Herzensbildung - Anselm Bilgri - E-Book

Herzensbildung E-Book

Anselm Bilgri

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wissen ist Macht, heißt es, und gut ist, was man jederzeit abrufen und messen kann – vor allem in ökonomischer Hinsicht. Wir leben in einer Welt der Zahlen und Formeln, Zeit ist Geld, Erfolg rein materiell. Im Angesicht der Krise wird deutlich, welchen monströsen Götzen wir opfern. Der ehemalige Benediktinermönch und Bestsellerautor Anselm Bilgri erinnert unsere Wissens- und Informationsgesellschaft an ein anderes Bildungsideal: die Herzensbildung. Im Vordergrund stehen die sozialen, emotionalen, kommunikativen, religiösen und künstlerischen Fähigkeiten des Menschen. Herzensbildung ist nicht unmittelbar zweckgerichtet, sondern zielt auf die Entfaltung von Persönlichkeit und die Formung unseres Wesens. Sodass das, was die alten Philosophen unter Glückseligkeit verstehen, überhaupt erst möglich wird.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

parentibus et magistris

ISBN 978-3-492-97589-6

Februar 2017

© Piper Edition, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2009

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: Kösel Media, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

VORWORT

Allenthalben ist heute von der Wissensgesellschaft die Rede, gar von der Informationsgesellschaft. Gemeint ist, dass das Wissen bzw. die Wissenschaft – und hier besonders die Naturwissenschaft – zu einer bestimmenden Leitfigur unseres modernen Lebens geworden ist. Durch die rasante Entwicklung der Informationstechnologie steht uns zu jeder Zeit jegliche Form und Menge an Information zur Verfügung. Wissen ist Macht, heißt es. Gemeint ist in der modernen Gesellschaft damit wohl: Durch die Vermehrung von Informationen wird ein Zugang zu Machtstrukturen überhaupt erst ermöglicht. Damit aber erliegt die moderne Gesellschaft einem gravierenden Denkfehler. Denn sie setzt die überbordende Fülle an Information mit der Zunahme von Wissen gleich. Dazu kommt, dass durch die Überbetonung des intellektuellen Wissens kaum noch Raum bleibt für emotionale und soziale Intelligenz. Oder wie es Manfred Fuhrmann, ein Altmeister der Bildungstheorie, in einem Essay über den Niedergang der klassischen deutschen Bildungsidee schreibt: »An die Stelle der überlieferten Kategorien Person, Geist und Kultur traten in unverhüllter Einseitigkeit die Begriffe Gesellschaft, Einkommen und soziale Gerechtigkeit.« Bildung wird demgemäß nicht mehr als geistiger Prozess verstanden, der den Menschen zu Selbstständigkeit und Freiheit, zu einer Wahrnehmung des Kulturellen und Ästhetischen befähigt, sondern nur noch als ökonomischer und sozialer Faktor in der Kategorie des Nützlichen.

Der Grundstein dafür wird bereits in der Primärstufe des Bildungsweges gelegt. Durch zunehmende Spezialisierung und gezielte Förderung der technischen und naturwissenschaftlichen Ausbildung soll schon hier den ökonomischen Bedürfnissen unserer Gesellschaft, der Wirtschaft und des Staates Rechnung getragen werden. Wirtschaft und Technik als angewandte Naturwissenschaft werden auf diese Weise zu bestimmenden Faktoren auch hinsichtlich unseres gesellschaftlichen Bildungs- und Erziehungsideals. Eine gravierende Verschiebung unserer Werteskala ist damit unausweichlich. Der moderne Bildungskanon hält nicht mehr die Instrumente bereit, mit deren Hilfe wir ein gutes und angemessenes Leben in Balance mit uns selbst, den Mitmenschen und der Umwelt führen können (die Glückseligkeit der alten Philosophen), sondern ist gekennzeichnet durch eine Einseitigkeit, die die einzelnen Elemente zu monströsen, alles bestimmenden Götzen unserer modernen Welt mutieren lässt. Eine Welt, die von Zahlen, Formeln, knapper Zeit und Gier nach Materiellem geprägt zu sein scheint. Zwar wird in den Diskussionen der Bildungspolitiker genauso wie in den Auseinandersetzungen der Ökonomen die Forderung nach einem wertegeleiteten Ordnungsrahmen erhoben, zwar werden Ethikkommissionen auf allen Ebenen gebildet, um sich der gemeinsamen Werte zu versichern. Doch bleibt das Ergebnis oft im Unbestimmten. Werte werden postuliert, aber um welche Werte es dabei konkret gehen soll, bleibt oft außen vor. Wir müssen uns daher viel grundsätzlicher die Frage stellen, welche Werte unsere moderne Gesellschaft kennzeichnen sollen. Dann wird auch deutlich, warum Bildung nicht nur durch ökonomiegesteuertes und technikgestütztes Anhäufen von Zahlen-, Daten-, Faktenwissen geprägt sein sollte, sondern ergänzt werden muss durch das, was man Herzensbildung nennt.

