um zum Zentralbau der Basilika zurückzukehren. Er war Junggeselle und konnte Kinder nicht ausstehen, doch an jenem Tag – ich war ungefähr acht – schien ich ihm wohl alt genug für ein intellektuelles Gespräch. Er wollte mich formen, das hatte meine Mutter sich immer gewünscht.

Mein Onkel hatte eine Lebensgefährtin, lang und klapperdürr, die um ihn herumstakste wie eine verwundete Giraffe und die er nie zu den Familienessen mitbrachte. Georgette war es, die sich um ihn kümmerte. Über die Geschichte der Geschwister weiß ich kaum etwas. Mein Zuhause war keines, in dem je viel gesprochen worden wäre. Ich weiß nur, dass die beiden sehr früh Waisen wurden, dass Zeno ein glänzendes Geschäft gemacht hatte, als er ein Bild verkaufte, das aus einem wallonischen Pfarrhaus stammte, und dass er bei seiner Schwester in einem Porsche 550Spyder vorgefahren war, derselben Marke, mit der James Dean tödlich verunglückte. Dass sie Belgien schließlich verlassen hatten und nach Italien zurückgekehrt waren. Auch als meine Mutter heiratete, standen sie sich weiterhin nahe, es war eine jener unauflöslichen Verbindungen, die sich aus dem Dunkel der Erinnerungen speisen. Georgette erledigte seine Korrespondenz, kümmerte sich um seine Termine und begleitete ihn zu Vorträgen, die er in Hochschulen, Auktionshäusern und in Hotels in den Bergen oder am Meer hielt. Seine Tür stand ruinierten Adligen offen, die unter Zeitungspapier verborgene Werke aus ihrer Familiensammlung unterm Arm trugen, und auch Galeristen aus dem Zentrum, die wegen einer Expertise kamen. Zeno nahm seine Brille ab und besah sich die Arbeiten mit bloßem Auge aus nächster Nähe. Er umkreiste sie, ja er beschnupperte sie buchstäblich. Dabei achtete er stets auf eine Stelle am Rand, auf ein nebensächliches Detail, auf einen im Hintergrund verlorenen Pinselstrich. Schönheit rührte ihn an, doch er war auch leicht reizbar. Er verabscheute Fontanas Schnitte in die Leinwand und sämtliche Anhänger der Raumkunst. Manchmal gab es herrische Schreie in diesen ölhaltigen Räumen, dazu Leute, die im Zurückweichen auf der Treppe stolperten.

Abgesehen von einer harten Hand auf meinem Kopf am Ende eines Weihnachtsfests erinnere ich mich an keine zärtliche Geste, die er für mich, seinen einzigen Neffen, übrig gehabt hätte. Dass meine Mutter ihn sehr liebte, löste eine ängstliche Faszination bei mir aus und stumme Eifersucht. Auch mein Vater hatte einen Bruder gehabt, doch der war früh gestorben. Nur eine Schwester war ihm geblieben, Eugenia, kurzes, graumeliertes Haar, männlich gekleidet, verheiratet, keine Kinder. Unsere Familie bestand aus steifen, verschrobenen Erwachsenen und unzähligen Greisen. Ich, das einzige Kind weit und breit, wurde wie der Käfer bei Kafka mit Scheu betrachtet, als könnte ich sie, riesengroß geworden, verschlingen. Ich bekam deprimierende Geschenke, Dominosteine, Regenschirme.

Einmal schenkte mir Onkel Zeno ein Steinmosaik zum Zusammensetzen. Auf dem Höhepunkt eines freudlosen Nachmittags nahm ich die bleischwere Schachtel und warf sie aus dem Fenster. Durch die Lamellen des Fensterladens beobachtete ich ihren Flug und sah, wie sie aufsprang, wie die Steine herausfielen und sich auf dem Hof verteilten. An den Beeten entdeckte ich den heraufschauenden Portier und wich zurück. In jenen Jahren träumte ich oft von Selbstmord. Nie hatte ich mir so sehr gewünscht, mich umzubringen, wie in meiner Kindheit. Das Mosaik hinauszuwerfen war eine Art Generalprobe für den tödlichen Aufprall. Es klingelte.

Vor der Tür stand der Sohn des Portiers, sein kantiges, träges Gesicht tauchte hinter der wieder zusammengesetzten Schachtel meines Mosaiks auf.

