Herzeleid - Ylvie Wolf - E-Book
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Ylvie Wolf

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Beschreibung

Als Sentimentikerin hat Kate es nicht leicht, denn die Gefühle anderer Menschen am eigenen Leibe zu spüren, kann belastend sein. Laurin besucht zum ersten Mal ihren Mathematikunterricht, sie fühlt seine Wut, seine Angst, seine Trauer. Vor einem Jahr hat er seine Mutter verloren. Bei dem Versuch, ihm unter die Arme zu greifen, trifft Kate auf seinen Vater und bricht von der Wucht seiner Emotionen beinahe zusammen. Wie soll es ihr gelingen, der kleinen Familie zu helfen, bei der ein leichter Hauch genügen würde, das kaum mehr vorhandene Fundament aus Vertrauen und Zusammenhalt in alle Winde zu zerstreuen?

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Inhaltsverzeichnis

Herzblut

Herzschlag

Herzlos

Herzensanliegen

Herzlichkeit

Herzstärkung

Herzeleid

Herzensqual

Herzenskrank

Herzklopfen

Herzschmerz

Herzensgüte

Herzrasen

Herzenssache

Herzstück

Herzensangst

Herzensbrecher

Herzensbedürfnis

Herzenswunsch

Impressum

Herzblut

Aufregung. Skepsis. Unsicherheit. Vorfreude.

Einen Wimpernschlag lang schwindelte es Kate, als die unterschiedlichen Emotionen auf sie eindrangen. Ein Rauschen erfüllte ihre Ohren und die Luft vor ihr flirrte. Sie betrat den Klassenraum und begegnete den Blicken ihrer Schülerinnen und Schüler, die sie erwartungsvoll ansahen. Ihr Mienenspiel reichte von gelassen zu kühl. Welcher Dreizehnjährige gab schon bereitwillig seine Gefühlslage preis?

Kate lächelte und blockte die fremden Empfindungen ab. Erstens fand sie es keineswegs fair, ihre Mitmenschen anhand ihrer Fähigkeit zu durchschauen. Zweitens wollte sie sich darauf konzentrieren, wofür sie berufen worden war. »Herzlich willkommen zur ersten Stunde Mathematik im siebten Schuljahr.«

Sie nickte den Schülern zu, die sie aus Vertretungen oder Aufsichten her kannte. Flüchtig blieb ihre Aufmerksamkeit auf einem rothaarigen Jungen haften, der im Gegensatz zu den anderen teilnahmslos in seinen Schoß starrte.

Auch wenn sie ihn zum ersten Mal unterrichtete, erkannte sie ihn. Für einen winzigen Moment ließ Kate sein Innenleben in sich aufwallen und erschrak. Sie verschloss sogleich ihren Geist, doch zurück blieben ihr hämmerndes Herz und neuer Schwindel. Rasch widmete sie sich der Namensliste auf dem Pult.

»Ich gehe einmal die Anwesenheit durch.«

Während sie die Namen vorlas, erstellte sie einen Sitzplan, sonst würde sie gewiss Emily, Emilia oder Emma vertauschen.

»Und zuletzt … Laurin Westphal.«

Der Rothaarige in der letzten Reihe schreckte auf und betrachtete sie, wie ein Kaninchen vor der Schlange. Er schluckte kaum merklich, bevor er zögernd nickte und sich seiner vorigen Tätigkeit widmete: sich auffällig unauffällig benehmen.

»Gut, alle da. Wir beginnen den heutigen Unterricht locker, indem wir ein bisschen Zahlenkunde betreiben. Wer kann mir etwas über die Sieben erzählen?«

Kate schmunzelte in Anbetracht der fragenden Gesichter. Die Reaktion war stets dieselbe. Die Schüler erwarteten von den Lehrern als erste Amtshandlung zu Beginn des Jahres einen Abriss der Leistungsbewertung. Wenigstens an der Privatschule.

Das war Kate wahrlich zu einförmig, außerdem sollten die Schüler mitarbeiten und sich nicht berieseln lassen. Da sich niemand meldete, nahm sie ihr Tablet auf. Sie schrieb zwei Stichpunkte auf, die hinter ihr am Whiteboard erschienen:

Sieben Weltwunder. Sieben Todsünden.

Bald verstanden einige, worauf sie hinauswollte. Ein Mädchen in der vorderen Reihe meldete sich.

Kate schielte auf den Sitzplan. »Leonie?«

»Gibt es nicht die sieben Weltmeere?«

»Richtig.« Die Worte setzte sie unter die ersten beiden Punkte.

