Herrschaft der Dinge - Frank Trentmann - E-Book
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Herrschaft der Dinge E-Book

Frank Trentmann

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Beschreibung

Konsum – der Motor unserer Zivilisation

Was wir konsumieren, ist zu einem bestimmenden Aspekt des modernen Lebens geworden. Wir definieren uns über unseren Besitz, und der immer üppigere Lebensstil hat enorme Folgen für die Erde. Wie kam es dazu, dass wir heute mit einer derart großen Menge an Dingen leben, und wie hat das den Lauf der Geschichte verändert?

Frank Trentmann, Historiker am Londoner Birkbeck College, erzählt in Herrschaft der Dinge erstmals umfassend die faszinierende Geschichte des Konsums. Von der italienischen Renaissance bis hin zur globalisierten Wirtschaft der Gegenwart entwirft er eine weltumspannende Alltags- und Wirtschaftsgeschichte, die eine Fülle von Wissen bietet, den Blick aber ebenso auf die Herausforderungen der Zukunft lenkt angesichts von Überfluss und Turbokapitalismus. Ein opulentes, eindrucksvolles Werk, das Maßstäbe setzt, in der Forschung wie in den wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Debatten unserer Zeit.

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Seitenzahl: 1730

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Das Buch

In seinem monumentalen Werk entfaltet Frank Trentmann die faszinierende Geschichte des Konsums, vom China der Ming-Zeit, der italienischen Renaissance und dem British Empire bis in die Gegenwart. Unterhaltsam und mit viel Detailkenntnis erzählt er, wie es dazu kam, dass wir heute so viele Dinge besitzen, wie dies den Lauf der Geschichte veränderte und welche enormen Folgen der immer üppigere Lebensstil für die Erde hat.

Der Autor

Frank Trentmann ist Professor für Geschichte am Birkbeck College der Universität London. Seine akademische Ausbildung absolvierte er an der Universität Hamburg, an der London School of Economics und in Harvard, ehe er in Princeton und in Bielefeld lehrte. Für sein 2008 erschienenes Buch Free Trade Nation erhielt er den Whitfield Prize der Royal Historical Society, 2017 wurde ihm der Humboldt-Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung verliehen. Frank Trentmann ist einer der renommiertesten Historiker im Bereich der Alltags- und Konsumgeschichte.

»Mit großer darstellerischer Kunst verbindet Frank Trentmann die Geschichte der Macht mit Veränderungen im Alltagsleben und in der materiellen Kultur. Sein bedeutendes Buch bietet eine global vergleichende Geschichte des Konsums von der Luxusmode bis zu Problemen der Müllentsorgung. Aktuelle Debatten über Verschuldung und Verschwendung, über Konsumethik und Nachhaltigkeit erscheinen in historischer Tiefenperspektive.«

Jürgen Osterhammel

Frank Trentmann

HERRSCHAFT DER DINGE

DIE GESCHICHTE DES KONSUMS VOM 15. JAHRHUNDERT BIS HEUTE

Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt und Stephan Gebauer-Lippert

Deutsche Verlags-Anstalt

Die Originalausgabe ist 2016 unter dem Titel Empire of Things. How We Became a World of Consumers, from the Fifteenth Century to the Twenty-firstbei Allen Lane, einem Imprint von Penguin Random House UK, London, erschienen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesond,ere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2016 Frank Trentmann

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Jonas Wegerer, Freiburg

Umschlag: Büro Jorge Schmidt, München, unter Vorlage von Richard Kuiper (Fotografie) und Milan Bozic (Gestaltung)

Typographie und Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Gesetzt aus der Berling Nova

ISBN 978-3-641-20818-9V003

www.dva.de

Für Oscar & Julia

Ich liebe die Dinge über alles,

alles.

Ich mag die Zangen,

die Scheren,

ich schwärme

für Tassen,

Serviettenringe,

Suppenschüsseln –

vom Hut

ganz zu schweigen.

O unumkehrbarer

Strom

der Dinge,

keiner kann sagen,

ich hätte nur

die Fische

geliebt

oder die Gewächse des Urwalds und der Wiesen,

Falsch:

Mir sagten viele Dinge

vieles.

Nicht nur sie rührten mich

oder meine Hand rührte sie an,

sondern so dicht

liefen sie

neben meinem Dasein her,

daß sie mit mir da waren

und so sehr da für mich waren,

daß sie ein halbes Leben mit mir lebten

und dereinst auch einen halben Tod mit mir sterben.

aus Pablo Neruda, »Ode an die Dinge«

Inhalt

Einleitung

Teil I

1 Drei Konsumkulturen

2 Die Aufklärung des Konsums

3 Das Reich der Dinge

4 Städte

5 Die Konsumrevolution kehrt heim

6 Das Zeitalter der Ideologien

7 Im Überfluss

8 Asien konsumiert

Teil II

Vorwort

9 Kauf jetzt, zahl später

10 Nicht so schnell!

11 Von der Wiege bis zur Bahre

12 Außerhalb des Marktes

13 Nah und fern

14 Dinge des Glaubens

15 Wegwerfgesellschaft?

Epilog

Dank

Anmerkungen

Register

Bildnachweis

Editorische Hinweise

Abbildungen

Einleitung

Wir sind von Dingen umgeben. In den Garagen von Los Angeles stehen häufig keine Autos mehr, sondern Unmengen von Aufbewahrungskartons. In Großbritannien gab es 2013 sechs Milliarden Kleidungsstücke, rund einhundert pro Erwachsenem; ein Viertel von ihnen verlässt nie den Kleiderschrank. Ein Deutscher nennt im Durchschnitt zehntausend Gegenstände sein Eigen. Natürlich besaßen die Menschen schon immer Dinge, und sie benutzten sie nicht nur zum Überleben, sondern auch für Rituale, zum Vorzeigen und zu ihrem Vergnügen. Aber die Besitztümer, die sich in einem vormodernen Dorf oder bei indigenen Gruppen finden, verblassen neben dem wachsenden Berg von Dingen in hochentwickelten Gesellschaften wie unseren. Mit dieser zunehmenden Anhäufung war ein Wandel in den Beziehungen der Menschen zu den Dingen verbunden. Im Gegensatz zum vormodernen Dorf, wo die meisten Gegenstände als Geschenke oder mit der Mitgift hinzukamen und weitergegeben wurden, werden in modernen Gesellschaften Dinge größtenteils auf dem Markt gekauft. Und sie begleiten unser Leben nicht über einen so langen Zeitraum.[1]

In den letzten Jahrhunderten sind der Erwerb, Nachschub und Verbrauch von Dingen, kurz der Konsum, zum bestimmenden Merkmal unseres Lebens geworden. Es wäre falsch, anzunehmen, die Menschen hätten zu irgendeiner Zeit eine einzige Identität gehabt, aber es gab Abschnitte in der Geschichte, in denen bestimmte Rollenmodelle vorherrschend waren und die Gesellschaft und Kultur prägten. In Europa bildete sich im Hochmittelalter eine feudale Gesellschaft aus Rittern, Herren und Leibeigenen heraus.[2] Während der Reformation stießen verschiedene Konfessionen aufeinander. Im 19. Jahrhundert machte eine auf Handel beruhende Gesellschaft einer industriellen Klassengesellschaft aus Kapitalisten und Lohnarbeitern Platz. Heute ist die Arbeit immer noch wichtig, aber sie definiert uns weit weniger als in der Blütezeit der Fabriken und Gewerkschaften. Statt Krieger oder Arbeiter sind wir mehr denn je Konsumenten. In der reichen Welt– und in zunehmendem Maß auch in der sich entwickelnden– werden Identität, Politik, Wirtschaft und Umwelt grundlegend von dem bestimmt, was und wie wir konsumieren. Geschmack, Erscheinung und Lebensstil definieren, wer wir sind (oder sein wollen) und wie andere uns sehen. Politiker stellen öffentliche Leistungen wie einen Supermarkt voller Waren dar, aus denen sich die Bürger wie Kunden bedienen können. Umgekehrt bemühen sich viele Bürger, soziale und politische Anliegen voranzubringen, indem sie in Boykotten und »Buykotten« die Macht ihrer Geldbeutel einsetzen. Hochentwickelte Wirtschaften sind auf Gedeih und Verderb von ihrer Fähigkeit abhängig, durch Werbung, Markenbildung und Konsumentenkredite ein hohes Ausgabenniveau zu erreichen und aufrechtzuerhalten.

Die vielleicht existentiellste Auswirkung unseres materiell aufwendigen Lebensstils ist diejenige auf den Planeten. Dieser Lebensstil beruht auf fossilen Brennstoffen. Im Lauf des 20. Jahrhunderts hat sich die Kohlendioxidemission pro Person vervierfacht. Heute verursachen der Transport und größere, komfortablere Häuser und Wohnungen, ausgestattet mit vielen Haushaltsgeräten, knapp die Hälfte des globalen CO2-Ausstoßes. Der gestiegene Fleischkonsum hat den Stickstoffkreislauf empfindlich gestört. Kalkuliert man die Emissionen mit ein, die bei der Herstellung und Auslieferung ihrer Güter entstehen, sind die Verbraucher sogar noch tiefer in diesen Prozess verstrickt. Und viele kaputte Fernsehgeräte und Computer landen am Ende ihrer Lebensspanne in Ländern wie Ghana und Nigeria, wo sie Krankheiten und Umweltverschmutzung hervorrufen, weil sie zur Gewinnung von Wertstoffen auseinandergenommen werden.[3]

Wie viel und was man konsumieren soll, ist eine der drängendsten, aber auch verzwicktesten Fragen unserer Zeit. Dieses Buch ist ein historischer Beitrag zu dieser Debatte. Es erzählt, wie es dazu kam, dass wir mit so viel mehr leben als früher, und wie dies den Gang der Geschichte verändert hat.

