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Ylvie Wolf

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Beschreibung

Melina kehrt in ihre Heimat zurück, in der sich ihr Leben vier Jahre zuvor mit einem Schlag auf den Kopf gestellt hat. Kann sie mithilfe ihrer Jugendliebe Erik und ihrer besten Freundin Tammy ihre Vergangenheit verarbeiten? Gerade, als sie glaubt, endlich in die richtige Richtung zu gehen, tritt einer derjenigen in ihr Leben, der es damals zerstört hat.

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Seitenzahl: 130

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Friedlos

Fassungslos

Sprachlos

Verständnislos

Hilflos

Reibungslos

Wortlos

Erbarmungslos

Schwerelos

Distanzlos

Ratlos

Machtlos

Widerstandlos

Richtungslos

Ergebnislos

Bewusstlos

Skrupellos

Kompromisslos

Schadlos

Schmerzlos

Grenzenlos

Epilog

Impressum

Ylvie Wolf

LOS

Ylvie Wolf

LOS

Kurzroman

Impressum

Texte: © 2022 Copyright by Ylvie Wolf

Umschlag: © 2022 Copyright by Ylvie Wolf

Ylvie Wolf,

[email protected],

www.semikolons-welt.de

Vertrieb über tolino media

Verantwortlich für den Inhalt:

Jessica Jübermann

Görlitzer Str. 2b

51381 Leverkusen

Prolog

»LOS!«

Melina rannte den kleinen Hügel hinauf. Ihre Beine schmerzten und kleine, fiese Stiche durchzuckten ihre Seite. Sie hörte das Keuchen der beiden Jungen hinter ihr. Mist, sie hatten sie beinahe! Sie grinste trotz ihrer Erschöpfung.

Jemand packte sie am Arm und sie kam ins Straucheln. Dann rannten beide Jungen in sie hinein und gemeinsam kugelten die drei Jugendlichen über die weiche Wiese. Hände packten Melina.

Sie keuchte auf, als sie durchgekitzelt wurde. Versuchte sich zu wehren, doch gegen die beiden Jungen hatte sie keine Chance. „Erik! Daniel! Hört auf!“

Endlich ließen die beiden von ihr ab. Schwer atmend lag Melina auf dem Rücken und sah hinauf in den blauen Himmel. Die Sonne schickte ihre warmen Strahlen hinab und wärmte ihr erhitztes Gesicht. Ihr Puls beruhigte sich allmählich und sie setzte sich auf.

Von der Hügelkuppe aus hatte sie hervorragende Sicht auf Schäferhof mit den Hochhäusern und dem Industriegebiet. Wie immer, wenn sie die qualmenden Schlote sah, war sie erleichtert, im ruhigen Vorwort zu leben. Wenn sie sich anstrengte, konnte sie ihr Elternhaus ausmachen.

»Du stellst dich vielleicht an.«

Melina sah zu Erik, der sie angrinste. »Blödmann.«

Sie schubste ihn und er ließ sich lachend zur Seite fallen. Kopfschüttelnd wartete sie, bis er sich wieder aufrichtete. In der Zwischenzeit betrachtete sie ihn. Er trug seine feuerroten Haare kurz, im letzten Jahr musste er viel Sport getrieben haben. Als ihr bewusst wurde, dass sie ihn anstarrte, schaute sie mit heißem Kopf zur Seite zu Daniel.

Er war zwei Jahre älter als sie und würde nächsten Sommer achtzehn werden. Im Gegensatz zu seinem eher stämmigen Bruder war Daniel groß und schlank, seine Haare ließ er sich seit ein paar Monaten wachsen. Es gefiel Melina, aber ihre Augen wurden wie magisch von Erik angezogen, der sich aufrappelte.

Mit einem mulmigen Gefühl im Magen, das sie sich nicht erklären konnte, fragte sie: »Habt ihr wieder nette Mädchen im Dorf gefunden?«

Erleichtert sah sie, wie die Geschwister synchron den Kopf schüttelten. Sie waren ständig auf der Suche nach willigen Opfern, wie Melina es nannte. Dabei ging es ihnen darum, Mädels anzumachen, und das um die Wette.