Jetzt ergriffen auch andere die Initiative und die erste Verwirrung legte sich zugunsten einer emsigen Suche nach Antworten.

»Sieben Sinne?«

»Wer einen Spiegel zerbricht, hat sieben Jahre Pech.«

»Eine Woche hat sieben Tage«, sagte wiederum Leonie.

Aus der letzten Reihe ertönte ein Hüsteln, das sich stark nach einem unterdrückten Kichern anhörte.

Kate wandte sich mit strenger Miene an den Unruhestifter. »Du möchtest auch etwas sagen, Alex?«

Der Schüler nickte und verlieh seiner Stimme einen trockenen Unterton: »Und Schneewittchen hatte sieben Zwerge.«

Der Großteil der Klasse kicherte, nur Leonie verengte die Augen zu Schlitzen.

Zu ihrer aller Verwunderung stimmte Kate dem jedoch zu und zückte ihren Stift. Auch diese beiden Stichpunkte erschienen am Whiteboard.

»Das ist absolut richtig.«

»Ja, Moment. Sie wollen uns sagen, dass ein Kindermärchen und die Anzahl der Wochentage die Zahl Sieben besonders machen? Das ist doch lächerlich.«

Insgeheim freute sich Kate über den Zweifler. »Gegenfrage, Alex. Warum hat eine Woche sieben Tage?«

Alex zuckte mit den Schultern und lehnte sich zurück. Er verschränkte lässig die Arme vor der Brust, konnte seine Unsicherheit vor Kate jedoch unmöglich verbergen.

»Ich gebe die Frage weiter an alle. Warum hat eine Woche sieben Tage?«

Die Schüler schauten sich verstohlen um, doch sie schwiegen. Warteten lauernd darauf, ob einer den ersten Schritt wagte und sich meldete. Wer würde eine Idee haben? Und wer würde sich trauen, sie vorzutragen?

Zuzeiten nervte Kate es ungemein, dass pubertierende Jugendliche eine solche Hemmschwelle besaßen.

Geduldig wartete sie ab. Da sich nach einer Minute weiterhin keiner meldete, erklärte sie es ihnen. »Vor fast 4000 Jahren haben einige babylonische Astronomen sieben sogenannte Wandelsterne am Himmel entdeckt – dazu gehörten auch Sonne und Mond. Damals wusste man nicht, dass es mehr Planeten dort oben gibt und Sonne und Mond nicht dazugehören. Diese Tatsache führte dazu, dass die Zahl Sieben bereits früher schon als wichtig anerkannt wurde. Unsere Wochentage sind im Übrigen danach benannt. Der Sonntag nach der Sonne, der Montag nach dem Mond. Später wurde dann festgestellt, dass ein gesamter Mondzyklus aus etwa vier mal sieben Tagen besteht. Ihr seht also, es gibt verschiedene Erklärungsansätze für die Frage, warum eine Woche sieben Tage besitzt.«

Die Augen der Schüler hatten sich während ihres Monologes geweitet.

»Das werden wir heute einmal in aller Ausführlichkeit durchgehen. Euer Schulbuch hat ein ganzes Kapitel über besondere Zahlen, das schauen wir uns gleich an. Ja, Alex?«

»Aber was haben denn jetzt die sieben Zwerge von Schneewittchen damit zu tun?«

Kate verlor ihr Lächeln in keiner Weise und stellte am Rande fest, dass die anderen Jugendlichen eher gespannt auf die Antwort lauerten, als es ins Lächerliche zu ziehen. »Die Gebrüder Grimm haben eine ganze Reihe von Märchen geschrieben. Sie kannten ebenfalls die sagenumwobene Zahl Sieben. Da gab es den Wolf und die sieben Geißlein, die Siebenmeilenstiefel, die sieben Berge und so weiter. Auch in der aktuellen Literatur findet man oft die Zahl Sieben.«

Vorsichtig meldete sich Emily. »Im Buch Harry Potter kommt die Zahl oft vor.«

Genau darauf hatte Kate angespielt. »Richtig. Sieben Horkruxe, sieben Bücher, sieben Schuljahre, sieben Weasley-Kinder.«

Um weiteren Diskussionen zuvorzukommen, teilte sie der Klasse den Auftrag mit, in ihrem Buch zwei Seiten zu lesen und alles Wichtige zur Zahl Sieben herauszuschreiben. Während die Schüler der Bitte nachkamen, durchquerte sie das Zimmer und blieb vor Laurins Tisch stehen.