»Mein Vater sagt, das ist bei euch aus dem Fenster gefallen.«

Der schwarze Fahrstuhlkäfig hinter ihm war leer, die Kabine stand nicht auf unserer Etage. Er war zu Fuß heraufgekommen. Sein Atem ging schwer. Er schaute mich an, sichtlich erfreut über diesen Auftrag. Wahrscheinlich war er eins dieser emsigen, gelehrigen Kinder. Hängende Schultern, stramme Schenkel, staubige Schuhe. Ein kleiner Portier. Ich selbst war spindeldürr. In jenen Jahren sezierte ich mein Essen, durchsiebte ich die Speisen, um feinste Fettäderchen zu entfernen und immer noch kleinere Häppchen abzutrennen. Ich stand da, wach, aufgewühlt. Er war der am weitesten von mir entfernte Mensch auf Erden, ein Kind ohne jeden Reiz. Aus einem groben Material geschnitzt, mit der Atmung eines Frosches, hektisch, aber nach innen. Er spähte durch die Tür, auf den schwarzen Ausschnitt der Wohnung hinter mir. Ich entdeckte seine Schamröte. Am liebsten hätte ich ihn zu mir in die Küche gezogen und die Milchtassen heruntergeholt. Er war immerhin ein Kind, wenn auch fade und wenig anziehend. Eine Abwechslung an diesem bleiernen Nachmittag. Ich hätte ihm einen meiner Soldaten in die Hand drücken können, hätte ihn unzählige Male besiegen können, mit Fausthieben, mit Bajonettstichen. Ich betrachtete das Mosaik, das er für mich zusammengesetzt hatte und an sich presste wie einen Schatz.

»Es ist mir nicht runtergefallen, ich hab’s weggeworfen.«

Sein Blick war dämlich, entgeistert.

»… Wieso denn?«

Ich stemmte mich gegen die Tür, um ihn wegzudrängen.

»Ich kann es nicht gebrauchen, ich muss Platz schaffen. Wenn du willst, kannst du es behalten.«

Er schien nicht zu wissen, ob er verzweifelt weinen oder glücklich jubeln sollte. Ich sah, wie er an diesem Meer, das sich da auftat, entlanglief, doch ich sah auch, wie er sich hastig wieder verschloss, anständig und brav. Er bedankte sich und sagte, falls ich es mir anders überlegte, würde er mir das Mosaik jederzeit zurückgeben. Genau in dem Moment, als ich mir vorstellte, ihm einen Fußtritt zu verpassen, stolperte er auf der Treppe, und es war, als hätte ich ihn tatsächlich getreten.

»Warum nimmst du denn nicht den Fahrstuhl?«

Er schüttelte den Kopf und wich im zeitgeschalteten Treppenlicht zurück. Ich hätte ihn gern um Hilfe gebeten.

Auf dem Rückweg vom Klavierunterricht erlaubte ich dem Hausmädchen nicht mehr, mich an die Hand zu nehmen, sondern lief stattdessen einige Schritte vor ihr her (und wie dicht war mir diese erbärmliche Gefängniswärterin auf den Fersen!). Ich blieb stehen und spähte durch das von der Straße und vom Blütenstaub pelzige Gitter in das Fenster der Portierswohnung, das knapp über dem Bürgersteig lag. Dieses Erdloch neben den schwarzen Kellerlüftungen und neben dem Lager des Schreibbüros trieb mir eine Gänsehaut über den Rücken. Ich wusste, dass von dort die Mäuse kamen, die der Portier mit den Mausefallen köpfte.

Durch das Gitter sah ich Costantino, der auf einer Holzplatte die Marmorsteinchen meines Mosaiks zusammensetzte. Ich kniete mich hin, um ihn besser zu sehen. Er hatte eine Pinzette und eine Art Bausch, mit dem er den überschüssigen Leim abwischte. Er war gewissenhaft, probierte die Teile mehrmals aus, bevor er sie anklebte, wusch sie in einer kleinen Schüssel und trocknete sie ab. Es ärgerte mich, dass er derart viel Spaß an diesem sinnlosen Spiel hatte. Ich wollte runtergehen und es ihm aus der Hand reißen. Mit dem Fuß trat ich gegen das Gitter.

Er hob den Kopf, richtete sich abrupt auf und kletterte auf einen Stuhl, um das Fenster zu öffnen. Jetzt war nur noch das dreckige Eisengitter zwischen uns, an dem die Hunde ihr Bein hoben. Er schrie, um den Straßenlärm zu übertönen.