Papst Benedikt XVI. sagte in einem Fernsehinterview mit deutschen Journalisten dazu Folgendes:

»Fortschritt kann nur Fortschritt sein, wenn er dem Menschen dient und wenn der Mensch selber wächst; wenn in ihm nicht nur das technische Können wächst, sondern auch seine moralische Potenz. Und ich denke, das eigentliche Problem unserer historischen Situation ist das Ungleichgewicht zwischen dem ungeheuren rapiden Anwachsen dessen, was wir technisch können, und unserem moralischen Vermögen, das nicht mitgewachsen ist. Und deswegen ist die Bildung des Menschen das eigentliche Rezept, der Schlüssel von allem, und das ist auch unser Weg. Und zwar hat diese Bildung, kurz gesagt, zwei Dimensionen: Zunächst einmal müssen wir natürlich etwas lernen: Wissen, Können erwerben, Know-how, wie man so schön sagt. … Aber wir brauchen zwei Dimensionen, es muss die Bildung des Herzens, wenn ich’s so sagen darf, mit dazukommen, durch die der Mensch Maßstäbe gewinnt und dann auch seine Technik richtig gebrauchen lernt.«

Ein anderer großer Religionsführer unserer Tage, der Dalai Lama, drückte dies ganz ähnlich in einem Gespräch mit einer deutschen Journalistin aus:

»Auf meinen Vortragsreisen bin ich immer wieder von der Lernfreudigkeit der Menschen im Westen überrascht. Die Zuhörer lassen Tonbandgeräte laufen oder schreiben mit. Ganz anders als zum Beispiel tibetische oder chinesische Buddhisten, die zwar sehr andächtig dasitzen, aber doch nicht so begeistert lernen wollen. Ich bin immer wieder beeindruckt von der Tatkraft und dem Wissensdurst, denen ich hier begegne.

Aber ich habe auch festgestellt, dass viele Menschen oft ausschließlich in Schwarz-Weiß- und Entweder-oder-Kategorien denken und dabei übersehen, wie sehr alles voneinander abhängt und einander bedingt. Man vergisst dabei leicht, dass es zu jeder Frage mehr als nur zwei Gesichtspunkte gibt.

Vielleicht kommt das daher, dass die westliche Ausbildung fast nur auf die Entwicklung der Intelligenz und ein möglichst großes Wissen ausgerichtet ist. Die Herzensbildung kommt dabei wohl zu kurz. Das hat sicher historische Gründe. Früher haben sich hauptsächlich die Kirchen um die moralischen und spirituellen Dinge gekümmert. Heute aber ist ihr Einfluss im Schwinden. Dadurch fehlt den Kindern bestimmt etwas Wesentliches in ihrer Erziehung. Es muss ein Gleichgewicht zwischen dem Gehirn und dem Herzen bestehen. Ich denke, dass ein herzloses menschliches Wesen mit einem sehr gut funktionierenden Gehirn ein gefährlicher Unruhestifter ist. Ich schätze jemanden, dessen Intelligenz weniger entwickelt ist, der aber ein gutes Herz hat, höher ein.«

(Das Gespräch ist in dem Buch »Mitgefühl und Weisheit« abgedruckt.)

Die Metapher Herz, die im Begriff Herzensbildung verwendet wird, weist auf etwas Wesentliches, dem Menschen zutiefst Innewohnendes hin. Schon in der Antike wurde darüber gestritten, wo der Sitz der Seele des Menschen sei, im Gehirn oder im Herzen. Trotz der neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaften, denenzufolge man alle seelischen Vorgänge durch das Messen von Gehirnströmen sichtbar machen kann, ist es nach wie vor ein schönes Bild, für das, was wir die Seele eines Menschen nennen, als symbolische Lokalisation das Herz anzunehmen.