Er hatte keinerlei Motivation gezeigt, sich am Unterrichtsgeschehen zu beteiligen. Natürlich konnte sie verstehen, dass er bekümmert und verbittert war, nachdem, was letztes Jahr passiert war. Doch irgendwann musste man wieder am Leben teilnehmen. Sie wusste von ihrer Kollegin, dass er gerne an den mathematischen Tüfteleien gesessen hatte.

»Hey, Laurin.«

Zögernd blickte der Angesprochene auf und erneut sah Kate in seine blauen, traurigen Augen.

»Ich habe gehört, du hattest letztes Jahr bei Frau Meyer-Waldruh Unterricht? Dann kannst du uns ja tatkräftig unterstützen, wenn wir nächste Woche ins Thema der Tabellenkalkulation einsteigen.«

Erneut ertönte unterdrücktes Lachen. Ein Stromschlag durchfuhr Kate. Sie verabscheute es, wenn Schüler untereinander so destruktiv agierten.

Laurin zuckte zusammen und starrte ein weiteres Mal wortlos in seinen Schoß. Er war wütend. So wütend, dass er leicht zitterte.

Kate erschauderte, als seine heftige Reaktion auf sie eindrang. Sie sagte im ruhigen, bestimmten Tonfall in Richtung des Lachers: »Alex, ich sehe dich am Mittwochabend um sieben bei mir zum Nachsitzen. Noch etwas Besonderes an der Zahl Sieben. Sie eignet sich wunderbar als Uhrzeit, um dir eine Lektion zu erteilen, weniger asozial zu sein.«

Jetzt wandte sie ihren Kopf zur Seite und entdeckte Alex’ rot angelaufene Wangen, die Lippen presste er kräftig aufeinander. Die anderen Mitschüler kicherten und widmeten sich abermals ihrer Aufgabe. Auch Laurins Inneres beruhigte sich.

Kate atmete auf. Bis zum Ende der Stunde verdrängte sie erneut die Wahrnehmungen ihrer Schüler. Erst als es klingelte und die Klasse aus dem Raum schlenderte, ließ sie ihre Defensive fallen und atmete durch.

* * *

In Gedanken versunken schnappte Kate ihre Wasserflasche und machte sich auf den Weg ins Lehrerzimmer. Sie hatte es sich angewöhnt, ihr Mittagessen in dem kleinen, lichtdurchfluteten Raum einzunehmen. Den Speiseraum des Internats suchte sie entweder äußerst früh oder besonders spät auf. Nur schwerlich konnte sie die gesamte Schülerschaft aushalten. Die Sinnesstürme, die sich dort zusammenbrauten, waren kaum abzuwehren.

Zwei Kollegen saßen am Tisch. Renate und Phil hatten sich wie so oft dazu entschlossen, ihr beim Essen Gesellschaft zu leisten. Sie hatten ihren Geist mühelos im Griff und schotteten ihn vor Kate ab. Die Schüler wussten nichts von ihrer Fähigkeit und selbst wenn, würden sie ihre Emotionen unter keinen Umständen zurückhalten können. Kates Gabe existierte nicht oft und nur die Schulleitung und Lehrer waren eingeweiht.

Renate hatte einen Stapel Aufgaben neben sich liegen und überflog sie, einen Rotstift in der Hand.

»Hier«, sagte sie und unterdrückte ein Prusten. »Das Längenverhältnis ist das Verhältnis zweier Längen. Sie unterscheiden sich meistens an ihrer Länge.«

Kate sank lachend in einen der weichen Lederstühle. Sie hatten es sich angewöhnt, in der Mittagspause seltsame und witzige Sätze der Schüler vorzulesen. Oftmals fragten sie sich, wo die Kinder schreiben gelernt hatten.

»Und, wie waren deine neuen Siebtklässler?« Renate schob feixend den Zettel zur Seite.

Kate nahm sich eine Portion Auflauf und zuckte mit den Achseln. »So wie immer. Jugendliche, die soeben in die Pubertät rutschen und andere Dinge im Kopf haben als Mathematik oder die Wunder der Zahlentheorie.«

Bevor sie das Thema anschneiden konnte, das ihr auf dem Herzen lag, kam Renate drauf zu sprechen. »Und wie macht sich Laurin?«

Kate kaute und schluckte den Bissen herunter. »Er ist unglaublich in sich gekehrt und hat eine riesige Wut in sich, die er in sich hineinfrisst. Ein Mitschüler meinte, sich einmischen zu müssen, als ich Laurin nach letztem Schuljahr gefragt habe, und die Wut des Jungen hat mich praktisch umgehauen.«

Renate seufzte leise, während sich Phil einschaltete. »Ihr redet von Laurin Westphal?«

Die beiden Frauen nickten synchron und der Geschichtslehrer schaute Kate nachdenklich an.