»Willst du dein Mosaik wiederhaben?«

Ich schüttelte den Kopf und zuckte zurück.

»Wenn du willst, können wir es zusammen machen, komm …«

Er war nicht so schüchtern wie sonst. Vielleicht fühlte er sich durch die Tatsache geschützt, dass er mit den Füßen fest in seinem Zuhause verankert war. Hinter ihm erspähte ich seine Mutter, die mich zu ihnen hereinwinkte. Sie frittierte gerade Kartoffeln und schüttete sie auf braunes Backpapier.

»Willst du mit uns essen?«

Ein köstlicher Duft zog herauf, bei dem sich meine Eingeweide und mein Herz zusammenkrampften. Fast hätte ich losgeheult. Ich zog mich hoch, stand noch ein Weilchen mit reglosen Füßen vor ihren Gesichtern und ging dann weg.

Er trug das Mosaik zum Trocknen auf den Hof und legte es auf einen rissigen Stuhl, genau in die Ecke, wo für einige Stunden die Wintersonne hinkam. Vielleicht wollte er, dass ich es sah. Es zeigte einen achäischen Krieger. Ein Stück des Gesichts und des Schildes fehlte. Einige Teile mussten durch den Wurf abhandengekommen oder kaputtgegangen sein. Ich betrachtete das eine Auge, betrachtete den leeren Fleck des anderen. Da kam mir ein aus der Zeitbahn geschleudertes Bild in den Sinn, eine Vorahnung, die verflog, noch bevor ich sie greifen und entschlüsseln konnte. Zurück blieb nur Leere, das Gefühl eines Kopfsprungs ohne Arme, ein Wind, der mich durchfuhr und verschwand, um ungestüm in der Ferne weiterzuwehen.

Zwei Tage später warf ich das Zelt runter. Es war das einzige Geschenk, das mir je etwas bedeutet hatte. Der x-te Bluff. Kein Mensch wäre mit mir zum Camping gefahren. Ich hatte das Zelt in meinem Schlafzimmer aufgebaut, und dort hatte es monatelang gestanden. Es wurde zu einer Wohnung in der Wohnung. Das Hausmädchen bückte sich, um mir mein Essen reinzustellen. Ich machte meine Schulaufgaben darin, spielte Pianola darin, schlief darin. Erwachte schweißgebadet in diesem Plastikbauch mit den geschlossenen Reißverschlüssen und zog mich unter diesem Himmel in Dunkelorange nackt aus. Eines Abends beschloss ich, es mir vom Hals zu schaffen, und warf es runter in den Hof. Ich weiß nicht, wieso. Es war das Liebste, was ich hatte.

Costantino hob es auf und schaute nach oben. Ich wartete darauf, dass er heraufkam, um es mir zurückzubringen, doch das tat er nicht. Ich ging in den Hof hinunter. Das Zelt war weg, ich stellte keine Fragen.

Wahrscheinlich hatte er es mit an den Tiber genommen, an das schlammige Flussufer, wo er und seine Freunde immer spielten, die Söhne von anderen Portiers, von Garagenbesitzern, von kleinen Händlern aus der Gegend. Mein Zelt sollte ein Stützpunkt ihrer Vergnügungen werden, die im Sommer bis nach Sonnenuntergang dauerten. Sie bauten Blasrohre und angelten Plötzen. Einmal sah ich, wie er Esel spielte, die Beine gebeugt, die Hände auf den Knien. Die anderen sprangen ihm auf den Rücken, ein Turm aus verschwitztem Fleisch, der unter dem Gewicht ihres Gelächters wankte.

Dann kam die Pubertät, kam diese Krankheit. Für mich bedeutete das, eine Maus in einer Dinosaurierwelt zu bleiben. Die Mädchen waren als Erste dran. In der letzten Klasse der Mittelstufe wirkten sie wie lauter Lehrerinnen in einer Klasse voller kleiner Jungs. Sie fingen an, über ihre Periode zu sprechen, und ihr Blick wurde zu dem von Seen und Feen, zu jenen wunderbaren Fältchen, die die Hölle verbergen.