Die große Tradition der Thora, der jüdischen und hebräischen Religionsurkunde, die unserer Kultur neben den Einflüssen der griechischen und römischen Philosophen zugrunde liegt, hat uns ebenfalls viele Sprachgemälde für das Herz als Mitte des Menschen mitgegeben. In der Bibel ist das Herz vor allem Sitz des Gefühls und bringt Verlangen und Begehren hervor. Das Herz steht oft pars pro toto für den ganzen Menschen, und Aussagen über ihn und seinen Zustand werden auf Aussagen über sein Herz konzentriert. Der Prophet Ezechiel lässt Gott verheißungsvoll über sein Volk sagen: »Ich schenke ihnen ein anderes Herz und gebe ihnen einen neuen Geist. Ich nehme das Herz von Stein aus ihrer Brust und gebe ihnen ein Herz von Fleisch« (Ez 11,19). Und Jesus, der von sich selbst im Evangelium sagt, er sei »von Herzen demütig«, belehrt seine Jünger, dass der Mensch nicht durch Dinge von außen unrein wird, sondern aus dem Inneren: Vom »Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch« (Mt 15,19). Aber auch: »Selig, die ein reines Herz haben; denn sie werden Gott schauen!« (Mt 5,8)

Die katholische Frömmigkeitsgeschichte kennt eine Verehrung des Herzens Jesu, die trotz aller Verkitschung im 19. und 20. Jahrhundert das Bewusstsein für diese wunderschöne Metapher vom Herzen als Mitte des Menschen, ja sogar Gottes, lebendig gehalten und mit dem Gebetsruf »Bilde unser Herz nach deinem Herzen« eine der innerlichen Frömmigkeit geschuldete Variante der Herzensbildung zum Ausdruck gebracht hat. Der bedeutendste Theologe des beginnenden Mittelalters, der Kirchenvater Augustinus, wird mit einem brennenden Herzen als Attribut dargestellt. Zwei seiner Worte stehen dafür Pate: »Cor ad cor loquitur – Herz spricht zum Herzen.« Und: »Unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir.« Beides sind sehr ausdrucksstarke Hinweise auf das Wesentliche des Menschen, das in seinem Herzen beheimatet ist und von dort aus mit anderen Menschen und deren Wesenskern, ihrem Herzen, in Beziehung tritt. In diesem Herzen hört der gläubige Mensch auch die Stimme des »inneren Meisters«, die nicht einfach mit der moralisierenden Stimme des Gewissens gleichgesetzt werden darf.

Zum aufmerksamen Hören aber muss dieses Herz erst befähigt, im wahrsten Sinne des Wortes herangebildet werden. Dafür gibt es verschiedene Wege wie Erziehung und Bildung in einem weit gefassten Kontext. Die Seele, das Herz des jungen Menschen, soll dabei nach einem bestimmten Bild geformt werden. Nur: Welches Bild habe ich von einem idealen Menschen, wie soll sein Herz gebildet sein? Neben dem rein verstandesmäßigen Aneignen und Erlernen von Kenntnissen, abspeicherbarem Wissen, eben den Zahlen, Daten, Fakten und Formeln (den sogenannten »hard skills«), geht es bei der Herzensbildung um die sozialen, emotionalen, kommunikativen, künstlerischen und religiösen Fähigkeiten des Menschen. Diese »soft skills« prägen unser Erfahren, Fühlen, Denken, Wollen und Handeln, das Bild des Herzens wird so zum Symbol für die Heranbildung einer Persönlichkeit.

Der Begriff »Person« betont, dass der Mensch in Freiheit und mit Vernunft handeln kann, dabei zu sich selbst und zur Umwelt in ein bewusstes Verhältnis tritt. Er übernimmt Verantwortung und Pflichten, verfolgt Zwecke und Interessen und will sein Leben im Bewusstsein der eigenen Geschichte und der offenen Zukunft als einmaliges, unverwechselbares Schicksal gestalten. Die Begriffsgeschichte des Wortes Person kann uns einen Weg zu einem vertieften Verständnis weisen. Der lateinische Begriff persona lässt sich auf zweierlei Arten herleiten. Zum einen über das phönizische Wort persu, das die Maske bezeichnet, durch die der Schauspieler im Theater spricht und an der sich die von ihm verkörperte Rolle zeigt. Zum anderen über das Verbum personare (durchtönen). Diese Ableitung verweist ebenfalls auf die antike Theaterpraxis – hier tönt die Stimme des Schauspielers durch die Maske. Vor diesem Hintergrund betrachtet wäre also eine Person zur Persönlichkeit gereift, wenn deren eigentliches Ich, das »Herz«, zum Tönen, zum Klingen kommt, indem es in Kommunikation mit anderen Menschen tritt.