»Ja, er hat sich bei mir im Unterricht nach ganz hinten gesetzt, allein. Aber sein Wissen zum Thema Napoleon ist gut. Er hört das Alles ja jetzt zum zweiten Mal und die Reihe sollte er komplett mitbekommen haben, bevor das Dilemma geschehen ist.«

Renate spähte mit zerfurchter Stirn aus dem Fenster. »Er ist ein lieber und aufmerksamer Junge. Dass seine Mutter so schlimm erkrankt und wenig später verstorben ist, hat er nicht verdient. Das verdient niemand. Ich habe gehört, dass sein Vater ihn seitdem vernachlässigt, weil er selbst nicht mit der Situation zurechtkommt. Laurin hat in den letzten Monaten auch einiges an Gewicht zugelegt, wahrscheinlich frisst er mehr als nur den Frust in sich rein.«

Sie aßen schweigend weiter und Kate überlegte. Wie konnte sie dem Jungen helfen? Er wirkte so verzweifelt, so voller Wut. Und obendrein mischte sich dieser Idiot von Alex ein und hackte auf ihm rum.

»Kommst du damit klar?« Renates Stimme erklang von weit her.

Kate blinzelte und stellte fest, dass sie nicht auf ihre Umgebung geachtet hatte. Phil und Renate mussten ihre innere Zerrissenheit und die Schwere in ihrem Magen deutlich gespürt haben.

Rasch sammelte sie sich. »Ja, entschuldigt bitte, das war keine Absicht.«

In der nachfolgenden Freistunde zog sie sich in ihr Büro direkt neben ihrem Klassenzimmer zurück. Sie klappte den Laptop auf, klickte sich durch ihr sorgfältig angelegtes Ordnersystem und erstellte einen Plan für die Neuntklässler am nächsten Morgen. Mehrmals kopierte sie die falschen Dateien und löschte aus Versehen ein Lernvideo, das sie selbst aufgenommen hatte.

Erst, als sie fast ihren Tee über der Tastatur verschüttete, akzeptierte sie die Tatsache, dass sie sich absolut nicht konzentrieren konnte. Ihre Überlegungen huschten immer wieder zu Laurin.

Sie lehnte sich zurück, wippte mit ihrem Stuhl und trank einen Schluck des mittlerweile abgekühlten Tees. Ihre angeborene Fähigkeit, die Gefühlswelt anderer Menschen nicht nur zu erkennen, sondern auch zu fühlen, brachte ihr Gewissen regelmäßig dazu, sich überall einzumischen. Sie bemitleidete Laurin und hätte ihm am liebsten sofort Hilfe angeboten.

Sie stützte ihr Kinn mit den Händen ab und starrte ihren Bildschirm an. Laurin kannte sie nicht. Er wusste nichts von ihren Fähigkeiten und sah in ihr das, was sie letztendlich auch war: Seine neue Lehrerin. Warum sollte er ihre Hilfe annehmen?

Seufzend rieb sich Kate übers Gesicht. Sie würde ihn im Auge behalten.

* * *

In einem abgedunkelten Raum, der rundherum mit Kisten zugestellt war und für Außenstehende chaotisch wirken musste, saß Micha zusammengesunken auf dem einzigen vorhandenen Stuhl. Durch den Türschlitz drang trübes Licht hinein. Dumpfe Geräusche erinnerten ihn daran, dass er eigentlich eine Menge an Arbeit hatte. Dennoch konnte er sich unmöglich aufraffen, sein Versteck zu verlassen.

Warum ausgerechnet heute?

Auch wenn noch lange keine Normalität in seinen Alltag eingezogen war, hatte er sein Leben wenigstens halbwegs wieder auf die Kette bekommen. Ohne Laurin, der ihm den ganzen Tag vorwurfsvolle Blicke zuwarf, fühlte er sich befreiter. Laurin. Jedes Mal machte sich ein dumpfes Pochen in seinem Magen bemerkbar, wenn er daran dachte, dass er sich ohne seinen Sohn besser fühlte.