»Also in der Schule gibt’s bessere.«

Melina verdrehte die Augen. »Ihr und euer tolles Internat. Freut euch doch, dass morgen die Ferien wieder um sind und ihr endlich zurückdürft.«

Sie sah ein weiteres Mal in den Himmel hinauf, um sich ihre Trauer nicht anmerken zu lassen. Warum waren die Eltern der beiden so alternativ, dass sie ihre Kinder außerhalb der Stadt aufzogen und zu allem Übel auch noch weit weg zur Schule schickten?

Erik unterbrach ihren Gedankengang. »Habt ihr vorhin Henry gesehen? Der saß am Brunnen und hat wieder ein Mädel abgeschleckt.«

Daniel nickte. »Und abgeschleppt.«

»Ja, das auch.«

»Ich hasse diesen Kerl.« Stirnrunzelnd schnippte Melina einen Grashalm von ihrer Hose.

Erik lehnte sich zurück und stützte sich mit den Unterarmen auf der Wiese ab. »Wusstet ihr, dass er und seine drei Kumpel schon ein paar Einbrüche und Diebstähle begangen haben sollen?«

»Na ja, verwunderlich wäre es ja nicht.« Daniel streckte sich und gähnte ungeniert.

Melina wusste mehr, denn ihre Mutter arbeitete für die hiesige Tageszeitschrift. »Wusstet ihr auch das Allerdümmste? Sie prahlen damit, dass die Initialen ihrer Vornamen den Namen Hure ergeben.«

Während Erik konsterniert dreinschaute, lachte Daniel: »Also die Initialen von unseren Geschwistern ergeben dann…«

»PJED.« Jetzt grinste Erik wieder.

Melina lächelte. »Tja, da hat sich eure Mutter ja ganz schön vertan.«

»Wir sollten los, wir wollten doch noch Eis essen.« Mit den Worten stand Erik auf und klopfte sich die Grashalme von der kurzen Hose.

Glücklich nahm Melina seine dargebotene Hand und ließ sich hochhelfen. Während sie sich auf den Weg ins Dorf hinab machten, fiel Melina ins Grübeln. Sie liebte die Zeit, die sie mit den Brüdern verbrachte. Und sie ertappte sich erneut, wie sie zu Erik hinüberschielte. Hitze stieg erneut in ihre Wangen auf.

»Wenn man vom Teufel spricht.« Daniels Gesicht verdüsterte sich.

Ihnen kamen die Jugendlichen entgegen, über die sie vor wenigen Minuten gesprochen hatten. Ihre Münder verzogen sich zu höhnischen Grimassen, als sie die Drei sahen.

»Sieh an, sieh an, die Hinterwälder und das hässliche Entlein.«

»Halt die Klappe, Uwe.« Erik ballte die Hände zu Fäusten.

Beruhigend legte Melina ihm ihre Hand auf den Oberarm. So verhalten und abgeklärt Erik normalerweise war, sobald man etwas gegen ihre Familie sagte, war mit ihm nicht zu spaßen.

»Halt die Klappe, Uwe.« Der Angesprochene äffte Erik nach und die anderen lachten.

Melina spürte den wachsenden Unmut der beiden Jungen neben sich. Sie griff nach ihren Händen und zog sie mit sich. »Ach, lasst die Idioten doch. Sollen sie sich in ihrem Huren-Dasein baden und wohlfühlen.«

Das brachte Daniel und Erik zum Lachen, die Anspannung fiel von ihnen ab.

Melina warf einen letzten Blick über die Schulter und sah die hasserfüllten Mienen der vier Jugendlichen. Mist, hatte sie so laut gesprochen? Um abzulenken, sagte sie: »Sehen wir uns morgen?«

»Ja, der letzte Tag der Ferien.« Erik sah geknickt zu ihr hinunter. »Und dann gehts ab zur Schule.«

»Total doof.« Melina zog eine Schnute.