Wie andere Schlüsselbegriffe der Geschichte hat auch derjenige des Konsums einen Bedeutungswandel durchlaufen. Er geht auf das lateinische Wort consumere zurück, das im 12. Jahrhundert zuerst ins Französische Eingang fand und von dort ins Englische und später auch in andere europäische Sprachen übernommen wurde. Damals bedeutete es den Verbrauch und physischen Verzehr von Material. Lebensmittel, Kerzen und Feuerholz wurden konsumiert. Auch der Körper wurde, wenn er von Krankheit befallen war, konsumiert. Verwirrend war, dass es das ähnlich klingende Verb consummare gab, das bedeutete, etwas zu vollenden, wie in den letzten Worten Christi: »Es ist vollbracht« – consummatum est. Im englischen Alltagsgebrauch wurden »Verbrauch« und »Vollendung« häufig zusammengeworfen.[4]

Zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert durchlief der Begriff eine rätselhafte Metamorphose. Konsum bedeutete immer weniger Verbrauch oder Zerstörung und wurde stattdessen zu etwas Positivem und Schöpferischem. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts vertraten ökonomische Denker die Auffassung, dass der Erwerb von Gütern und Dienstleistungen nicht nur individuelle Bedürfnisse befriedigte, sondern zugleich die jeweilige Nation bereicherte, indem er den Markt für Produzenten und Investoren vergrößerte. Persönliche Eitelkeiten, wie der Kauf einer Schnupftabakdose oder extravaganter Kleidung, konnten – zumindest in materieller Hinsicht – einen öffentlichen Nutzen haben. Solche Verknüpfungen brachten bisherige moralische Gewissheiten ins Wanken. Ein Meilenstein auf diesem Weg war Adam Smiths Buch Der Wohlstand der Nationen von 1776, in dem er feststellte: »Ziel und Zweck aller Produktion ist der Verbrauch …«[5] Dessen ungeachtet waren Smith und seine Schüler noch ein gutes Stück davon entfernt, den Konsum zum Mittelpunkt der Ökonomie zu machen, ganz zu schweigen von der Annahme, dass es ein ständiges Wachstum geben könnte. Darauf kam man erst in den 1860er und 1870er Jahren, als William StanleyJevons, Carl Menger und Léon Walras verkündeten, nicht die Arbeit schaffe den Wert eines Produkts, sondern der Konsum.

Die Apotheose des Konsumenten mag zwar ihren Anfang in der Ökonomie genommen haben, aber vollendet wurde sie von der Politik. Um 1900 herum betrat der »Consumer« und Käufer als Zwilling des Bürgers die politische Bühne. Er setzte den Geldbeutel ein, um Sozialreformen zu fördern, zuerst in den Vereinigten Staaten und Großbritannien, aber bald auch in Frankreich und anderswo in Europa. Erst in der Zwischenkriegszeit, als in Massen produzierte, standardisierte Waren ihren Siegeszug antraten, machten Unternehmen und Werbefachleute den Kunden zum »König« des Markts. In den folgenden Jahrzehnten begann man die Nutzer von Gesundheits-, Bildungs- und Sportdienstleistungen als »Konsumenten« anzusprechen, bis man in den 1960er Jahren schließlich eine völlig neue Art von Gesellschaft ausmachte: die »Konsumgesellschaft«. Im späten 20. Jahrhundert wurden nicht mehr nur Güter und Dienstleistungen konsumiert, sondern auch Gefühle, Erlebnisse und Erfahrungen. Dennoch wurde die alte Verbindung zum Verbrauch nie ganz gekappt. Wilhelm Roscher, der Begründer der Historischen Schule der Ökonomie in Deutschland, bemerkte einmal, ein Mantel sei erst »consumirt«, wenn sein Stoff sich auflöse. Bezeichnenderweise verknüpft der in den 1880er Jahren eigens geschaffene japanische Begriff shōhi »verbrauchen« (hi) mit »auslöschen« (shō). In einer Zeit, in der wir uns wieder der Endlichkeit der Ressourcen des Planeten bewusst werden, spricht vieles für diese weiter gefasste, materielle Auffassung des Konsums.

Der Bedeutungswandel des Begriffs spiegelt die Entwicklung des Kapitalismus seit dem 15. Jahrhundert wider, in deren Verlauf Märkte, Erwerb und Auswahl sich auf einen immer größeren Teil der Gesellschaft ausdehnten. Dennoch wäre die Betrachtung zu eng gefasst, richtete man die Aufmerksamkeit nur auf das Kaufen und die Veränderungen der Kaufkraft. Konsum ist mehr als Erwerb. Trotz des Aufstiegs des Kaufens erreichen Dinge und Dienstleistungen die Menschen weiterhin auch auf anderen Wegen, etwa als Geschenke oder durch die Nutzung betrieblicher Fitnessstudios und Urlaubsangebote sowie, insbesondere in den letzten fünfzig Jahren, durch staatliche Leistungen auf den Gebieten von Gesundheit, Wohnung, Bildung und Sozialhilfe. Das Kaufen wird in diesem Buch gebührend gewürdigt, aber es gilt auch zu berücksichtigen, wie die Dinge benutzt werden, denn auf diese Weise formen sie erst das gesellschaftliche Leben und die soziale Identität und bestimmen deren Bedeutung.

Dieses Buch folgt dem Zyklus des Konsums so vollständig wie möglich, von der Nachfrage über Erwerb, Nutzung und Sammlung bis zur Entsorgung. Es beschäftigt sich mit dem Verlangen nach Gütern, das der Nachfrage zugrunde liegt, beispielsweise dem Wunsch nach indischen Baumwollstoffen im Europa des 18. Jahrhunderts, nach europäischen Kleidern im Afrika des 19. Jahrhunderts oder der Herausbildung eines neuen europäischen Geschmacks an exotischen Waren wie Kaffee, Tee und Schokolade. Der Geschmack an diesen Dingen war weder von vornherein vorhanden noch beständig, sondern musste und muss geschaffen werden. Und er veränderte sich im Lauf der Zeit, während der Kolonialismus und Kapitalismus jene Produkte für den westlichen Markt neu aufstellten. Auch Kulturen unterschieden sich darin, welche Güter sie wertschätzten. Die einen (wie die Ming-Kultur in China) legten auf das Alter wert, während andere (wie diejenigen der Vereinigten Niederlande und des frühmodernen England) in zunehmendem Maß auf Neuheit bedacht waren. Das nächste Glied in der Kette des Konsums ist der Erwerb. Hier kommen neben Kauf und Kaufkraft Kredit und Sparsamkeit ins Blickfeld. Aber auch Erwerbswege jenseits des Kaufens werden nicht außer Acht gelassen, wie die Weitergabe von Dingen an Verwandte und Freunde oder zu wohltätigen Zwecken; auch die in jüngster Zeit erfolgte bemerkenswerte Verwandlung des Kochens und des Gartenbaus von einer Arbeit zu einem Hobby, für das viel Zeit und Geld aufgewandt wird, gehört hierher. Das letzte Kettenglied betrifft schließlich das Ende des gesellschaftlichen Lebens von Gütern, wenn diese kaputt oder altmodisch geworden sind oder einfach von ihren Besitzern nicht mehr gewollt werden. In diesem Zusammenhang geht es nicht nur um Entsorgung, sondern auch um Aufbewahrung und Wiederverwendung.

Ebenso wichtig wie Zeit und Geld sind die Räume des Konsums. In dieser Hinsicht ist das Kaufhaus die Ikone der Modernität. Nicht weniger faszinierend ist jedoch die lebendige Mischung von Geschäften und Filialen, die das Kaufhaus umgibt, von Straßenhändlern über Lebensmittelgeschäfte bis zum Tante-Emma-Laden. Gleiches gilt für die Räume, in denen die Freizeit verbracht wurde (und wird), von kommerziellen Einrichtungen wie den frühen Kinos und Tanzlokalen über öffentliche Schwimmbäder bis zu von Firmen gesponserten Modeschauen. Ferner muss die Verbindung zwischen öffentlichem und privatem Leben untersucht werden, insbesondere die herausragende Bedeutung des Einzugs von fließend Wasser, Gas und elektrischem Strom in die Haushalte, der neue Gewohnheiten und Erwartungen hervorrief und den Einsatz neuer Geräte ermöglichte. Wir wollen nicht nur erfahren, wie viel Geld für ein Radio, eine Waschmaschine oder eine Klimaanlage ausgegeben wurde und wer sie kaufte, sondern auch, wie sie Art und Rhythmus des Alltagslebens veränderten. Komfort, Sauberkeit und Kommodität, um ein Wort aus dem 18. Jahrhundert zu benutzen, waren dynamische Triebkräfte des Konsums.

Heute ist der Konsum Gegenstand einer hitzigen öffentlichen Debatte zwischen zwei gegnerischen Lagern, die ihre moralische Artillerie aufeinander gerichtet haben. Auf der einen Seite stehen linksliberale, sozialdemokratische Kritiker, die das Konglomerat aus Kaufen, Werbung, Markenbildung und Billigkrediten attackieren, weil es aus aktiven, rechtschaffenen Bürgern passive, gelangweilte Konsumenten mache. Aus ihrer Sicht hat man die Menschen dazu gebracht, sich Dinge zu wünschen und zu kaufen, die sie nicht wollen und für die sie weder das Geld noch die Zeit haben, sie zu genießen. »Künstliche Wünsche« seien an die Stelle von »authentischen Bedürfnissen« getreten. Die Menschen seien überwältigt von einer zu großen Auswahl und würden immer kurzsichtiger. Wie Hamster im Laufrad seien sie in einem Kreislauf aus Ausgeben, Arbeiten und Konsumieren gefangen, der sie unglücklich, einsam und psychisch labil mache und in tiefe Schulden stürze. Jahrelanger geistloser Konsum und das Verlangen nach sofortiger Befriedigung hätten ihre Herzen und ihren Geist für die Mühsal anderer unempfindlich gemacht. Privater, selbstsüchtiger Hedonismus habe den öffentlichen Geist abgetötet. Der »Konsumismus«, wie er abwertend genannt wird, sei die neue Art des Totalitarismus, »der durch Gucci ersetzte Gulag«.[6]