Er erinnerte Micha über alle Maßen an sie. Seine Augen, seine Gesichtsform, seine Ausdrucksweise, sein Humor. Auch wenn dieser in den letzten Monaten stetig geschrumpft und letztlich verschwunden war. All das rief Erinnerungen wach. Und heute diese Nachricht.

Micha wusste, dass sich seine Schwiegermutter nur Sorgen machte. Aber ihm fortwährend ins Bewusstsein zu rufen, was er alles Gutes hatte und dass er voller Hoffnung auf bessere Zeiten nach vorne schauen sollte, brachte ihm seine Frau nicht zurück. Da halfen die einfühlsamsten und nettesten Worte nichts.

Das Pochen in seinem Magen wanderte seine Speiseröhre hinauf und suchte sich einen Weg bis in seine Kehle. Dort verweilte es schmerzhaft und trieb ihm die Tränen in die Augen. Warum konnten ihn nicht einfach alle in Ruhe lassen? Er war doch schon dabei, sein Leben wieder zu ordnen.

Das hatte er während der Sommerferien nicht geschafft, als Laurin die komplette Zeit da gewesen war und ihn an das erinnerte, was er verloren hatte. Jetzt war er auf einem guten Weg, oder nicht? Er hatte sich – nach dem Vorschlag seiner Schwester – mit einer Kundin verabredet und war mit dieser gut aussehenden, charmanten Frau mehrmals Essen gewesen. Ja, er hatte einige Gläser Whisky getrunken. Und ja, er hatte den restlichen Abend nur verschwommen in Erinnerung. Aber das änderte ja nichts an der Tatsache, dass er es genoss, wieder in Gesellschaft von jemanden zu sein, der ihn neu kennenlernte und ihn weder bedauerte, noch bemitleidete.

»Micha?«

Die Stimme schreckte ihn auf. Ihm war entgangen, wie sich die Tür geöffnet hatte. Jetzt drangen die Geräusche umfassend an seine Ohren und er sah seinen Bruder im Türrahmen lehnen. Kai trug genau wie er Hemd und Fliege, die seit Anbeginn zu ihrer Arbeitskleidung gehörten und sich farblich wunderbar mit ihren roten Haaren bissen.

Jetzt beobachtete Kai ihn stirnrunzelnd. Und schon wieder jemand, der sich sorgte. Das Pochen entwickelte sich zu einem Hämmern, wollte sich als üble Worte aus seinem Mund hinauskämpfen. Doch bei Kai riss er sich wie immer zusammen, denn der konnte am allerwenigsten dafür und Micha wollte ihn nicht vergraulen.

»Hm?« Mehr traute er nicht, von sich zu geben. Zu immens war das Risiko, Dinge von sich zu geben, die er im Nachhinein bereuen würde.

»Alles okay? Vorne ist grad ein ziemlicher Andrang. Falls es dir gut geht, wäre es super, wenn du rüberkommst.«

Micha nickte und sein Bruder ließ ihn mit angelehnter Tür zurück. Auch wenn seine Worte freundlich formuliert waren, wusste er, dass sein Verhalten Kai auf die Nerven ging. Natürlich verstand er ihn, aber das Geschäft musste weiterlaufen. Die letzte Woche war der reine Wahnsinn gewesen. Die Sommerferien waren dem Ende zugegangen und die Schüler hatten sich mit Büchern, Heften, Stiften und Krimskrams fürs kommende Schuljahr eindecken müssen.

Mit gesenktem Haupt rappelte sich Micha auf, warf einen letzten Blick auf sein Handy mit der geöffneten Nachricht und deaktivierte den Bildschirm. Er würde wie immer nicht antworten.

Herzschlag

In der folgenden Doppelstunde fehlte Laurin. Während Kate die Hausaufgaben korrigierte, erstellten die Schüler in einer Gruppenarbeit übersichtliche Plakate zu ihren selbst gewählten Themen.

Wie so oft bekam Kate die Unterhaltungen in der Klasse mit. Dafür musste sie weder die Ohren spitzen noch durch die Klasse tigern. Seltsamerweise war es den Jugendlichen egal, wenn die Lehrer ihre Privatgespräche mitbekamen. Somit hörte sie die halblaute Unterredung zwischen Anna und Leonie aus der ersten Reihe.

