Herzenskinder - Gabriele Stangl - E-Book

Herzenskinder E-Book

Gabriele Stangl

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Beschreibung

Gabriele Stangl ist eine warmherzige und tatkräftige Frau, die unzähligen Frauen und Familien in großer Not geholfen hat. Als Seelsorgerin in der Klinik Waldfrieden in Berlin-Zehlendorf hat sie schwangere Frauen begleitet, die keine Unterstützung oder Fürsorge hatten, die verzweifelt und völlig auf sich allein gestellt waren. Und die sie oft abweisen musste. Zutiefst schockierend sind Berichte von ausgesetzten oder getöteten Säuglingen. Welche Not die Mutter und das Ungeborene im Vorfeld mitmachen, wissen hingegen nur wenige. Vor diesem Hintergrund hat Gabriele Stangl mit einem engagierten Team von Unterstützern im Jahr 2000 die erste Babyklappe in einer Klinik weltweit ins Leben gerufen. Endlich können Mütter ihre Kinder in sichere Hände geben, wenn sie weder ein noch aus wissen! Lesen Sie von den Schicksalen der Kinder, die Gabriele Stangl entgegen allen Widerständen von Behörden und Politik in Obhut geben und begleiten konnte. Wie haben die Kinder von ihrer Herkunft, von ihrer Bauchmama erfahren und wie hat dies ihr Leben geprägt bei ihrer späteren Familie, ihren Herzmamas? Emotional packend skizziert dieses Buch tatkräftige Unterstützung für die Schwächsten und Hilfsbedürftigen in unserer Gesellschaft.

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„Obwohl das menschliche Leben das Wertvollste ist,was es auf der Welt gibt,verhalten wir uns immer so, als ob es etwas gäbe,das einen höheren Wert hat als das menschliche Leben.“

Antoine de Saint-Exupéry

Inhalt

Prolog

Nur eine Handvoll Leben

Mutterliebe

Ein Weihnachtswunder

Denn jedes Leben zählt!

Die Liebe höret nimmer auf

Mit dem Herzen einer Löwin

Ein Zuhause für Helena

Bittere Geschichten

„Mach weiter!“

Die Tränen einer Mutter

Wenn Armut nicht mehr weiterweiß

Rettung in letzter Sekunde

Nach(t)gedanken

Prolog

Spätherbst 1998. Traurig schaue ich aus meinem großen Bürofenster. Dort gehen sie, diese zwei lieben Menschen, die noch vor zwei Stunden bei uns im Krankenhaus auf Hilfe gehofft hatten. Ich fühle mich so schwach, so hilflos, so unendlich traurig!

Der großgewachsene ältere Herr hat den Kragen seines Mantels aufgestellt. Die Kappe, die er trägt, zieht er sich noch ein bisschen tiefer in die Stirn. Eine junge Frau begleitet ihn, viel zu dünn bekleidet für dieses kalte windige Wetter. Noch von Weitem kann ich ihren runden Bauch sehen, den sie mit ihren Händen umfasst, so als wolle sie das Ungeborene in ihrem Leib beschützen. Ich habe sie fortgeschickt – nicht, weil ich es wollte, sondern weil man es mir aufgetragen hatte.

Meine Traurigkeit schlägt in Wut um: Warum eigentlich? Warum sollte ich sie fortschicken? Ich wollte sie nicht wegschicken! Ist sie nicht ein Mensch wie wir alle, ein Mensch, der Hilfe braucht? Wir hätten sie ihr doch geben können.

Was konnte ich damals als recht junge Pastorin und Krankenhausseelsorgerin schon ausrichten, wenn es darum ging, auch einmal gegen allgemein geltende Vorschriften zu handeln und zu helfen, einfach aus reiner Menschlichkeit für einen anderen in Not einzutreten?

Einmal mehr wünschte ich mir, ich könnte etwas ändern an diesen „Vorschriften“, die uns vom Staat vorgegeben wurden, die vielleicht gut und richtig sind für die meisten Menschen im Land, aber den Einzelnen und seine Umstände nicht immer ausreichend berücksichtigen.

„Ich habe diese junge Frau auf der Straße sitzen sehen und sie angesprochen. Sie sah so hilflos aus, so traurig, so mutlos. Sie ist illegal in Deutschland, schwanger und sie hat kein Zuhause. Sie meinte, sie würde bald entbinden. Sie kann und möchte ihren Namen aber nicht nennen.

Frau Pastorin, sie hat niemanden, der ihr bei der Geburt helfen kann, sie kann das Baby auch nicht behalten! Wissen Sie eigentlich, was mit solchen Frauen und Kindern geschieht? Bitte, das hier ist doch ein christliches Krankenhaus, bitte, helfen Sie ihr! Wir können doch nicht einfach zulassen, dass sie in ihr Unglück läuft.“

Der ältere Mann hatte mich mit wässrigen Augen angesehen. Eine dicke Träne war über seine kalte rote Wange gerollt. Es tat mir in der Seele weh, die beiden so zu sehen.

„Aber natürlich werden wir Ihnen helfen“, hatte ich ihn zu beruhigen versucht, „ich koche Ihnen erst einmal Tee, der wird Sie aufwärmen. Und dann gehe ich auf die Entbindungsstation und werde einen Arzt bitten, Sie sich anzusehen.“

Auf der Treppe hinauf zu den Stationen hatte ich überlegt, wie ich den Arzt davon überzeugen konnte, dass diese schwangere Frau unsere Hilfe brauchte. Schon einige Male hatte ich erlebt, dass meine Meinung nicht unbedingt der Meinung der Ärzte entsprach. Aber hier musste man doch eine Lösung finden können!