Auf der anderen Seite stehen die Verfechter des Konsums, vor allem klassische Liberale, die in der Wahlfreiheit die Grundlage von Demokratie und Wohlstand sehen. Nach ihrer Ansicht sollten die Bürger das Recht haben, ihren Vorlieben zu folgen und ihre eigene Auswahl zu treffen, ohne dass irgendeine Autorität ihnen sagt, was gut oder schlecht ist. Am Markt eine Auswahl zu treffen sei wie die Stimmabgabe in einer Wahl. Wer in Erstere eingreife, untergrabe Letztere. Die Wahlfreiheit, wie Rose und Milton Friedman sie in ihrem erfolgreichen Buch Chancen, die ich meine von 1979 und der gleichnamigen Fernsehserie verfochten, sei nicht nur die beste, sondern auch die einzige Grundlage für »beides, für Wohlstand und Freiheit«.[7] Lizabeth Cohen hat in ihrem Buch A Consumers’ Republic auf lebendige Weise beschrieben, wie diese Vision die Vereinigten Staaten erobert hat.[8] Ähnliche Auffassungen hört man heute, häufig unter dem Oberbegriff des Neoliberalismus, in aller Welt. Auch einige Sozialdemokraten, die anerkennen, dass die Menschen ein Recht auf Komfort, Spaß und etwas Luxus haben, hängen ihnen an. Eine größere Auswahl unter mehr Waren und Dienstleistungen würde, so hoffen manche, die alten Klassenhierarchien aufweichen und eine pluralistischere Gesellschaft entstehen lassen. 2004 erklärte der damalige britische Premierminister Tony Blair als Vertreter von »New Labour«: »Ich glaube, die Menschen wollen auswählen, bei öffentlichen Dienstleistungen genauso wie bei anderen Dienstleistungen.« Den Eltern und Patienten als »Staatsbürgern und Konsumenten« eine größere Wahlmöglichkeit zu geben, betonte er, würde Schulen und Krankenhäuser verbessern.[9]

Als diese politische und moralische Lanze für die Wahlfreiheit gebrochen wurde, geschah das natürlich nicht in einem kulturellen Vakuum. In den 1970er und 1980er Jahren durchliefen viele Gesellschaften einen tiefgreifenden Wandel, der eine günstige Atmosphäre für Güter und Vergnügungen und eine tolerante Haltung ihnen gegenüber schuf. Vielleicht seien die Menschen, merkte der französische Soziologe und Kulturphilosoph Michel de Certeau an, ja nicht nur passive Tölpel, sondern kreativ und sogar rebellisch, wenn sie mit einem unverkennbar eigenen Lebensstil ihre Autonomie verteidigten. Die Jugendkultur, beobachteten andere, nutzte Mode, Mopeds und Popmusik, um die Konformität zu durchbrechen. Das Einkaufen, fügten Autoren aus dem Bereich der Gender Studies hinzu, sei nicht nur eine belanglose Tätigkeit, sondern könne Kraft verleihen, indem es Frauen, die es zumeist erledigten, eine neue Identität und öffentliche Präsenz gebe. Der Postmodernismus verwischte die einfache Trennlinie zwischen »authentischen« und »künstlichen« Wünschen und brachte die Hierarchie von »gutem« und »schlechtem« Geschmack durcheinander. Wenn die Realität keinen einzigen Standpunkt bereithält, sondern aus unterschiedlichen Diskursen und Interpretationen besteht, wer will dann entscheiden, ob die Vorliebe für Elvis mehr oder weniger echt oder wert ist als diejenige für Wagner? Anthropologische Feldstudien in Überflussgesellschaften kamen zu dem Ergebnis, dass Einkaufen und Konsum höchst bedeutungsvolle soziale Erfahrungen sind und keineswegs Akte geistloser Akkumulation. Die Menschen finden sich in ihren Besitztümern wieder und drücken sich durch sie aus.[10]

In diesem Buch geht es nicht darum, ein Urteil in einer moralischen Debatte zu fällen, und schon gar nicht um eine Entscheidung der Frage, ob Konsum »gut« oder »schlecht« ist. Konsum ist zu vielfältig und seine Geschichte zu reichhaltig, um in eines der beiden extremen Modelle von selbstzufriedenem Massenkonsum einerseits und individueller Freiheit andererseits zu passen. Hauptziel dieses Buchs ist ein anderes: Es soll dem Leser die Chance geben, einen Schritt zurückzutreten und das Thema aus historischer Sicht zu betrachten, um zu erkennen, wie der Konsum im Lauf der letzten fünfhundert Jahre zu dem geworden ist, was er heute ist. Was uns hier vor allem interessiert, ist der Prozess, genauer gesagt das Wechselspiel zweier Prozesse: einerseits die Gestaltung des Konsums durch Institutionen und Ideen und andererseits die Umformung von Macht, Sozialbeziehungen und Wertesystemen durch den Konsum.

Um die sich verändernde Wechselbeziehung zwischen diesen Kräften zu beschreiben, reicht es nicht aus, sich auf den individuellen Geschmack oder auf Verallgemeinerungen zu beschränken. Psychologen haben in jüngster Zeit gezeigt, dass es irreführend ist, Vorlieben als rationale Entscheidungen zu betrachten, wie die meisten Ökonomen es tun. Was Menschen auswählen, hängt von den Rahmenbedingungen ab; so kaufen sie eher etwas positiv als etwas negativ Etikettiertes, also, um ein einfaches Beispiel zu geben, eher zu 75 Prozent mageres als zu 25 Prozent fettes Fleisch.[11] Dies ist eine fundamentale Erkenntnis, und es gibt keinen Grund, warum man sie nur auf die Gegenwart anwenden sollte. Die Geschichte ist ein riesiges Laboratorium, in dem ständig solche Rahmensetzungen stattfanden. Handel, Weltreiche, Städte und Ideologien schufen Zusammenhänge, in denen die Menschen lebten und die manche Wünsche auslösten und andere unterdrückten, Gewohnheiten prägten und bestimmte Vorstellungen von Geschmack, Komfort und gutem Leben verbreiteten. Geld und Zeit spielen, wie wir sehen werden, eine Rolle. Ökonomen haben untersucht, wie und wann Haushalte und ihre Mitglieder Freizeit gegen Einkommen eintauschen, indem sie sich entscheiden, ihre Arbeitskraft am Markt zu verkaufen, um in der Lage zu sein, Güter zu kaufen. Dies ist wichtig, bleibt aber ein zu enges Nachfragekonzept, denn es sagt uns weder, was Haushalte dazu bringt, mehr Güter besitzen zu wollen, noch was sie dann mit ihnen tun. Wir müssen uns also anschauen, welche Kräfte auf Haushalte und ihre Entscheidungen einwirken. Materielle Wünsche sind keine Erfindung der Moderne. Aber sie können kultiviert und verstärkt oder vernachlässigt und zum Schweigen gebracht werden. In den letzten fünfhundert Jahren wurden sie stets verstärkt. Das vorliegende Buch ist eine Geschichte der Nachfrage nach immer »mehr«.

Eine bedeutende Kraft, die wichtige Deutungsrahmen bietet, war und ist die Moral. Die Menschen und ihre Herrscher haben Vorstellungen von gutem und schlechtem Verhalten, angemessenen und unangemessenen Ausgaben, gerechten und ungerechten Preisen, maßloser und maßvoller Lebensweise. Aber diese verändern sich im Lauf der Zeit, Ideologien steigen auf und stürzen, und die materiellen Bedingungen ändern sich. Die Positionen in der heutigen Moraldebatte, die oben kurz beschrieben wurden, stellen den Nachhall einer langen historischen Auseinandersetzung dar. So gesehen, besteht ihr Hauptwert weniger in der Analyse dessen, was gut oder schlecht ist, als vielmehr darin, Teile des historischen Puzzles zu bilden, Kapitel in der Ideengeschichte, die mehr über die Kraft und Nachhaltigkeit von Denktraditionen aussagen als darüber, was der Konsum tatsächlich ist. Der Aussage, Konsum sei totalitär, zum Beispiel, kann man den offensichtlichen Unterschied zwischen der sehr realen Macht in Stalins Arbeitslagern und derjenigen, die von Luxusmarken ausgeübt wird, entgegenhalten. Anstatt vorschnell in der heutige Moraldebatte Stellung zu beziehen, sollte man sich klarmachen, dass beide Positionen tief in der Geschichte verwurzelt sind. Interessanter ist es daher, herauszufinden, wie weit solches Denken in den von früheren Denkern gelegten Bahnen verläuft. Die Kritik am Konsumismus als neuem Faschismus reicht in die 1960er Jahre zurück, zu dem italienischen Filmregisseur und Schriftsteller Pier Paolo Pasolini und dem marxistischen Emigranten Herbert Marcuse. Letzterer warnte vor der Herausbildung des »eindimensionalen Menschen«; das gleichnamige Buch wurde seinerseits zum Konsumartikel und Bestseller.

Obwohl Marcuses pessimistische Diagnose von sozialer Kontrolle und Repression außer Mode gekommen ist, folgt die heutige öffentliche Debatte ein gutes Stück der Kritik des Konsumismus, wie sie während des Nachkriegsbooms en vogue war. Kein anderes Buch hat dabei einen derart langen Schatten geworfen wie John Kenneth Galbraiths Gesellschaft im Überfluss von 1958. Der Ökonom Galbraith – während des Zweiten Weltkriegs war er für die Preisstabilität in den Vereinigten Staaten verantwortlich gewesen – war ein liberaler Intellektueller mit einer sozialen Mission. Nach seiner Ansicht bildete sich nach dem Krieg eine neue, gefährliche Art von Gesellschaft heraus. In Folge der Wiederherstellung des Friedens habe man sich auf den Massenkonsum verlegt, um die während des Krieges aufgebauten Produktionskapazitäten auszulasten. Um dies zu erreichen, so Galbraith, habe die Produktion nicht mehr einfach nur Bedürfnisse befriedigen können: Sie habe sie mit Hilfe von Werbung und Vertretern erst schaffen müssen. Ein Teufelskreis sei in Gang gesetzt worden, der die Menschen dazu brachte, mit Hilfe von Konsumentenkrediten über ihre Verhältnisse zu leben. Etablierte Unternehmen seien dadurch weiter ins Zentrum der Macht gerückt, die vielleicht beunruhigendste Folge aber sei, dass der individuelle Materialismus über den Bürgersinn gestellt wurde. Es sei, um Galbraiths berühmte Gegenüberstellung zu zitieren, eine »Atmosphäre privaten Reichtums und öffentlicher Misere« geschaffen worden.[12]

Der allgemeinere Gedanke der Entmenschlichung, Versklavung und Korruption durch die Verlockung der Dinge reicht über Karl Marx und Jean-Jacques Rousseau bis zu Platon zurück. In Spätmittelalter und Frühmoderne stießen Aufwendungen für modische Kleidung, prächtige Hochzeiten und schöne Möbel weithin auf Ablehnung und wurden sogar verboten. Man befürchtete, sie würden eine Nachahmungsspirale auslösen sowie Werte und soziale Hierarchien untergraben. Außerdem lehnte man sie ab, weil sie der öffentlichen Hand Mittel entzogen. Am schwersten dürfte aber der Vorwurf gewogen haben, Habgier und das Verlangen nach Dingen würden Christen vom rechten Pfad des geistigen Lebens abbringen. In seinem 413 begonnenen Buch Vom Gottesstaat verfolgte Kirchenvater Augustinus den Mangel an Selbstbeherrschung, den »Irrtum und [die] verkehrte Liebe, mit der jedes Adamskind geboren wird«, bis zum Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies zurück.[13] Das Verlangen nach Gütern und das fleischliche Verlangen entsprangen hier derselben Quelle.