Es wurde Sommer. Das Haus leerte sich. Zurück blieben die Alten und die geschlossenen Geschäfte. Der Sohn des Portiers trug ein khakifarbenes T-Shirt und spritzte mit einem Schlauch den Hof ab. Seine Schwester Eleonora saß auf der Treppe und spielte mit Klick-Klack-Kugeln. Sie war gewachsen, trug niedrige Absätze und enge Gürtel, um ihren neuen Busen besser zur Geltung zu bringen.

Am Meer genoss ich eine größere Freiheit. Meine Großmutter hatte ein Hausmädchen, das sie bei der Haus- und Gartenarbeit ausbeutete. Mich ließ sie am Strand allein. Es war eine alte, eingezäunte Badestelle, lauter Familien, die sich seit ewigen Zeiten kannten. Der Bademeister hatte die dicke Haut eines Elefanten und wandte den Blick nie vom Wasser ab.

Ich wartete auf die großen Wellen, diese Ohrfeigen des Meeres, auf seine gierigen Strudel. Die Badehose voller Sand, mein Glied von der Kälte mikroskopisch zusammengeschrumpft. Es war der erste Sommer, in dem ich keinen Spaß hatte. Die Jungen trafen sich alle unter demselben Sonnenschirm, spielten mit den Mädchen Volleyball und auf der Strandterrasse Flipper. Noch ein Jahr zuvor hatten wir einen von uns mit dem Hintern über den Sand geschleift, um eine Murmelbahn zu bauen, doch davon wollte jetzt keiner mehr etwas wissen. Sie hatten Sonnenbrillen auf der Nase und hielten, an der Jukebox klebend, ihre Hände über ihre Speedo-Badehosen. Die ersten Frisbees kamen auf, und ich vertrieb mir die Zeit damit, so eine Plastikscheibe zu werfen. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, als wäre es eine Pflicht.

Dann kam es zu einem sexuellen Zwischenfall. Eines Tages, als ich so lange am Wasser entlanggelaufen war, dass ich behaupten konnte, ich hätte zu Fuß schon ein anderes Meer erreicht, geriet ich in einen Strandabschnitt mit verlassenen Booten, auf das Gelände einer Segelschule. Die Rümpfe ragten aus dem Sand wie große, in der Sonne vergilbte Tintenfischknochen. Seit einer Weile hatte ich schon keine Menschenseele mehr getroffen. Nur ein Typ mit einem Bernhardiner war vorbeigekommen, der nun aber schon weit weg war. Hinter dem Bootsschuppen sah ich Sanddünen und hohe Stechginsterbüsche. Ich schaute in die Ferne, zur Linie des Abendrots, wo die Bucht in hohen, dunklen Felsen auslief. Das Licht glich dem eines Sonnenuntergangs im Paradies, die ausgehöhlten Baumstämme waren aus Silber. Ich zog mein T-Shirt aus und ging ins Wasser, ich ließ mich mitreißen, unter Wasser ziehen, sterben und leben. Ich spielte toter Mann und einen wütenden Idioten, der das Meer ohrfeigt. Dort, halb drinnen und halb draußen, hörte ich, dass mich jemand rief. Am Wasser stand einer und wedelte mit dem Arm wie ein Bademeister, der dich zurückruft. Er schien mich vor einer Gefahr warnen zu wollen. Ich drehte mich um und suchte das Wasser nach wer weiß was ab, womöglich nach einer Haiflosse. Orientierungslos hastete ich zum Ufer, wobei ich die Beine im Wasser hastig hochzog. Der Mann stand im Gegenlicht, und die Spritzer nahmen mir die Sicht, sodass es mir erst auffiel, als ich ihm schon zu nahe war. Und selbst dann brauchte ich noch einen Schritt, ehe ich begriff. Ich kann nicht sagen, was es eigentlich war. Nicht mal eine Qualle, die beim Schwimmen dein Gesicht erwischt, kann dich so verbrennen.

Ich hatte nicht bemerkt, dass er nackt war, dorthin hatte ich nicht geschaut. Ich sah das Rubbeln seiner Hand und dieses blaurote, dicke Etwas in der Mitte. Er richtete es auf mich, die Zunge an die Lippen gepresst, den Blick starr auf mich geheftet. Die sexuelle Gewalt war bei mir angekommen, der Szenenwechsel, die Umkehrung des Paradieses in die Hölle. Ich erfasste das Grauen mit nur einem Wimpernschlag. Wie sein Gesicht aussah oder der Rest von ihm, könnte ich nicht sagen. Er rieb sich weiter, keuchte. Wir standen dicht voreinander, er hätte nur seinen Arm ausstrecken müssen. Ich schaute weg, zum Strand und nach hinten zu den Büschen, um zu sehen, ob dort noch jemand war. Erst jetzt wurde mir die Menschenleere bewusst, die späte Stunde, das Eis an mir und der Schweiß über diesem Eis. Ich rührte mich nicht. Ich sah mich dem Tod gegenüber, regungslos, und taxierte das Schlachtfeld ringsumher.