Ihr Inneres schlug einen Purzelbaum, als Erik sie anlächelte. »Wir sehen uns ja in den Herbstferien wieder.«

Auf dem Marktplatz verabschiedeten sie sich. Melina schlug ihren Heimweg ein und dachte an die Begegnung mit den vier Jungen. Sie konnte diese Clique nicht leiden. Zwei von ihnen gingen in ihre Klasse. Sie waren beide im letzten Jahr sitzen geblieben und taten auch jetzt nicht allzu viel, um ihre Einstellung zu ändern. Die beiden anderen waren zwei Jahre älter und volljährig. Sie gingen weder zur Schule noch arbeiteten sie.

Dagegen waren die zwei Brüder total anders. Als sie Melina erzählt hatten, dass sie insgesamt vier Kinder waren, war sie beeindruckt gewesen. Sie war Einzelkind. Manchmal furchtbar langweilig.

Zusammen mit Tammy, ihrer Freundin aus Kindertagen, waren die beiden ihre besten Freunde. Melina lächelte, als sie die Tür aufschloss und die erleuchtete Wohnung betrat. Wenigstens sah sie Erik und Daniel in den nächsten Ferien wieder.

Wie sie sich täuschte.

Friedlos

»Nächster Halt: Schäferhof – Wiembachtal.«

Melina atmete tief durch. Der Zug ließ den Tunnel hinter sich und sie sah die Felder und Wege, die ihr so vertraut vorkamen. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie diese Umgebung vermisste. Und doch spürte sie, wie eine unsichtbare Macht ihre Brust zusammendrückte, als sie dem Bahnhof näherkam. Die Bremsen des Zuges quietschten auf und sie verloren an Geschwindigkeit.

In der nächsten Kurve erhoben sich vor dem Fenster die ersten Scheunen, gefolgt von Wohnhäusern und dem alten Schulgebäude. Der Kirchturm war oberhalb der Dächer zu erkennen. Weit hinten ragten die Hochhäuser der Innenstadt und die hohen Schornsteine des Industriegebiets Schäferhofs auf.

Der Zug fuhr in den Bahnhof ein und Melina stand auf. Sie schnallte sich ihren Rucksack auf den Rücken und ergriff den Henkel ihres kleinen Rollkoffers. Sie verließ den Waggon und betrat nach vier Jahren das erste Mal das raue Pflaster ihrer Heimatstadt.

Die Sonne hatte sich einen Weg durch die Wolken erkämpft. Auch wenn sie sich bereits dem Horizont näherte, erwärmte sie Melinas Haut.

»Melina!«

Bevor sie sich versah, fiel ihr Tammy um den Hals. Beinahe riss es die beiden jungen Frauen von den Füßen.

»Es ist so schön, dich wiederzusehen.« Tammy drückte sie resolut und ließ sie dann los.

Melina betrachtete ihre Freundin lächelnd. Die blonden Haare trug Tammy kurz und strubbelig. Sie war braun gebrannt und ihre Augen strahlten. Freude pulsierte durch Melinas Adern und für einen Moment vergaß sie ihre Sorgen und Ängste. »Du hast dich kaum verändert in den letzten Jahren.«

»Du dich schon, meine Liebe. Aber nur zum Positiven.« Ein schelmisches Grinsen huschte über Tammys Gesicht und bevor Melina es verhindern konnte, wurde sie erneut umarmt.

Zusammen ließen sie den Bahnhof hinter sich zurück und schlugen den Weg durch eine ruhige Gasse ein, die zum Marktplatz führte. Melina sah sich um. Alles war ihr so vertraut, als hätte sie nicht die letzte Zeit in Köln verbracht. Gleichwohl brachten die Erinnerungen Bilder mit sich, an die Melina nicht denken wollte.

Um sich abzulenken, wandte sie sich an Tammy. »Gibts noch den Eisladen?«

»Klar. Da können wir direkt morgen hin, wenn du magst.«

Ein Stocken in ihrer Stimme brachte Melina dazu, ihre Beobachtungen zu unterbrechen und Tammy zu betrachten. Die löste ihren Blick gerade von Melinas Arm.

Unwillkürlich zuckte Melinas Hand zu ihrem verdeckten Unterarm.

In Tammys Stimme schwang Sorge mit. »Du trägst immer noch eine Stulpe darüber?«

»Ja. Ich will nicht, dass man es sieht.«

Tammy nickte, doch man konnte deutlich ihre Zerrissenheit erkennen.