Der Gedanke der Gegensätzlichkeit von Sein und Haben hat eine lange Geschichte. Dies gilt aber auch für die alternative Ansicht, dass der Mensch erst durch die Benutzung von Dingen zum Menschen werde. Seit dem 17. Jahrhundert mehrten sich die Stimmen, die dem Konsum eine neue Legitimität zusprachen. Aus ihrer Sicht bildete das Verlangen nach immer mehr eine Triebkraft des menschlichen Erfindungsvermögens und der Zivilisation.

Die Leser werden wie der Autor dieses Buchs ihren eigenen moralischen Standpunkt haben. Was für den einen »extravagant« oder »frivol« ist, mag für andere »essentiell« sein. Für das historische Verständnis ist es indes nicht sehr erhellend, die Vergangenheit nur durch den eigenen moralischen Filter zu betrachten. Vielmehr muss man die sich verändernden Einstellungen historischer Akteure ernst nehmen, die positiven und ambivalenten ebenso wie die kritischen, insbesondere wenn man begreifen will, wie sich die »Bedürfnisse« derart ausweiten konnten, wie sie es getan haben. Wenn man nur auf die manipulative Macht von Werbung und Markenbildung verweist, verschließt man die Tür zu dieser reichen Geschichte der menschlichen Beschäftigung mit den Dingen.

Doch das Ziel dieses Buchs besteht nicht nur darin, Konsum als Produkt historischer Kräfte zu zeigen, denn umgekehrt hat auch er Staaten, Gesellschaften und den Alltag verändert. Um dies deutlich zu erkennen, muss man mit der Tradition brechen, die materielle Kultur als separate Sphäre des Alltagslebens zu betrachten. Der progressive US-Präsident Theodore Roosevelt prophezeite 1912, der »große Historiker« der Zukunft werde nicht nur die großen Ereignisse, sondern auch »das Alltagsleben der Männer und Frauen des Zeitalter so umfassend wie möglich« darstellen.[14] Etwas mehr als fünfzig Jahre später widmete der französische Historiker Fernand Braudel den ersten Band seines dreibändiges Werks über das Verhältnis von Zivilisation und Kapitalismus (Sozialgeschichte des. 15. – 18. Jahrhunderts) dem Alltagsleben. Eine solch herausgehobene Behandlung des Themas erbrachte eine Vielzahl von Erkenntnissen, nicht zuletzt über die Wirkung von Ess- und Trinkgewohnheiten und die Abläufe des Alltagslebens, die neben einer Marktwirtschaft bestanden. Aber sie hatte ihren Preis. Denn wenn Alltagsleben, Markt und Politik als getrennte Sphären behandelt werden, ist es nahezu unmöglich, ihr Wechselspiel nachzuvollziehen. Deshalb ist diese Herangehensweise für die moderne Geschichte, also die Zeit vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in der sich die Sphären immer dichter miteinander verweben, besonders ungeeignet. Für Braudel, dessen kreativer Ansatz sich bei der Beschäftigung mit dem 16. Jahrhundert herausbildete, war die »materielle Kultur« eine »Schattenzone«.[15] In der modernen Welt ist sie dagegen ins Zentrum der Politik gerückt: Der Lebensstandard, Wohnen und Essen, Freizeit, Einkaufen und Entsorgung sind zu Kernelementen des öffentlichen Interesses geworden.

Wir haben es mit einer neuen Dynamik zu tun: Das Wachstum des Konsums lässt– in seinem schieren Umfang, seiner Veränderung und seinem Materialdurchsatz– kaum einen Aspekt des öffentlichen Lebens unberührt. Diese Dynamik und ihre Auswirkungen auf das Sozialleben und die Politik stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Buchs. Es entwirft eine alternative Geschichte zu derjenigen der »Überflussgesellschaft«, die weiterhin die öffentliche Meinung prägt und die den Konsum als ein Phänomen– oder eine Krankheit– der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg versteht: des Booms, des Wirtschaftswunders oder der trente glorieuses. Dieser Zeitraum wird für gewöhnlich mit dem Aufstieg des Hedonismus, der Macht von Werbung und Vertretern sowie der Verbreitung von Kreditkarten, Supermärkten und vor allem der amerikanischen Lebensweise verknüpft. In diesen Jahrzehnten entdeckt man die Wurzeln der heutigen Fixierung darauf, immer mehr zu verbrauchen. Aus dieser Perspektive steht der Konsum für private Auswahl, grassierenden Individualismus und Markttausch. Chronologisch ist es weitgehend eine Nachkriegsgeschichte mit Amerika als Vorbild.

Das vorliegende Buch bricht in vier Punkten mit dieser Herangehensweise. Erstens erweitert es den Zeitrahmen. In den 1950er und 1960er Jahren vergrößerte sich im Westen das verfügbare Einkommen auf beispiellose Weise, doch dies bedeutet nicht, dass die Menschen in früheren Zeiten im Elend lebten. Anstatt den Nachkriegsboom als Neuanfang zu sehen, sollte man ihn als spätes Kapitel einer langen Geschichte der globalen Expansion der Güter betrachten. Wann genau diese Expansion begann, ist umstritten. Als der Historiker Neil McKendrick vor dreißig Jahren die »Geburt der Konsumgesellschaft« in Großbritannien ausmachte und auf das 18. Jahrhundert datierte,[16] löste er einen Prozess aus, im Zuge dessen der Zeitpunkt in immer frühere Epochen verlegt wurde; manche entdeckten die ersten Anzeichen im aufkommenden Geschmack an Bier und Rindfleisch im spätmittelalterlichen England. Die so ausgelöste Welle historischer Forschungen war ein gemischter Segen. Einerseits belegte sie umfangreich, dass die Vorliebe für neue Kleidung, häuslichen Komfort, die exotischen Getränke Tee und Kaffee sowie chinesisches Porzellan schon vor der Industriellen Revolution entstand. Im Gegensatz zur verbreiteten Auffassung ging der Massenkonsum damit der fabrikmäßigen Massenproduktion voraus; tatsächlich war die westliche Nachfrage nach indischer Baumwolle und chinesischem Porzellan einer der Faktoren, die Innovationen innerhalb der europäischen Industrie angestoßen haben. Zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert erlebten das Italien der Renaissance, das China der späten Ming-Zeit und dann auch die Vereinigten Niederlande und England eine materielle Blüte. Die vorliegende Darstellung beginnt mit der Untersuchung der unterschiedlichen Entwicklungen und Eigenheiten des Konsums in diesen drei Gesellschaften, die aber keinen Nullpunkt darstellen.

Denn andererseits hatte der Versuch, einen bestimmten Zeitpunkt für den Ursprung der Konsumgesellschaft zu finden, unselige Nebenwirkungen. Insbesondere lenkte er Historiker von der größeren Aufgabe ab, die Herausbildung des Konsums in Zeit und Raum nachzuvollziehen. Die »Geburt« war eine unglückliche Metapher, denn anders als ein Baby wurde der Konsum nicht auf einen natürlichen, fast universalen Weg von Wachstum und Entwicklung gesetzt. Vielmehr wurde er im Lauf der modernen Geschichte von Staaten und Reichen geformt und von Veränderungen in Kultur und Gesellschaft beeinflusst, durch die sich Lebensweisen, Geschmack und Gewohnheiten wandelten und neue Identitäten und Beziehungen entstanden.

Der zweite Perspektivenwechsel, den dieses Buch vornimmt, ist geographischer Art. In der Überflussära des Kalten Krieges schien die amerikanische Gesellschaft die Urform der Konsumgesellschaft zu sein, die ihre Lebensweise in die übrige Welt exportierte. Der Strom floss überwiegend in eine Richtung, als Teil von »Amerikas Siegeszug im Europa des 20. Jahrhunderts«.[17] Die These von der »Geburt« der Konsumgesellschaft machte das England des 18. Jahrhunderts zur Kinderstube eines angelsächsischen Auswahl- und Marktmodells. Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, sollte man diese anglozentrische Sichtweise unbedingt einer Prüfung unterziehen. Angesichts des raschen Wachstums in China und der materiellen Fortschritte in Indien, Brasilien und anderen sogenannten Schwellenländern kann man den Konsum kaum noch als ausschließlich angloamerikanischen Export behandeln. Obwohl weiterhin anderthalb Milliarden Menschen am Rand des Verhungerns leben, ist klar, dass der größere Teil der Weltbevölkerung mit immer mehr lebt. Allerdings sind die Menschen nicht einfach in die Fußstapfen der Engländer und Amerikaner getreten. Natürlich haben das britische Empire und sein Nachfolger im 20. Jahrhundert, die Vereinigten Staaten, ihre materielle Zivilisation aktiv verbreitet. Aber andere Gesellschaften waren keine leeren Hüllen; sie besaßen ihre eigenen Konsumkulturen. Afrikanische Königreiche, die sich im 19. Jahrhundert den europäischen Kolonialisten beugen mussten, brachten ihren eigenen Geschmack und ihre Gewohnheiten in den kolonialen Pool ein. Im 20. Jahrhundert traten Westdeutschland und Japan, Gesellschaften, die eher das Sparen als billige Kredite betonten, dem Klub der Überflussgesellschaften bei. Anstatt überall die schleichende Ausbreitung einer Monokultur zu vermuten, sollte man die fortdauernde Hybridität, Diversität und Vielfältigkeit im Rahmen universeller Trends zu steigendem Komfort und Besitz von Konsumgütern anerkennen.