Mein Gespräch mit dem Arzt, den ich in seinem Büro antraf, wurde alles andere als erquicklich. Nachdem ich ihm die Situation geschildert hatte, war er hinter seinem Tisch aufgestanden, hatte mich ernst angeblickt, einmal tief durchgeatmet, die Hände in seinem Arztkittel vergraben und mir dann mit allem Nachdruck gesagt:

„Schicken Sie sie weg, Frau Stangl. Das ist illegal! Die geltenden Gesetze verbieten es uns, einer Frau, die anonym gebären will, zu helfen. Wenn wir ihr helfen würden, hätten wir die Polizei im Haus, und das wäre sehr abträglich für unseren guten Ruf. Es gibt nun mal Grenzen für unsere Hilfsbereitschaft, bitte verstehen Sie das! Leute wie diese Frau sollten sich vorher überlegen, was auf sie zukommen kann, wenn sie sich so nach Deutschland aufmachen. Schicken Sie die beiden weg, wir können nichts für sie tun.“

„Wir können nichts für sie tun … abträglich für unseren guten Ruf …“ Diese Worte rauschten mir noch immer in den Ohren, als ich die Treppen hinunter zu meinem Büro lief. Was ich da zu hören bekommen hatte, war wie eine Ohrfeige für mich. Nichts! Das konnte doch nicht sein! Es ging hier um Leben. Um das Leben zweier Menschen, die unseren Schutz brauchten. Es musste doch eine Lösung geben!

Es war nicht das erste Mal, dass ich in meiner Arbeit als Seelsorgerin vor großen, schier unüberwindlichen Mauern stand, wenn es darum ging, einer Frau zu helfen, die ungewollt schwanger geworden war. Oder die ihr Kind nicht behalten konnte, weil sie – aus welcher Not heraus auch immer – nicht wusste, wie sie es durchbringen sollte.

Tage- und wochenlang konnte ich an nichts anderes mehr denken. Das Bild der beiden, die da völlig ohne Hoffnung von dannen zogen, ließ mich nicht mehr los. Ich versuchte herauszufinden, warum es nicht gehen sollte, in diesen Situationen helfend einzugreifen. Die Antwort war jedes Mal die gleiche. Immer wieder hieß es nur: „Da können wir nichts machen.“

Wirklich nicht?

Nur eine Handvoll Leben

Und wenn nur ein einziges Kind durch das Hilfsangebot „Babyklappe“ gerettet werden würde, so hat sich der ganze Aufwand gelohnt!

Kinderschwester Antje war in einem Nebenraum des Kinderzimmers verschwunden, das ganz am Anfang des langen Ganges der Geburtshilfe des Krankenhauses untergebracht war, und hatte mich angerufen. Heimlich. Eigentlich hatte sie warten sollen, bis man mehr wusste.

Dr. Siegbert Heck, der Chefarzt der Gynäkologie und Geburtshilfe im „Waldfriede“, wollte mich erst dann informieren, wenn er sich ganz sicher war, das Kind retten zu können. Aber meine liebe Antje wusste, was mir die Nachricht bedeutete, die sie mir gleich überbringen würde. Und so wollte sie die Erste sein, die mir die Neuigkeit erzählte.

„Echt …?!“ Ich hatte mich auf dem Sofa aufgesetzt, auf dem ich schon den ganzen Vormittag gelegen und meine Backe gekühlt hatte. „Antje, das ist ja ganz wunderbar!“ In dem Moment erinnerte mich ein heftiger Schmerz im Kopf an meine prekäre Lage. „Nein, das kann doch nicht wahr sein! Gerade jetzt, wo ich krankgeschrieben bin! Bitte, liebe Antje, ist Dr. Heck irgendwo in der Nähe? Kannst du ihn mir an den Apparat holen? Das muss er mir sofort ganz genau erzählen!“

„Aber sag bitte nicht, dass ich dich zuerst angerufen habe. Er wollte es dir selbst sagen.“

„Keine Angst, ich verrate dich nicht. Bring den Apparat einfach zu ihm und sag ihm, ich würde ihn gerne sprechen.“

Wie lange hatte ich auf diesen Moment gewartet! Mir wurde ganz heiß vor lauter Aufregung. Man hatte mir tags zuvor einen eitrigen Backenzahn gezogen, der mir noch immer ordentlich zu schaffen machte, aber es war nicht das Fieber, das diese Hitzewallung verursachte. Das, was man mir soeben mitgeteilt hatte, kam irgendwie so unerwartet und war deshalb besonders schön, sodass mein Schmerz wie weggeblasen schien!

„Ja, hallo Gabi, schön, dass du anrufst. Ich habe eine Überraschung für dich: Wir haben vor einer halben Stunde unser erstes Baby aus der Babyklappe geholt. Es ist ein kleines Mädchen, dunkle Haare, viel zu früh geboren, nur 32 Grad kalt und leider nicht unbedingt im besten Zustand …!“

Ein kleines Mädchen! Meine Begeisterung wurde schnell gedämpft durch die Worte: nicht im besten Zustand. Ich kannte Siegbert, er neigte dazu, einen schlimmen Zustand immer etwas freundlich zu schönen, damit man nicht zu tief fallen würde.

In meine Freude von gerade eben mischte sich nun große Sorge. „Was ist los mit der Kleinen, bitte sag es mir, verschweig mir nichts!“

„Na ja“, er stotterte ein wenig herum. Ich hörte dieses leise, unterdrückte Stöhnen, das er immer von sich gab, wenn er nach Worten suchte. Mit jeder Sekunde, die er nichts sagte, wuchs meine Angst um dieses kleine Wesen.

Ich war vom Sofa aufgesprungen, die Decke noch immer um mich gewickelt und den Eisbeutel gegen die Schmerzen in der einen, das Telefon in der anderen Hand.

„Also … sie hat auffällig viele blaue Flecken, ihr linker Arm ist sehr dick, ihr Allgemeinzustand ist schlecht. Sie wiegt nur 1450 Gramm, ist nur Haut und Knochen und ziemlich apathisch, was bei dieser Körpertemperatur aber kein Wunder ist. Sie war wirklich gut angezogen: Unterwäsche, Strampelhöschen, Jäckchen … das ganze Programm halt. Und dann war sie auch noch in einen Fußsack von einem Kinderwagen gehüllt.“

Siegbert versuchte, mir alles so schonend wie möglich zu berichten. Genau wie ich hätte er sich über ein gesundes und kräftiges Baby gefreut, dem man schnell hätte helfen können.