Ein Grund, warum die Herzensbildung als Fundament jeglicher anderen Bildung und Erziehung in unserer modernen Gesellschaft »zu kurz kommt«, wie der Dalai Lama meint, mag mit einem eigenartigen Phänomen zusammenhängen: dem Paradoxon vom Zweck der Zweckfreiheit. Ich meine damit, dass die einzelnen Bereiche unseres kulturellen Lebens ihre Apriorität behalten müssen als Voraussetzung und Fundament, auf dem aufgebaut werden kann, ohne dabei selber einem Zugriff, einer Verzweckung zu unterliegen. Das Aneignen von Zahlen, Daten, Fakten im üblichen Lern- und Lehrbetrieb unserer Ausbildungsstätten hat den unmittelbar einsichtigen Zweck, Informationen, Wissen, im besten Falle Bildung zu speichern. Darauf sollen später weitere – zumeist faktenlastige – Bildungsinhalte aufbauen, die während des folgenden beruflichen Werdegangs abgerufen werden können. Dieses Wissen, diese Form der Bildung ist messbar. Die Herzensbildung ist dagegen nicht so leicht zu fassen und zu beschreiben. Sie wird durch keine unmittelbar kontrollierbare Datenmenge umschrieben, man kann ihrer nicht richtig habhaft werden, sie ist ein flüchtig’ Ding. Sie kann und darf nicht verzweckt werden, und dennoch ist ein Mensch nur dann richtig Mensch, um ein Wort von Schiller abzuwandeln, wenn er Herzensbildung besitzt. Nur: wie sie erlangen?

Wenn ich mit meinen Freunden über das Thema dieses Buches spreche, höre ich oft den Einwand: »Herzensbildung kann man nicht lernen, die hat man oder hat man nicht.« Hier wird vielleicht zu sehr von der Erfahrung mit erwachsenen, in ihren Verhaltensweisen schon festgefahrenen Menschen ausgegangen. Mein Plädoyer zielt ja gerade darauf ab, die Herzensbildung mit der Wissensvermittlung bei jungen Menschen zu verbinden. Schließlich scheint es ja auch in der Vergangenheit gelungen zu sein, den Menschen in ihrer Entwicklung ein weites und sensibles Herz mitzugeben, das ihnen das Leben mit anderen und das Meistern der eigenen Unzulänglichkeiten erleichtert und sie die Anwendung des erworbenen Wissens mit dem rechten Augenmaß gelehrt hat.

In der Wissenschaftsgeschichte des Westens hat sich seit der Antike über die artes liberales (das sind die »Fächer« der spätantiken und frühmittelalterlichen Bildung wie Rhetorik, Arithmetik und Musik), die Universitätsfakultäten der beginnenden Neuzeit und die gymnasialen Lehrpläne ein Fächerkanon des Wissens herausgebildet, der zwar von Land zu Land und Kulturkreis zu Kulturkreis voneinander abweichen mag, aber doch zunehmend international und global gleichzieht – schon aus ökonomischen Wettbewerbsgründen. Das große Paradigma der Moderne ist dabei die individuelle Freiheit des Einzelnen gegenüber der Einbindung in Stand, Zunft oder Klasse, wie das in der Gesellschaft vor der Zeit der Aufklärung üblich war. Die Autonomie- und Kreativitätswerte haben die Oberhand gegenüber den Pflicht- und Sollenswerten gewonnen. Jeder Mensch entscheidet zumindest in der idealen Theorie selbst über seinen Lebensentwurf und dessen Realisierung. Die Grenzen der Selbstentfaltung bilden die Authentizität des Selbst, der Wert alles Lebenden und die Freiheit des anderen – für einen religiösen Menschen ausformuliert in Gottes Gebot, konkret im Christentum in den beiden Grundmaximen des Hauptgebots der Liebe und der Goldenen Regel. Dies dürfen wir bei unserer Betrachtung der Herzensbildung nie aus dem Auge verlieren. Diese Werte sind zu beachten, nur auf ihnen aufbauend kann das Projekt der inneren Formung, der Bildung des »Lebenswissens« als notwendiges Pendant zur Vermehrung des äußeren Faktenwissens akzeptiert werden und gelingen.

Hier kann nur ein erster und zugegebenermaßen subjektiver Versuch gemacht werden, einige Säulen der Herzensbildung aufzuzählen, die für mich als wesentlich zu einer Bestimmung dessen gehören, was wir mit diesem Begriff meinen. Dabei ist festzuhalten: Mag der Begriff Herzensbildung etwas Überzeitliches, Dauerhaftes, Nachhaltiges evozieren, so geht es doch um den konkreten Menschen, dessen Herz, dessen Innerstes, dessen Persönlichkeit gebildet und gefördert werden soll.