Außerdem sind nicht alle Konsumenten liberale Kapitalisten. Auch faschistische und kommunistische Gesellschaften konsumierten. Die Regime Hitlers in Deutschland und Mussolinis in Italien waren ebenso materialistisch wie militaristisch. Sie versprachen ihren Völkern nicht nur mehr »Lebensraum«, sondern auch einen höheren Lebensstandard. Dass sie stattdessen Völkermord und Zerstörung hervorbrachten, ändert nichts an der Bedeutung ihrer materiellen Absichten. Was die sozialistischen Länder betrifft, so gab es weniger Auswahl und mehr Mangel als in den kapitalistischen Staaten. Auch nachdem Breschnew und Honecker der Forderung nach mehr Vielfalt, Mode und Komfort Zugeständnisse gemacht hatten, blieb der Konsum der Produktion untergeordnet. Dennoch wäre es falsch, diese Länder in einer Geschichte des Konsums nicht zu berücksichtigen, nur weil sie nicht kapitalistisch waren und ihre Autos und Fernsehgeräte weniger schnell ausgeliefert wurden und schneller kaputtgingen. Freie Auswahl und freier Markt sollten nicht die einzigen Kriterien des Konsums sein. Vor 1900 war keine Gesellschaft, nicht einmal England, die Wiege des Industriekapitalismus, in der Lage, Güter in solcher Menge zu produzieren und umzuschlagen, wie es später die Länder im sozialistischen Europa taten.

Die räumliche und zeitliche Ausweitung der Geschichte des Konsums in diesem Buch hat drittens Auswirkungen auf die Hauptakteure. Üblicherweise stehen in Untersuchungen des Einkaufens und Auswählens Werbung, Marken und Einkaufszentren im Vordergrund. Deren Rolle wird auch hier nicht geleugnet, aber der Konsum wird nicht nur von Marktkräften beeinflusst. Er wird von Staaten und Weltreichen geformt, durch Kriege und Steuern und die häufig gewaltsame Verpflanzung von Dingen und Menschen in einen anderen Teil der Welt. Die Vorstellungen vom »guten Leben« und von den Gütern und Dienstleistungen, die dafür nötig sind, werden nicht nur von den Marketinggurus der Madison Avenue geprägt, sondern auch von Sozialreformern und Stadtplanern, Moralisten und Geistlichen und in entscheidenden Momenten von den Konsumenten selbst, die sich zusammenfinden und ihre Marktmacht einsetzen, um ihr Leben und manchmal auch das von anderen zu verbessern.

Die Politik, von oben wie von unten, ist daher ein durchgängiges Thema dieses Buchs. Dadurch wird zum einen die Tatsache ins Blickfeld gerückt, dass neben dem Einkommen und der verfügbaren Zeit auch der Lebensstil der Menschen Gegenstand politischer Konflikte und Eingriffe geworden ist. (Manchmal handelte es sich um Makroveränderungen wie die Verknappung oder Freigabe von Krediten und die Verfügbarkeit von Hypotheken, in anderen Fällen waren es Mikroeingriffe in das Alltagsleben bis hinunter zu Größe und Schnitt von Wohnungen und zu den Kabeln und Schaltern von Haushaltsgeräten.) Zum anderen tritt die Frage in den Vordergrund, wie sich die Ambitionen der Verbraucher im Lauf der Zeit verändert haben. Wie hat sich das Leben mit immer mehr Dingen auf die Politik ausgewirkt?

Ebenso interessiert mich jener Konsum, der direkt vom Staat und von der Politik gefördert wird. In dieser Hinsicht, scheint mir, hat das Narrativ vom Überfluss mit seinen Zwillingskräften Auswahl und Markt eine blinde Stelle, die sowohl vom Standpunkt der Nachhaltigkeit als auch aus Sicht des Historikers bedauerlich ist. Der Konsumboom der 1950er und 1960er Jahre war nicht nur ein Marktphänomen. In dieser Zeit fand auch eine beispiellose Expansion der Sozialleistungen statt, die einen wachsenden Teil der Wohn-, Bildungs- und Gesundheitsausgaben deckten sowie Armen, Alten und Arbeitslosen zu einem Einkommen verhalfen. In den entwickelten Ländern entstand in diesen Boomjahren ein Maß an sozialer Gleichheit wie nie zuvor. Seit den 1970er Jahren hat sich dieser Trend zu größerer Einkommensgleichheit umgekehrt – mit der Türkei als einer der wenigen Ausnahmen –, aber trotz der jüngsten sparpolitischen Einschnitte sind die Ausgaben für Sozialleistungen, Wohnungen und Renten weiterhin enorm. In den reichen, zur OECD gehörenden Ländern erreichten die staatlichen Sozialausgaben 2009 mit einem Anteil von 21,9 Prozent des BIP einen Höchstwert, aber auch nach der »großen Rezession« lagen sie 2014 nahezu unverändert bei 21,6 Prozent. Obwohl Großbritannien, Deutschland und einige andere Länder den BIP-Anteil der Sozialausgaben seit 2009 um 2 Prozent verringert haben, befinden sie sich weiterhin auf einem Stand, der in der gesamten Menschheitsgeschichte beispiellos ist. Japan, Finnland, Dänemark und Spanien haben ihre Sozialausgaben zwischen 2009 und 2014 sogar um 4 Prozent erhöht.[18]

Ohne die gleichzeitige Zunahme von Fürsorgeleistungen und sozialer Gleichheit wäre der »Massenkonsum« weniger massiv gewesen. Den Beitrag von Sozialleistungen und staatlichen Transfers bei einer Untersuchung des Konsums unberücksichtigt zu lassen, nur weil sie nicht auf einem Markt erworben werden, wäre ein Fehler. Ich habe daher ein Kapitel eingefügt, in dem ich über den Markt hinausschaue und mich mit der Rolle von Staaten und Unternehmen bei der Hebung von materiellen Standards und Erwartungen beschäftige. Für steigenden Konsum sind nicht nur Neoliberale und Reiche verantwortlich, die eine Kaskade von Übermaß, Kaufrausch und Schuldenmacherei auslösen.[19] Staaten, einschließlich sozialdemokratisch regierter, haben ebenfalls eine bedeutende Rolle gespielt. Die Entwicklung in Griechenland und anderen Ländern seit der jüngsten Rezession zeigt, wie es dem privaten Konsum ergeht, wenn der Staat den Gürtel enger schnallt. Staaten– und die Menschen, die von Dienstleistungen und Transfers profitieren– mögen nicht die größten Nutznießer eines Hochkonsumsystems sein, aber sie sind gleichwohl an ihm beteiligt. Dies muss jede Untersuchung, die der materiellen Intensität unseres Lebens auf den Grund gehen will, berücksichtigen.

Schließlich, und das ist die vierte Neuerung, widme ich in diesem Buch der Frage, was konsumiert wird und warum, mehr Raum, als es gewöhnlich getan wird. Untersuchungen über den Konsum stützen sich auf starke Annahmen über das menschliche Verhalten und das, was hinter dem Verlangen nach immer mehr steht. Ökonomen stellen sich zumeist einen einzelnen Verbraucher vor, der rationale Vorlieben hat und danach strebt, das Vergnügen zu maximieren und Schmerzen zu minimieren. Die Vorlieben mögen mit dem Alter wechseln, aber dieses Modell behauptet, dass der Einzelne dies schon im Voraus weiß. Ob Menschen immer derart rational sind, ist umstritten,[20] doch in unserem Zusammenhang besteht der größte Mangel dieser Annahme darin, dass wir sehr wenig über Veränderungen im Lauf der Zeit erfahren. Eine alternative, stärker psychologische Herangehensweise, die soziale Motivationen einbezieht, sieht die Wurzeln des Konsums im menschlichen Verlangen nach Überlegenheit. Aus dieser Sicht ist Konsum stärker relational bestimmt und weniger Ausdruck individueller Vorlieben (wie rational sie auch immer sein mögen). Konsum ist hier Teil eines sozialen Koordinatensystems, das den Einzelnen zeigt, wo sie in der Gesellschaft stehen. Bestimmte Kleidung und andere Dinge signalisieren, dass jemand zu einer Gruppe gehört, und sie halten gleichzeitig andere auf Distanz. Dies ist eine sehr alte Sichtweise, die bis in die Antike zurückreicht; seine heute vielleicht einflussreichste Variante ist die Vorstellung eines »Geltungskonsums«. Diesen Begriff hat Thorstein Veblen vor über hundert Jahren in seiner Kritik der amerikanischen Reichen und ihres demonstrativen Luxuslebens geprägt.[21] Da Menschen geliebt und bewundert werden wollen, löst ein solcher von wenigen genossener Luxus bei den vielen Neid und den Versuch der Nachahmung aus, womit ein Wettlauf in Gang gesetzt wird, in dem niemand zurückbleiben möchte.