»Ich bin nicht so selbstbewusst wie du.« Melina versuchte, gegen den Kloß anzukämpfen, der sich unvermittelt in ihrem Hals befand. Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Wie sie das hasste! Warum musste sie immer wieder daran erinnert werden? Krampfhaft zwinkerte sie und schaffte es, die Tränen wegzublinzeln.

Da sie ihren Stimmungswandel bemerkt hatte, lenkte Tammy vom Thema ab. »Also, was machen wir die nächsten Wochen oder Monate über?«

Über die Wortwahl musste Melina lächeln, wenn auch etwas gequält. »Du weißt, dass ich nicht sagen kann, wann ich wieder weg bin, oder?«

»Klar.« Tammy beendete ihr Nachdenken. Sie verlieh ihrer Stimme einen unbeschwerten Klang. »Aber bis dahin können wir uns schließlich eine schöne Zeit machen.«

Dem stimmte Melina zu. »Ja, das machen wir. Ich möchte an den See, und Eis essen. Und wir müssen unbedingt ins Kino, ich möchte noch einmal Harry Potter 1 gucken.«

»Der lief doch schon letztes Jahr.«

»Sie zeigen ihn im kleinen Kino hier noch einmal.«

»Bist du immer noch so verrückt nach dem ganzen Fantasy-Gedöns?« Tammy grinste.

Darauf ging Melina nicht ein, wusste sie doch, dass Tammy ihrem Bücher-Faible nicht allzu viel abgewinnen konnte. »Wie geht’s Mike?«

Da die Freundschaft zwischen den beiden in den letzten Jahren über Briefe stattgefunden hatte, kannte sie Tammys Freund nur von Berichten. Die beiden waren bereits zwei Jahre zusammen.

»Gut. Er muss heute Nachmittag zu seiner Oma und kommt heute Abend mal vorbei.«

Am Marktplatz angekommen musste Melina schlucken. Alles sah aus wie damals, als sie überstürzt umgezogen waren. Es erinnerte sie an viele Dinge aus ihrer Kindheit und Jugend. Von hier aus konnte man die Straße hoch auf ihr ehemaliges Elternhaus blicken, doch sie zog es vor, nicht allzu lange dort hinaufzuschauen.

Als sie am Brunnen vorbeigingen, dachte sie an die letzte Begegnung mit ihren besten Freunden. »Hast du was von Daniel und Erik gehört?«

»Soweit ich weiß, arbeitet Daniel außerhalb von Schäferhof und Erik lebt sogar in Dänemark.«

»Oh.« Insgeheim hatte Melina gehofft, die beiden würden noch bei ihrer Familie wohnen. Niedergeschlagen starrte sie eine Weile auf die Steinfigur, deren Wasserstrahl plätschernd im Becken aufkam. Der letzte Ferientag vor vier Jahren war so schön gewesen.

Melina wusste es noch genau. Sie waren Eis essen gewesen. Später war Daniel gegangen und sie hatte den Rest der Zeit allein mit Erik gehabt. Ihre Wangen erwärmten sich. Sie war in ihn verliebt gewesen, doch hatte sie das niemandem erzählt. Damals wie heute war Melina zu ängstlich, um über ihre Gefühle zu sprechen.

»Wie geht es deinen Eltern?«

Melina schreckte auf und sah zu Tammy, die sie mit hochgezogenen Brauen musterte.

Schnell sagte sie: »Gut. Papa war überhaupt nicht begeistert davon, dass ich hierher fahre. Aber du kennst ja meine Mutter. Sie hat nur was von Aufarbeitung und schlechtem Karma geschwafelt, bis Papa genervt abgerauscht ist.«

»Ich kann es mir bildlich vorstellen.« Auf Tammys Gesicht war ein freches Grinsen erschienen. »Trägt sie immer noch ihre vielen Schals?«

Melina bejahte es feixend.