„Kann ich sie gleich einmal besuchen kommen? Ich kann doch jetzt nicht zu Hause bleiben.“

„Leider hätten wir sie hier in Waldfriede nicht durchbekommen, dafür haben wir nicht das medizinische Equipment. Wir haben sie vor ein paar Minuten auf die Neonatologie des Klinikums Benjamin Franklin verlegen lassen. Tut mir leid, Gabi, dass wir dich nicht gleich benachrichtigen konnten, damit du sie noch siehst. Aber wir hatten alle Hände voll damit zu tun, sie zu stabilisieren!“

Ich setzte mich, ein wenig kraftlos und mit einem tiefen Seufzen, zurück auf das Sofa. Natürlich konnte ich verstehen, dass jetzt nur das Leben des Kindes zählte.

„Habt ihr ihr schon einen Namen gegeben?“, war meine nächste Frage.

„Die Hebammen meinten, LISA wäre doch ein schöner Name, und ich dachte mir, WALD für Waldfriede wäre der perfekte Nachname. Bist du damit einverstanden?“

Damit konnte ich leben, wenngleich ich schon ein bisschen traurig darüber war, dass ich so gar keinen Einfluss mehr auf ihren Namen hatte. Doch das alles war im Moment gar nicht wichtig. Ich wollte jetzt nur mehr bei diesem kleinen Kind sein, das mir schon jetzt so viel bedeutete.

Meine Backe tat mir überhaupt nicht mehr weh. Was saß ich hier noch herum? Doch wie immer nach solchen Gefühlswallungen schaltete sich doch noch mein Verstand ein und ermahnte mich, dass ich jetzt ja doch nichts für unsere kleine Lisa tun könnte. Besser noch eine Nacht die Backe kühlen, das Fieber senken und erst am nächsten Tag ins Klinikum fahren.

Dichter, weißer Nebel hing am nächsten Morgen über Berlin. Wie mit diesem Nebel ist es manchmal im Leben, dachte ich mir. Er nimmt uns die Sicht und hüllt alles in dichtes Grau. Doch wenn er sich verzieht, wird es meistens ein strahlend sonniger Tag. Wäre es nicht schön, wenn es im Leben unserer Kleinen genauso würde?

Ich war mit einer Bekannten ins Krankenhaus gefahren. Sie war am Anfang der Ideen und Planungen für unsere Babyklappe dabei gewesen. Doch schon nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass es schwierig war, „Nicht-Personal“ in ein Krankenhausgeschehen mit einzubinden. Da ich wusste, dass sie sich als leidenschaftliche Mutter genauso über dieses kleine Geschenk freuen würde wie ich, fuhren wir gemeinsam zu Lisa.

Schon im Aufzug wurde ich ganz nervös. Nur keine Aufregung, versuchte ich mich zu beruhigen, es wird alles gut werden.

Tausend Gedanken stürmten auf mich ein. Was, wenn sie krank war? Was, wenn man keine Eltern für sie finden würde? Außerdem: Wir hatten zwar darüber gesprochen, wie es wäre, wenn wir die Leistungen eines anderen Krankenhauses in Anspruch nehmen müssten, wie es aber im Einzelfall aussehen würde, konnten wir uns nicht beantworten. Was würde da mit Lisas Behandlung auf uns zukommen?

Diese Gedanken verflüchtigten sich, als ich vor Lisas Brutkasten stand: Ein kleines, mageres, dennoch hübsches kleines Mädchen, mit einer Haut so dünn wie Pergament, lag da vor uns. Jedes Äderchen war sichtbar, kein Gramm Fett war an ihren Rippen. 1,45 Kilogramm Mensch, aber alles dran, was dran gehört. Eine viel zu große Windel war alles, was sie anhatte. Dieser Umstand ließ sie noch zerbrechlicher aussehen, als sie sowieso schon war. Ihr dicker rechter Arm fiel auf. Was war nur mit diesem kleinen Wurm geschehen? Und diese vielen blauen Flecken! War sie misshandelt worden? Ich wollte mir das gar nicht ausmalen.

„Darf ich mich vorstellen? Ich bin der behandelnde Arzt der kleinen Lisa. Wir freuen uns, dass wir Ihnen bei diesem kleinen Sonnenschein helfen können.“

Ein freundliches, braun gebranntes Gesicht schaute mir von der gegenüberliegenden Seite des Brutkastens entgegen. Ich hatte nur Augen für Lisa gehabt und nicht mitbekommen, dass zwei weitere Personen den Raum betreten hatten.

„Das ist Schwester Kerstin. Sie kümmert sich um diesen mageren Spatz.“ Zwei fröhliche Menschen begleiteten meine Süße vom ersten Tag an. Wie beruhigend!

Das Gespräch mit dem Kinderarzt und der Kinderschwester der Station brachte Klarheit in unsere Befürchtungen.

„Dieses Kind muss ein Armvorfall gewesen sein, das heißt, der Arm wurde zuerst geboren. Ein klarer Fall für einen Notkaiserschnitt. Wie die Mutter es geschafft hat, dieses Kind trotzdem auf normalem Wege und dann auch noch alleine zu gebären, wird uns ein Rätsel bleiben. Das Mädchen muss heftig am Arm gezogen worden sein, deshalb dieser dicke Arm. Auch die blauen Flecken zeugen davon, dass es keine leichte Geburt war.

Dass sie eindeutig in keinem Krankenhaus geboren wurde, zeigt die Versorgung des Nabels. Absolut unprofessionell. Leider kann ich Ihnen nicht sagen, ob sie ihren Arm jemals wird gebrauchen können. Es könnten wichtige Nerven verletzt worden sein. Bis jetzt jedenfalls kann sie ihren Arm nicht bewegen. Darüber hinaus wird sie wohl eine Bluttransfusion brauchen, wenn sich ihre Befunde in den nächsten 24 Stunden nicht bessern.“

Das waren keine guten Nachrichten. Aber sie lebte und man würde alles tun, damit sie die nächsten kritischen Tage gut überstehen würde.