»Ich kann verstehen, warum er schwänzt. Nach dem Streit gestern Abend mit Alex.«

Leonie nickte ihrer Freundin zu. »Aber meinst du, er ist einfach in seinem Zimmer geblieben? Das fällt doch auf.«

Achselzuckend klebte Anna ein ausgedrucktes Foto auf ihr Plakat: »Ne, ich habe gehört, dass er zur Hausschwester gegangen ist und gesagt hat, er hat Fieber. Die hat ihn garantiert krankgeschrieben. Und jetzt liegt er bestimmt im Bett und liest seine kostenlosen Bücher.«

Leonie wirkte gedankenlos. »Hä? Wie meinst du das?«

»Na, sein Vater besitzt einen Buchladen.«

»Echt jetzt? Ist ja cool.«

Bevor die Plauderei ausarten konnte, erinnerte Kate die beiden an die verbliebene Arbeitszeit und die Mädchen widmeten sich ihrem Plakat.

Es stimmte Kate fröhlich, dass es weiterhin Jugendliche gab, die gerne lasen und sich so über eine Buchhandlung freuten. Im Zeitalter von YouTube und Instagram traf man immer weniger junge Menschen, die sich länger als fünf Minuten am Stück überhaupt konzentrieren konnten.

Ein Buchhandel. Sie kannte Laurins Vater aus ihrer eigenen Schulzeit. Damals war das Internat eine öffentliche Ganztagsschule und sie zwei oder drei Stufen unter ihm gewesen. Seine Schwester hatte ihre Klasse besucht. Mehr konnte sich Kate nicht ins Gedächtnis rufen, das war jetzt fünfzehn Jahre her.

Sie fragte sich, worum es sich bei dem Streit mit Alex gehandelt hatte. Sollte sie nachher Laurin aufsuchen und schauen, wie es ihm ging? Oder wäre das zu aufdringlich?

Bevor sie das entscheiden konnte, war die Zeit abgelaufen. Sie widmete sich ihrem Unterricht und der Begutachtung der fertiggestellten Plakate.

Das Ertönen des Gongs leitete das Ende der achten Stunde und somit den Schulschluss ein. Die Zeitspanne bis zum Abendessen verbrachte Kate damit, die Aufsätze der Neuner weiterzulesen. Unkonzentriert strich sie ab und an mit grüner Tinte Sätze an, die entweder inhaltlich, grammatikalisch oder orthografisch – und oftmals alles drei in einem – absurd waren. Dabei hatte sie gerade ihren inneren Disput vergessen, als es an der Tür klopfte.

Zu ihrem Erstaunen stand dort niemand anders als Laurin, mit geröteten Wangen und von einem Fuß auf den anderen tretend. Unter dem Mantel an Unsicherheit versteckten sich Gewissensbisse, doch alles wirkte seltsam diffus.

Bevor sie drüber nachdenken konnte, räusperte er sich. Sie riss sich zusammen und setzte ein Lächeln auf. »Laurin. Wie schön, dich zu sehen. Geht es dir wieder besser?«

»Ja.« Er klang verschnupft und heiser und in Kate keimte der starke Verdacht auf, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Bevor sie ihre Mutmaßung äußern konnte, hüstelte er erneut.

Er starrte auf den Boden und sprach rasch und hektisch. »Ich möchte mich entschuldigen, dass ich heute gefehlt habe, Frau Becker, und Ihnen meine Hausaufgaben vorbeibringen. Die hatte ich gestern schon fertig.«

Baff sah sie ihn an.

Er wippte mit den Fußballen auf und ab, fixierte weiterhin den Kachelboden. Mittlerweile glühten seine Wangen und Ohren dunkelrot.

Jetzt erst erkannte sie in seiner Hand gefaltete Blätter und antwortete rasch: »Danke, Laurin. Aber du hättest sie mir auch nächste Woche mitbringen können!«

»Ja, schon, aber … nicht, dass Sie denken, ich hätte den Unterricht geschwänzt oder so. Das mache ich nämlich nicht mehr, das schwöre ich.«

Seine Befangenheit wuchs und Kate hätte ihn am liebsten in den Arm genommen. Da stand dieser große, kräftige Junge vor ihr, der offensichtlich krank ins Bett gehörte, und rechtfertigte sich für eine nicht zu ändernde Tatsache.

Doch irritierte seine Aussage sie. »Wieso sollte ich denken, du schwänzt?«

Ein Stromschlag durchzuckte ihn, er presste die Zähne aufeinander. Wie sie wusste, hatte er im letzten Schuljahr oft geschwänzt, aber das war eine vollkommen andere Phase gewesen und sie spürte, wie ehrlich er es meinte.