Lachend kramte Tammy aus ihrer Hosentasche einen Schlüssel hervor, sie waren angekommen. Melina bemerkte erst jetzt, dass sie das kleine Waldstück durchquert hatten. Tammy hatte sie absichtlich abgelenkt und Melina verspürte tiefe Dankbarkeit ihrer Freundin gegenüber. Trotzdem breitete sich eine Gänsehaut auf ihren Armen aus, als sie zurück zu den Bäumen sah.

»Wir sind da!«

»Tamara? Bist du das?«

Tammy zog bei der Nennung ihres vollen Namens eine Grimasse. »Ja. Wer sonst?«

Ihre Mutter kam aus der Küche und strahlte die beiden an. »Melina! Wie geht es dir? Es ist schön, dich wiederzusehen!«

»Hallo, Frau Lange.« Melina lächelte höflich.

Wieder wurde sie fest in die Arme geschlossen. Sie gingen in die angrenzende Küche. Am Esstisch sitzend vertieften sich die drei Frauen in Gespräche. Tammy hatte ein Talent dafür, ihr passierte Dinge auf äußerst unterhaltene Art und Weise darzustellen und nachzuerzählen.

Melina hatte lange nicht mehr einen solchen Spaß gehabt.

Während Frau Lange das Abendessen vorbereitete, streifte Tammy das Thema, das nach Melinas Meinung ruhig eine Weile länger unausgesprochen geblieben wäre. »Wie geht es dir denn momentan?«

Sie seufzte. »Ganz okay.«

Natürlich kaufte ihr das niemand ab und sie holte weiter aus. »Die letzten Wochen waren wirklich in Ordnung. Nach der mündlichen Abiprüfung war alles scheiße. Irgendwie hatte ich da gar keine Motivation mehr für nichts. Als ob ich in ein riesiges, schwarzes Loch geplumpst wäre.«

Sie rezitierte die Worte ihrer Psychologin: »Frau Petry meinte, dass das ganz verständlich ist. Die letzten Jahre habe ich mich voll auf die Schule konzentrieren können und das ist jetzt halt vorbei. Und ich weiß nicht, was ich in Zukunft machen möchte.«

Wie immer bei diesem Thema spürte sie den Druck auf ihr Inneres ansteigen, der sie seit Wochen nicht losließ.

»Und deshalb bist du hier?« Frau Lange setzte sich mit ihrem Sparschäler und den Kartoffeln an den Tisch.

»Ja. Ich soll mich mit meiner Vergangenheit auseinandersetzen und der beste Weg ist offenbar, hierher zurückzukehren.«

»Das klingt vernünftig. Hast du denn in Köln jemanden gehabt, mit dem du sprechen konntest, außer Frau Petry?«

Unruhig rutschte Melina auf ihrem Platz hin und her. Sie mochte dieses Ausfragen nicht, aber sie konnte Frau Lange auch nicht vor den Kopf stoßen, indem sie gar nichts sagte. Daher zuckte sie unverbindlich mit den Schultern.

In dem Moment klingelte es an der Tür und Tammy sprang auf. Sie eilte zur Tür und kam kurz darauf mit einem Jungen zurück, dessen dunklere Hautfarbe einen starken Kontrast zu Tammys Haaren bildete.

Mit einem Lächeln reichte er Melina die Hand und drückte sanft zu. »Hey, ich bin Mike.«

Sie lächelte ihn freundlich an. Wenigstens hatte das Verhör ein Ende.

Während sich die beiden auf die Bank nebeneinander quetschten, grinste Tammy ihren Freund von der Seite her an. »Mikes Schwester ist einige Jahre älter und hat einen kleinen Klamottenladen im Dorf. Hast du vielleicht gesehen. Wie wär’s, lass uns morgen shoppen gehen, wir bekommen auch Prozente!«

Melina tat begeistert. Tammy mochte shoppen über alles und früher hatten sich die beiden stundenlang die lustigsten Sachen angezogen und Model gespielt. Doch mittlerweile hasste Melina es. Jeder Verkäufer guckte schräg auf ihre Stulpen und wollte sie ihr abschwatzen. Da hatte sie ehrlich keinen Bock mehr drauf.

Mike zog einen Schmollmund. »Du magst mich nur, um billiger an deine Klamotten ranzukommen.«

»Natürlich, mein Schatz.« Sie gab ihm einen Kuss und grinste kess.