„Wollen Sie ein wenig mit ihr kuscheln? Sie kann jede Streicheleinheit gut gebrauchen, um wieder gesund zu werden.“

Die Kinderschwester hatte uns die ganze Zeit beobachtet und gesehen, wie liebevoll wir dieses Baby betrachtet hatten. Sie wartete unsere Antwort gar nicht ab. Sie griff in den Brutkasten, stöpselte das Kindchen von den Überwachungsgeräten ab und gab uns zu verstehen, dass wir uns die Hände desinfizieren sollten. Dann legte sie uns das Baby abwechselnd in die Arme.

Das war mehr, als wir beiden Frauen erhofft hatten. Zärtlich und mit aller Vorsicht hielten wir sie, und wie alle Mütter dieser Welt, zählten wir die Fingerchen, staunten über die vielen Haare und freuten uns, wenn sie das Gesicht verzog und wir in diese Grimassen ihr erstes Lächeln hineininterpretierten. Lisa, unsere liebe kleine Lisa!

Als wir wieder nach Hause fuhren, ein wenig wie beschwipst vor lauter Glück, brach auf einmal die Sonne mit aller Macht zwischen den noch verbliebenen Wolken hervor und tauchte die Welt in goldenes Licht. Hatte ich nicht gesagt, dass es ein wunderschöner Tag werden würde?

Lisa wuchs, nahm zu und gedieh. Sie war ein regelrechtes Energiebündel. Sie wollte leben. Alles, was ihr fehlte, war Zeit: Zeit, um zu wachsen und zuzunehmen. Zeit, um sich altersgerecht zu entwickeln. Aber die bekam sie. Insgesamt waren es 40 Tage, die sie im Klinikum verbrachte, dann ging es nach Hause.

Ja, wirklich, es ging nach Hause! Ein junges und sehr liebes Ehepaar stand eines Tages vor ihrem Bettchen, als ich Lisa besuchen wollte. Sie strahlten über das ganze Gesicht, als sie mir erzählten, dass sie die Adoptiveltern der kleine Lisa wären. Sie hatten sich für eine Adoption beworben, mussten lange Zeit warten und nun war es endlich so weit, dass sie eine Tochter ihr Eigen nennen durften.

Dass sie nicht wussten, woher sie kam und wer ihre Eltern waren, spielte für sie keine entscheidende Rolle. Lisa brauchte Eltern und sie wollten eine kleine Lisa. Sie hatten sich gefunden und würden sich von nun an nicht mehr loslassen …

Es gab so viel Liebe, die von nun an an Lisa weitergegeben werden durfte. Lisa, die bei ihren Eltern nun Luisa hieß.

Wahrheit und Liebe – ein unschlagbares Team!

Ich kann versichern, dass ich die Adoptiveltern der Kinder allesamt als rundum liebevolle, sehr gut zum Kind passende und umsichtige Menschen erlebt habe. Man wird nicht nur durch den Umstand, ein Kind geboren zu haben, zur Mutter. Eine Mutter wird man im täglichen Zusammenleben mit diesem Kind. Es gibt nichts, was eine Adoptivmutter nicht genauso gut könnte wie eine biologische Mutter: Sie tröstet, sie motiviert, sie verbindet und hört zu. Sie geht mit einem durch Freud und Leid, durch dick und dünn. Mutter zu sein, hat nicht zwingend damit zu tun, dass man dieses Kind, das man begleitet und liebt, neun Monate im eigenen Leib ausgetragen hat!

Zwei Dinge machen ein Kind stark – und hiermit meine ich jedes Kind. Es sind dies: Liebe und Wahrheit. Über Liebe müssen wir uns nicht unterhalten, das versteht jeder. Mit der Wahrheit, nun, da gehen die Meinungen manchmal auseinander.

Früher, sicher jedoch auch noch in den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts, meinte man, dass man das Kind schonen müsse und ihm nicht erzählen solle, dass es nicht das leibliche Kind ist. Kam es dann doch heraus – schlimmstenfalls durch einen gehässigen Nachbarn oder einen falschen Freund –, war das Desaster groß. Das Kind fühlte sich zu Recht betrogen und belogen. Die Basis für sein Leben wurde ihm unter den Füßen weggezogen. Übler geht es kaum.

Es war mir deshalb immer sehr wichtig, mit den Adoptiveltern darüber zu reden, dass sie ihrem Kind von Anfang an die Wahrheit über seine Herkunft altersgerecht erzählen sollten. Da sprachen wir von „Bauchmüttern“ und „Herzensmüttern“, von dem Vorrecht, zwei Mütter haben zu dürfen, die jede auf ihre Art das Kind lieben und geliebt haben. Bei der einen Mutter ist das Kind im Bauch gewachsen, bei der anderen im Herzen!

Die Adoptivfamilien berichteten mir von lieb gewonnenen Ritualen, die bei ihnen praktiziert wurden: So erfuhr ich von Familien, die mit ihrem Adoptivkind jeden Abend auch für die Bauchmama beten, damit es ihr gut geht. Sie haben Schachteln bunt beklebt und in ihnen liegen Briefe an die abgebende Mutter, Locken, ein Milchzahn, Schokoriegel, Selbstgebasteltes und selbst gemalte Bilder und viele, viele Fotos. Sie ist ein Teil der Familie, denn ihr verdanken sie es, dass sie nun miteinander leben dürfen.

„Das wird alles anders, sobald das Kind in die Pubertät kommt“, höre ich so oft. Das kann sehr gut sein! Aber ich möchte zu bedenken geben, dass die Probleme mit den eigenen Kindern in der Pubertät und darüber hinaus auch kein Honigschlecken sind. Diese Zeit ist nun mal schwierig, aber mit Liebe und Wahrheit als Grundstein in ihrem Leben geht auch diese Zeit vorbei.

Ob sie es in der biologischen Familie so gut gehabt hätten wie in der Adoptivfamilie? Wer weiß! Wenn eine Frau in die Situation kommt, ihr Kind nicht behalten zu können, müssen entscheidende Dinge in ihrem Leben nicht stimmen. Was immer der Grund ist, das Kind hätte es wahrscheinlich nicht leicht gehabt. Aus eigener Erfahrung mit diesen Müttern weiß ich, dass das Kind oft zum großen Problem geworden wäre.