»Sag mal Laurin, hast du heute zufällig Besuch bekommen?«

Volltreffer. Laurin zuckte zusammen und verkrampfte sich, und bevor er sich zurückhalten konnte, schimpfte er los. »Dieser dämliche Alex! Kommt einfach rein und fragt mich, ob ich meine Freizeit genieße und mich auf der Tatsache ausruhe, einen Sonderstatus bei den Lehrern zu besitzen!«

Er ballte die Fäuste, sein Körper war bis aufs Äußerste angespannt. Seine Gefühle drohten außer Rand und Band zu geraten.

Seine Aufregung nahm Kate mehr mit, als wenn er weiter herumgeschrien hätte. Aber die Erkenntnis, dass er eine Lehrerin anfauchte, brachte Laurin dazu, sich zusammenzureißen.

Kate stand auf und ging zügig auf ihn zu. Er machte sich so klein wie möglich und schien mit einer Standpauke und Nachsitzen zu rechnen.

Sie wartete, bis er nach einigen Sekunden scheu aufschaute.

Erstaunt erkannte Kate, wie unwohl er sich fühlte. Neben seiner nagenden Angst verspürte sie auch eine gewisse Resignation. Er glaubte daran, dass er erneut von einer älteren Person nicht ernst genommen werden würde.

Kate kämpfte gegen den Kloß in ihrem Hals an und sagte mit bemüht fester Stimme: »Laurin, ich glaube dir, dass du nicht geschwänzt hast. Ich freue mich sehr darüber, dass du deine Hausaufgaben vorbeibringst. Allerdings glaube ich auch, dass du im Bett bleiben solltest, denn es geht dir nicht gut.«

Seine Nerven flatterten und er lächelte flüchtig. »Ja, da haben Sie vermutlich recht, mir geht es wirklich nicht besonders.«

»Komm, ich bring dich in dein Zimmer zurück.«

Schweigend liefen sie nebeneinander her bis in den Wohnblock. Ein paar Schüler, die sich fürs Abendessen verspäteten, eilten an ihnen vorbei und grüßten. Kate konzentrierte sich auf Laurin. Trotz seiner Figur und Größe wirkte er neben ihr verloren, sein Blick klebte regelrecht am Boden.

Vor seinem Zimmer angekommen, öffnete er die Tür und trat ein. Kate entdeckte ein ordentlich gefülltes Bücherregal.

»Sind das alles deine?«, fragte sie ihn verblüfft.

Ein Strahlen erreichte flüchtig seine Augen. »Ja. Da habe ich all meine Lieblingsbücher drin.«

Sein Blick verdunkelte sich. »Mein Vater schickt mir alle paar Wochen ein neues Buch.«

Die Worte riefen einen Kummer in ihm hervor, der so abgrundtief saß, dass es ansteckend wirkte. Kate schüttelte benommen den Kopf und scheuchte Laurin in Richtung seines Bettes.

»Bitte bleib beim nächsten Mal liegen. Keine Hausaufgaben dieser Welt sind wichtiger als deine Gesundheit. Und auch kein Gerücht dieser Welt«, fügte sie hinzu, als sie merkte, wie Laurin zu einer Erwiderung ansetzte.

»Ich verstehe, dass die Worte von Alex dich geärgert haben, aber du kannst mir vertrauen, dass ich gut unterscheiden kann, wer mich anlügt und wer nicht. Und jetzt erhol dich bitte gut.«

»Okay. Ähm … danke«, sagte Laurin beschämt.

* * *

Nachdenklich ging Kate mit den Hausaufgaben unter dem Arm durch die Flure, ihr Magen meldete sich knurrend. In Gedanken versunken betrat sie den Speiseraum.

Wie ein Orkan rauschten die Eindrücke auf sie zu und Kate taumelte zurück. Schwindel erfasste sie und kurz musste sie gegen die Schwärze ankämpfen, die sie einzunehmen versuchte.

Wut, Freude, Trauer, Glückseligkeit, Angst, Verliebtheit, Besessenheit, Schmerz.

Mit letzter Kraft gelang es ihr, sich umzudrehen und schnellen Schrittes aus der Eingangstür in die Abendsonne zu eilen. Das Gefühl, sich übergeben zu müssen, wich nur schleichend und sie schleppte sich hinunter bis zum See. Dort ließ sie sich rücklings auf die Wiese fallen. Schwer atmend starrte sie hinab ins grüne Gras, Laurins Aufgaben lagen vergessen neben ihr.