Ihre Mutter unterbrach die beiden. »Es gibt gleich Essen. Zeig Melina doch, wo sie schlafen kann. Ich habe das Gästezimmer hergerichtet.«

Gemeinsam stiegen sie die Treppe empor. Mike trug freundlicherweise Melinas Koffer. »Du schläfst logischerweise nicht im Gästezimmer, sondern bei mir, ist doch klar. Sonst können wir ja gar nicht bis tief in die Nacht lästern wie früher.«

Melina lächelte über Tammy, die aufgeregt vor ihr her wuselte. Lange hatte sie diese Gespräche vermisst. Allmählich freute sie sich auf die kommenden Tage. Sie packte ihre Sachen aus und machte es sich auf dem Gästebett bequem, das Mike ihnen von nebenan ins Zimmer trug.

Der Abend verlief gemütlich, sie sprachen über die letzten Schulwochen. Mike war Automechaniker und bereits fertig mit der Ausbildung. So hörte er sich die Plauderei der beiden jungen Frauen schweigend an. Letztendlich verabschiedete er sich und Tammy brachte ihn zur Tür.

Melina ging derweil ins Bad. Ihr Spiegelbild verdeutlichte, wie wenig Sonne sie in letzter Zeit hatte tanken können. Sie war blass und wie immer ungeschminkt. Nach dem Zähneputzen bürstete sie ihr Haar und band es zu einem kurzen Zopf zusammen. Seufzend setzte sie sich nebenan aufs Bett und wartete auf die Rückkehr ihrer besten Freundin. Hoffentlich würde ihre Vergangenheit sie nicht zu rasch einholen.

Fassungslos

Die ersten Sonnenstrahlen weckten Erik früh am Morgen. Unten hörte er seine Mutter herumwerkeln und von draußen drangen ihm verschiedene Geräusche ans Ohr. Vögel zwitscherten und sein Vater war in der Garage beschäftigt. Wahrscheinlich baute er wieder an einem seiner Motorräder herum.

Gähnend stand Erik auf. Wahnsinn, war er müde. Man sollte vielleicht früher ins Bett gehen und nicht bis tief in die Nacht mit seinem Bruder zechen. Sie hatten sich lange nicht gesehen, da war die Zeit wie von selbst verflogen. »Morgen.«

Daniel blinzelte verschlafen, doch sogleich huschte ein Grinsen über sein Gesicht. »Du siehst ja fit aus.«

Er riss sich die Decke vom Leib und warf sie achtlos zur Seite.

Als er aufstand, wurde Erik erst bewusst, was er da gerade anstarrte. »Dein Ernst? Kannst du beim Schlafen nicht wenigstens eine Boxershorts tragen?«

Irritiert blickte Daniel an sich herab. »Nö, warum?«

Entgeistert schmiss Erik seinem Bruder ein Shirt entgegen. »Weil mir eh schon flau im Magen ist vom Alkohol.«

Das brachte seinen Bruder zum Lachen und Erik gab es auf. Daniel war der bunte Vogel der Familie, was er auch durch die vielen Tattoos zum Ausdruck brachte, die seinen gesamten Körper bedeckten. Ihre Mutter hatte einen halben Herzinfarkt erlitten, als sie ihn das erste Mal oben ohne gesehen hatte.

Auf dem Weg ins Bad schaute Erik bei seiner kleinen Schwester Jana ins Zimmer hinein. Sie spielt mit einem Traktor, doch als sie ihn sah, sprang sie auf und hüpfte ihm in die Arme. »Morgen, Brüderchen.«

Als Antwort kitzelte er sie durch und sie wand sich kichernd. Er ließ sie hinab, da gluckste sie und hüpfte Richtung Küche. Kleiner Wirbelwind.

Nachdem sich Erik im Bad fertiggemacht hatte, ging er in die Küche hinab. »Morgen.«

Er unterdrückte ein Gähnen. Jana kicherte. Sie saß am Küchentisch und las in einem Buch.

»Hallo, Erik. So früh schon auf?«

Seine Mutter lächelte und widmete sich ihrer geliebten Hausarbeit.

---ENDE DER LESEPROBE---