Wie das bei Luisa gewesen wäre, nun, das weiß niemand. Aber wie sich ihre Geschichte fortgesetzt hat, davon weiß ich zu berichten:

Das Wiedersehen

Hopsend, fröhlich und selbstbewusst kam das kleine Mädchen mit den langen, blonden Haaren über den Krankenhaushof auf die Pforte zu. In der einen Hand hatte sie eine Tragetasche für ein Baby, in der anderen Hand schwang sie in großen Armkreisen einen Blumenstrauß. Der sollte für mich sein, wie sich sehr schnell herausstellte.

Sie war zart für ihr Alter, aber der Schalk blitzte ihr aus den blauen Augen und sie verströmte Charme aus allen verfügbaren Knopflöchern. Man konnte gar nicht anders, als ihr entgegenzulachen.

„Ich bin die Luisa und du bist die Frau Stangl, nicht wahr? Ich bin hier bei dir in der Babyklappe gewesen, ich war dein erstes Babyklappenkind.“

Na, damit war doch schon einmal alles gesagt, die Sache war ganz klar!

„Freut mich sehr, dich kennenzulernen, und ich darf sagen, dass du richtig groß geworden bist, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe!“

Daran war jedes Wort wahr. Sie stapfte die Treppen hinauf in mein Büro und ihre Mutter und ich machten uns Kaffee. Luisa machte sich über Schokolade und Kekse her. Aus den Augenwinkeln konnte ich beobachten, wie sie ihre Puppe aus der Tragetasche holte und mit ihr spielte, während wir Frauen uns unterhielten. Trotzdem war ganz klar zu merken, dass sie jedes Wort, das wir sprachen, in sich aufsaugte.

„Schau mal, Gabi, meine Puppe hat die Sachen an, die ich getragen habe, als ich zu dir kam.“

Natürlich hatte ich das bereits bemerkt. Noch heute könnte ich die Sachen beschreiben, die unsere Kleine damals getragen hatte. Ausgiebig bewunderte ich die Puppe in den viel zu großen Kleidungsstücken. Ich hätte weinen mögen über all die Natürlichkeit, die dieser Moment in sich trug. Da war kein bisschen Scheu, kein Geheimnis, über das man nicht sprechen durfte. Es war alles ganz normal.

„Möchtest du die Babyklappe einmal sehen? Möchtest du wissen, worin du gelegen hast?“

Ihre Augen leuchteten. Das war doch der Grund, warum sie heute bei mir vorstellig wurde. Wie konnte ich das nur fragen?

Also noch einmal über den Hof und in eines der Untersuchungszimmer, in denen die Babyklappe untergebracht war. Sie war in ein Fenster eingebaut. Ein kleiner metallener, neongrüner Kasten, ca. 80 x 40 x 40 Zentimeter groß. Über zwei Türen konnte sie genutzt werden: eine von außen, durch die die abgebende Mutter das Kind in die gewärmte Babyklappe legen konnte, und eine von innen, durch die eine Schwester das Kind hereinholen und auf die Geburtshilfestation bringen konnte. Sicherheitsvorkehrungen für das Kind sowie ein Alarmsystem, das beim Pförtner ankam, rundeten diesen Ort der Ersten Hilfe für Mutter und Kind ab. Einen ganzen Raum konnten wir damals nicht zur Verfügung stellen – nach wie vor ist die Raumnot neben der Geldnot eine der größten Nöte in Krankenhäusern.

Ich öffnete den Lamellenvorhang, der die Babyklappe vor neugierigen Blicken schützte, und schaute sie an. Ein Strahlen ging von einem Ohr zum anderen.

„Du kannst die Babyklappe gerne selbst aufmachen“, sagte ich ihr und zeigte ihr den Griff, den sie drehen musste.

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Sie stieg auf einen kleinen Hocker und öffnete die Türe. Der Innenraum der Babyklappe war mit dicken Schaumstoffmatten ausgepolstert, die ich damals mit einem sonnengelb gemusterten Baumwollstoff überzogen hatte. Auf diesen Matten lag ein Babyfell und darauf lag ein Brief.

„Schau mal, da hat jemand einen Brief für dich hineingelegt. Was steht da drin?“

Neugierde ist bekanntlich die Voraussetzung, um alles zu erfahren, was man wissen möchte.

„Der Brief ist nicht an mich. Der ist für die Bauchmutti, die ihr Baby bei uns abgibt“, erklärte ich ihr.

„Und was steht da drin?“

„In diesem Brief steht, dass wir froh sind, dass sie den Weg zu uns gefunden hat, und dass wir uns mit ganzem Herzen bemühen werden, ihrem Kind liebe Eltern zu suchen, damit es ein gutes Leben führen kann.“

„Wie bei mir“, kommentierte sie diese Aussage mit gebührendem Ernst.

„Ja, und dann steht da noch, dass sie sich jederzeit bei uns melden kann, wenn sie ihr Baby zurückholen möchte oder dem Baby gerne mitteilen will, wie sie heißt.“

Ihre Augen wurden noch größer, als sie ohnehin schon waren.

„Kann man mich zurückholen?“, fragte sie und es war nicht einfach herauszuhören, ob das Freude oder Angst war, die da in ihrer Stimme mitschwang.

„Nun, du bist jetzt schon so lange adoptiert von deinen Eltern, da kann dich keiner mehr ‚einfach so‘ abholen“, antwortete ich ihr mit einem Lächeln.

Das Recht, ein einmal abgegebenes Kind zurückzuholen, erlischt spätestens zum Zeitpunkt der abgeschlossenen Adoption. Dieser Prozess dauert etwa ein Jahr. In den ersten Wochen nach der Abgabe können die zuständigen Behörden wie Jugendamt und Adoptionsvermittlung über die Rücknahme des Kindes durch die biologische Mutter entscheiden. Danach entscheidet das Gericht, das in den meisten Fällen eine Entscheidung zum Wohl des Kindes fällt. Alles ist ein wenig schwieriger, wenn das Kind anonym abgegeben wurde, weil sehr viel mehr überprüft werden muss.