LIEBE

für die Ego-Gesellschaft

  

»Liebe und tu, was du willst!«

AUGUSTINUS

Seit der Aufklärung, also seit der Zeit, die wir die Moderne nennen, strebt der Mensch nach der Freiheit von Bindungen. Ging es zunächst darum, Gebundenheiten an vorgegebene Autoritäten und Strukturen zu überwinden, etwa im feudalistischen Ständestaat mit seinen seit Jahrhunderten gewachsenen gegenseitigen Abhängigkeiten und Privilegien, so durchdrang die Idee der Freiheit und Ungebundenheit des Individuums immer mehr den Bereich der persönlichen Lebensgestaltung. Individualismus nennen wir dieses Phänomen. Man denke nur an die Freiheit bei der Partner- und Berufswahl, die es in einem derart hohen Maße wie zu unserer Zeit nie in der Geschichte menschlicher Gesellschaften gegeben hat. Früher bestimmten die Herkunftsfamilie und ihr gesellschaftlicher »Stand« den zukünftigen Ehepartner und den »zünftigen« Beruf. Heute erleben wir dies in der Regel nur noch in der Begegnung mit anderen Kulturen, in Zeiten der Migration oft vor der eigenen Haustüre. Den langen Weg, den unsere Gesellschaft hier zurückgelegt hat, erfahren wir bewusst, wenn etwa der türkische Nachbar erzählt, dass seine Verwandten in der Heimat die Braut für ihn ausgesucht haben. Wir mögen ihn – und uns – dann fragen: Wo bleibt die Liebe? Und meinen damit unseren modernen, von der freien Wahl des Lebenspartners geprägten Begriff. Für unsere Großeltern hatte dieser Begriff auch noch einen anderen Klang, das merkte ich während meiner Jahre als Pfarrer in dem sehr ursprünglich gebliebenen Dorf Machtlfing, von Andechs aus Richtung Feldafing gelegen. Wenn ich bei meinen Gesprächen mit den älteren Dorfbewohnern, zu deren Jugendzeit diese Form der Lebenspartnerwahl noch durch andere Kriterien wie die Größe des Hofes und Anzahl des Viehs im Stall bestimmt wurde, nach der Liebe fragte, so antworteten sie oft, sie sei mit der Zeit schon gewachsen. Das Wort Liebe hat hier eine andere Bedeutung.

Was also meinen wir, wenn wir von Liebe sprechen? Thomas von Aquin, der große Gelehrte des christlichen Mittelalters und bestimmende Theologe bis ins 20. Jahrhundert herein, hat die Liebe mit dem Willen in Verbindung gebracht. Er nennt die Liebe sogar eine Tugend des Willens. Für den deutschen Philosophen und Thomas-Experten Josef Pieper bedeutet Liebe so viel wie gutheißen. »Jemanden oder etwas lieben heißt: diesen jemand oder dieses Etwas ›gut‹ nennen und, zu ihm gewendet, sagen: Gut, dass es dich gibt; gut, dass du auf der Welt bist!« Diese Gutheißung ist eine Willensäußerung. Sie hat den Sinn: Ich will, dass es dich, dass es das gibt!

Für uns Heutige scheint diese Verbindung nur schwer nachvollziehbar zu sein, ist der Bereich des Willens doch eher gegen den Affekt, also das Gefühl der Liebe gerichtet. Wille hat nach unserem modernen Empfinden mehr mit Leistung, Anstrengen, Tun, Erfolg, Selbstverwirklichung zu tun. Mehr mit dem Ich als mit dem Du. Das Wollen vermittelt eher rationale Kühle als gefühlsmäßige Wärme. Der Wille scheint zuerst auf den eigenen Vorteil bedacht und nicht auf das Wohlergehen des anderen. Wir sprechen nicht von ungefähr von der Ego-Gesellschaft, die sich breitzumachen scheint, im Gegensatz zur Solidargemeinschaft der oft diskreditierten Sozialromantiker. Damit verbunden konstatiert man dann die soziale Kälte der modernen, von Wettbewerb und Ökonomie bestimmten Lebenseinstellung, versehen mit dem Etikett des Neoliberalismus.

Damit schließt sich der Kreis zum Ausgangspunkt unserer Überlegung, der Freiheit des Individuums. Sie zu verwirklichen und bis zu den Grenzen auszuloten, das scheint die Maxime unserer Zeit zu sein. »Das Prinzip Eigennutz«, so ein vielzitierter Buchtitel eines bekannten Verhaltensforschers, steht am Anfang der biologischen Entwicklung des Lebens hin zu sozialen Verbänden von Lebewesen, die gerade im Miteinander ihre Individualität schützen und bewahren.