Er war ein Kerl wie ein Schrank, dunkelhäutig, um den kahlen Schädel hatte er einen Stofffetzen gebunden. Er stand wie angewurzelt da, der große Schwanz erigiert. Was ich nicht wusste, am Tag dieser brutalen Lektion aber entdeckte, war, dass ich Mut habe, einen Mut, der durch den Wahnsinn geht und dann zurückkehrt. Den Mut der Masochisten. Der stillhaltenden Brutalos.

Vielleicht war er gar kein Vergewaltiger, vielleicht war er ja nur ein Exhibitionist, jedenfalls gab ich ihm keine Chance, das klarzustellen. Ich reizte ihn nicht mit den unüberlegten Reaktionen eines Opfers. Ich fiel nicht hin, schrie nicht, wich nicht zurück ins Wasser. Ich ging an ihm vorbei, als hätte ich ihn gar nicht gesehen, als wäre er gar nicht da. Ich rechnete damit, dass er mich packte. Still wie ein Stein hätte ich mich vergewaltigen und umbringen lassen. Als ich an ihm vorbeiging, tat er mir geradezu leid. Mein Mitleid erwuchs aus jener Gefühlsübertragung, zu der ein vom Tod erleuchtetes Opfer seinem Mörder gegenüber fähig ist. Hinter mir spürte ich den Hauch pornografischer Einsamkeit.

Am Strand kam der Mann mit dem Bernhardiner zurück. Vielleicht hat mich das gerettet. Der Exhibitionist warf sich ins Wasser und schwamm eine Weile aufs offene Meer hinaus, ohne aufzutauchen.

Später erfuhr ich, dass sich an diesem Strand Nudisten und Homosexuelle in den Dünen zum Sex unter freiem Himmel trafen.

Wie betäubt kehrte ich nach Hause zurück. Ich sagte niemandem ein Sterbenswort. Die Angst hielt mich gepackt und kroch an mir hoch wie Krabben nach der Flut. Das Bild dieses riesigen, umklammerten Schwanzes, dieser violetten Spitze, kehrte immer wieder. Ich fragte mich, warum gerade mir das passiert war. Vielleicht sah ich ja irgendwie schräg aus, offenbar konnte man mich für einen Jungen halten, der irgendwie anders war. Für ein ideales Missbrauchsopfer. Ich kam mir vor, als wäre ich der Verführer gewesen.

Nun hatte ich Angst, dass andere mich ansahen und ihr Ding vor mir auspackten, weil sie mich irgendwie schräg fanden. Ich fing an, mit kleinen Kindern Burgen zu bauen und mich in Sandgruben zu verkriechen.

Einmal guckte ich mir einen Jungen aus, einen von denen, die am Meer weißblond werden, mit gelbem Flaum, der sich über ihren dunklen Rücken zieht. Ich begann ihn anzustarren, ohne den Blick von ihm zu wenden, zunächst nur aus Spaß, dann als Experiment. Ich fixierte ihn mit glasigen Augen. Diese Dominanz, diese untergründige, brutale Fessel, entschädigte mich für alle meine verdeckten Frustrationen. Er wollte weinen, weinte aber nicht. Er kratzte weiter mit seinem Schippchen im Sand herum, doch ich spürte, dass er mutlos geworden war. Er hatte sich von der Schar der anderen Kinder abgesondert, war in meiner Gewalt. Er wusste, dass er in der Falle saß. Wäre ich aufgestanden, wäre er mir widerstandslos gefolgt. Eine halbe Stunde lang behielt ich ihn als Geisel. Dieses kleine, wehrlose Geschöpf zu unterwerfen, ohne mich ihm auch nur zu nähern, bereitete mir eine tiefe Genugtuung. Dann senkte ich den Blick und ließ ihn gehen. Er rannte weg, zu seiner Mutter im Liegestuhl und klammerte sich ohne ein Wort an ihre eingeölten Beine. Er hätte sowieso nicht gewusst, was er sagen sollte. Dabei war ihm Gewalt angetan worden, dabei war er weit weg geschleudert worden. Dieses subkutane Entsetzen kannte ich nur zu gut. Ich schaute aufs Meer, ich war dabei, ein schräger Typ zu werden.