„Nein“, beruhigte ich Luisa noch einmal, „das geht nicht! Aber vielleicht würdest du wissen wollen, wer deine Bauchmama ist, und sie fragen, warum sie dich damals nicht behalten konnte. Diese Möglichkeit hat sie ein Leben lang.“

Nach einiger Zeit gingen wir zurück in mein Büro. Sie war um einiges stiller geworden. Etwas arbeitete in ihr. „Gabi, wenn meine Bauchmama bei dir anruft, sagst du mir das dann?“ Jetzt war es raus, was sie drückte.

„Darauf kannst du wetten. Du bist die Erste, der ich es erzählen würde! Ich würde sofort bei dir anrufen.“ Ich streckte die Arme nach ihr aus und bot ihr an, sie zu mir hochzuheben. Ja, sie war tatsächlich um einiges schwerer geworden!

Nur Sekunden später schon war ihr etwas Wichtiges eingefallen und sie wurstelte sich zurück auf den Boden. „Ich schreib dir gleich mal meine Telefonnummer auf, damit du sie hast, wenn sie anruft.“

Mit noch ungeübter Hand schrieb sie mir in einer Schlangenlinie Zahlen auf ein Stück Papier. Die Nummer stimmte. Sie hatte sie tatsächlich im Kopf.

„Es wäre schon schön, wenn ich sie mal kennenlernen könnte“, meinte sie leise, „wenn sie sich aber nicht meldet, dann geht die Welt auch nicht unter“, fügte sie – ganz Herrin ihrer Gefühle – hinzu.

Dass dieses Thema schon einige Male besprochen worden war, konnte man ganz deutlich spüren. Wie schön, dass die Familie so ehrlich mit ihr umgegangen ist. Ihr Selbstbewusstsein, die Stärke, die sie ausstrahlte, und der klare Umgang mit „ihrem Thema“ gaben ihr etwas Erwachsenes, etwas Stabiles und eine gewisse „Würde“. Hut ab vor diesen Eltern, die das geschafft haben!

Wollte es der Zufall oder unser guter Gott, ich hatte kurz vor Luisas Besuch ihre erste Lehrerin als Patientin kennengelernt.

Als ich mich dieser lieben Frau als Pastorin des Krankenhauses vorstellte, lächelte sie schelmisch und meinte: „Ich kenne Sie bereits vom Hörensagen. Ich habe Ihr erstes Babyklappenkind unterrichtet. Sie ist ein bezauberndes Kind, alle lieben sie! Es ist ganz wunderbar, dass sie zu Ihnen in die Babyklappe gebracht wurde! Es würde etwas auf dieser Welt fehlen, wenn sie nicht da wäre!“

Dieser Meinung bin ich auch.

Unerwarteter Besuch

„Meinst du, du kriegst das hin?“ Helge, das Computergenie in unserer Familie und mein allerliebster Bruder, nicht nur dann, wenn es um Technik ging, grinste vor sich hin. Das konnte ich selbst durchs Telefon „sehen“, dazu brauchte ich keine Videoverbindung.

„Na klar doch, das ist sicherlich eine meiner leichtesten Übungen!“

Wahrscheinlich fuhr er sich jetzt mit der flachen Hand über seinen nicht mehr ganz so behaarten Kopf, griff danach mit der anderen Hand an sein Ohr und schüttelte innerlich den Kopf: „Oiso, zum Computern is die echt net z’gbrauchen!“, schimpfte er – zu Recht – im tiefsten Innviertlerisch vor sich hin.

(Für alle, die dieses österreichischen Dialektes nicht mächtig sind, hier die Übersetzung: Also, für alles, was mit dem Computer zu tun hat, ist diese Frau echt nicht zu gebrauchen!) Was war ich froh, dass unsere Talente so gut verteilt waren!

„Warum brauchst du diesen Laptop eigentlich?“, fragte er mich. Also, das war genau die Frage, vor deren Antwort ich mich drücken wollte. „Hast du nicht erst vor Kurzem einen von deiner Dienststelle bekommen? Das war doch ein ganz gutes Gerät.“

„Ja, schon, aber du weißt ja, die privaten Dinge möchte man doch lieber auf einem eigenen Gerät haben.“

„Das kann ich verstehen. Das machst du richtig, dass du dieses alte Gerät aufrüsten lässt. Wir schmeißen heute alles viel zu schnell weg. Du schickst mir diesen Laptop nach Hause und nächste Woche hast du ein Gerät, das besser läuft als je zuvor. Sollst sehen!“

Das war noch mal gut gegangen! Noch wollte ich ihm nichts erzählen von meinen Plänen, von meiner neuen Bekanntschaft namens Cara Bergmann, die mir gerade einen Floh ins Ohr gesetzt hatte.

Erst vor wenigen Wochen hatte ich sie nach einem Telefonat zu mir nach Hause eingeladen, weil sie Informationen für einen Bericht über Babyklappen brauchte und man sie an mich verwiesen hatte. Über diesen Besuch hatte ich mich zunächst gar nicht gefreut. Wenn ich irgendetwas gerade nicht brauchte, dann waren das Journalisten oder Doktoranden, die, um an ihre Informationen zu kommen, oftmals wenig feinfühlig in meinen Erinnerungen wühlten. Aber als sie dann vor mir stand, gab es den sprichwörtlich überspringenden Funken, der uns vom ersten Moment an freundschaftlich verband.

Nachdem Helge und ich noch ein paar Neuigkeiten und Nettigkeiten ausgetauscht hatten, legten wir auf. Was war noch mal das Nächste, das ich in Angriff nehmen wollte? Ach ja, der alte Laptop! Ich wollte ihn möglichst bald abschicken. Wo hatte ich dieses Teil eigentlich hin geräumt?