  

Liebe heißt, Sorge für sich und andere tragen

Betrachten wir zunächst den Begriff der Selbstverwirklichung: Er bezeichnet die Erweiterung des Entfaltungsspielraums menschlicher Personen in Abgrenzung zur Fremdbestimmung und gehört damit wesentlich zum Prozess der Identitätsfindung in der Entwicklung des Menschen zu einer reifen, erwachsenen Persönlichkeit. Sah man in der vormodernen Zeit die Aufgabe des Einzelnen im Nachahmen vorbildlicher Personen, im Übernehmen von vorgegebenen Ordnungen und der Erfüllung rollenspezifischer Pflichten, so gelten heute vor allem Selbstannahme, Selbstwerdung in der Bildung und Autonomie als Leitwerte moderner Gesellschaften. Aber besonders in Krisensituationen und Phasen, in denen wichtige berufliche und private Weichenstellungen vorgenommen werden, wird deutlich, dass der Einzelne auf andere angewiesen ist, dass die Verwirklichung des eigenen Selbst durch eine Gemeinschaft gestützt ist. Gelangt man zu dieser Einsicht, wird jeder Einzelne erkennen, dass er neben der Eigenverantwortung verpflichtet ist, sich um die anderen und das Wohl des Ganzen zu sorgen.

Bei dem großen deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts, Martin Heidegger, wird der Begriff der Sorge zu einer der Grundbestimmungen des menschlichen Daseins. In der Beziehung zur Umwelt ist für Heidegger »das Dasein ein Besorgen«, in der Beziehung zu den Mitmenschen ist es Fürsorge. Das Wort Fürsorge hat heute einen etwas angestaubten Hautgout staatlicher oder kirchlicher Sozialarbeit angenommen, auch wenn im Zuge der Entwicklung des Sozialstaatsgedankens das frühere Fürsorge-Wesen in Wohlfahrtspflege oder Sozialhilfe umbenannt wurde. Die Fürsorge verlor damit ihren Almosencharakter und wandelte sich in einen Rechtsanspruch des Einzelnen, basierend auf Gerechtigkeit und nicht auf freiwilliger Barmherzigkeit.

Diese Akzentverschiebung in der Bedeutung des Begriffs Fürsorge macht gleichzeitig auch ein Problem unserer individualisierten Gesellschaft offenbar. Das Interesse am Leben des anderen nimmt ab. Immer wieder schrecken uns Meldungen auf, dass einsam verstorbene Menschen erst nach Wochen oder Monaten in ihren Wohnungen aufgefunden werden. Offensichtlich wurden sie von den Menschen ihrer Umgebung nicht vermisst. Oder die zunehmende Unfähigkeit junger Eltern, mit den Erziehungsproblemen schon bei Kleinkindern fertig zu werden. Die in letzter Zeit vermehrten Meldungen über Misshandlungen von Babys und Kleinkindern nimmt die bestürzte Umgebung erst wahr, wenn das Kind im wahrsten Sinn des Wortes schon in den Brunnen gefallen ist. Alle Welt einschließlich der Sozialämter wundert sich dann, wie es möglich war, diese Missstände über lange Zeit hinweg nicht zu bemerken. Die Sorge um andere, ohne sie in der Freiheit ihrer Lebensführung einzuengen, muss wieder zu einem ganz neuen Postulat moderner Gesellschaften erhoben werden, gerade weil die familiären Bindungen und Fürsorgepflichten immer weniger zu greifen scheinen. Auch, wenn es eine Gratwanderung sein wird zwischen der Sozialkontrolle früherer kleinräumiger Lebensgemeinschaften in Nachbarschaften, Dörfern, Milieus und der heute weitgehend beklagten Anonymität nicht nur in Großstädten.

Dass es Not tut, der Fürsorge wieder einen anderen Stellenwert zu geben, zeigt vor allem unser Umgang mit Alten, Kranken und Behinderten, gerade angesichts einer immer älter werdenden Bevölkerung auf der Nordhalbkugel unserer Erde. Das vierte der zehn Gebote machte das Kümmern um alt gewordene Eltern zur ethischen Pflicht der hebräischen Nomadengruppen. Von archaischen Gesellschaften kennen wir aber auch andere Formen der Altenpflege: Es gab und gibt durchaus die Gepflogenheit, alte und damit zur Last gewordene Angehörige einfach am Wegesrand oder auf Bergeshöhen auszusetzen, um die nachfolgenden Generationen unbelastet ihrer Wege ziehen zu lassen. Derartige Verhaltensweisen sind unserer vom Christentum geprägten abendländischen Kultur inzwischen fremd und verabscheuungswürdig geworden. Wie aber heute mit der Frage nach der Fürsorge umgehen, in einer Gesellschaft, die das selbstbestimmte Leben des Individuums so hoch schätzt?