Diese Auffassung des menschlichen Verhaltens bildet weiterhin das vorherrschende Element öffentlicher Debatten über Überfluss, Kaufrausch und Schuldenmacherei. Aber auch sie erfasst nur einen Teilaspekt des Menschen und der Konsumdynamik. Imponiergehabe und Statusstreben gibt es, doch das bedeutet nicht, dass sie die einzigen oder wichtigsten Kräfte sind, die den materiellen Stoffwechsel beschleunigen. In diesem Zusammenhang kann eine Fixierung auf das Einkaufen besonders irreführend sein. Ein großer Teil unseres Konsums findet außerhalb von Einkaufszentren statt und folgt einer anderen Logik. Menschen konsumieren viele Dinge und Dienstleistungen im Zuge ihres Alltagslebens, um einander Beistand und Zuneigung zu gewähren oder um Aufgaben verschiedenster Art zu erledigen. Ein klassisches Beispiel ist das gemeinsame Familienessen. Es umfasst den Erwerb von Lebensmitteln, ihre Zubereitung (bei der Strom verbraucht und ein Herd oder eine Mikrowelle benutzt wird), Gerichte, die in einer bestimmten Reihenfolge aufgetischt werden, Geschlechterrollen und Essens- und Geselligkeitsrituale. Manche Güter können natürlich mehrere Rollen ausfüllen: Eine neue Küche kann dazu dienen, Eindruck zu schinden, einen Hobbykoch zufriedenzustellen oder die Familie zusammenzubringen; ein Auto kann ein Statussymbol sein, ein Hobby, das Zeit und Fachkenntnisse erfordert, oder ein praktisches Transportmittel, um zur Arbeit zu fahren oder die Kinder zum Musikunterricht zu bringen. Viele Güter und Ressourcen werden für den häuslichen Komfort benutzt, etwa für das Heizen oder Kühlen. Und sie sind regelmäßig Mittel zum Zweck, beispielsweise für Freizeitaktivitäten, Hobbys oder Unterhaltungsveranstaltungen. Zum Skifahren, Tennisspielen und Angeln braucht man eine Ausrüstung. Skier, Tennisschläger und Angeln werden aber selten gekauft, um sie zum Vorzeigen an die Wand zu hängen, was nicht ausschließt, dass manche Sportarten prestigeträchtiger sind als andere. Ein Radio kann ein Statusgegenstand sein, aber hauptsächlich nutzt man es, um Radiosendungen zu hören, häufig beim Essen oder beim Abwasch. Die Welt des Konsums ist voll von solchen unauffälligen Gegenständen und Praktiken, die nicht der Logik von individuellem Wählen und Verhalten folgen, die in ökonomischen und psychologischen Modellen im Vordergrund steht. Wir haben es hier nicht mit dem Ausdruck individueller Antriebe oder Wünsche zu tun, sondern vor allem mit sozialen Gewohnheiten und Alltagsroutinen.[22] Die Einführung von Gas und fließend Wasser, von Waschmaschine und Radio sowie die zunehmende Bedeutung von Freizeitaktivitäten waren wichtige Katalysatoren eines wachsenden Konsumniveaus.

Ein besseres Verständnis von Gewohnheiten und Routinen ist aus zwei miteinander zusammenhängenden Gründen wichtig. Der erste ist sozialer Art. Auch wenn die oft progressive Absicht, die Lebensbedingungen der Armen zu verbessern, hinter der auffälligen Zurschaustellung von Konsum stand, so hat die besondere Aufmerksamkeit dafür den Fokus unweigerlich auf Superreiche und Luxusgüter gerichtet. Zur Erklärung der Nachfrage in der breiten Bevölkerung wird dann auf Vorbildwirkung und Nachahmung verwiesen. Dies klingt manchmal recht herablassend. Da man voraussetzt, dass die meisten Menschen diejenigen, die reicher sind als sie, nachäffen, spart man sich die Mühe, mehr über deren Gewohnheiten und Motive herauszufinden. Sie müssten doch nur aufhören, nach größeren Autos und extravaganten Accessoires zu lechzen, und sich auf ihre »wirklichen Bedürfnisse« konzentrieren! Aber es ist keineswegs klar, dass die Mehrheit immer so »nach oben« schaut. In vielen Situationen sehen sie zur Seite und finden ihre Anregungen eher bei Gleichgestellten als bei denen, die reicher sind als sie.[23] Mit der Verbreitung von materiell aufwendigeren Formen des Komforts, wie Beleuchtung, Heizung, Klimaanlagen und Unterhaltungselektronik, hat sich das Alltagsleben stark verändert. Bei der näheren Betrachtung solcher unauffälligen Aspekte des Konsums erfährt man daher viel über das Gesellschaftsgefüge.

Die Beschäftigung mit Gewohnheiten und Routinen zielt zweitens darauf ab, den Konsum und seine Folgen angemessener zu würdigen. »Auffälliger« Konsum wird oft als »verschwenderisch« betrachtet, als Vergeudung von Ressourcen, die für die Gesellschaft als Ganze besser genutzt werden könnten. Diese Sichtweise speiste Veblens leidenschaftliche Kritik. Es mag einfacher sein, sich über eine 2000 Pfund teure Handtasche oder eine 120-Meter-Jacht mit Swimmingpool und handgeschliffener Kristalltreppe aufzuregen, als über eine gewöhnliche Badewanne, Zentralheizung oder ein Paar Turnschuhe. Erstere suggerieren Exzess und Extravaganz, während Letztere bescheiden und nützlich erscheinen. Aus ökologischer Perspektive ist die Gleichsetzung von privatem Übermaß und öffentlicher Verschwendung allerdings zu einfach. Die Kohlendioxidemissionen, die durch heißes Duschen und Baden sowie durch Heizen und Kühlen von Wohnungen auf immer höherem Bequemlichkeitsniveau an immer mehr Orten entstehen, sind weit größer als diejenigen von Luxusjachten und Luxusaccessoires, auch wenn die Förderung von Diamanten große Umweltverschmutzung mit sich bringt. Das Problem ist nicht, dass Kritiker des auffälligen Konsums zu weit gehen, sondern dass sie nicht weit genug gehen. Ihre Diagnose wird der ökologischen Herausforderung nicht gerecht. Anders ausgedrückt, »Abfall« stammt nicht nur aus moralisch anrüchigen Formen des Konsums. Auch als »normal« angesehene Praktiken erzeugen eine Menge Abfall. Gerade wegen der Nützlichkeit solcher gewohnheitsmäßigen Formen des Konsums und ihrer »Normalität« lassen sie sich schwer ändern. Dies bedeutet nicht, dass wir es nicht versuchen sollten, sondern lediglich, dass der Interventionspunkt nicht die individuelle Moralität oder Motivation sein sollte, sondern die gesellschaftliche Praxis, das, was die Menschen tun, wenn sie Dinge und Ressourcen benutzen.[24]

Im vorliegenden Buch wird die Geschichte des globalen Siegeszugs der Dinge erzählt, und zwar in zwei einander ergänzenden Teilen. Der erste Teil ist historischer Art und reicht vom Aufblühen der Kultur der Dinge im 15. Jahrhundert bis zum Ende des Kalten Krieges in den 1980er Jahren und dem Wiederauftritt der asiatischen Konsumenten seither. Obwohl weitgehend chronologisch aufgebaut, bietet er auch thematische Abschnitte, die die entscheidenden Faktoren in verschiedenen Regionen verfolgen. Untersucht wird, wie Weltreiche materielle Wünsche, Komfort und Identität beeinflussten; wie moderne Städte die Freizeitkultur und Infrastruktur gestaltet haben und durch sie gestaltet wurden; wie sich die Wohnkultur entwickelte; wie moderne Ideologien (Faschismus, Kommunismus, Antikolonialismus, Liberalismus) das Versprechen eines höheren Lebensstandards aufgriffen; und wie asiatische Verbraucher sich ihren Cousins im Westen angeschlossen haben. Im zweiten Teil des Buchs wird der umgekehrte Weg eingeschlagen, das heißt, zentrale Probleme von heute werden in einen historischen Kontext gestellt. Behandelt werden Exzess und Kredit; die Frage, ob eine »gestresste« Gesellschaft entstanden ist, die von schnellen, künstlichen Stimuli abhängt; wie der Konsum (für Jung und Alt gleichermaßen) die Generationenidentität verändert hat; wie er sich auf Religion und Ethik, auf den Gerechtigkeitssinn und die Beziehung zu Fremden, nah und fern, auswirkt – bis hin zu der Frage, wie wir die Dinge loswerden und ob wir zu einer »Wegwerfgesellschaft« geworden sind.

Die letzten dreißig Jahre haben einen wahren Boom der Literatur zum Thema des Konsums erlebt. Tausende von Spezialstudien sind erschienen, die sich mit einzelnen Regionen und Zeitabschnitten oder bestimmten Produkten und Praktiken beschäftigen, bis hin zu Untersuchungen über einzelne Kaufhäuser und Konsumentenbewegungen.[25] Vergleichende Studien gibt es kaum, und die wenigen vorhandenen legen den Schwerpunkt in der Regel auf Westeuropa.[26] In der Fülle der Detailerkenntnisse offenbart sich eine heillose Fragmentierung des Wissens. Man sieht gleichsam den Wald vor lauter Bäumen nicht. Im vorliegenden Buch wird versucht, die zerstreuten Einzelteile zusammenzufügen und die Lücken zu füllen, um ein Gesamtbild zu erhalten. Anstatt nur die Ursprünge oder den heutigen Überfluss zu fokussieren, strebe ich an, die Entwicklung vom 15. Jahrhundert bis heute nachzuvollziehen.

Bei einem derart umfangreichen Gegenstand sind Auslassungen unvermeidlich. Mein Ansatz war nicht enzyklopädischer Art; vielmehr wollte ich den Hauptthemen durch Raum und Zeit folgen. Dies erforderte schwierige Entscheidungen darüber, was behandelt und was fortgelassen werden sollte. Generell habe ich zunächst die Kernfragen und Hauptprobleme identifiziert, anstatt von einem festen Glauben an bestimmte Ursachen oder Konsequenzen auszugehen. Neugier ist ein nützlicher Freund des Historikers. Viele Kapitel und sogar einzelne Abschnitte hätten zum Gegenstand eigener Bücher werden können, doch dies hätte der Absicht, ein Gesamtbild zu zeichnen, widersprochen. Die in den einzelnen Kapiteln dargelegten Beispiele und Fallstudien sind nicht zufällig gewählt, sie sollen größere Entwicklungen illustrieren und sowohl Abweichungen als auch Parallelen deutlich machen. Sie stehen für viele andere, die mit ähnlichem Recht hätten angeführt werden können.