Meine Augen suchten alle Bücherregale ab, ich schaute in Kommoden und Schränke. „Ich weiß genau, dass ich ihn hier irgendwo habe! Komm schon, zeige dich, ich brauche dich!“

Da! Sorgfältig in einer großen Schachtel verpackt, lag er unter einem Stapel Druckerpapier. Ich wischte den Staub, der sich auf der Vorderkante gebildet hatte, mit den Fingern weg und zog ihn hervor. Erleichtert packte ich ihn aus und kontrollierte, ob alles vorhanden war: Ladegerät und diverse andere Kabel, die Helge wahrscheinlich gar nicht brauchen würde, lagen in einer Plastiktüte mit dabei. Ich würde ihn so einpacken können und ihn gleich heute Nachmittag mit der Post versenden.

„Weißt du eigentlich, dass du eine ganz neue Aufgabe bekommst? Gib dir Mühe! Ich muss mich auf dich verlassen können!“ Sorgfältig wischte ich mit dem Staubtuch über die schwarze Oberfläche.

Das Telefon läutete. „Hallo, Gabi, ich bin’s, Luisa! Gabi, ich hab den Führerschein gemacht und Mama erlaubt mir, dass ich dich mit ihrem Auto besuchen fahren darf. Ist das nicht toll? Hast du vielleicht heute schon Zeit?“

Die Worte sprudelten nur so aus „meinem“ Mädchen heraus. Ich konnte ihren Stolz und ihre Aufregung fühlen, aber auch den starken Wunsch, mir so einiges zu berichten. Und ich hatte vor lauter Aufregung Schmetterlinge im Bauch! Ich hatte Luisa so lange nicht mehr gesehen, nur telefonisch hatten wir uns immer wieder mal gesprochen. Einmal waren wir uns zufällig auf der Straße begegnet. Die Einladung zu Kaffee und Kuchen zu mir nach Hause hatte ich schon lange ausgesprochen. Immer wieder war etwas dazwischengekommen, einmal bei ihr, einmal bei mir.

„Luisa, komm nur, du kannst kommen, wann immer du magst! Versprich mir nur, dass du ganz, ganz vorsichtig bist beim Fahren. Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert! Ich habe schon lang genug um dich gebangt in deinem kurzen Leben!“

Wir mussten beide lachen. Luisa, weil sie sich ganz sicher war, dass nichts passieren würde, und ich, weil ich merkte, dass ich mich langsam, aber sicher zur Glucke entwickelte. Nun gut, mit beinahe sechzig Jahren durfte ich das.

Der Vormittag sollte nun anders verlaufen, als ich eigentlich geplant hatte. Zum Glück war es mein freier Tag und mein Mann Hajo hatte schon gestern beschlossen, einen Tag mit seiner Tochter und seinen Enkeln zu verbringen. Ein neuer Anstrich fürs Kinderzimmer war vonnöten. Ich hatte also sturmfreie Bude und konnte tun und lassen, was ich wollte.

Nachdem ich einen Blick in Kühlschrank und Vorratskammer geworfen hatte, stand fest, dass ich zu meinem „Kuchen-Notfallpaket“ greifen musste, frei nach dem Motto: „Man nehme Dr. Oetker“. Resolut schlug ich die Eier über der Schüssel mit dem Pulver auf. Butter und Milch dazu und nun kräftig rühren. Buddy, mein kleiner weißer Bichon Frisé, saß bereits neben mir auf dem Küchenboden. Das Wasser lief ihm im Mäulchen zusammen und tropfte auf den Läufer. Das roch doch jetzt schon so gut …!

Der Kuchen war noch warm, als Luisa mit dem Auto vor unserem Garten parkte. Als sie durch unser kleines Gartentor eingetreten war, flog sie mir geradezu in die Arme. Wie schön war es, sie für ein paar Sekunden so halten zu dürfen!

„Was für eine hübsche junge Frau du doch geworden bist!“ Ich hielt sie in Armeslänge von mir ab und musste sie mir erst einmal ganz genau ansehen: Sie war ein wenig kleiner als ich, doch wenn man bedenkt, wie kleinsie einmal war, hatte sie sich schon enorm angestrengt mit dem Wachsen. Ihr langes, leicht gewelltes brünettes Haar trug sie offen über den Schultern. Sie hatte freundliche blaue Augen und ein liebes, ein wenig scheues Lächeln. Große silberfarbene Kreolen umschmeichelten das Gesicht und in ihrem roten Kleid, das ihre gute Figur zur Geltung brachte und – oh, là là – ihre Beine durchschimmern ließ, wirkte sie wie eine Fee. Sie konnte sich sehen lassen!

Im Garten war die Hitze der frühen Nachmittagssonne kaum auszuhalten. Vorbei an den duftenden Rosensträuchern führte ich sie in das etwas angenehmer temperierte Wohnzimmer. Ich hatte vorsorglich die Gardinen zugezogen, denn die Südseite unseres Hauses erwärmt sich immer gnadenlos.

Ich schob Luisa durch unseren Wintergarten hinein ins Wohnzimmer und platzierte sie auf meinen liebsten Platz im Haus: dem Großvaterstuhl. Schnell die Türe geschlossen, damit es angenehm blieb, und die Kaffeemaschine angeworfen. Ich war so aufgeregt, so voller Freude!

Als ich von der Küche zurückkam, hatte sich Luisa bereits mit Buddy angefreundet und er sich mit ihr. „Wir haben zu Hause auch einen Hund. Ein bisschen größer als er.“ Sie lachte und dabei bildeten sich lauter kleine Fältchen um ihre Augen. „Also, eigentlich ein bisschen sehr viel größer als Buddy! Aber Hund bleibt doch Hund, nicht wahr?“ Mit ihrer Hand hatte sie die Schulterhöhe ihres Prachtexemplars angedeutet. Musste wohl ein Ridgeback oder eine Dogge sein, stellte ich fest. Für mich musste es dieser kleine Winzling tun. Aber jeder Zentimeter an ihm war „Hund“. Und es hatte den großen Vorteil, dass er nicht so viel Platz im Bett einnahm.

Unser Gekicher über die Dinge, die sie nun anfing, mir zu erzählen, bleiben selbstverständlich unser Geheimnis.