Auch an der anderen Grenze des Lebens, im Bereich der Zeugung, Geburt und Erziehung des Nachwuchses gibt es weitere, mit der Entwicklung vom Wissen um das biologische Prinzip des Lebens auf uns zukommende Probleme der Sorge. Ganz neu sind die ethischen Fragen der Familienplanung nicht. Verhütung, Abtreibung und Kindstötung waren schon immer Optionen der Geburtenkontrolle, wobei vor allem die letzten beiden durch das Christentum sanktioniert wurden. Neu sind jedoch die pharmazeutischen, medizinischen und genetischen Möglichkeiten in Gegenwart und Zukunft. Plötzlich erhebt sich wieder die Frage nach dem lebenswerten Leben, die mit dem Ende des Nationalsozialismus (wie übrigens auch die Frage der Euthanasie) erledigt schien. Wird durch den Vergleich der Erbsubstanzen bei Vater oder Mutter oder durch die vorgeburtliche Untersuchung eines Fötus eine schwere Behinderung festgestellt, wird die Frage aufgeworfen: Was ist mehr wert, das Leben des Kindes und seine »eingeschränkten« Chancen oder das unbeschwerte Zusammenleben einer glücklichen Familie?

Die Frage nach dem Glück des Menschen stellt sich in diesem Zusammenhang plötzlich ganz neu: Was ist Glück? Ist es das Schicksal (fortuna) des Menschen, das er annehmen muss, oder die Glückseligkeit (vita beata), die er durch sein sinnvolles und zielgerichtetes Tun gestalten soll?

In unserer säkularisierten Welt geht der Maßstab von einer heteronomen Ethik und Moral über zu einer autonomen. Nicht mehr Gott, sondern der Mensch ist das Maß aller Dinge, wie es schon einmal der Vorsokratiker Protagoras formuliert hatte. Sein eigenes Glück, die Suche nach seinem je eigenen Sinn, darin besteht die Sorge des modernen Menschen. Ich habe manches Mal meine Zweifel, ob die vielfachen Appelle von Weltführern in Religion und Politik zu einer Rückkehr zu den »alten« Werten unsere autonom gewordenen Zeitgenossen überhaupt erreichen und ihnen gerecht werden. Wir brauchen Übersetzungen der Werte in unsere von neuen Erfahrungen geprägte technisierte Welt. Für den Jesuiten Rupert Lay besteht in seiner »Ethik für Manager« die Grundlage des Handelns in der Liebe zum Leben, die sich in einem Dienst für das Leben ausdrückt. Dieses Prinzip nennt er die Biophilie (Freundschaft, Liebe zum Leben). In seinem Buch formuliert Lay seinen eigenen ethischen Imperativ, das Biophilie-Postulat: »Handle stets so, dass du dein und fremdes personales Leben eher mehrst, denn minderst!« In meinen Augen ist dies eine der griffigsten Formulierungen dafür, wie Liebe und Zuwendung sich in unserer heutigen Welt manifestieren können: Leben mehren bei sich und anderen! Auch hier wird wieder die klassische Zuordnung der Liebe zum Willen sichtbar. Ich muss Leben mehren wollen! Dann wird mein Handeln sich als liebevoll erweisen.

  

Die Formen der Liebe

Was aber ist mit dem großen Bereich des Gefühls, der bei dem, was man landläufig Liebe nennt, doch mitschwingt? Die antike Mythologie stellte dafür die Gestalt des Gottes Amor oder dessen griechisches Pendant Eros zur Verfügung – ein archaischer Gott, Bild einer kosmogonischen, das heißt weltschöpfenden Kraft. Zusammen mit seinen Geschwistern Gaia (Erde), Tartaros (Unterwelt) und Erebos (Finsternis) ist auch Eros ein Kind des Chaos (urspr. Leere, Durcheinander). Gemeinsam mit Himeros (Begierde) begleitet er die Liebesgöttin Aphrodite. Wurde Eros ursprünglich als junger Athlet abgebildet, stellte man ihn später als hübsches Kind dar, als einen kleinen, geflügelten Bogenschützen, kapriziös und Unheil stiftend, der sich daran erfreut, seine Zauberkraft durch das Abschießen unsichtbarer Pfeile auf Götter und Menschen wirken zu lassen. Das Wort Eros wiederum wird in der philosophischen, aber auch psychoanalytischen Definition von Liebe als Bezeichnung für deren triebhaften, begehrenden, sexuellen, eben erotischen Aspekt verwendet. Es vereint sich also in dem Bereich der Liebe, die wir mit dem Eros bezeichnen, das Gefühlsmäßige, Affektive mit dem Triebgesteuerten und von sexueller Begierde geprägten.