Der Sohn des Portiers verreiste im Sommer immer nur für wenige Tage in sein Heimatdorf in Apulien. Dort hatte er ein Fahrrad und Freunde, mit denen er ungehemmt seinem Dialekt frönen konnte. Auf unseren Hof zurückgekehrt, machte er einen verwilderten Eindruck, und seine Augen wirkten verschwiegener, als hätte er dort unten zwischen den Oliven etwas Verbotenes gelernt.

Ich entdeckte ihn in dem kleinen Verschlag auf dem Platz seines Vaters. Ich sah eine Gestalt im Dunkel des Hauseingangs, einen Jungen, der ins Septemberlicht hinaustrat. Ciao. Fast hätte ich ihn nicht wiedererkannt. Während des Sommers war er gigantisch gewachsen. Seine Mutter kam ihm entgegen und drückte ihm zwei Teller in die Hand, die mit einem verknoteten Wischtuch zusammengebunden waren. Es war ein Uhr und Mittwoch. Die Trattoria an der Ecke hatte Ruhetag, und die Portiersfrau schickte Onkel Zeno das Mittagessen hinauf, ihm, der die Hitze und die nackten Fleischmassen hasste und die Stadt im Sommer daher niemals verließ. Stattdessen blieb er oben in seinem Penthouse, mit dem Ventilator und mit seinem Morgenrock aus Damast, rotgesäumt wie die Toga eines Königs im antiken Rom. Er trug ihn auch, wenn er angekleidet war.

Ich rief den Fahrstuhl, der oben stand. Costantino kam zu mir, um mir Gesellschaft zu leisten. Wir unterhielten uns ein wenig, und zwar anders als sonst, ohne uns gegenseitig zu verachten, wie es in den Vorjahren häufig der Fall gewesen war, aus Schüchternheit und aus einer Einsamkeit heraus, die für uns nicht die gleiche war. Wirklich befreundet gewesen waren wir nie. Der Gedanke, dass er im Sommer in Begleitung seines Vaters ungestört in mein Zimmer gehen konnte, war mir unangenehm, und jedes Mal, wenn ich im Laufe des Jahres etwas nicht finden konnte, gab ich ihm die Schuld dafür. Bei meiner Mutter konnte ich mich darüber natürlich nicht beklagen. Diese Leute sind eben bodenständiger, würde sie sagen und mir damit den Wind aus den Segeln nehmen.

»Fährst du mit hoch?«

Er schüttelte den Kopf und betrat dann trotzdem den Fahrstuhl. Wir standen eng nebeneinander, während die Seile surrten. Ich sah ihn im Spiegel an, ein verstörter Riese, und ich neben ihm, ein kleiner Junge, der seine Unschuld verloren hatte. Zwischen uns dieser zugedeckte Teller, dieses Aroma einer guten Soße.

»Was bringst du ihm denn?«

»Gnocchi.«

»Der hat’s gut.«

Er setzte ein trauriges Lächeln auf sein kindliches, nunmehr von seinem Körper getrenntes Gesicht. Offenbar war er mindestens so aufgewühlt wie ich. Er hob den Kopf und spähte durch das Gitter nach oben. Ich sah, wie sich der Adamsapfel in seiner Kehle bewegte, als wollte er schlucken.

Im Oktober fanden wir uns unverhofft in derselben Klasse wieder. Es war ein Gymnasium in der Nachbarschaft, groß und demokratisch. Ein achteckiges, durch Korridore gegliedertes Gebäude, das von Leben nur so wimmelte. Costantino saß ein paar Bänke vor mir in der Fensterreihe. Ich konnte seinen Rücken sehen, seinen Ellbogen, der sich bewegte, wenn er schrieb, und seine Füße, die er stets einwärts gedreht hielt. In dieser Position verharrte er mehr oder weniger das ganze Jahr lang. Wir ignorierten uns weiter. Dass wir uns kannten, machte uns einigermaßen verlegen, warum, kann ich nicht genau sagen.

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