Was ich hier vorlege, ist weder eine globale Geschichte im strengen Sinn einer Behandlung der ganzen Welt, noch biete ich einzelne Länderdarstellungen. Vielmehr habe ich Themen aus ihrem üblichen Kontext herausgelöst und bin ihnen durch andere Teile der Welt gefolgt. Zusätzlich zu den Vereinigten Staaten und Großbritannien, die in früheren Darstellungen im Vordergrund stehen, habe ich mich mit Kontinentaleuropa und Asien beschäftigt, ergänzt durch kurze Exkursionen nach Südamerika. Ich hätte gern mehr über Brasilien gesagt, aber wie bei anderen Auslassungen auch hoffe ich, dass für Leser mit einem besonderen Interesse an bestimmten Ländern die Ausführungen zu übergreifenden Themen, wie dem Lebensstil der neuen Mittelschichten, bei denen ich mich auf China und Indien konzentriere, wenigstens einen gewissen Ausgleich darstellen. Mein Hauptaugenmerk liegt auf der sogenannten entwickelten Welt, doch dies bedeutet nicht, dass ich ausschließlich den reichen Norden im Blick habe. Ich beschäftige mich auch mit den Auswirkungen des Imperialismus auf das koloniale Afrika und Indien sowie mit den Folgen von Migration und Finanztransaktionen für das Herkunftsland und auf den Lebensstil in ärmeren Weltgegenden. Die Menschen im Süden sind nicht nur Objekt moralischer Sorgen der im Überfluss lebenden Konsumenten im Norden. Auch sie sind Konsumenten, einschließlich fair gehandelter Waren.

Auf diese Weise durch Zeit und Raum zu schweifen stellt einen vor die enorme Herausforderung, ständig zwischen Mikro- und Makroperspektive wechseln zu müssen; es ist aber auch eine der Freuden beim Schreiben dieses Buchs gewesen. Historiker neigen dazu, sich auf das eine oder andere zu konzentrieren, doch man kann vieles entdecken, wenn man die Verbindungen und das Oszillieren zwischen beiden Seiten beobachtet.

Dieses Buch dreht sich um die Frage, wie es dazu kam, dass wir mit immer mehr Dingen leben. Dabei ist es wichtig, auch die materiellen Eigenschaften der Dinge selbst in die Betrachtung einzubeziehen. Dies mag selbstverständlich erscheinen. Aber für Akademiker, insbesondere für Historiker, war das keineswegs immer so. Als die Beschäftigung mit dem Thema in den 1980er und 1990er Jahren zunahm, ließen die Historiker sich von den Anthropologen inspirieren. Ihr Hauptanliegen galt der kulturellen Bedeutung von Dingen und der Identität und Repräsentation. Ohne die in dieser Tradition stehenden Forschungen hätte das vorliegende Buch nicht geschrieben werden können. Aber in jüngster Zeit ist wieder deutlich geworden, dass Dinge nicht nur Bedeutungsträger oder Symbole in einem Kommunikationsuniversum sind. Sie besitzen auch eine materielle Form und Funktion. Sie können hart oder weich sein, flexibel oder starr, laut oder leise, manuell zu bedienen oder vollautomatisch, und vieles andere mehr. Sie werden nicht nur angeschaut, sondern auch gehandhabt und erfordern Pflege. Vor allem tun wir etwas mit ihnen. Das Attribut in dem Begriff »materielle Kultur« hat durchaus seinen Sinn. Nur wenn man anerkennt, dass Dinge wichtig sind, können wir zu begreifen hoffen, wie und warum unser Leben so abhängig von ihnen geworden ist.

Teil I

1 Drei Konsumkulturen

Wie sehr Mode und Komfort sich seit seiner Jugend doch fortentwickelt hatten, wunderte sich ein sechzigjähriger Chronist im Jahr 1808. Servietten waren nicht mehr nur etwas für »vornehme Dinnergäste«, sondern überall auf den Tischen zu finden. Reiche Männer stolzierten mit prächtigen Uhrenketten durch die Stadt. Tabak, einst ein Vergnügen von wenigen, wurde jetzt von allen geraucht und in kostbaren Behältnissen aufbewahrt. Manche Neuheiten waren noch so frisch, dass ihre Einführung datiert werden konnte, wie diejenige des Windfangs zehn Jahre zuvor. Andere ließen sich in Zentimetern messen, wie die Weite der Ärmel von Damenjacken, die der Mode entsprechend jetzt nicht mehr 30, sondern 45 Zentimeter betrug. Der letzte Schrei waren »Hundert-Falten-Röcke«, ein »neuer Stil«, für den Krepp verwendet wurde, so dass die Röcke »ganz weich« fielen. Aber der Wandel war nicht auf die Oberschicht beschränkt. Auch einfache Menschen trugen »neue, merkwürdige Kleider«. Ein Beispiel war der leicht zu entfernende Kragen, der einem altmodischen Mantel zu neuem Leben verhalf. Oder eine kurzärmelige Leinenjacke, die sich perfekt für den Sommer und, wie uns der Chronist mitteilt, besonders für dicke Menschen eignete. »Unverschämte Diener« trugen doppelt genähte schwarze Seidenhosen. Aber das beste Beispiel für die Welle neuer Moden waren vielleicht die trendigen Haustiere, die nun gehalten wurden.[1]

Unser Chronist lebte nicht in Paris oder London, sondern in Yangzhou, einer prosperierenden Stadt am Unterlauf des Jangtse im chinesischen Hinterland, etwas mehr als zweihundert Kilometer von Shanghai entfernt. In seinem 1808 veröffentlichten Werk beschrieb der Dichter Lin Sumen eine sich schnell verändernde Welt der Güter, wie sie in den folgenden zwei Jahrhunderten mit der westlichen Modernität verbunden werden sollte. Natürlich unterschied sich die Mode in Yangzhou von derjenigen in den Pariser Salons und den Londoner Lustgärten. So beschrieb Lin etwa »Schmetterlingsschuhe«, die vorn und hinten mit einem großen Satinschmetterling geschmückt und mit englischem Wollstoff oder Ningboseide gefüttert waren. Beliebte Haustiere waren Hühner aus Kanton und Ratten aus dem »Westen«. Doch man ersetze die Schmetterlinge durch englische Schuhschnallen, die Tabakbehälter aus Jade durch silberne Schnupftabakdosen und die »westlichen« Ratten durch Papageien oder Goldfische und füge die zahlreichen Klagen europäischer Autoren über Diener, die sich wie ihre Herren kleideten, hinzu, und schon verschwinden die Unterschiede zwischen beiden Szenen.

Bisher haben Darstellungen der Geschichte des Konsums hauptsächlich dessen Aufstieg im Westen betrachtet. Der Westen sei, wurde uns gesagt, nicht nur die Wiege der Modernität, sondern auch der Geburtsort der Konsumgesellschaft. Bei allen sonstigen Unterschieden betrachteten die Historiker Fernand Braudel und Neil McKendrick beide die Mode als Kern des westlichen Kapitalismus, als Triebfeder seiner Dynamik, Wunschproduktion und Innovationskraft. Das England und Frankreich des 18. Jahrhunderts hatten die Mode und mit ihr die Modernität, China nicht. McKendrick datiert die »Geburt« der Konsumgesellschaft auf das dritte Viertel des 18. Jahrhunderts und nennt als Geburtsort England.[2]

Aber wurde die Konsumgesellschaft tatsächlich im 18. Jahrhundert in England »geboren«? Man hat unanfechtbare Belege für die Zunahme der Gütermenge in Großbritannien und seinen amerikanischen Kolonien zusammengetragen. Doch Historiker, die sich mit früheren Epochen der europäischen Geschichte beschäftigen, waren nicht wenig angetan, dass diese als statisch oder mangelhaft bezeichnet und als kaum mehr denn »traditioneller« Hintergrund des Hauptdramas der Herausbildung der Moderne im hannoverschen Großbritannien behandelt wurden. Ein Wettlauf begann, in dem einer nach dem anderen behauptete, in der von ihm erforschten Epoche habe eine »Konsumrevolution« stattgefunden. Historiker der Stuart-Zeit entdeckten sie im England des 17. Jahrhunderts, Renaissance-Spezialisten verlegten sie ins Florenz und Venedig des 15. Jahrhunderts, und Mittelalterforscher machten ihre ersten Anfänge in der damals aufkommenden Vorliebe für Rindfleisch, Bier und Kartenspiel aus. Historiker Chinas fügten hinzu, dass auch die Ming-Zeit (1368–1644) einen Kult der Dinge gekannt habe und deshalb als »Frühmoderne« bezeichnet werden könne.[3]

Die Geburtsmetapher zeigt, welche Bedeutung Historiker den Ursprüngen zumessen, deutet aber auch auf den Tunnelblick hin, den dies zur Folge haben kann. Die Konzentration auf nationale Ursprünge hat die Forscher daran gehindert, kulturübergreifende Vergleiche zu ziehen, und zugleich die Vergangenheit auf eine Vorstufe der Gegenwart verkürzt, ein Stadium auf dem Weg zur heutigen Wegwerfgesellschaft. Dies erschwert es mitunter, die Unterschiede der Benutzung und Bedeutung von Dingen in früheren Zeiten wahrzunehmen. In den folgenden beiden Kapiteln wird versucht, ein ausgewogeneres, evolutionäres Bild zu zeichnen, das es ermöglicht, sowohl die Parallelen in der Entwicklung als auch die letztlich ungleiche globale Verteilung von Dingen zwischen 1500 und 1800 zu erkennen. Im Italien der Renaissance, im China der späten Ming-Zeit (um 1520–1644) und in den Niederlanden und Großbritannien des 17. und 18. Jahrhunderts vollzog sich jeweils ein erheblicher Zuwachs des materiellen Besitzes. In allen drei Epochen fanden dynamische Entwicklungen statt, die jedoch auf unterschiedliche Weise verliefen. In welche Richtung der Strom der Dinge floss, hing zum Teil von Staaten und Märkten, Einkommen und Preisen, Urbanisierung und Sozialstruktur ab. Letzten Endes aber war es, wie ich zu zeigen hoffe, der unterschiedliche Wert, den diese Gesellschaften den Dingen jeweils beimaßen, der sie voneinander trennte und die einen zu hungrigeren Konsumenten machte als die anderen.