Die unterschiedlichen Regungen sickerten nach und nach aus ihr heraus. Bis auch die letzte nicht zu ihr gehörende Erinnerung verschwunden war, sie das letzte fremde Empfinden verlassen hatte, fixierte sie die Grashalme unter sich und fluchte. Wieso hatte sie nicht auf die Uhrzeit geachtet? Der Großteil der Schüler saß beim Abendessen.

Sie hasste es, die Kontrolle zu verlieren. Ihre Fähigkeit war Fluch und Segen zugleich, meistens überwiegend Ersteres. Bereits als Jugendliche hatte sie Schwierigkeiten gehabt, ihre Gabe zu beherrschen. Seit sich ihre Gabe mit Beginn der Pubertät verstärkt hatte, war Kate kaum mehr unter Leuten getreten.

Oft hatte sie sich gefragt, warum ausgerechnet sie als Sentimentikerin auf die Welt gekommen war. Da aus ihrer Familie keiner mit dieser Fertigkeit geplagt war, hatte ihr niemand Ratschläge erteilen können. Ein paar Jahre später erst hatte sie herausgefunden, wie sie das Leid anderer in sich aufnehmen und temporär lindern konnte.

Kate schreckte empor, als sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm. Zwei Oberstufenschüler befanden sich auf dem Weg zum Essen und winkten ihr. Auch wenn sie sich noch nicht vollständig erholt fühlte, schaffte Kate es, das Lächeln zu erwidern. Die Uhr verriet ihr, dass der Speisesaal mittlerweile leerer sein müsste und sie folgte den beiden.

Die wenigen Nachzügler störten sie nicht, auch der Lehrertisch war spärlich besetzt. Phil und die Rektorin Petra unterhielten sich angeregt. Kate setzte sich dazu und füllte sich ihren Teller. Wie immer sah das Essen hervorragend aus und duftete lecker.

»Was hast du da?«, fragte Phil, nachdem sie eine Weile schweigend gegessen hatte, und nickte zu den Zetteln, die neben ihr lagen.

Kate klopfte lächelnd mit den Fingerkuppen auf die Blätter. »Das sind die Hausaufgaben von Laurin Westphal, die ich eben erhalten habe.«

»Laurin war heute doch gar nicht im Unterricht, jedenfalls nicht bei mir.« Petras strenger Unterton deutete klar darauf hin, dass sie Laurin durchaus zutraute, geschwänzt zu haben.

Kate nahm es ihr nicht übel, auch wenn sie es schade fand, dass sogar die Lehrer solche Ansichten teilten. »Nein, das stimmt. Er hat mich vorhin nach der Achten aufgesucht, sich entschuldigt und mir die Aufgaben gegeben.«

Phil stützte seine Ellbogen auf dem Tisch ab. »Geht es ihm gut? Er sah heute Morgen so schlecht aus, dass ich ihn zur Hausschwester geschickt habe.«

»Ja, schon viel besser, aber er sollte heute auf jeden Fall im Bett bleiben. Die anderen aus seiner Klasse haben zum Teil sehr argwöhnisch reagiert.«

»Argwöhnisch?« Petras Tonfall wechselte von misstrauisch zu fragend.

»Sie vermuten, dass Laurin grundlos gefehlt hat. Er hat in der Klasse noch keinen guten Ruf. Mir erzählte er, Alex habe ihn besucht und sich über seinen Sonderstatus bei uns lustig gemacht.«

Mit finsterer Miene lehnte Phil sich zurück. »Das ist Quatsch! Er hat es zwar immer noch nicht verkraftet, was letztes Jahr geschehen ist, aber er hat sich längst gefangen und weiß, welche Chance er mit der Wiederholung des Schuljahres erhalten hat. Das mit dem Schwänzen war auch nur von kurzer Dauer vor den Osterferien letztes Jahr, das hat schnell wieder aufgehört. Und von Sonderbehandlung kann ja wohl auch keiner sprechen.«

Kate freute sich, als auch Petra besänftigt nickte und sie sich sicher sein konnte, dass Laurin in der nächsten Englischstunde keine bohrenden Nachfragen über sich ergehen lassen musste.

»Worum ging es?« Phil deutete interessiert auf die Hausaufgaben.

»Um die Zahl Sieben. Die Schüler durften sich ein freies Thema aussuchen und sollten schreiben, warum die Sieben in diesem Bereich überaus wichtig ist.«

Kate entfaltete die beiden Seiten, sodass man die Überschrift in ordentlich verfasster Schrift erkennen konnte: »Die sieben Todsünden und ihre Umsetzung im Film »Sieben« mit Brad Pitt als Hauptdarsteller«.

---ENDE DER LESEPROBE---