Dies sind, wie jeder aus eigener Erfahrung weiß, zweierlei Dinge. Die »erste Liebe«, das sich zum ersten- oder wiederholten Mal Verlieben hat etwas Romantisches, Stilles, Leises an sich. Das Küssen und Kuscheln, Streicheln und Naheseinwollen, so sagen uns die Verhaltensforscher, geht auf die Liebe der Mutter zum Kind zurück, die sich in der non-verbalen Phase der ersten Lebensmonate nicht anders zeigen kann. Nur wenn dieses sorgende, wärmende und bergende Verhältnis von Mutter zum Kind positiv erfahren wird, wird sich beim jungen Menschen auch so etwas wie verantwortungsvolle Beziehungs- und Bindungsfähigkeit entwickeln können. Mit der Ausprägung des Sexualtriebs im Zuge der Pubertät kommt die natürliche Triebhaftigkeit der Menschheit hinzu, die durch die Evolution auf Arterhaltung und damit auf den Geschlechtsakt getrimmt ist. Wie schon bei Tieren zu beobachten, kommt dabei etwas Rauschhaftes, fast Blindes, ja Gewalttätiges hinzu, das »Dionysische«, ein vom Gott des Rausches und der Ekstase, Dionysos, geprägter Begriff. Die antike Polymythie, also die Erklärung der beobachtbaren und nicht sofort einsichtigen Erscheinungen in der Welt durch vielerlei, sich oft auch widersprechende Mythen, bot Verstehenshilfen für das Widerstreitende im Gefühls- und Triebleben des Menschen. Das Christentum hat sich in seiner Ablösung der Antike durch den ihm eigenen Monomythos, der Lehre von dem einen Gott, der Schöpfer und Erlöser zugleich, also mit Liebe den Menschen zugetan ist, ein schon zweitausend Jahre währendes Herumplagen mit der menschlichen Sexualität aufgeladen. Das Prinzip war die Natürlichkeit, die im Schöpferplan Gottes festgelegt war, so, wie er sich nach dem Ausweis der Bibel und deren Interpretation durch die Theologie die Ordnung der Natur vorgestellt hatte. Bis zur Neuzeit war das Schema klar: Die einzige legitime Form sexueller Betätigung konnte nur in der Ehe zwischen Mann und Frau stattfinden. Alles andere war unnatürlich, entsprach nicht dem Schöpferplan Gottes und war damit Sünde, zu deren Vergebung die Kirche ihre Heilmittel, den Empfang der Sakramente, zur Verfügung stellte.

Die Moderne hat nun eine andere Auffassung von Natürlichkeit entwickelt: Alles, was in der Natur vorkommt, ist natürlich und damit grundsätzlich wertfrei. Es ist ein Recht des autonom gewordenen Individuums, diese Natürlichkeit auszuleben. Dieses Recht findet seine Grenze im Recht der anderen auf ihre eigene Menschenwürde, Freiheit, körperliche und psychische Unversehrtheit. Innerhalb dieser Grenzen aber besteht die Freiheit der individuellen Selbstbestimmung. Das Wort Sünde hat seither ebenfalls einen anderen Klang. Es ist nichts Verabscheuungswürdiges und zu Meidendes mehr, sondern eher etwas leicht antiquiert Klingendes, Verruchtes und Anziehendes. Ein schönes Beispiel dafür bietet der Schlager von Zarah Leander: »Kann denn Liebe Sünde sein?« mit der Zeile: »… doch wenn sie es wär’, dann wär’s mir egal, lieber will ich sündigen mal.« Die sexuelle Revolution der Sechzigerjahre versuchte diesen sünde- und schuldlos gewordenen Bereich des menschlichen Lebens bis in alle dunklen Ecken und Winkel hinein auszuloten. Und die Kirche steht bis heute fassungslos vor einem Phänomen: In keinem anderen Bereich ihrer Verkündigung verweigern ihr sogar die eigenen Mitglieder die Gefolgschaft in dem Maße wie auf dem Gebiet der Sexualmoral.