Die Welt der Güter

Eine der Errungenschaften der drei Jahrhunderte zwischen 1500 und 1800 war die Zusammenführung ferner Kontinente in einer Welt der Waren. Die Seidenstraße hatte seit 200 v. Chr. Asien mit dem Mittelmeerraum verbunden. Um 800 n. Chr. war der Indische Ozean eine dynamische, integrierte Handelszone. Historiker assoziierten diese Frühphase für gewöhnlich mit Pfeffer und anderen Gewürzen, mit Seide und weiteren Luxusgütern. Inzwischen ist klar, dass Zucker, Datteln, Textilien und andere Massengüter wie Holz schon damals einen erheblichen Teil der Fracht ausmachten. Im 12. Jahrhundert wurden in Kairo und Ostafrika gefärbte, im Blockdruck gestaltete Baumwollstoffe verkauft.[4] Venedig, Florenz und Genua bildeten die Tore zum Orient, europäische Metalle und Pelze wurden gegen asiatische Seide und Teppiche getauscht. Neu war nach 1500 nicht nur der Zugang nach Nord- und Südamerika, sondern die Verbindung all dieser Handelszonen auf wahrhaft globale Weise. Ein großer Teil des Kaufens und Verkaufens geschah weiterhin auf regionalen Märkten, aber diese wurden jetzt zusätzlich mit Waren aus aller Welt beschickt. Tee, Porzellan und sogar Zucker kamen aus China sowohl nach Europa und Amerika als auch nach Japan.[5] China bezog Tabak, Puten, Mais und Süßkartoffeln aus Amerika. Baumwolltextilien aus Gujarat und von der Koromandelküste fanden, neben ihren traditionellen Märkten in Japan und Ostasien, neue Abnehmer in Europa und seinen amerikanischen Kolonien.

Handel und Konsum sind natürlich nicht dasselbe. Bei Ersterem werden Güter getauscht, bei Letzterem von Einzelnen erworben und benutzt. Dennoch fördert der Handel den Konsum in bedeutendem Maß und liefert somit einen wichtigen Hintergrund der hier dargestellten Geschichte. In den drei Jahrhunderten zwischen 1500 und 1800 nahm der globale Handel in bis dahin beispielloser Weise zu, im Durchschnitt um 1 Prozent pro Jahr.[6] Dieser Anstieg summierte sich, so dass um 1800 dreiundzwanzigmal so viele Güter über die Weltmeere transportiert wurden wie drei Jahrhunderte zuvor. Besonders beeindruckend sind diese Wachstumsraten, wenn man bedenkt, dass sie vor der Industriellen Revolution erreicht wurden, in einer Welt also, die kein großes, anhaltendes Wirtschaftswachstum kannte. In den dreihundert Jahren vor 1800 nahm das BIP sowohl in Europa als auch in China schätzungsweise um 0,4 Prozent pro Jahr zu. Wenn man das Bevölkerungswachstum mit in Betracht zieht und das BIP pro Person berechnet, sinkt die Wachstumsrate sogar auf 0,1 beziehungsweise 0 Prozent.[7] Bei einem derart geringen oder nicht vorhandenen Wachstum musste ein Anstieg des Handels erhebliche Auswirkungen haben. Er brachte mehr Güter in größerer Vielfalt und manche unbekannten Dinge, wie bedruckte Baumwollstoffe aus Indien und Kakao aus der Neuen Welt, zum ersten Mal auf die Märkte. Zugleich förderte die Ausweitung der Handelskanäle die Spezialisierung und Arbeitsteilung. Anstatt nur die Früchte der eigenen Arbeit zu konsumieren, wie es die meisten Bauern als Selbsterzeuger während des größten Teils des Mittelalters getan hatten, verkauften und kauften jetzt immer mehr Menschen Waren auf den Märkten. Doch das Handelswachstum löste keine umfassende Transformation aus. Selbst in fortgeschrittenen europäischen Gesellschaften nähten und strickten viele Hausfrauen bis weit ins 20. Jahrhundert weiterhin zumindest einen Teil der Kleidung ihrer Familien selbst und vererbten sie. Anderswo lebten Bauern nach wie vor von der Hand in den Mund. Aber der Anstieg des Handels führte sowohl zu einer Verlagerung des Schwerpunkts und der Orientierung des Konsums als auch zu seiner Ausweitung. Dinge auszuwählen und zu kaufen wurde wichtiger, während die Bedeutung von Eigenproduktion und Geschenken abnahm. Die Entwicklung von Handel und Konsum war auf diese Art miteinander verknüpft.

Im 16. und 17. Jahrhundert verliefen die Haupthandelsströme von Ost nach West. Im Unterschied zum spanischen und britischen Reich war dasjenige der Ming-Dynastie nicht global, der Überseehandel war zumeist verboten; um Piraterie und Schmuggel auszuschalten, wurde 1371 ein förmliches Verbot erlassen, das erst 1567 wieder aufgehoben wurde. Die ehrgeizigen sieben Fahrten, die Admiral Zheng He zwischen 1405 und 1433 im Auftrag des Kaisers Yongle nach Indien und in den Persischen Golf unternahm, waren Ausnahmen, nachfolgende Herrscher hielten von einer aktiven Politik merkantiler Expansion Abstand. Dennoch fanden Händler weiterhin informelle und illegale Wege für einen Handelsaustausch. Offiziell durften ausländische Kaufleute, sofern sie nicht einer diplomatischen Mission angehörten, das Reich der Mitte nicht betreten. Aber solche Missionen agierten im Grunde häufig als Handelsdelegationen und brachten zudem ausländische Waren an den chinesischen Hof. Weit größere Ausmaße hatte indes der Schmuggel. Der Pirat und Kaufmann Wang Zhi hatte im 16. Jahrhundert Hunderte von Schiffen und hunderttausend Seeleute unter seinem Kommando.[8] Viele chinesische Kaufleute umgingen das Seehandelsverbot einfach, indem sie sich auf den Inseln vor der Südostküste Chinas ansiedelten; eine Hauptroute des Textilhandels verlief über Ryukyu (Okinawa). Die ersten europäischen Kaufleute, die einen Handelsposten errichteten, waren Portugiesen, die sich 1557 in Macao, ebenfalls an der Südküste, niederließen. Einige Jahre später, 1573, zählte Antonio de Morga, Präsident des Gerichtshofs (audiencia) der Kastilischen Krone in Ostindien, die Vielzahl chinesischer Waren auf, die Dschunken aus China zum Verkauf an die Spanier auf die Philippinen brachten. Darunter waren Luxusgüter wie Elfenbein, goldbestickter Samt, Perlen, Rubine, Pfeffer und Gewürze. Aber die Schiffe hatten auch anderes an Bord:

»weiße Baumwollkleider verschiedener Art und Qualität für alle Zwecke … viel Bettschmuck, Vorhänge, Tagesdecken und Wandteppiche aus besticktem Samt … Tischdecken, Kissen und Teppiche … Kupferkessel … kleine Schachteln und Schreibmappen; Betten, Tische, Stühle und vergoldete Bänke, bemalt mit vielen Figuren und Mustern … zahllosen anderen Tand und Zierrat von geringem Wert, der von den Spaniern geschätzt wird; neben einer Menge feiner Töpferware jeder Art … Perlenschnüre aller Art … und Raritäten – die alle aufzuzählen ich weder jemals fertig würde, noch genügend Papier hätte.«[9]

Der internationale Markt füllte sich immer weiter mit Dingen. Aber bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war der Austausch recht einseitig. Die Europäer bezahlten chinesische Lieferungen nicht mit Waren, sondern überwiegend mit in der Neuen Welt gefördertem Silber. Das Silber war ein entscheidendes Schmiermittel für das Wachstum der Märkte, denn es ölte die Zahnräder des Handels und monetarisierte die Gesellschaft, indem es den Kauf und Verkauf von Gütern vereinfachte. Außerdem war es einer der wenigen Rohstoffe, die in China knapp waren. Es gab nur wenige Silberminen, und der Bedarf der kaiserlichen Bürokratie war riesig. Entsprechend erpicht waren chinesische Kaufleute auf das Edelmetall, mit dem ausländische Händler in China Porzellan und Stoffe einkauften. Bis in die 1520er Jahre stammte der größte Teil des Silbers in China aus Bergwerken in Europa und Japan. Im folgenden Jahrhundert wurde deren Ausstoß weitgehend von den Barren aus Neuspanien verdrängt. Aufgrund der Korruption unter spanischen Beamten kann man unmöglich sagen, wie viel Silber, zusätzlich zu den Mengen, die in den Büchern verzeichnet sind, tatsächlich verschifft wurde. Sicher ist jedoch, dass die Galeonen unter der Last ächzten, mit der sie von Acapulco in der Neuen nach Sevilla in der Alten Welt segelten. Von dort wurde ihre Fracht nach Amsterdam und London weitergeleitet, wo sie auf Schiffe der jeweiligen Ostindien-Kompanie verladen wurde, die sie im Fernen Osten gegen Gewürze, Porzellan sowie Seiden- und Baumwollstoffe eintauschte. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurden jedes Jahr mindestens 60 000 Kilogramm Silber nach China eingeführt. 1602 teilte ein Beamter in Acapulco der spanischen Krone mit, man habe 345 000 Kilogramm des Metalls nach Manila geschickt.[10] China war auch in dieser Zeit nicht hermetisch abgeschottet. In dem um 1759 vollendeten, aber erst 1791 erschienenen klassischen Roman Der Traum der Roten Kammer (Hong Lou Meng) werden europäische Uhren und Textilien ebenso erwähnt wie europäischer Wein und sogar ein gefleckter Hund aus dem Westen.[11] Es war keine reine Erfolgsgeschichte. Handelskriege, Piraterie und trügerische Ozeane störten den Warenverkehr. Vasco da Gamas Flotte erreichte im Jahr 1498 Calicut an der Malabarküste im Südwesten Indiens. Zwei Jahrhunderte später besaß die größte zugelassene europäische Kompanie in Ostindien, die holländische Vereenigde Oost-Indische Compagnie (VOC), gerade einmal zweihundert Schiffe. Noch um 1700 brachten sämtliche europäischen Schiffe zusammen nur 230 000 Tonnen Fracht im Jahr aus Asien nach Europa; heutzutage würden dafür zwei große Containerschiffe ausreichen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts schickte die VOC pro Jahr nicht mehr als dreißig bis vierzig Schiffe nach Asien. Aber die Schiffe wurden größer und kehrten mit mehr Fracht zurück; hatten sie in den 1680er Jahren im Durchschnitt 9800 Tonnen geladen, war es im ersten Jahrzehnt des 18.