„Sag mal, Gabi“, fragte sie mitten in unserem fröhlichen Geplapper, „wie bist du eigentlich damals auf den Gedanken gekommen, eine Babyklappe einzurichten? Ich habe mich immer wieder gefragt, wie man auf so eine Idee kommen kann.“

Ich lächelte sie an und schnitt ihr noch einmal ein großes Stück vom Kuchen ab, den sie dankend entgegennahm. „Luisa, das ist eine lange Geschichte! Aber um es ganz kurz zu umreißen: Ich konnte mich einfach nicht damit abfinden, dass Frauen, die durch ihre Schwangerschaft in große Not kamen, ihr Baby nach der Geburt irgendwo ablegen und es so in Lebensgefahr bringen mussten. Gleichzeitig schlussfolgerte ich, dass Frauen, die alleine entbinden müssen, weil niemand von ihrer Schwangerschaft erfahren darf, in der gleichen großen Gefahr stehen; denn eine Geburt verläuft nicht immer einfach und unkompliziert. Doch immer wieder bekam ich den Satz zu hören: ‚Da kann man nichts machen. Wir machen uns strafbar, wenn wir diesen anonymen Frauen helfen würden.‘

Eines Nachmittags erzählte man mir in einem Telefonat von ‚SterniPark‘, einer Kindertagesstätte in Hamburg. Sie waren dabei, eine Babyklappe einzurichten, um diesen Frauen in Not eine Anlaufstelle zu bieten, wenn sie ihr Neugeborenes nicht behalten konnten. Sie hatten in den Jahren davor so viele ausgesetzte Neugeborene in Hamburg gefunden, viele von ihnen waren bereits tot.

Ich war von dieser Idee so angetan, weil ich mir sehr schnell vorstellen konnte, dass so eine Einrichtung an einem Krankenhaus noch viel besser und weniger umständlich funktionieren könnte. In einem Krankenhaus könnte man sogar der Mutter helfen, wenn sie nach der Geburt Hilfe bräuchte. Ein Gedanke fügte sich an den anderen. Das Projekt ‚Babyklappe und anonyme Geburt‘ war in meinem Herzen geboren.

Wie sich sehr schnell herausstellte, wurde dieses Projekt selbst eine ‚schwierige Geburt‘, als es darum ging, es in die Tat umzusetzen. Ich selbst war Feuer und Flamme für diese Idee, aber die Begeisterung des Krankenhauspersonals hielt sich damals noch in Grenzen. ‚Du machst es doch nur den Müttern leicht, sich von ihren Kindern zu verabschieden‘, hörte ich fast täglich. Als ob irgendeine Mutter sich einfach mal so von ihrem Kind trennen würde! Es gibt unter normalen Umständen keine stärkere Bindung unter Menschen als die Bindung zwischen Mutter und Kind.

Immerhin darf ich sagen, sie gaben mir die Chance, es zu versuchen! Dafür bin ich ihnen bis heute sehr dankbar. Ich war so glücklich und fand in Dr. Siegbert Heck, dem neuen Ärztlichen Direktor damals, auch einen Verbündeten, der mir zur Seite stand und mich nach besten Kräften unterstützte. Nach und nach kamen immer mehr Unterstützer dazu. Auch wenn der Widerstand der Behörden deutlich zu spüren war, konnten und wollten wir nicht mehr aufgeben. Uns wurde immer klarer, dass wir diesen Frauen und Kindern eine Stimme geben und ihnen, so gut es ging, helfen mussten. Schließlich, nur ein halbes Jahr später, am 12. September 2000, eröffneten wir unsere ‚Babywiege Waldfriede‘, wie wir sie nannten.“

Vor meinem inneren Auge zogen die vielen Erlebnisse vorbei, die sich in dem knappen halben Jahr zwischen Planung und Eröffnung abgespielt hatten. Es war, als hätte ich das alles erst gestern erlebt. Ich spürte die Wut und die Hilflosigkeit, die an manchen Tagen mein bitteres Brot waren. Ich genoss aber auch die Freude über die kleinen „Siege“ in diesen Bemühungen, fühlte die heißen Tränen in mir aufsteigen, wenn wieder einmal keiner verstehen wollte, und hörte die vielen warmen Worte, die mein Tun begleiteten. Es war eine besondere Zeit. Ich möchte sie nicht missen.

„Ja, und dann hast du nur mehr auf mich gewartet, stimmt’s?“ Wie herzerfrischend dieser Kommentar von ihr doch war.

„Du hast’s erfasst, meine Süße!“ Ich sah sie mir noch einmal ganz genau an. Vor mir saß ein kleines Wunder. Wir standen im Hier und Jetzt, und hier und jetzt war alles gut!

„Luisa“, meine Stimme zitterte ein ganz klein bisschen, als ich sie nun etwas ernster ansah, „darf ich dich etwas fragen?“

Luisa sah mich an und stellte ihre Tasse auf dem Tisch ab. Sie lehnte sich zurück und lächelte mich an. „Sicher! Du darfst mich doch alles fragen, das weißt du doch.“

Ich merkte, dass ich einen etwas trockenen Mund bekam. So oft schon hatte ich mir vorgestellt, ihr diese für mich so wichtigen Fragen zu stellen, die mir auf der Seele brannten. Nun war der Moment gekommen und ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte.

Man muss wissen, dass mir von Institutionen und Fachleuten immer wieder vorgeworfen wurde, ich würde „seelische Krüppel“ heranwachsen lassen, weil diese Kinder schließlich nicht wüssten, wo ihre Wurzeln sind. Sie würden mich eines Tages alle verfluchen, weil ich sie um eines der wichtigsten Dinge gebracht hatte, die ein Mensch besitzen würde: zu wissen, wer die Herkunftsfamilie ist. Diesen Gegnern hatte ich dann – mit allem mir verfügbaren Selbstbewusstsein und Respekt – entgegnet, dass diese Kinder dies auch nie erfahren würden, wenn es sie nicht geben würde. Wenn sie nicht da wären, weil sie unter den gegebenen Umständen gestorben wären.

So, nun konnte ich Luisa persönlich fragen. Ich musste Gewissheit haben, denn natürlich belastete mich das.